Heft 22. Die Liebe erringt den Sieg I. Teil
Bilder aus dem Leben des Apostel Johannes vor Jesu Kreuzigung

Inhaltsverzeichnis
01. Am Osterfest in Jerusalem
02. In Bethanien
03. Johannes in Nazareth
04. Jesus rettet Jakobus
05. Sturmnacht in Bethsaida - Heilung der Schäden
06. Johannes feiert mit Jesus den Sabbat
07. Hilfe für die vom Sturm Geschädigten
08. Aussprache zwischen Jesus und Johannes
09. Die Veränderung des Johannes
10. Krankheit und Tod des Griechen
11. Jesus überwindet Salome - Unwetter in Kapernaum
12. Hermes, der Sohn des Griechen, und das Gesicht am Sabbat
13. Johannes der Täufer - Das öffentliche Auftreten Jesu  - und die Jüngerschaft des Johannes

 

 


Am Osterfest in Jerusalem

In der Herberge des Lazarus in Jerusalem herrschte ein Betrieb, wie man ihn sonst nur an hohen Festtagen gewöhnt war. Obgleich der Pächter ein liebenswürdiger und immer dienstbereiter Mensch war, war es ihm doch an diesem Tage nicht möglich, allen Wünschen gerecht zu werden.
Es waren neben Anderen auch Fischer aus Bethsaida müde und hungrig angekommen und wurden nun auf eine lange Probe gestellt, ehe ihnen etwas Brot und Salz gereicht werden konnte.
Zebedäus war darüber recht ungehalten, aber sein Weib Salome begütigte ihn: „Wie kannst du ungehalten sein, geht es doch den anderen auch nicht besser; sieh dir einmal Joseph von Nazareth an, wie still er bei seinem Weibe sitzt und geduldig wartet!"
„Wo ist er, der alte, treue Joseph? Ich habe ihn noch gar nicht bemerkt; es wäre schön gewesen, so wir gemeinsam hierher gewandert wären. Hoffentlich können wir zusammen zurückkehren, denn ich habe allerhand Wünsche an ihn."
Wieder ermahnte das Weib:
„Zebedäus, wir sind jetzt in der Gottesstadt; da lässt man seine persönlichen Wünsche zu Hause."
Mittlerweile hatten sich die Meisten gesättigt. Nun erst sahen sich die Gäste richtig um, und eine herzliche Begrüssung voll Freude über das Wiedersehen fand statt.
Salome, die Maria, das Weib des alten Joseph, noch nicht kannte, war überrascht von dem Liebreiz, der von der jungen Frau ausging, und die Folge war, dass die beiden Frauen sich nun nicht mehr trennten. Zebedäus musste sich länger gedulden, bis er sich mit Joseph unterhalten konnte, denn der alte Zimmermann war eine vielbekannte und beliebte Persönlichkeit. Die Söhne Josephs hatten auch Freunde gefunden, genauso wie die Söhne des Zebedäus, und darum waren sie bei der Begrüssung nicht zugegen.
So wurde es sehr spät, ehe das Nachtmahl eingenommen werden konnte, weil es zu viele waren, die da gesättigt werden sollten. Müde legte man sich in den angewiesenen Gemächern nieder. Man hatte nach dem langen Marsch ein grosses Bedürfnis nach Ruhe.
Frühmorgens war es etwas besser, und beim Morgenmahl lernte man sich noch näher kennen, Joseph mit seinem Weibe und Jakobus und Jesus, Zebedäus mit seinem Weibe und Jakobus und Johannes. Die beiden Jakobusse schlossen sich schnell einander an, ebenso Jesus und Johannes. Nach dem Mahle machten sich die beiden Familien auf, um nach dem Tempel zu gehen, und so blieben auch die Gruppen zusammen auf dem Wege zu ihrem Ziele.
Maria äusserte Salome gegenüber ihre Sorgen wegen Jesus: nur mit vieler Mühe sei es ihr gelungen, ihn mit hierher zu bringen; überhaupt sei ihr das ganze Verhalten und Tun ihres Sohnes ein grosses Rätsel. Er sei in allem folgsam und willig, nur in Dingen des Glaubens sei Er nicht zu verstehen, da habe ER Seine eigenen Gedanken und Auslegungen.
Salome sagte: „Aber Maria, Er ist doch dein Sohn, und Ihm Gehorsam beizubringen, muss doch Joseph möglich sein! Was soll werden, so ihr schon jetzt mit Ihm nicht mehr fertig werdet, wie denkt ihr euch da die Zukunft?"
Maria weinte und sprach: „Daran dürfen wir garnicht denken; denn sobald wir unsere Meinung durchsetzen wollen, sieht Er uns mit Seinen klaren Augen an, als wollte Er uns durchdringen; und dann geht Er meistens aus dem Hause und überlässt uns der Sorge um Ihn."
„Aber Maria", entsetzte sich Salome, „das geht doch nicht an; was sagen denn eure Priester dazu?"
„Sie sind genauso machtlos wie wir; wer bei Jesus mit Strenge etwas zu erreichen versucht, ist gestraft. O welch ein Jammer ist das manchmal, und dabei dachten wir, Jehova habe Ihn zu etwas Grossem berufen. Was haben wir für Wunderdinge an Ihm erlebt, und nun bleibt Sein Mund stumm; nur Seine Augen sprechen um so eindringlicher."
Sie näherten sich nun dem Tempel. Die von allen Seiten herbeiströmenden Menschen drängten alle nach dem Eingang. Überfüllt waren Vorhof und die Plätze bei den Opferaltären. Die beiden Familien wurden auseinandergedrängt. Jesus und Johannes aber blieben zusammen. Jesus hatte schon auf dem Wege zum Tempel Seinen Abscheu über das Treiben im Tempel geäussert, so dass Johannes erschrak.
„Aber Jesus, bedenke doch", ermahnte er den Freund, „Du sprichst über den Tempel, das Haus, in dem Jehova wohnt! Wie kannst Du so abfällig über die Priester reden?"
„Mein Johannes, warte nur, bis wir im Tempel sind. Dann werde Ich dir die Augen öffnen und Dinge zeigen, die auch dir nicht gefallen werden."
So kam es auch. Schon der Eintritt war alles andere als weihevoll. Da blökten Rinder, Schafe und Lämmer, und auf dem Boden lag ein Morast, dass es nicht möglich war, reine Füsse zu behalten. Endlich waren beide an den Opferaltären angekommen; dort war es ganz schlimm. Das waren keine Priester, sondern rohe Schlächter, die dort erbarmungslos mit ihren scharfen Messern den angstvoll blökenden Schafen und Lämmern den Hals aufschnitten, dann die zuckenden Leiber der sterbenden Tiere auf den Feueraltar warfen.
Da sagte Jesus: „Johannes, glaubst du, dass daran Jehova ein Wohlgefallen hat? — Am liebsten würde Ich den ganzen Opferungen ein Ende machen. Stehet nicht geschrieben: ,Der Gerechte erbarmet sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig'?"
„Aber Jesus, das darf uns doch nicht kümmern! Die Opferung hat doch Mose befohlen, und das hat für uns massgebend zu sein. Was der einzelne Mensch dabei empfindet, geht uns ja nichts an, denn dafür sind die Priester verantwortlich, und sie sind die Stellvertreter Gottes."
„Johannes, noch muss Ich dich dabei belassen, aber ich frage dich: was empfindest du bei dieser Opferung?"
„Mir, Jesus, wäre es auch lieber, so dieser unser Besuch im Tempel eine weihevolle Stimmung auslösen würde, aber es kommt ja nicht auf uns, sondern auf die Erfüllung des Gotteswillens an."
„Ich bin anderer Überzeugung, Johannes; auf den Wegen des Herrn kann Mir nur das Freude machen, was auch dem Herrn Freude ist, ebenso wird aber auch das, was Mir Abscheu einflösst, dem Herrn ein Abscheu sein."
„Ich verstehe Dich nicht, lieber Jesus; was sagen denn Deine Eltern zu deinen Ansichten?"
„Lieber Johannes, eben das ist das Schlimme für Mich, dass Ich darüber gar nicht reden darf.
Wenn ich eine Bitte habe, so ist es die: Komm, wir verlassen den Tempel! Wir werden schon einen Ort finden, an dem es uns besser gefallen wird."
„Nein, Jesus, wenn mich Vater und Mutter fragten, wo und wie wir diesen Tag verlebten, würden sie recht betrübt sein, so ich ihnen dann die Wahrheit sagen würde, und lügen kann ich nicht."
„Ich will dich nicht drängen, Johannes, aber hierbleiben kann Ich nicht, weil Mir dies alles widerlich ist."
Johannes blieb also allein, aber merkwürdig: seit Jesus ihn verlassen hatte, widerte auch ihn alles an, und so suchte er seine Eltern. Schon neigte sich der Tag seinem Ende zu, da endlich fand er sie. Auf dem Weg zur Herberge fragte ihn Salome, wo Jesus sei.
„Ich weiss es nicht, Mutter. Schon in der Frühe hat Jesus den Tempel verlassen mit der Begründung, Ihn widere das ganze Treiben an und Er suche einen Ort auf, wo es Ihm besser gefalle."
„Da bin ich sprachlos. Erst unternehmen Seine Eltern mit Ihm und Seinen Brüdern die weite Reise hierher, und dann sucht Er sich einen Ort, wo es Ihm besser gefalle." —
Strahlenden Auges kam Jesus zum Abendmahl; Maria schwieg, aber Salome sprach zu Ihm:
„Lieber Jesus, Du bist nun in dem Alter, in dem man verständiger sein soll. Das ist doch keine Art: erst unternimmst Du mit Eltern und Brüdern die weite Reise, und nun ist Dir der Tempel ein Ort, wo Dich alles anekelt; sieh zu, dass Dich Jehova nicht straft."
„Mutter Salome", erwiderte Jesus, „Ich glaube Jehova besser zu kennen als du und ihr alle; es wäre besser, ihr bemühtet euch mehr um den Willen Jehovas als um die Erfüllung von Satzungen blinder Priester, die offenbar den Willen Jehovas nicht mehr kennen."
Da sprach Salome: „O Maria, jetzt verstehe Ich deine Not; aber um Jehovas willen, was soll denn da werden? Jesus, Ich bitte Dich, sage mir: was hast Du vor? Du kannst ja nicht so verworfen sein, dass Du nicht das Leid und den Kummer Deiner Eltern spürst."
„Mehr als ihr alle, liebe Salome, aber Ich muss Gott mehr gehorchen als den Menschen und kann nicht Rücksichten auf die Schwächen Meiner Mitmenschen nehmen, und wenn sie Mir die liebsten sind. In Mir ist alles klar und licht; darum gehe Ich Meinen Weg, weil Ich nicht anders kann. Ich will aber nicht der Stein des Anstosses unter euch sein; darum suche Ich Mein Lager auf, und Jakobus kann euch manches erklären. Gute Nacht, der Frieden Gottes sei mit euch!"
Am anderen Morgen rührte niemand an die Gespräche des Vortages, nur Jesus sagte zu Joseph in Gegenwart der anderen: „Ich gehe nach Bethanien und bleibe dort. Da euch alle der Weg dort vorüber führt, bitte Ich dich, Vater Joseph, kehret dort ein, ihr macht damit Lazarus, den du ja sehr gut kennst, eine grosse Freude. Wenn möglich, überrede auch Zebedäus mit seinen Lieben, mit einzukehren, Ich weiss: es würde euch und allen zum Segen sein."
„Jesus, weil Du bittest, will ich es tun, und weil ich fühle, dass auch Du eine Freude brauchst. Gehe ruhig voraus und melde uns an."
Da wendete sich Jesus an Salome und sagte: „An dich wende ich mich, Mutter Salome; würdest du erlauben, dass Johannes mit Mir heute schon nach Bethanien zieht? Sei so gut und komme Meiner Bitte entgegen."
Salome fragte ihren Mann, was er dazu meine; dieser sagte ohne weiteres ja, wenn Johannes wolle.
Und er wollte; darum machten sie sich auch auf den Weg. Johannes fragte: „Wo warst Du denn gestern den ganzen Tag? Ich habe schreckliche Stunden im Tempel erlebt."
„Ich war in Bethanien bei den beiden Schwestern Maria und Martha, die Mich baten, doch heute wieder zu kommen; denn Ich bin dort kein Fremder."


In Bethanien

Unter lebhaften Gesprächen waren sie bald in Bethanien und wurden dort herzlich willkommen geheissen. Die Schwestern führten die beiden in ein grosses Zimmer und sagten: „Liebe Brüder, ihr müsst vorläufig mit uns fürlieb nehmen, denn unser Bruder kommt erst gegen Mittag zurück. O Jesus, wie glücklich sind wir, dass Du es doch möglich gemacht hast, uns auch heute zu besuchen. Unser Bruder wird sich freuen."
„Ja, Maria, und morgen kommen Meine und Johannes’ Eltern noch dazu. Ich habe sie eingeladen, weil Ich wusste, ihr freuet euch darüber."
„Jesus", sprach Maria, „mein Bruder hat eine besondere Hochachtung vor Dir, und das rührt noch von unserem Vater her. Weisst Du, dass Deine Eltern vor ungefähr 10 Jahren hier in Bethanien mit Dir weilten? Lazarus sprach oft davon, darum wird er eine grosse Freude haben, so Deine Eltern hier einkehren."
Johannes konnte sich gar nicht austun, so erfüllt war er mit Freude; aber wie Jesus sich unter den beiden Mädchen bewegte, das gab ihm zu denken. Was ist doch Jesus für ein Mensch, war immer sein Gedanke. Jesus aber war über alle Massen fröhlich und die beiden Mädchen mit Ihm. Es beunruhigte Johannes auch nicht, dass Jesus gar keine Rücksicht auf ihn nahm, im Gegenteil, er war froh, dass man ihn im Hintergrunde liess.
Lange vor Mittag kam Lazarus; mit erhabenen Händen ging er auf Jesus zu und sagte: „Eine grössere Freude konntest Du mir, mein lieber Jesus, nicht machen als mit Deinem Besuch, und so fühlet euch in Bethanien wie zu Hause. Ihr habt doch eure Eltern nach hier eingeladen, denn nach dem alten Joseph habe ich wahrhaft Sehnsucht?"
„Lazarus, Ich wusste um deine Freude, darum habe Ich Meine und Johannes' Eltern eingeladen; morgen um diese Zeit werden sie hier sein."
„Jesus, kann ich mit Dir ganz frei sprechen, ich möchte Deinen Freund nicht betrüben."
„Tue es immerhin, lieber Lazarus, ein Betrüben kommt ja nicht in Frage; höchstens wird in ihm noch der Zwiespalt vergrössert werden, und der kann überbrückt werden."
Sprach Johannes: „Lieber Lazarus, wenn du mit Jesus etwas zu besprechen hast, tue es immerhin; ich werde mich etwas in Bethanien umsehen. Mit Jesus komme ich nicht sofort ins reine, Er gibt mir zu viele Rätsel auf."
Da lachte Lazarus, legte dem Johannes beide Hände auf die Schultern und sprach: „Mein junger Bruder und auch Freund, du bist nicht der Einzige, dem es so ergeht; aber die Zeit, die grosse und gewaltige, wird Klärung bringen. Denke daran, was ich dir heute sage: Wer Jesus als Freund besitzt, hat einen Schatz im Himmel und auf Erden."
„Lazarus, ich danke dir für dieses Wort, aber verstehen kann ich auch dieses noch nicht. Es ist etwas ganz Neues, was ich mit Ihm erlebe. Ich fühle Seine Liebe, mich zieht es zu Ihm hin, und dieses ist mir unfassbar; höre ich Ihn aber reden, so wage ich nicht, etwas zu erwidern."
„Johannes, so wie es dir ergeht, wird es noch Millionen ergehen, und darum lasse die Zeit sprechen, noch ist alles zu jung."
Lazarus ging nun mit Jesus allein hinaus in die Pflanzungen, Johannes blieb bei den Mädchen; in einer kleinen Stunde wollte Lazarus wieder zurück sein.
Lazarus sagte: „Jesus, gestern konnte ich mit Dir nicht sprechen über das, was mich bewegt. Erst diese Nacht ist mir alles wiedergekommen, und so frage ich Dich: Lieber Jesus, sind die Fähigkeiten Dir geblieben, die sich vor 10 Jahren im Tempel in und bei Dir äusserten; bitte, sei offen und lasse mich nicht im unklaren!"
„Lazarus, weil du ganz offen und ehrlich um eine Antwort gebeten hast, sollst du auch eine offene und ehrliche Antwort erhalten. Ja, die Fähigkeiten sind geblieben, sogar noch grösser geworden; aber höre: Meine Zeit ist noch nicht gekommen! In Mir muss sich vieles läutern, noch vieles veredeln und in das Göttliche hineinwachsen. Um dir aber den Beweis zu geben, dass Ich der bin, auf den auch du deine Hoffnung setzest, so soll dieser ganze Berg mit Ölfruchtbäumen bewachsen sein! So wie Ich in Meine Mission hineinwachse, so sollen diese Bäume auch wachsen, und wenn Ich die Reife erlangt habe, sollen diese Bäume dir die ersten Früchte bringen! Doch schweige vor jedermann und sei schon heute im klaren: der kommende Messias wird viele enttäuschen. Du aber glaube Mir schon heute: der kommende Messias wird ein Reich aufrichten, das allen Menschen zum Heile werden wird. Wenn Ich dir aber eine Bitte unterbreiten darf, so sei es die: unternimm nichts, damit du dich nicht verlierst, sondern bleibe Gott und auch dir getreu. Sprich auch mit Meinem irdischen Nährvater nicht darüber, weil jedweder Zwang zu vermeiden ist.
Und nun komm und besieh dir deine künftige Ölpflanzung, aber sprich mit niemandem davon!"
Beide gingen nun nach dem Ölberg. Das Buschwerk dort war weniger geworden und überall standen kleine Ölbäumchen genau so, wie es sich Lazarus schon immer gewünscht hatte; nur die Leute hatten ihm zur Ausführung dieses Wunsches gefehlt.
„Aber Jesus, das ist doch ein Wunder; genau so habe ich es mir gewünscht; wie war Dir denn dies alles möglich?"
„Lazarus, wolle nicht vorzeitig alles wissen; denn um das zu verstehen, dazu fehlt dir noch die Reife. Denke immer daran, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist, und so wollen wir in das Haus zurückkehren."
Beide Schwestern schauten schon nach den beiden aus, denn das Mittagsmahl war bereitet.
Johannes hatte sich nicht gelangweilt, beide Mädchen hatten so vieles zu erzählen und zu fragen über Jesus, konnten aber von ihm nichts anderes erfahren als: „Jesus ist mir ein Rätsel".
Nach dem Mittagsmahl nahm Lazarus seine beiden Gäste und führte sie weit hinaus in die Pflanzungen, und mit regem Interesse folgten beide den Ausführungen des Lazarus. Als sie zu dem alten Tobias kamen, blieben sie längere Zeit. Johannes wunderte sich, wie der schon alte Mann mit Jesus sich so innig verband. Schnell verging der Nachmittag; als sie wieder ins Haus zurückkamen, waren Gäste gekommen, alte Freunde des Hauses Lazarus.
Nach dem Abendmahl war reger Meinungsaustausch, dem Johannes aber nicht folgen konnte. Das war ihm alles zu hoch oder zu tief. Ihn wunderte aber, dass die beiden Schwestern ein solch reges Interesse zeigten.
Anderntags gegen Mittag kamen Joseph und Zebedäus mit ihren Angehörigen. Die Freude war bei allen gross, vor allem waren Salome und Maria angenehm berührt über die Fürsorge, die die beiden Schwestern an den Tag legten. Lazarus gab sich nun ganz dem Besuch hin, erkannte aber sofort, dass Joseph ein anderer geworden war. Über die brennende Frage: „Was ist mit Jesus los?" kam er mit Joseph garnicht ins Gespräch, sondern liess Maria erzählen, was sie alles im Tempel erlebt hatte. Lazarus hatte von dem Besuch mehr erhofft, aber ein Blick auf Jesus sagte ihm mehr als jede Unterhaltung.
Die Rückreise ergab viele Anstösse, da Salome sich mit dem Gedanken, Jesus seine freie Entwicklung zu lassen, nicht zufrieden gab. Sie stand immer auf dem Standpunkt: Kinder haben sich den Eltern unterzuordnen; und Jesus liess sich nicht belehren.
Der alte Joseph war froh, als er wieder mit den Seinen in Nazareth war; er sagte: „Nie wieder werde ich nach Jerusalem ziehen, ich hatte mir mehr von der Reise erhofft, aber so ist mir am wohlsten, wenn mich alles in Ruhe lässt." —


Johannes in Nazareth

Zwei Jahre vergingen, da kam Johannes nach Nazareth, um mit Jesus zu sprechen. Den Anlass gab seine Mutter Salome. Gerüchte über Jesus, den Blöden und Idioten, wollten nicht verstummen. Fischer verbreiteten solches Gerede, und das Unglaublichste wurde behauptet.
Ein gewaltiger Sturm hatte das Haus und die Ställe des Zebedäus stark beschädigt, und so schickte Salome Johannes als Boten nach Nazareth, um Joseph zu bitten, mit einigen seiner Söhne nach Bethsaida zu kommen.
Joseph sagte zu, doch werde es eine kleine Zeit dauern, bis er soweit sei. Johannes blieb zwei Tage, aber in diesen Tagen wurde ihm Jesus noch unverständlicher. Er sagte daher zu Ihm: „Jesus, ich bin doch nicht blind und sehe mit offenen Augen, wie es bei euch aussieht. Wie habe ich mich gefreut, als meine Mutter mich zu euch sandte, und jetzt bin ich traurig über dein Verhalten. Warum sprichst du nicht? Deine Mutter leidet unter Deiner Stummheit, und über Dich hört man die unglaublichsten Dinge."
„Lieber Johannes, du urteilst nach dem Schein und nicht nach dem wahren Sein."
„Jesus, ich hätte nichts davon erwähnt, wenn ich bei euch alles in Ordnung gefunden hätte; aber merkst Du denn nicht, dass sich Deine Mutter nach einem Wort von Dir sehnt? Du kannst reden; das habe ich in Bethanien erlebt, und auch Freude hast Du dort bekundet. Warum bist Du hier so stumm? Bitte, gib mir Antwort; ich möchte zu Hause ein gutes Bild von Dir geben, denn bei meiner Mutter stehst Du in keiner hohen Achtung."
„Mein Johannes, was die Welt über Mich spricht und urteilt, ist Mir ganz gleichgültig; aber nicht gleichgültig ist Mir, was Gott über Mich denkt, und darum mögen die Leute sagen, was sie wollen; Ich gehe Meinen Weg, den Mir Gott zeigt."
„Aber Jesus, Du gehst ja in keine Synagoge, kommst mit keinem Priester zusammen; eine Schule hast Du auch nicht besucht; sage mir, wie willst Du vor Gott und aller Welt beweisen, dass Gott Dein Wegweiser ist? Ich kann Dich nicht verstehen. Bin ich daheim, sterbe ich fast vor Sehnsucht nach Dir, und nun, wo ich hier bin, stösst Du mich mit Deinem Wesen ab, weil Du nicht auf die Wünsche Deiner guten Mutter eingehen willst."
„Mein lieber Johannes, Ich kann dir nichts anderes sagen; es ist noch nicht an der Zeit, darüber zu sprechen. Glücklich wäre Ich, so du dich bemühen würdest, Mich und Mein Verhalten zu verstehen. Wenn Ich nur einen einzigen Menschen hätte, der Mich verstünde, so wäre Mir vieles leichter. Gewiss, ihre Liebe spenden Mir viele, aber Mir ist daran gelegen, dass sie mit Mir gehen und mit Mir eins werden, damit das Mir vorgesteckte Ziel desto eher erreicht wird."
„Jesus, jetzt verstehe ich Dich schon nicht mehr! Du redest von einem hohen Ziel; haben wir das nicht alle? Stehen Dir im Tempel nicht alle Türen offen? O mein lieber Jesus, Trauer erfüllt mich, wenn ich Dich so reden höre."
„Johannes, glaubst du, dass Mir Trauer fremd ist? Ich glaube, es wird kaum einen zweiten Menschen geben, der so ringt und leidet wie Ich. Nie würde Ich dir dieses sagen, wenn Ich nicht wüsste, wie du an Mir hängst, und so nimm das als Trost mit heim zu deinen Eltern: einst wird die Zeit kommen, wo alles offenbar wird. Solange sie noch nicht da ist, trage Mich in deiner Liebe, denn diesen Zustrom von Kraft kann Ich gut brauchen."
Mit tiefem Weh im Herzen kam Johannes nach Hause; er wollte Jesus verteidigen, fand aber nicht die richtigen Worte, und neue Gerüchte über Ihn drangen über den See Genezareth.
Eines Abends kamen Joel, Jakob und Jesus, um das Haus des Zebedäus auszubessern. Joel, betroffen, von der Grösse des Schadens, sprach: „Da reichen unsere Kräfte nicht aus, das Haus muss fast neu erbaut werden. Hast du wenigstens genug Holz vorrätig, Zebedäus?"
„Da schau, dieses habe ich besorgen können; vielleicht kann ich noch mehr beschaffen."
„Ist es so schlimm?" fragte Salome bekümmert.
Da warf Jesus ein: „Aber Joel, sei doch nicht so besorgt; wir werden es schon schaffen, und das Holz reicht gut aus."
„Wie kommt es, dass du auf einmal wieder sprechen kannst; wahrlich, das möchte man schon als ein Wunder bezeichnen."
Sprach Jakobus zu Joel: „Bruder, schweige! Wenn Jesus redet, handelt Er auch, und so bin ich der Meinung, wir überlassen alles Jesus."
Joel fragte nun Jesus: „Bruder Jakobus meint, wir sollen Dir alles überlassen; wie ist Deine Meinung?"
„Joel, wenn du Mir den Bau überlässt, machst du Mir eine grosse Freude. Ich will ihn übernehmen unter der Bedingung, dass ihr schweigen könnt."
„Wenn Du, Jesus, uns versprechen kannst, alles nach Wunsch des Bauherrn zu machen, dann wollen wir schweigen."
„Gut, es sei, Meine Brüder, und so wollen wir ans Werk gehen, vorerst aber wollen wir Zebedäus beim Fischen helfen. Das Meer ist recht unruhig."


Jesus rettet Jakobus

Zebedäus war erfreut, als er drei Helfer beim Fischen erhielt; das Meer war tatsächlich recht bewegt. Schon als die Boote weit hinaus fuhren, mussten die Segel umgesetzt werden, und Jakobus, des Johannes Bruder, fiel dabei ins Wasser. Bei dem hohen Seegang, der inzwischen eingesetzt hatte, wurde sein Fehlen nicht von allen bemerkt. Johannes war zwar sofort seinem Bruder zu Hilfe nachgesprungen, aber es dauerte lange, bis er den immer wieder auftauchenden Jakobus erreichte. Endlich hatte er ihn gefasst, und nun sahen auch die anderen, was vorgefallen war, und steuerten auf die zwei im Wasser Ringenden zu.
Zebedäus war der erste, der Hilfe leisten konnte. Jakobus war ohnmächtig, als er ins Boot gezogen wurde. Johannes kämpfte auch mit einer Ohnmacht, erholte sich aber bald wieder. Zebedäus fuhr nun mit dem Boot wieder in den kleinen Haushafen, und unter Klagerufen wurde der Ohnmächtige ins Haus getragen.
Salome war erschrocken; rasch griff sie mit zu, und bald war man so weit, dass man sich mit dem Ohnmächtigen beschäftigen konnte. Jesus blieb beiseite stehen, und die erregte Salome sagte zu Ihm: „Warum greifst denn Du nicht mit zu; ist dieses auch Deine neue Art?"
„Mitnichten, Mutter Salome, viel zu viel Leute sind hier. Um dir aber zu beweisen, wie recht Ich habe, sage Ich: gehet alle zur Seite!" Ehe die anderen etwas sagen kannten, war Jesus an das Lager getreten, strich mit Seinen Händen über das Gesicht des wie tot daliegenden Jakobus und sagte: „Stehe wieder auf und sei in Zukunft etwas vorsichtiger!"
Da stand Jakobus auf, sah sich längere Zeit um und sagte: „Was ist mit mir bloss geschehen? Vor einigen Augenblicken befand ich mich noch auf einer schönen Wiese, und nun bin ich hier?"
Salome antwortete ihm: „Du bist ins Wasser gefallen und Johannes hat dich wieder herausgeholt. Viel Wasser hast du geschluckt und bist schwach geworden; iss sofort eine oder zwei Zitronen, damit der Wassergeschmack vergeht, sonst wird dir übel werden."
Jesus winkte Zebedäus und sagte: „Lass die Frauen reden, was sie wollen; wir fahren noch einmal hinaus, das Meer wird sich bald beruhigen."
Zebedäus tat, wie Jesus sagte, und wunderbar, das Meer wurde ruhig, und ein schöner Fang wurde getan, so dass alle bis zum späten Abend angestrengt schaffen mussten.
Nach dem Abendmahl konnte Salome nicht schweigen. Scharf griff sie Jesus an wegen Seines Verhaltens zu Hause und bei dem Unglücksfall und sagte: „Jesus, wärest Du mein Sohn, ich würde nicht soviel Geduld wie Deine Mutter mit Dir haben."
Sprach Jesus: „Mutter Salome, willst du mit Mir streiten, dann siehe zu, dass du nicht zu kurz kommst, denn in Mir lebt ein Gott, dessen Wille Mir heilig ist, und diesen Gott zu vertreten, ist Mir heiligste Aufgabe. Deinen Gott kenne Ich auch, aber er hat mit dem Meinen nichts gemein als nur den Namen."
„Jesus", entgegnete Salome erregt, „ich gab Dir kein Recht, meinen Gott herabzusetzen. Wie Du Dir aber das Recht anmassest, von einem Gott zu reden, dessen Wille Dir heilig sei, ist mir ein Rätsel. Denn Dein Verhalten zeigt, dass Du überhaupt nach einem Gott kein Verlangen hast; sonst würdest Du keinen Abscheu vor dem Tempel haben und Dich mit den Priestern auf einen freundschaftlichen Fuss stellen. Es ist empörend, was man von Dir erfährt, und ich halte es für meine Pflicht, Dir dieses zu sägen."
Jesus gab ihr zur Antwort: „Salome, Ich grolle dir deswegen nicht; denn du weisst ja nicht, was du sagst, aber um eines frage Ich dich: Hast du schon einmal ernstlich darüber nachgedacht, ob Ich vielleicht nicht doch recht haben könnte? Sieh dir einmal die Menschen näher an, ist ihr Zustand nicht so, dass sie für Gott verloren und ein Opfer ihrer Eigenliebe, ihrer Hab- und Herrschsucht geworden sind? Was ist euch von Moses geblieben, was von den Propheten, wovon viele durch die von dir gelobten Priester umgebracht wurden? Welcher Dienst ist bei den Priestern der vorherrschende? Doch der, den Zehnten und die untragbaren Steuern einzuziehen. Nein, Mutter Salome, Ich trage einen anderen Gott In Mir, und dieser heisst Liebe und Erbarmung. Warum aber muss Ich schweifen? Weil Ich niemandem wehe tun will. Und warum trete Ich mit dem In Mir gewordenen Licht aus Gott noch nicht in die Öffentlichkeit? Weil Meine Stunde noch nicht gekommen ist. Siehe, der in Mir lebende Gott würde euch im Nu ein Haus erbauen, wie ihr es euch erträumen könntet, und warum kann Er es nicht tun? Weil ihr Ihm die Hände bindet. Aber trotzdem sollt ihr die Herrlichkeit Meines Gottes erleben. Denn trotz des wenigen Bauholzes wird euch das Haus erbaut werden, aber auf natürlichem Wege durch Seine Kraft und Gnade."
„Jesus, es mag sein, dass in Dir geheime Kräfte schlummern, Deine Mutter hat mir soviel von Dir erzählt; die Botschaft höre ich wohl, aber glauben kann ich sie trotzdem nicht."
„Liebe Salome, ob du es nun glauben kannst oder nicht, deswegen wird Gott trotzdem Sein heiliges Werk fortsetzen. Wenn sich Gott in all Seinem Tun nach den Menschen richten wollte, da wäre bald die ganze Schöpfung ein Chaos und Trümmerhaufen. Leider sehen die Menschen ihre Mitmenschen immer mit den Vorurteilen an, die ihre eigene blinde Meinung ihnen geschaffen hat, und darum ist es besser, wir schweigen, und die Zukunft wird die Wahrheit Meiner Worte beweisen."
„Jesus, dies kann ich Dir schon heute sagen: Mit dieser Deiner Meinung wirst Du anderen wenig Freude machen und ebenso wenig Freude erleben. Bleibe ein anständiger und gehorsamer Mensch, dann wird auch Gott und alle Menschen Freude an Dir haben."
„Das werde Ich tun, Mutter Salome, Ich werde Meinem Gott so gehorsam sein, dass Er nur Freude an Mir erleben soll, auch wenn Mich deswegen alle Menschen verdammen."
Salome war betroffen über diese Rede des jungen Jesus, sie schwieg und nahm sich vor, Ihn in den Tagen, wo Er in ihrem Hause war, scharf zu beobachten. Sie gelobte sich, den Söhnen Josephs den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, um keinerlei Veranlassung zu geben, dass Jesus mit ihr unzufrieden sei.
Der Bau ging rasch vorwärts, und Zebedäus nahm gern alle Unbequemlichkeiten mit in Kauf; denn er sah, dass Jesus ihm wirklich ein fast neues Haus erbaute, und schon freute er sich, weil alles nach seinen Wünschen ging. Freilich das eine gefiel ihm nicht, dass Johannes wie eine Klette an Jesus hing. Jede freie Minute war er mit Ihm zusammen. Salome aber sagte sich, dass wenn erst die Bauleute wieder fort wären, auch Johannes wieder in Ordnung kommen werde.


Sturmnacht in Bethsaida - Heilung der Schäden

Da kam eine böse Sturmnacht, wie sie Bethsaida noch nicht erlebt hatte; auch nicht ein einziges Haus blieb verschont, überall waren Schäden entstanden. Zebedäus war gerade in dieser Nacht nicht mit den Booten draussen, weil er auf die Bitte Jesu mit seinen Söhnen den ganzen Tag über hatte schwer zugreifen müssen. Salome hatte deswegen schweren Groll auf Ihn gehabt. Wie froh war sie nun, dass sie ohne Angst und Sorgen sein konnte.
An dem Neubau war der Sturm auch nicht ohne Schaden vorübergegangen, und als der andere Tag alles offenbar werden liess, hob das Klagen an. Nicht nur grosse Schäden an den Hütten, Scheuern und Fischbehältern wurden festgestellt, sondern auch sehr viele Fischer fehlten, und viele Boote waren von dem Sturm zertrümmert worden. Ein furchtbares Wehklagen setzte ein, und die Priester wussten keinen Rat, ja, sie machten sogar dem Volke Vorwürfe: es habe dieses Strafgericht verdient, weil es zu wenig opfere.
Salome wandte sich an Jesus: „Was ist nun Deine Meinung über dieses Strafgericht, das Bethsaida betroffen hat?"
Jesus antwortete ihr: „Mutter Salome, Ich habe darüber keine Meinung; in dieser Zeit sind Stürme keine Seltenheit, und darum muss der Fischer ganz besonders achtgeben auf die Zeichen, die schwere Stürme verkünden. Ich wusste, dass eine schwere Nacht kommen würde; deswegen bat ich Zebedäus, uns bis zum Abend zu helfen, da die Nacht doch wenig Erfolg haben werde. Zu Johannes sagte Ich: ‚Diese Nacht wird schwere Opfer fordern, Ich wollte, sie wäre vorüber.' Du siehst, was Ich im voraus als natürlicher Mensch fühlte, konnten und mussten die anderen auch fühlen und empfinden. Leider ist es aber so: keiner gönnt dem Anderen einen guten Fang, und ein jeder möchte der beste Fischer sein. Hätten sie lieber ihre halbzerfallenen Hütten ausgebessert und ihre Fischbehälter nachgesehen, so wäre der Schaden nicht halb so gross und Todesopfer wären vermieden worden."
„So sprichst Du, Jesus. Jetzt, wo das Elend da ist, lässt sich gut das Spiel umdrehen; warum hast Du denn die anderen nicht gewarnt? Wo blieb denn Dein Gott, dem Du so gehorsam bist? Was Du da sagst, ist eine billige Entschuldigung, nachdem alles so geschehen ist."
„Salome, willst du mit Mir den Kampf, dann siehe zu, wie du ihn bestehen wirst. Jedenfalls werde und muss Ich schweigen, denn Meinen Gott, den Ich in Mir trage und dem Ich diene, lasse Ich von keinem blinden Weibe herabsetzen. Nun siehe zu, wie du mit dir fertig wirst; für dich bin Ich nur noch der Zimmermann Jesus."
Die Geschädigten erfuhren bald, dass der Bau des Zebedäus seiner Fertigstellung entgegengehe; darum kamen sie und baten, die Zimmerleute sollten doch kommen und auch ihnen helfen. Andere klagten, weil ihre Männer und Söhne sich nicht wieder einfänden; wer solle diese Ausbesserungen bezahlen, sie hätten ja alles verloren.
Da fragte Jesus Joel und Jakob: „Wie denkt ihr, wollen wir den Geschädigten helfen? Ein Verdienst springt für uns natürlich nicht heraus." Sprach Jakobus: „Bruder Jesus, in diesen Tagen ist durch die Dir innewohnende Allmacht genug geschaffen worden; könntest Du nicht auch den armen Geschädigten damit dienen?"
„Nein, Brüder, ihres Unglaubens wegen nicht. Trotzdem bin Ich der Meinung, wir wollen ihnen unsere Hilfe nicht versagen, und Gottes Segen wird trotzdem auf unserem Tun liegen."
Sprach Joel: „Was wird aber der Vater Joseph sagen, wenn wir ganz ohne Verdienst heimkommen?"
Antwortete Jesus: „In der Not war auch Vater Joseph immer zum Helfen bereit, Ich denke, wir helfen den armen Menschen."
So geschah es auch. Sobald das Haus des Zebedäus fertig war, gingen die Drei zu den Geschädigten, und sehr rasch gingen die Arbeiten vorwärts, so dass sich alle über das schnelle Arbeiten der drei Zimmerleute wunderten. Da sich nun auch viele freiwillige Helfer einfanden, die mit Hand ans Werk legten, dauerte es nur wenige Monate, und das Nötigste war getan.
Johannes kam in jeder freien Stunde, und als einmal Jesus an einem anderen Hause allein arbeitete, war Johannes enttäuscht, weil er Ihn nicht antraf. Da sagte Jakobus: „Höre, Johannes, ist dir Jesus so ans Herz gewachsen, dass du jede freie Stunde mit Ihm zusammen sein musst?"
„Ja, Jakobus, in mir ist eine Sehnsucht nach Ihm, die ich nicht unterdrücken kann; bin ich aber mit Ihm zusammen, so bin ich auch unbefriedigt. Ich weiss nicht, was das für ein Zustand ist."
„Höre, Johannes, mir ist längst aufgefallen, dass sich Jesus mit dir mehr abgibt als mit irgend einem anderen, und so bitte ich dich, mir zu sagen, ob sich Jesus dir gegenüber betreff Seiner Zukunft geäussert hat. Gerade, seit wir hier in Bethsaida sind, ist Jesus viel zugänglicher als zu Hause oder an anderen Orten."
„Jakobus, ich wüsste nicht, dass Jesus nur ein einziges Mal etwas gesagt hätte über sich oder über das, was Er vorhat. Immer betont Er, dass das in Ihm wache Gottesleben Ihn ganz erfüllen solle und Er ganz eins werde mit diesem Gottesleben. Kannst du, Jakobus, vielleicht etwas Näheres darüber sagen? Es ist mir rätselhaft, dass Jesus immer nur von Dingen spricht, die ich nicht im geringsten fassen kann."
„Uns geht es ebenso, Johannes. Es ist uns gar nicht möglich, mit Jesus in eine Unterhaltung zu kommen, die unser irdisches Sein betrifft. Immer gibt Er die Antwort: ,Ich kann Mich nicht aufhalten lassen von dem, was Mich in Meinem Streben hemmt'; und da sind wir lieber ruhig und lassen Jesus, wie Er ist."
„Du magst recht haben, Jakobus, weil ihr immer zusammen seid; ich aber bin allein, und wenn ihr fort seid, ist gar keine Möglichkeit, mit Ihm zusammen zu kommen, und doch kann ich nicht mehr ohne Ihn sein. Wenn ich ein Mädchen wäre, könnte ich es damit entschuldigen, dass ich in Ihn verliebt sei, aber ich bin ein Mann und liebe Ihn. Und mit einer Innigkeit, die ich niemand sagen kann. Wie viele Mühe gab ich mir, diese Liebe aus meinem Herzen zu reissen, aber es ist nicht möglich."
„Johannes, liebe Ihn weiter mit dieser Innigkeit, und mit der Zeit wirst du Ihn besser verstehen lernen. Ich könnte dir so vieles von Ihm erzählen, dass du staunen würdest, aber tröste dich mit uns allen, wir können Ihn auch nicht verstehen."
„Jakobus, wenn du mir sagst, ich solle Ihn weiterhin lieben, dann kann diese meine Liebe zu Ihm doch nicht krankhaft sein, und ich freue mich, dass du mich etwas frei gemacht hast; aber nun möchte ich doch noch mit Jesus einige Worte wechseln. Wo ist Er denn?"
Johannes eilte nach dem genannten Haus und sah schon von weitem, wie er mit den Hausbewohnern tätig war. Jesus bemerkte ihn und winkte ihm einen Gruss zu. Da beeilte sich Johannes, und Jesus rief ihm zu:
„Johannes, würdest du Mir noch etwas helfen, damit Ich heute noch fertig werde?"
Johannes bejahte es, und Jesus sagte: „Schaffe Mir diese Bretter heran und halte Mir dieselben immer zur Hand, damit es schneller geht." Johannes tat, wie ihm geheissen, und in einer Stunde war der Schaden behoben.
Beim Gehen sagte die Frau: „Geld habe ich leider keines, womit ich Dich entlohnen könnte, wir sind ganz arm geworden."
Sagte Jesus: „Mutter Sarah, so arm bist du nicht, wie du denkst, denn immer noch hast du einen Gott, der überreich ist; vertraue Dem ganz, dann wirst du auch diese deine irdische Armut nicht mehr so fühlen."
Johannes war erstaunt über diese Worte, denn gerade in diesem Haus war das Unglück am grössten.
Da sagte diese Frau unter Weinen: „Junger Mann, das Vertrauen zu Gott ist schon ein Reichtum, aber was zu hart ist, ist zu hart."
Sagte Jesus: „Und Ich sage dir: morgen um diese Zeit hast du nicht genug Worte, um danken zu können. Gott ist getreu und lohnt Treue mit Treue, Vertrauen mit Belohnung."
„Junger Mann, Deine Worte lassen mich hoffen, o wenn Du recht hättest, wie wollte ich danken."
„Mutter Sarah, danke schon heute, denn im Danken machst du dein Herz frei von dem Druck, während beim Bitten und Betteln dir deine Not nur noch härter erscheint. Glaube Meinen Worten und vertraue und sage auch deiner Tochter, dass sie aufhören soll mit Klagen, denn Gott erhört Gebete, aber sie müssen aus einem gläubigen und vertrauenden Herzen kommen. Mutter Sarah, sieh mich nicht so verzweifelt an, sondern glaube, vertraue und danke!"
Johannes war sprachlos. Als er mit Jesus gegangen war, sagte er: „Mein Jesus, war das recht, dass Du der alten Sarah Hoffnungen gemacht hast; wenn sie sich nun nicht erfüllen?"
„Johannes, wenn du Mich liebst, wie du heute Meinem Bruder gesagt hast, dann setze keinen Zweifel in Meine Worte; auch dir möchte Ich dasselbe sagen: vertraue und glaube! Kann das Liebe sein, die in des Bruders Liebe Zweifel setzt? Ich denke nicht, denn Liebe ist etwas Heiliges, etwas, was aus dem Herzen Gottes dem Menschen als Geschenk gegeben ist. Wenn du dieser Meiner Liebe Zweifel entgegensetzt, dann hast du auch Gott Zweifel entgegengebracht."
„Jesus, jetzt verstehe ich Dich wieder nicht; sage mir doch dies eine: Wie kommt es, dass wir uns nicht verstehen lernen?"
„Liebster Johannes, Ich verstehe dich völlig, aber du Mich nicht. Habe Ich doch das grösste Interesse, dass gerade du Mich verstehen lernst, und darum muss Ich dich aufmerksam machen, um alles Trennende noch zu beseitigen."
„Weisst Du, Jesus, was mir am liebsten wäre? Ich möchte mit Dir kein Wort mehr reden und mich nur an Dich anlehnen, möchte Deinen Pulsschlag fühlen und mich ganz in Deine Gedanken hineinleben."
„Ich hindere dich nicht, lieber Johannes, aber im Geiste kannst du es ja immerhin tun. Um es dir aber im voraus zu sagen, merke auf: Damit kommst du nicht zum Ziele, denn Gott gab dem Menschen zu seinem Gefühle auch einen Verstand, und beides muss im rechten Sinne angewendet werden."
„Jetzt habe ich Dich verstanden, mein Jesus, und ich werde es beherzigen, aber nun muss ich heim."
„Gehe heim, Johannes; deine Mutter verlangt nach dir, ab morgen sind wir beim Jonathan."
Als Johannes heim kam, hagelte es Vorwürfe wegen seiner Besuche bei Jesus, worüber er die Pflicht im Hause ganz ausser acht lasse. Doch diesmal wies Johannes die Vorwürfe zurück, weil der Vater ihm die Erlaubnis gegeben habe. „Überhaupt bin ich alt genug", sagte er zu seiner Mutter, „dass ich selbst meine Pflichten kenne."
Ganz erregt entgegnete Salome: „Hier sieht man wieder den Einfluss deines Jesus, Wisse: dies hört nun auf!"
Erwiderte Johannes: „Mitnichten, Mutter; Jesus setzt alles daran, mich zu einem freien und bewussten Menschen zu erziehen, und Er spricht nur Gutes über unser Haus. Jesus ist mein Freund und Bruder, und es geht nicht an, dass du mit einem Verbot mich von Ihm trennen willst. Gehe einmal hin zu Sarah und höre, was Jesus ihr zum Abschied sagte: Sie solle glauben und vertrauen und schon im voraus für das danken, was sie und ihre Tochter Gutes erleben würden."
„Hier sieht man wieder den Schwärmer und Phantasten: die Menschen haben schon recht, wenn sie sagen, Er sei eine Gefahr für das Volk."
„Mutter", schrie Johannes da auf in wildem Schmerz, „hast du schon das Gute vergessen, das wir bei unserem Bau erlebt haben? Wie soll ich denn die kindliche Liebe und Achtung vor dir aufrecht erhalten, wenn du ungerecht, und zwar bewusst ungerecht gegen meinen Freund bist."
„So gehe doch ganz mit deinem Jesus, wenn ich, deine Mutter, dir nicht mehr genüge!"
In diesem Augenblick kam Zebedäus, der alles mit angehört hatte, und sprach: „Salome, wäre es nicht besser, du schwiegst? In diesem Falle muss ich Johannes recht geben. In diesen Tagen habe ich Jesus als einen Mann kennen gelernt, der weiss, was Er will. Ich kann es nur begrüssen, dass sich Johannes inniger an Ihn anschliesst als an seine gleichaltrigen Freunde. Jesus ist doch wenigstens fünf Jahre älter."
Am nächsten Tage kehrten verschiedene Fischer wieder zurück, darunter auch Sarahs Mann und Schwiegersohn. Johannes sagte deswegen zu seiner Mutter:
„Mutter, Jesus hat mit Seiner Verheissung doch nicht unrecht gehabt, und den nächsten Sabbat werde ich mit Ihm zusammen verleben."
Als es aber Sabbat war und Johannes zu Jonathan kam, war Jesus ganz in der Frühe fortgegangen. Jakobus sagte zu ihm: „Johannes, Jesus offenbart nie, was Er am Sabbat tut, und wir sind es von Ihm so gewöhnt. Wir gehen in die Synagoge mit dem ganzen Haus Jonathan."
Für Johannes war dies eine Enttäuschung, er schloss sich Jakobus an und verlebte mit ihm den Sabbat in der Synagoge, worüber Mutter Salome rechte Freude hatte.


Johannes feiert mit Jesus den Sabbat

In dieser Woche hatte Johannes keine Gelegenheit, mit Jesus zusammenzukommen, und darum benützte er den Vorsabbat, um zu Jesus zu eilen.
„Warum kommst du zu Mir", sprach Jesus, „du weisst doch, dass deine Mutter es nicht mag."
„Jesus, ich muss mit Dir sprechen, mein ganzes Wesen drängt zu Dir; darum lass mich bei Dir sein und den Sabbat mit Dir verleben."
„Johannes, Ich schicke dich nicht fort, aber Ich weiss, dass du enttäuscht sein wirst, und so magst du immerhin bei Mir verbleiben."
Schon in der ersten Morgenfrühe verliessen beide das Haus und wanderten weit nach dem Gebirge. Zuerst war die Unterhaltung rege, dann aber sagte Jesus:
„Johannes, wir wollen schweigen, damit wir uns erproben und erforschen können; sonst ist der Zweck verfehlt, den Ich mit dieser Sabbatfeier verbinde. Ich habe dich aufmerksam gemacht, dass du eine Enttäuschung erleben wirst, und es geht nicht, dass Ich, um deine Schwäche zu unterstützen, Mein Vorhaben versäume."
Johannes schwieg nun und beschloss, sich ganz in Jesu Leben hineinzuversetzen. Nach längerem Schweigen wurde es auch in ihm lebendiger. Doch hatte er keine Ahnung, was dieses Leben in ihm zu bedeuten habe, und dachte über Verschiedenes nach. Inzwischen waren beide am Ziel angekommen. Johannes wusste nicht, wo sie sich eigentlich befanden, denn durch das Nachdenken hatte er wenig auf den Weg achtgegeben. Sie waren auf einem ziemlich hohen Berg angelangt, der schöne Aussicht bot, und hier sagte Jesus: „Johannes, hier werden wir bleiben, bis sich die Sonne neigt, achte auf alles in und ausser dir!"
Jesus setzte sich in einer Lichtung nieder und blieb ruhig, Johannes aber beobachtete Jesus. Merkwürdig, dachte er, mir sagt er, ich solle alles in mir und um mich beobachten, Er dagegen schliesst die Augen und nimmt keinerlei Notiz von allem; das ist komisch.
Nach einer längeren Zeit begann sich Johannes zu langweilen, eine bleierne Müdigkeit überkam ihn. Er versuchte auch nicht, dagegen anzukämpfen, sondern schlief ein. Er musste lange geschlafen haben, denn die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er erwachte.
Er musste sich erst besinnen, wo er eigentlich war, denn er hatte einen lebhaften Traum geträumt, dessen Sinn er nicht begriff. Er suchte nach Jesus, fand Ihn aber nicht; erst als er einige Schritte nach rechts und auch nach links gegangen war, sah er Ihn sitzen, aber wieder in schlafender Stellung.
Soll ich Ihn aufwecken, überlegte er. — Eine sonderbare Sabbatfeier: stundenlang laufen wir, um dann auf dem Berge zu schlafen, stimmt denn das? Ich muss Ihn doch darüber befragen.
Da kam wieder das Traumgesicht. Merkwürdig, dass man auch mit offenen Augen träumen kann, musste er denken, nein, so etwas habe ich noch nicht erlebt, wenn es so fort geht, wird mir der Sabbat wirklich zu einem Rätsel. Er setzte sich wieder nieder und lehnte sich an einen Baum und wieder erlebte er den Traum.
Wie von ungefähr schloss er die Augen. Der Traum wirkte diesmal viel natürlicher, er konnte dazu denken. Aber jedesmal, wenn eigene Gedanken aus ihm kamen, fing der Traum oder das Bild von vorn an. Nun war aller Schlaf von ihm gewichen.
Mit geschlossenen Augen sieht er eine grosse Veranda, auf Säulen ruhend, im Hintergrund einen grösseren Garten mit einem Teich, auf dem allerhand Tiere sich tummeln. Links davon steht ein Häuschen und vor diesem ein Mensch. Nach den weissen Haaren zu schliessen, muss der Mann sehr alt sein; er hat einen Korb am Arm hängen und geht in den Garten. Er schneidet Blumen, aber nur eine bestimmte Auswahl scheint er zu schneiden, denn nicht jede Blume nimmt er. Nun erlebt Johannes, wie der Mann mit seinen Blumen spricht, kann aber davon kein Wort verstehen. Nun ist das Körbchen voll, und der Mann geht an den Teich und winkt einen Schwan heran. Anmutig kommt das Tier geschwommen, der Mann hebt das Körbchen dem Tier in den Schnabel, und dann schwimmt es weiter. Mit gespannten Blicken folgt Johannes dem Tier.
Am Ufer, nach der Veranda zu, kommt ein kleiner, vielleicht zwölfjähriger Junge und nimmt den Korb in Empfang. Nun sieht er, wie der Junge in der Veranda, in der ganz hinten ein kleiner Altar steht, ein Gefäss nimmt und die Blumen hineingibt und es dann wieder auf den Altar stellt. Der Junge geht ein paar Schritte zurück, als wollte er sehen, ob das Gefäss seinen richtigen Platz hat, dann verneigt er sich und ist verschwunden. Mit den Augen sucht Johannes den Jungen; er ist weg, einfach in der Veranda verschwunden.
Da geht sein Blick wieder hin zu dem Altar; da ist aus den Blumen ein riesengrosser Kelch geworden, in dem goldgelber Wein funkelt. Dieses Funkeln wird durch einen Sonnenstrahl hervorgerufen. Jetzt aber wechselt der Wein die Farbe und wird rot, blutrot; und zwar durch ein Licht, das eine aufgehende Sonne ist. Der gefüllte Kelch strahlt nun rotes Licht aus. Das Strahlen wird immer mächtiger, und die ganze Umgebung ist in ein kräftiges Rot eingehüllt. Und immer weiter und heller wird das Leuchten, und aus dem leuchtenden Kelch tritt ein neues, weisses Licht, erst wie ein kleiner Stern, dann aber immer grösser werdend. Auf einmal ist der Stern überlebensgross, und ein Mensch in einem strahlenden Gewand tritt aus diesem Lichtstern und nimmt den noch blutigrot leuchtenden Kelch, trinkt den Inhalt und wird im Nu zu einer Leuchte.
Johannes möchte diesem leuchtenden Menschen entgegengehen, aber dieser spricht:
„Ich bin das Licht der Welt, wachse und reife, damit auch du zu einem Leuchter wirst und zu einem Abglanz dieses Lichtes, das keine Schatten wirft!"
Bei diesen Worten verschwand das Gesicht und Johannes dachte: gibt es denn ein Licht, das keine Schatten wirft? Dies ist mir ein Rätsel, es müsste denn das Licht von allen Seiten auf mich eindringen. Er blickte auf Jesus, der ihn nun mit offenen Augen ansah und ihm zunickte; da ging er auf Ihn zu und sprach:
„Jesus, gibt es ein Licht, das keine Schatten wirft?"
„Gewiss ist, Johannes, dass Gott Licht ist, und dass Licht aus Gott nicht Schatten werfen kann, müsstest du wissen, weil dieses Licht alles durchdringt. Dieses Licht aber kann nur von jenen gesehen werden, die das Licht aus Gott aufgenommen haben, und ist gleichbedeutend mit Weisheit aus der Urweisheit. Urlicht oder Urweisheit verbunden mit Urkraft sind die Elemente, aus denen alles, was ist, geschaffen und erhalten wird. Im Materiellen ist es gebunden, im Seelischen ist es zu empfinden und im Geistigen frei wirkend."
„Mein Jesus, das verstehe, wer kann, ich nicht; eben habe ich ein Gesicht gehabt, das ist mir genau so schleierhaft wie Deine Erklärung."
„Johannes, forsche nicht vor der Zeit nach Dingen, für die eine Reife da sein muss. Noch viele Gesichte wirst du erleben, aber den Schlüssel zu ihrem Verständnis wirst du in dir selbst finden. Vor allen Dingen verstehe, dass sich in deiner inneren Welt erst noch vieles klären muss und darum lehne dich im Geiste an Mich an, damit du von Meinem Geiste berührt wirst. Suche Mich zu verstehen und dich in Mein Leben und Mein Wollen hineinzuleben, und du wirst reifen in der Gnade Gottes und frei werden von noch so vielen falschen Begriffen."
„Jesus, das vermag ich noch nicht zu fassen, aber ich glaube Dir. Ich liebe Dich wie einen Bruder und brauche Dich nötiger, als Du denkst."
„Johannes, Ich weiss um alles, und so versichere Ich dir: Ich liebe dich ebenso und setze auf deine Liebe das grösste Vertrauen. Nur um eines bitte Ich dich: hänge dich nicht zu sehr an Meine Person, sondern erfasse den Geist, um den Ich ringe: den Geist des Lichtes und des Lebens aus Gott!"
„Siehst Du, Jesus, jetzt verstehe ich Dich schon nicht mehr; bist denn Du als Person und Dein Dich belebender Geist nicht ein und dasselbe?"
„Nein, noch nicht, eben um das ringe Ich, damit in Mir sich alles eine und der Geist alles Lebens aus Gott zum Führenden und Handelnden in Mir wird."
Als zur Nacht Johannes müde und hungrig nach Hause kam, konnte seine Mutter nicht schweigen und machte ihm Vorwürfe.
Johannes aber sagte: „Mutter, was ich erlebt habe, ist gross gewesen; leider habe ich noch nicht das Verständnis, es zu würdigen; jedenfalls kann mir das kein Priester offenbaren, was mir heute Gott geschenkt hat. Heute habe ich das Bedürfnis zu ruhen, aber morgen werde ich euch alles schildern."
Man verstand nun auch Johannes nicht mehr.


Hilfe für die vom Sturm Geschädigten

An einem Tag kam Jonathan zu Zebedäus und sagte:
„Bruder im Herrn, ich habe eine grosse Bitte, und zwar handelt es sich um die Zimmerleute. Wie ihr wisst, sind sie bereit, den Geschädigten ihre Schäden auszubessern, aber es fehlen ihnen die Mittel und das Holz. Was ist zu tun?"
„Ja, Bruder, wir müssen ihnen helfen. Kann nicht Jesus einen Rat geben? Auf diesem jungen Menschen ruht mein Wohlgefallen. Welch eine Klarheit in Seinen Anordnungen, die Er Seinen älteren Brüdern gab, und wie sich alles fügte. Gerade Jesus verdanke ich, dass ich an dem verhängnisvollen Abend nicht zum Fischen fuhr und dadurch vor grösserem Schaden bewahrt worden bin."
„Wenn dem so ist, werde ich mit Jesus reden; würdest du mir dabei behilflich sein?"
„Nun gut, da erübrigt sich nun alle weitere Erörterung, gehen wir einmal an die Nazarener heran."
Zebedäus nahm sein Boot, ebenso Johannes, und so fuhren sie hinaus, und da sie wenig gefangen hatten, steuerten sie nach der Hütte Jonathans, wo die drei tüchtig geschafft hatten. Johannes war überglücklich, weil sein Vater zu Jonathan gehen wollte.
Es traf sich gut: Jonathan und Zebedäus kamen gerade zu der Zeit an, da die drei Feierabend gemacht hatten. Zebedäus betrachtete die geleistete Arbeit mit Kennerblicken und zollte offen sein Lob. Da sagte Jesus:
„Zebedäus, du bist doch nicht gekommen, um uns zu loben; was hast du auf dem Herzen?"
Sagte Zebedäus: „Mein lieber Jesus, die Not der anderen ist unsere Sorge, und wir hätten euch einmal gern um Rat gefragt, wie ihr abzuhelfen sei."
Joel sprach: „Brüder, wir möchten heim, denn wir werden erwartet; aber Jesus meint, wir müssten helfen, aber wie?"
„Ja, das Wie ist eben unser Anliegen."
Sprach Jesus: „Brüder, ich wüsste einen Weg; ob er aber eure Zustimmung findet, ist fraglich, und ohne eure Zustimmung ist es nicht zu machen, und zwar handelt es sich um das nötige Holz. Diese Wälder gehören einem Heiden, einem Griechen. Dieser würde euch das Holz um einen geringen Preis ablassen, wenn ihr ihm eine Gegenleistung bieten wolltet."
„Warum nicht", sprach Zebedäus, „um was handelt es sich?"
„Um nichts anderes, als dass ihr ihm Holz schlaget zu einem Schaf- und Schweinestall und es ihm auf euren Schiffen zu seinem Ladeplatz bringt."
„Das wird nicht gut gehen", meinte Jonathan, „für Schweineställe gibt der Priester keine Erlaubnis."
Sprach Jesus: „Brüder, wenn ihr euch auf euren Priester stützt, so mag auch der Priester Sorge tragen, dass diese Not beseitigt wird. Ich weiss aber, dass um anderer Not willen eure Priester keinen Finger krumm machen.
Ich meine: entscheidet aus euch und fraget eure Priester nicht, und Ich versichere euch: das Bauholz bekommt ihr umsonst und auch einen Lohn, den wir fordern."
Zebedäus sagte: „Jonathan, das können wir auf uns nehmen, und die anderen haben nicht danach zu fragen, wozu das Holz geschlagen und wohin es befördert werden soll; ich nehme alles auf mich, da ich den Brüdern, vor allem Jesus, sehr viel zu danken habe."
Jesus fragte: „Was wird aber dein Weib dazu sagen?"
„Es wird nicht so einfach sein, aber die Not ist gebieterisch und da muss gehandelt werden."
„Gut, mein Bruder, aber wenn dein Weib erfährt, dass Ich den Schweinestall baue, was wird sie dann sagen?"
„O Jesus, Du meines alten Freundes Josephs Sohn, das wird einen gewaltigen Aufruhr geben. Trotzdem werden wir Deinen Rat befolgen, und Johannes mag morgen zu dem Griechen fahren und ihn zu mir oder zu euch bestellen."
„Gut, ihr Brüder, Ich habe es nicht anders erwartet; auf Meine Brüder kann Ich Mich verlassen, denn wir sind nicht in Nazareth, und die Priester fürchte Ich nicht."
Johannes war ausser sich. Wie konnte Jesus nur so leichtsinnig sein und über die Köpfe der Priester weg handeln; aber Zebedäus befahl, den Griechen zu bestellen.
Der Grieche, der als ein finsterer Heide, aber auch als ein Wohltäter der Armen bekannt war, hatte rechte Freude, als Johannes mit der Botschaft kam, er solle recht bald seinen Vater oder Jonathan besuchen, es handle sich um das Bauholz.
Johannes wurde gut bewirtet und noch um so manches befragt, dann kehrte er heim.
Am anderen Tage schon kam der Grieche zu Zebedäus. Sie waren alte Bekannte. Zebedäus sagte: „Freund, komm mit zu Jonathan; dort sind die drei Handwerker, da lässt sich alles rasch erledigen."
So kam es auch, denn Jesus ging auf alle Wünsche des Griechen ein, ja Er ging noch weiter: auch seine Fischkästen wolle Er ihm bauen. Da versprach der Grieche:
„Mein junger Freund, wenn ihr alles so nach meinen Wünschen vollbringt, dann zahle ich nicht nur die Arbeiten bei mir, sondern alles, was in den Fischerhütten auszubessern ist. Holz lasse ich genügend schlagen, und euch nehme ich die ganze Zeit in Kost und Wohnung."
Sprach Jesus: „Lieber Freund, Meine Brüder mögen die Schäden bei den Fischern ausbessern, und Ich richte dir alles nach deinen Wünschen. Ich bedarf nur einiger deiner Leute, die Mir zur Hand gehen."
Sagte Jonathan: „Jesus, weisst Du auch, was Du willst? Die Arbeiten willst Du allein machen, nur mit Hilfe einiger Leute? Mir ist das zwar recht und lieb, schon um der Templer willen."
„Jonathan, kein Templer wird etwas erfahren, wenn ihr schweigen könnt, und um der Geschädigten willen könnt ihr das Opfer bringen. Sorget euch ja nicht um Mich, denn Ich weiss, was Ich will."
So ging nun Jesus mit dem Griechen, da schon anderntags mit dem Holzschlagen angefangen werden sollte, und die beiden Fischer versprachen, in Gemeinschaft mit jenen, denen geholfen werden sollte, das Holz nach seinem Ladeplatz zu bringen.
Einen vollen Monat blieb Jesus bei dem Griechen. Inzwischen hatten Joel und Jakob die Schäden beseitigt, neue Fischkästen hergerichtet, und am Vorsabbat war soweit alles fertig.
Der Grieche selbst brachte Jesus zu Jonathan und seinen Brüdern und verlangte von Joel die Rechnung.
Joel war befangen, er wagte nicht, auch nur einige Groschen zu fordern. Da sagte der Grieche:
„Ich sehe, du hast keinen Mut, mir die Rechnung zu machen, aber von der Liebe allein kann der Mensch auch nicht leben. Jesus hat mir in einer Weise geholfen und mir ausserdem Dinge offenbart, die überhaupt nicht mit Gold und Silber aufzuwiegen sind. Darum gebe ich euch 100 Groschen auf die Reise, und diese Tasche übergebt eurem alten Vater Joseph zu seiner eigenen Verwendung. Der Inhalt sind ein Pfund Gold und drei Pfund Silber. Wenn ihr noch irgendwelche Wünsche habt, so teilet sie mir mit, damit ich sie erfüllen kann."
Joel, betroffen von der Höhe der Summe, wehrte ab. Aber der Grieche sagte: „Freunde, sagt kein Wort und schweiget vor jedermann. Durch Jesu Hilfe bin ich ein anderer Mensch geworden. Freilich, ein Jude werde ich nach aussen nicht werden. Innerlich bin ich längst einer; aber warum soll ich den Priestern Opfer geben, wo ich von der grössten Armut umgeben bin? Alle Fischer lieben und achten mich, nur die Priester nicht, und das schlichte Danken einer armen Fischersfrau ist mir ein Himmelsgeschenk, und dies genügt mir."
Sprach Jakobus: „Freund, da es dein Wunsch ist, werden wir schweigen, aber fragen möchte ich dich: ist alles nach deinen Wünschen gegangen? Die alten Fischer waren so erfreut, dass ihnen keine Arbeit zu viel war, um das viele Holz zu befördern, und es ging ohne jeden Unfall ab."
„Jakobus, ich bin restlos glücklich, nicht nur meine Wünsche, die ich äusserte, sondern auch die, die ich geheim in mir trug, sind erfüllt worden. Was würde ich darum geben, wenn Jesus für immer zu mir käme!"
Jesus hatte inzwischen mit Simon Juda und dessen Mutter noch so manches besprochen, da kamen noch Zebedäus und seine beiden Söhne Jakobus und Johannes. Johannes war ganz beglückt, seinen Jesus wieder zu sprechen. Er hatte allerhand zu fragen. Jesus aber umarmte ihn und sagte: „Johannes, frage nicht, denn du wirst in dir alles beantwortet finden; übe dich nur weiter darin, dich in deinem Innern umzusehen, und in kurzer Zeit wirst du Mich besser verstehen lernen. Aber dies eine kann Ich dir sagen: schweige auch du über deine inneren Erlebnisse und wisse, dass der Herr und ewige Gott jedem Menschen die Hand zur Hilfe ausstreckt. Möchtest du morgen gern mit Mir wieder zusammen sein, dann komme in der Frühe an den Ladeplatz des Griechen."
„Zu dem Heiden willst Du gehen? O Jesus, da kann ich Dich nicht begleiten, denn wenn die Mutter fragt, wo ich hingehe, kann ich nicht lügen."
„Du sollest auch nicht lügen. Du kommst zu Mir, und alles andere überlasse Mir!"
Schon frühzeitig war Johannes an dem Ladeplatz. Jesus hatte ihn erwartet und sagte nach der Begrüssung zu ihm:
„Johannes, ärgere dich nicht über Mich, wir bleiben heute bei dem Griechen. Heute wird es noch ein schweres Gewitter und viel Sturm geben; so lange werden wir bei ihm im Hause bleiben. Dann gehen wir auf eine Anhöhe und werden unseren Sabbat in Ruhe verleben."
Im Hause des Griechen ging es auch ruhig zu; dessen Gesinde hielt Sabbatruhe. Der Grieche erzählte, wie er in seinem Leben Gott erlebt hatte.
Johannes lauschte, eigenartig berührten ihn die Erzählungen des weitgereisten Mannes. Hier kam ihm einmal ein erfahrener Mensch entgegen, der sich mit jedem Priester messen konnte. Auch als das Gewitter anfing, alle Herzen unruhig zu machen, blieb der Grieche ganz ruhig. Als er aber Jesus fragte, ob auch bei diesem Sturm Schäden entstehen würden, gab ihm Jesus die Antwort: „Heute brauchst du dich nicht zu bemühen, keinem wird etwas geschehen; bleibe weiterhin ruhig!"
Dann schaute Johannes auf beide und dachte: Der Grieche ist mit Jesus im vollen Einverständnis, während ich mir immer allerhand Gedanken mache.
Die Sonne schien wieder, und bald war strahlend helles Wetter; da sagte Jesus: „Nun werden wir auf die Anhöhe gehen und dort, bis sich die Sonne neigt, bleiben."
Da liess der Grieche die beiden allein, und Johannes fragte; „Hast Du dem Griechen das Mitkommen untersagt?"
„Nein, Johannes, er weiss, dass Ich den Sabbat über allein sein will, und so bringt er Mir dieses Opfer; wir werden aber trotzdem heute noch einige Worte mit ihm wechseln."
An diesem Nachmittag erlebte Johannes nichts, doch Jesus weihte ihn ein in Seine Sendung, die Johannes freilich nicht recht fassen konnte.
Der Grieche brachte es aber nicht fertig, in seinem Hause zu bleiben, er suchte und fand auch die beiden. Als Jesus ihn bemerkte, winkte Er ihm zu, und ohne ein Wort zu sagen setzte sich der Grieche zu ihnen.
Jesus gab nun ein herrliches Bild von dem Vater, den Er in sich fühlte, und bald waren beide so ergriffen, dass sie Zeit und Stunde vergassen. Jesus aber mahnte schliesslich zum Aufbruch; am Ladeplatz nahm Er von dem Griechen Abschied und bat ihn nochmals, er solle über alles schweigen, im Geiste werde er alles miterleben.
Lange sahen sich beide an, dann bestiegen sie das Boot, und lange noch winkte ihnen der Grieche nach. Ein guter Wind trieb das Boot, und in kurzer Zeit waren sie bei Jonathan.
Johannes nahm innigen Abschied von Jesus, mehrmals küsste er Ihn, und dann fuhr er mit gutem Wind nach seinem Elternhause.
Diesmal sagte Salome nichts zu ihrem Sohn, aber Jakob fragte: „Wo warst du heute?"
„Bei Jesus, Jakob, heute habe ich viel von Ihm erfahren. Ich soll aber schweigen, und darum bitte ich dich: dringe nicht in mich; jetzt habe ich von Jesus ein anderes Bild bekommen."
Nun kam eine lange Wartezeit, ehe Johannes wieder mit Jesus zusammentraf. Die erste Zeit übte er sich in der Verinnerlichung, später aber verblasste das Erlebte, und über ihn kam eine steigende Unruhe. Von Jesus erfuhr er so gut wie nichts, nur manchmal, so es sich schickte, unterhielt er sich mit dem alten Griechen. Dies war jedesmal eine Auffrischung seines mit innerer Unruhe erfüllten Wesens. Einmal lud der Grieche ihn ein, zu ihm auf seine Besitzung zu kommen, und Zebedäus bewilligte diesen Besuch.
Dort fuhren sie hinaus auf das Vorwerk, und nun sah Johannes den Schaf- und Schweinestall, den Jesus erbaut hatte. „Ja", sagte der Grieche, „das ist das Werk des jungen Jesus. Kannst du dir vorstellen, dass Er mit vier Leuten ihn in drei Wochen fertig brachte? Ich nicht, denn Er bat mich, ferne zu bleiben, bis er fertig damit sei."
„Das hat Jesus erbaut? Das ist ja fast ein Wunder zu nennen für diese kurze Zeit."
„Ja, noch mehr: auch diese Wohnhäuser sind Sein Werk, das heisst, alte standen da, und neue sind es geworden. Wir wollen einmal hineingehen."
Da staunte Johannes und sagte: „Nun verstelle ich Ihn immer besser, aber ich bin trotzdem voll der grössten Unruhe."
„Wieso, junger Freund, vor dir liegt ja noch ein langes Leben; ich aber bin recht müde geworden. Möchtest du nicht hier bei mir bleiben? Meine Söhne besitzen mein Wanderblut und sind tüchtige Kaufleute geworden."
„Ich muss ablehnen", erwiderte Johannes, „denn Ich bin und bleibe ein Fischer und helfe meinem Vater nach bestem Wollen und Können."
„Schade, mein Sohn, auch Jesus hat mir meinen Wunsch abgeschlagen; nun muss ich eben ein Einsamer bleiben, da mich leider fast niemand kennt und auch nicht versteht."


Aussprache zwischen Jesus und Johannes

Zebedäus fuhr mit seinen Söhnen mit einem grossen Boot nach Tiberias im Auftrage des alten Griechen. Diese Fahrt brachte dem Zebedäus einen grösseren Gewinn, und die Freundschaft mit dem Griechen wurde immer inniger. Johannes bat seinen Vater um Urlaub nach Nazareth, aber Zebedäus wollte nicht so lange bleiben, da es Ihn wieder nach Hause trieb. Johannes war enttäuscht, doch am Abend, als sie in der Herberge beim Abendmahl sassen, kam Joseph mit seinen Söhnen, um dort Quartier zu nehmen. Johannes war überglücklich. „Endlich, endlich, mein lieber Jesus, kann ich Dich wieder einmal sehen und Dir in Deine treuen Augen schauen. Du hast mir sehr gefehlt."
„Johannes, hast du vergessen, dass wir uns nie mehr trennen können? Lebt in dir nicht die Gewissheit, dass Ich von keinem verloren werden kann, der Mich innig liebt und in sich Meinen Geist und Mein Wesen aufnimmt? Mein Johannes, deine Liebe in Ehren, aber sie ist eine schwärmerische Liebe und will nur Erfüllung in ihrer Sehnsucht. Ich aber brauche Brüder, die Meines Geistes Wehen erfassen und verstehen, denn was Ich will, sollen auch die wollen, die mit Mir eins werden wollen. Warum, Johannes, hast du das Leben wieder verflachen lassen, das in der Verbindung mit Mir aufzuleben begann; es hat Mir übergrossen Schmerz bereitet. All deine Sehnsucht, mit Mir zusammen zu sein, brauchte nicht zu sein, denn Grosses durftest du mit Mir erleben, und Meine Werke, die du bei dem alten Griechen schauen konntest, mussten dir sagen, dass in Mir mehr lebt als in den Menschen sonst. Darum, Mein Johannes, merke dir gut, was Ich dir sage; denn in Meinem Geist werden dir auch Offenbarungen kommen, die dich in das Leben der Liebe und Weisheit führen werden."
„Jesus, mein Jesus, wenn ich Dich nur so recht verstehen könnte, den Willen habe ich ja, und unser Verhältnis ist doch ein überaus herzliches."
„Ja, Johannes, aber nicht ein herzliches Verhältnis ersehne ich, sondern ein innerliches."
„Jesus, wie soll ich das wieder verstehen, ist meine Sehnsucht nach Dir denn nicht eine innerliche?"
„Noch nicht, mein Johannes. Sehnsucht ist ein Verlangen nach Erfüllung und ist der Beweis, dass du Mich innerlich noch nicht erkannt hast und Meinem Geist noch ferne bist. In der Sehnsucht nach Mir bist du ein Verlangender, in Meinem Geiste aber ein Gebender. In der Sehnsucht bekundest du noch Schwäche, während die, die Meinen Geist aufnehmen, schon zu den Starken zu rechnen sind."
„Jesus, Du wunderbares Wesen von Fleisch und Blut, ich ahne Grosses in Dir und glaube, Dich auch etwas verstehen zu können, aber Dein Menschliches macht mich immer wieder irre."
„Johannes, hast du doch zur Genüge von den Ältesten und auch Priestern vernommen, was Moses und die Propheten geweissagt haben. Ist da von einem Menschen, der sich von seinem Menschlichen leiten lassen wird, oder von einem Menschen, der voll des Gottesgeistes ist, die Rede?"
„Du hast recht, Jesus, dieser kommende Mensch soll mit allem Göttlichen erfüllt werden, weil Er den Sieg über allen Tod und alles Gericht bringen soll."
„Ganz recht, Johannes, nun versetze dich in den Kommenden und mit Sehnsucht Erwarteten; deine innere Erkenntnis und dein innerer Geist werden dem Kommenden Herz und Türe öffnen, und in dir wird die Sehnsucht zum Leben und das Leben zur Liebe, und die Liebe eint dich mit dem so heiss Ersehnten. Und dieses alles sind innerliche Vorgänge, um die du dich selbst gebracht hast durch deine eigene Lauheit und deine dir noch so sehr anhaftende Schwäche. Versuche es nur wieder und lass dich nicht abschrecken, wenn du Dinge in dir erlebst, die dir nicht gefallen."
„Wenn du es willst, mein Jesus, so werde ich es wieder tun, und ich sehe auch ein, dass Du innerlich ein ganz Grosser bist. Wie kommt es aber, dass mich dieses alles nicht befriedigt hat und ich nur in der Verbindung mit Dir volle Erfüllung finde? Es vergeht doch kein Tag, wo ich nicht Deiner gedenke, und kein Abend, wo ich mich nicht mit Plänen abgebe, wie ich Dich treffen und mit Dir zusammen sein könnte."
„Siehe, Johannes, das ist eben der grosse Umweg; erfasse Mich mit ganzem Herzen und ganzem Gemüte und stosse dich an nichts Menschlichem bei Mir und deinen lieben Nächsten, und du bist auf dem Wege, auf den Ich dich weise. Ich könnte dich mit grosser Kraft und Weisheit erfüllen; was wäre dir aber damit gedient? Alles wäre Mein Werk, und Meinem Herzen würdest du immer fremder werden, die göttlichen Gnadengüter würden dir zu einem Gericht und deinen Brüdern zu einem Richter. O nein, Mein Johannes, du bist der Liebe geweiht, in Liebe sollst du aus dir erstehen; Leben sollst du durch die Liebe offenbaren, das nur denen gegeben ist, die Mich erkannt und Meinen Geist aufgenommen haben."
„Jesus, Jesus, so hast Du noch nie zu mir gesprochen; ich sehe ein: mit meiner Sehnsucht nach Dir kommen wir uns nicht näher, aber da ich Dich nie mehr lassen kann, will ich Deinen Worten folgen und tun, wie Du es mich auf dem Berge geheissen hast."
„Tue es, Mein Johannes, und nun lass uns das Lager aufsuchen."
„Jesus, ich werde noch nicht schlafen können, denn Deine Worte werden in mir wie ein Ackerpflug alles aufwühlen, lass uns noch eine Stunde zusammen sein."
„Gut, Mein Johannes, aber lass uns kein Wort mehr sprechen. Mag das Leben zu uns reden, das unserer Liebe entkeimt, und wir werden beide dabei mehr gewinnen."
Johannes lehnte sich an Jesus an und sagte kein Wort. In ihm aber formte sich Leben über Leben, und Bilder zogen schnell vor seinem geistigen Auge vorüber, grosse Landschaften mit Menschen und Tieren kündeten ihm ein neues Leben. Je länger er alles Denken ausschaltete, desto mehr offenbarte sich in ihm ein ihm noch unbekanntes Leben, und so ergriff er die Hände Jesu, drückte sie an sein Herz. In diesem Augenblick waren alle Bilder verschwunden.
Jesus sagte: „Johannes, nun wollen wir Abschied nehmen; was wir beide heute Nacht begonnen haben, wollen wir am Tage vollenden. Ganz in der Frühe gehen wir an unsere Arbeit, und dein Vater muss nach Hause fahren. Bleibe dir und auch Mir treu und mache dir Mein Leben zu eigen!"
Ohne Zwischenfälle kam Zebedäus mit seinen Söhnen wieder nach Hause zurück.


Die Veränderung des Johannes

Johannes wurde von da ab ein anderer. War er früher ein Mensch, der den Menschen gerne aus dem Wege ging, so war er jetzt nach Meinung seiner Mutter viel zu lebhaft. Er unternahm ganz allein Ausflüge am Sabbat und an den Feiertagen und sagte niemand, wo er gewesen war. Am liebsten ging er zu dem alten Griechen; dort konnte er seinem Herzen so recht Luft machen.
Es war an einem Vorsabbat, ihn drängte es zu dem alten Griechen mit einer Macht, die er bisher nicht kannte. Darum sagte er zu seinem Vater:
„Vater, erlaube mir, dass ich zu unserem Freunde, dem alten Griechen, fahre. Mir ist es, als wenn er mich braucht und unablässig ruft."
„Johannes, es ist Vorsabbat, und wenn du morgen wieder nicht in der Synagoge bist, hast du Unannehmlichkeiten."
„Vater, das ist gleich, was soll ich dort? Ich finde keine Befriedigung mehr in der Synagoge, und alles Reden der Priester ist für mich leeres Geplapper."
„Johannes, ich verbiete dir solche Worte! Lasse sie ja nie mehr hören, denn du fügtest nicht nur dir, sondern auch uns grossen Schaden zu!"
„Ja, Vater, ich werde mich bemühen, dies nicht mehr laut werden zu lassen, aber ich bitte dich: gib mir die Erlaubnis, dass ich gleich jetzt im Segelboot fahren kann!"
„Nun gut, tue nach deiner Liebe, und wenn der Wind ungünstig ist, kommst du wieder nach Hause."


Krankheit und Tod des Griechen

Der Wind war günstig, es war, als wenn unsichtbare Mächte Johannes beistünden, denn auch am Landeplatz waren Knechte des Griechen, die sein Boot übernahmen und zu ihm sagten: „Der Herr erwartet dich schon den ganzen Tag."
Mit schnellen Schritten eilte darauf Johannes in die Wohnung des Griechen und wurde sofort in dessen Gemach geführt. Der Grieche lag auf einem Ruhebett, das der Sonne zugewendet war.
„Ich wusste, dass du kommen wirst, und so sei mir tausendmal willkommen; leider bin ich heftig erkrankt, und ich fühle die letzte Stunde meines Lebens kommen. Johannes, ich habe niemand als dich, den ich als Überbringer meines letzten Willens an meine Söhne verwenden könnte, und darum bitte ich dich: bleibe so lange bei mir, bis ich eingegangen bin in das Leben des heiligen Gottes!" Der alte Grieche fühlte sich matt, und das Reden fiel ihm schwer. Nach einer Weile brachte er ein Paket unter seinem Lager hervor, übergab es dem erstaunten Johannes und sagte:
„Johannes, dieses gibst du meinem Sohn Hermes, keinem anderen sonst; dieser wird seinen Brüdern und Schwestern alles offenbaren, was auf diese Pergamente geschrieben ist. Nun ist mir wohler, weil ich weiss, dass du, mein Sohn, meinen Wunsch erfüllen wirst, und sollte es Jahre dauern. —
Dann übergilb dieses Schreiben deinem Vater, wenn ich nicht mehr sein werde: es enthält die Bitte, dass er mein Besitztum verwalten möge und meine Knechte dir und deinem Vater so dienen sollen, wie sie mir dienten."
Johannes konnte nicht reden, die Kehle war Ihm wie zugeschnürt; endlich sagte er:
„Mein Vater, ich danke dir für dein Vertrauen, aber wie kommen wir dazu, dein Vermächtnis zu erfüllen?"
„Jesus will es, mein Sohn, — Jesus, der mir alles geworden ist und dessen Wort ich in mir vernehmen konnte. Er spricht auch jetzt: Fürchte dich nicht, alle Wege sind geebnet, und grüsse Meinen Johannes. Bald werden wir wieder beisammen sein."
„Lieber Vater, rede nicht zu viel; ich sehe, dass dir dies Schmerzen macht."
„Mein Sohn, sei unbesorgt, ich gehe gern zu meinen Vätern; aber nun lass mich etwas ruhen, ich bin sehr müde geworden."
Johannes ging aus dem Gemach und verbarg das Paket, das er empfangen hatte; dann sagte er zu einer Magd, die in der Küche hantierte: „Wenn der Herr rufen sollte, ich bleibe in der Nähe."
„Steht es so schlimm mit dem Herrn?" fragte die Magd. „Sollen wir den Priester rufen?"
„Nein, dessen bedarf der Herr nicht, ich habe jedenfalls keine Anweisung bekommen."
Eine dreiviertel Stunde schlief der Kranke, dann rief die Magd den wartenden Johannes.
Eine ruhige Nacht verlebte der Kranke noch. Johannes wich nicht von seinem Lager. Es war ihm nicht, als sei er bei einem Sterbenden, sondern als befände er sich in einem Tempel. Ganz in der Frühe wurde Johannes aus seinem leichten Schlummer geweckt durch Reden des Kranken. Dieser schien sich mit jemand zu unterhalten, denn meistens waren es Fragen, die er stellte. Nun wurde er lebhaft. Er sagte: „Jesus, nun bist auch Du gekommen und machst mir das Scheiden zu einer Freude. O wie Deine Augen leuchten, und Deine Hände segnen mich und alle die anderen, die noch gekommen sind. Mein Jesus, mein Jesus, nimm mich auf in Dein Reich, das Du allen bereiten wirst. Dort will ich ganz Dein Diener sein."
Der Kranke wurde daraufhin ruhig und war bald wieder eingeschlummert. Johannes bewachte seinen Schlaf. Schweiss stand auf der Stirne des Kranken. Mit einem Tuch wischte ihn Johannes ab, ohne dass der Kranke erwachte. Nach einer Viertelstunde hörte er ihn sagen:
„O Jesus, wie bist Du schön!" Dann wurde der Atem schwächer, und nach einer Viertelstunde war der Grieche still und ohne Schmerzen verschieden.
Johannes rief alle Knechte und Mägde im Haus zusammen und machte ihnen den Tod ihres Herrn bekannt.
Einer der ältesten Knechte sagte:
„Junger Freund meines Herrn, mir ist der Wille meines Herrn bekannt: wir wollen dir so gehorsam sein, wie wir unserem Herrn gehorsam waren. Verfüge über uns, wir kennen dich alle und freuen uns, dir dienen zu dürfen."
„Dann überbringe sofort dieses Schreiben meinem Vater, wir anderen aber wollen zur Beisetzung alles herrichten."
Am anderen Tage kam Zebedäus, und nun hatte Johannes Gelegenheit, seinen Vater zu bewundern. In welcher Ruhe und Ordnung wurde von ihm alles geregelt. Johannes verblieb in der Behausung des Griechen, nahm aber dafür einen Knecht für Zebedäus. Ein volles Jahr verbrachte er in dieser Tätigkeit, dann kam Hermes, der älteste Sohn und Erbe des heimgegangenen Griechen.
Zwischen Hermes und Johannes entspann sich nach und nach ein freundschaftliches Verhältnis. Trotzdem kehrte Johannes wieder in das Elternhaus zurück. Aber trotz grösster Mühe, die er sich gab, konnte er sich mit seiner Mutter nicht mehr verstehen. Johannes litt unter diesem Verhältnis sehr.
Alle guten Vorsätze und die grössten Bemühungen brachten keinen Ausgleich zwischen den beiden; da geschah ein grosses Unglück.
Zebedäus hatte noch einen Knecht, und dieser kehrte von einer Fahrt nicht mehr zurück. In einer Sturmnacht blieb er als einziges Opfer auf dem See. Salome grollte: „Ihr hättet besser aufpassen müssen; es ist einfach Pflicht, dass einer für den anderen einsteht."
Zebedäus wieder betonte, dass nichts zu seiner Rettung Notwendiges unterblieben sei, und wies den Vorwurf zurück, aber Salome liess sich nicht belehren und beschuldigte Johannes der Träumerei und Lässigkeit.
Das traf Johannes hart. Er wurde schweigsam. In diesen Kämpfen errang er endlich die Ruhe, die nötig war, um das Einfliessen des Geistes Gottes wahrzunehmen. Mit grosser Freude erfüllte ihn nun das Bewusstsein, endlich der ewigen Wahrheit näher gekommen zu sein, das Bild Jesu wurde immer lieblicher, und die Sehnsucht nach Ihm wurde eine andere. Sie wurde zur Hingabe.


Jesus überwindet Salome - Unwetter in Kapernaum

Die Söhne Josephs hatten wiederum Arbeit in der Nähe von Bethsaida und wurden von Jonathan gerufen. Namentlich war es dessen Sohn Simon, der grossen Anteil an Jesus nahm, und Johannes wurde von Simon gerufen. Das Wiedersehen mit Jesus war unbeschreiblich, und dieser sagte: „Johannes, morgen komme Ich zu euch; da es Vorsabbat ist, können wir keine Arbeit mehr anfangen, und am Sabbat besuchen wir Hermes, deinen Freund."
„Jesus, das gibt Unannehmlichkeiten in unserem Hause, Mutter ist böse auf Dich und auch auf mich."
„Du siehst es nur so, Mein Johannes; lerne deine Mutter verstehen."
Als Jesus kam, hatte Salome alle Register gezogen, aber Jesus liess den ganzen Sturm über sich ergehen, dann sagte Er: „Mutter Salome, warum sprichst du anders, als es in dir lebt? Warum lässest du das Fünkchen Liebe nicht zur Flamme werden? Gewinnst du innerlich, wenn du alles von dem Gerechtigkeitsstandpunkt aus geregelt sehen willst? Siehe, wenn Jehova dich so bedienen würde, wie du deine lieben Nächsten und Allernächsten bedienst, wie ständest du dann da? Wärest du eine Unwissende, hättest du ein Recht auf Belehrung; aber du weisst ja alles besser, da wird wohl Jehova noch zu dir in die Schule gehen müssen."
Da stellte sich Salome Jesus gegenüber und sagte:
„Jesus, was bist Du doch für ein Mensch! Glaubst Du, dass auch ich vor Dir zu Kreuze krieche? Ist es nicht genug, dass Du Johannes schon ganz verdreht hast? Morgen geht es bestimmt wieder irgend wohin, wo ihr nicht zu kontrollieren seid; was wird denn dazu Jehova sagen? Die Sabbate werden gehalten, wie es Dir einfällt, und nicht genug damit: Du verdirbst auch noch Johannes. Dieses hast Du wohl von Jehova gelernt? Schon längst ist es mein Wunsch, mit Dir mich einmal auszusprechen, denn an Dir ist wahrlich viel versäumt worden. Sage mir nur das eine: Warum meidest Du die Priester und die Synagoge?"
„Salome", erwiderte Jesus, „gerade du müsstest wissen, dass Ich es nicht nötig habe, den Priestern nachzulaufen und ihr Gerede in den Synagogen anzuhören. Und wenn du glaubst, an Mir sei viel versäumt worden, so kannst du allezeit Kluge es ja bei Mir nachholen, damit Ich in deinen Augen nicht mehr so armselig dastehe. Wenn du nur einmal nachdenken möchtest und nur einmal ohne Vorurteil Mir gegenüber stehen würdest; dir würde manches offenbart werden."
Sie erwiderte: „Mich kannst Du nicht mit derartigen Verheissungen ködern, wie Du Johannes geködert hast; doch da Du einmal da bist, so sage mir: Was hast Du eigentlich vor? Schämen müsstest Du Dich! Was hast Du schon in Deinem Elternhaus für Sorgen und Unfrieden gestiftet, und nun Deine Mutter nichts mehr mit Dir ausrichten kann, hat sie sich in alles ergeben. Mein Sohn dürftest Du nicht sein!"
„Mutter Salome, du bist erregt, und so werde Ich dir auch keine Antwort geben als nur die: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, und über Mein Verhalten Mir und allen Menschen gegenüber habe Ich nur Mir und Meinem Gott Rechenschaft abzulegen. Ich möchte den sehen, der Mich anders gestalten will. Ich weiss, was Ich tue; ihr aber alle wisset nicht, was ihr redet, da ihr weder Gott noch Seine Liebe kennet. Ich aber kenne Ihn und auch Seinen heiligen Willen; darum gehe Ich auf Seinen Wegen und tue nichts ohne Seine Zustimmung."
„So sagst Du, ich aber kann Dir nur entgegnen: wenn alle Menschen so tun würden, wie sähe es unter uns aus!"
„Salome, dann würde kein Sturm und kein Gewitter euch solchen Schaden zufügen, und alle Menschen würden wie wahre Kinder ihres himmlischen Vaters leben, und kein Feind, weder von aussen noch von innen, würde ihre Ruhe stören. Noch mehr: da würden die Menschen auch die Macht haben, allen Elementen, die von finsteren Mächten angestachelt werden, Ruhe zu gebieten und damit Schaden zu verhüten. Um dir aber zu zeigen, dass in Mir sich dieses alles in Wahrheit befindet, sage Ich dir: In einer Stunde wird ein Sturm losbrechen, wie du noch keinen erlebt hast. Danket Gott, dass ihr Vorsabbat feiert, denn keiner käme gesund wieder zurück. Du aber, Johannes, mache schnell das Boot fertig, wir müssen alle warnen."
„Johannes, du bleibst, es ist ja Unsinn, dieses zu behaupten, noch an keinem Tag war die See so ruhig wie heute."
„Gut, Johannes, bleibe; dann fahre Ich allein."
Jesus ging aus dem Hause, machte ein Boot los, zog das Segel auf, und ehe Johannes nachkommen konnte, war das Boot verschwunden.
Johannes sagte: „Mutter, was hast du getan? Es wird dir schwer werden, dieses wieder auszugleichen."
„Wie sprichst du zu deiner Mutter; da sieht man wieder, was der Nazarener mit seiner Erziehung angerichtet hat. Wenn es dir bei deiner Mutter nicht behagt, dann gehe ruhig wieder zu den Heiden oder zu den Verlorenen von Israel!"
Johannes schwieg; er fühlte: hier wäre es verlorene Mühe, ein Wort dagegen zu sagen. Er verliess das Haus, und als er nach einer Weile sich umschaute, sah er eine schwarze Wolke am westlichen Himmel aufsteigen. Er suchte seinen Vater auf und sagte: „Vater, du hast alle Worte zwischen Jesus und Mutter gehört; komm einmal heraus und sieh dir den westlichen Himmel an!"
Zebedäus ging mit hinaus und sagte: „Johannes, jetzt gilt es, schnell alles zu bergen, was sich am Wasser befindet; ich rufe sofort alle zusammen."
Salome sagte: „Heute ist Vorsabbat, lasse dich nicht in Furcht und Angst jagen, ihr seid ja alle von Jesus besessen."
Zebedäus eilte hinaus, machte alles fest und brachte alles in Sicherheit. Nach etwa einer halben Stunde brach ein Sturm los, wie er noch nie erlebt worden war. In diesem gewaltigen Sturm kam das Boot mit Jesus heran. Er landete in aller Ruhe, zog das Segel ein, setzte sich auf die Ruderbank und sah dem Wüten des Sturmes zu. Immer schlimmer wurde der Sturm; im Hause des Zebedäus waren alle voller Angst, und verstört sahen sie, wie Jesus ohne jede Sorge im Boote sass.
Da hörte Johannes in sich den Ruf: „Johannes, komm zu Mir in das Boot." Ohne ein Wort zu sagen, eilte er aus dem Hause hin nach dem Boot.
Nun brach ein furchtbares Gewitter los mit Blitz und Donner ohne Aufhören, und Wassermassen stürzten zur Erde und in die aufgewühlte See. Jesus aber sass im Trockenen. Johannes schmiegte sich an Jesus an, und dieser fragt ihn: „Johannes, hast du Angst, dann wisse: wer bei Mir ist, ist wohlgeborgen; Ich aber will, dass eurem Hause kein Schaden geschieht."
Johannes versicherte: „Mein Jesus, nun ich bei Dir sein kann, ist alle Furcht vorbei, aber vorher habe ich mehr Angst um Dich gehabt als um mich. Könnten wir nicht ins Haus gehen, meine Eltern und Geschwister fürchten sich zu Tode."
„Nein, Johannes, dann sollen sie zu uns heraus kommen; sie sehen doch, dass wir nicht einmal nass werden."
Das Gewitter wollte nicht aufhören, es war schaurig, dieses anzusehen. Eine Springflut nach der Anderen machte das Haus erbeben, aber die beiden im Boot wurden nicht nass. Sagte Johannes:
„Jesus, Du meine Liebe, wahrlich, heute erlebe ich Dich anders als sonst. Wenn Du Dich schon im Sturm und Gewitter wie ein Prophet zeigst, wie muss dann erst Dein Wesen sein, wenn Dir Liebe entgegengebracht wird!"
„Dann, Johannes, erlebt die ganze Welt das Wunder Meiner Liebe. Glaube auch ferner in allen Bedrängnissen an Mich, dann wirst du das Wunder in dir erleben. Noch kurze Zeit, dann hat alles Ringen ein Ende, und in Mir kann sich Meine Seele einen mit dem, von dem wir alles haben. Bald wird auch der Ruf an Dich ergehen wie heute: Johannes, komm zu Mir! Dann werden wir uns nicht mehr trennen. Nun aber gehe und hole Mir deinen Vater und deinen Bruder Jakob."
Johannes entstieg dem Boot, eilte ins Haus und sagte zu seinem Vater: „Vater, und du, Jakob, kommt heraus zu Jesus!"
Jakob ging sofort, Zebedäus blieb. Noch einmal bat er: „Vater, komm mit mir zu Jesus."
„Lass mich, Johannes, um der Mutter willen!"
„Nein, Vater, um der Mutter willen komme mit mir zu Jesus, ich bitte dich; sonst droht unserem Hause und uns allen grosse Gefahr."
„Dann schnell, Johannes", und ohne das Geschrei Salomes anzuhören, rannten beide hin ans Boot zu Jesus.
„Zebedäus, nun ist es gut; deinem Hause wird nichts geschehen, und alle anderen sind von Mir gewarnt, es wird keinem an das Leben gehen, und allen anderen Schaden bessern wir wieder aus."
„Jesus, was ist mit Dir? Du sprichst ja wie einer, der schon alles weiss", wunderte sich Zebedäus, „warum kamst Du nicht zu uns ins Haus?"
„Weil ihr von eurer Angst und noch mehr von eurem verkehrten Glauben befreit werden sollet. Denn seht, euer Jehova als der Wahre und Ewige will mit dem Herzen und nicht mit dem Munde angebetet sein, und Ich kann Mich nicht von Menschen irre machen lassen."
Sprach Zebedäus: „Jesus, ich hätte meinem Weibe das Reden verbieten müssen; sie hat Dich beleidigt und gekränkt. Was soll ich tun, damit Du wieder in das Haus kommst?"
„Nichts, Zebedäus, als an Mich glauben und Meinem Wirken kein Hemmnis werden. Heute werden wir noch zu deinem Freund Hermes fahren und erst morgen nach Sonnenuntergang zurückkommen. Willst du?"
„Ja, nun will ich."
„Zebedäus, nun hast du Mir eine grosse Freude bereitet, und so will Ich, dass sich der Sturm im Augenblick legt und das Meer ruhig wird; doch regnen wird es noch eine volle Stunde. Wir aber bleiben hier im Boote."
Es geschah, wie Jesus sagte: der Sturm legte sich, und nach einer Stunde wurde wieder das schönste Wetter. Sie entstiegen dem Boote und besahen das Haus. Nichts war geschehen. Da wagten sich auch die anderen aus dem Haus, und Zebedäus sagte zu seiner Salome:
„Schau hier in das Boot und besieh auch uns, alles ist trocken und heil geblieben. Von heute an dulde ich nicht mehr, dass nur ein einziges Wort gegen Jesus gesagt wird. Heute noch fahren wir zu Hermes, und sollte jemand nach uns fragen, dann sage die Wahrheit!"
Die mit allem Ernste gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Salome schwieg. Endlich hatte sie eingesehen, dass Jesus doch der Stärkere war.
Das Boot brachte die Vier schnell und sicher zu dem Landeplatz des Hermes; bald waren sie in seinem Hause und wurden herzlich willkommen geheissen.


Hermes, der Sohn des Griechen, und das Gesicht am Sabbat

Hermes fühlte sich zu Jesus hingezogen. Johannes war sprachlos, wie schnell Hermes Jesus verstand, und so erlebte er aufs neue die Kraft und Macht der Liebe, die Jesus in Seiner Freiheit offenbarte.
Hermes liess ein gutes Mahl richten und sagte zu Zebedäus:
„Mein Freund und Bruder, heute seid ihr meine Gäste, und morgen will ich mich euren Sitten unterordnen. Machet mir die Freude und saget nicht nein!"
Sagte Zebedäus: „Hermes, du treuer Freund und Bruder, ab heute bin ich von allen gesetzlichen Gepflogenheiten befreit, und solange und so oft ich in deinem Hause weile, brauchst du auf mich und meine Söhne keine Rücksicht mehr zu nehmen, denn wir sind heute durch wunderbare Ereignisse in ein anderes Sein und Denken geführt worden. Denke: dieser Sturm und dieses Wetter vermochten uns nicht einmal nass zu machen, geschweige denn uns Schaden zuzufügen."
Sprach Hermes: „Meine Leute wurden von einem Fischer gewarnt; darum sind wir auch vor ernstem Schaden bewahrt geblieben."
Sagte Jesus: „Alle Fischer wurden gewarnt, aber leider sind nur wenige der Warnung gefolgt, und so haben sie auch den Schaden zu tragen."
Sprach Johannes: „Ich Tor liess mich abhalten, als Du mich aufgefordert hattest, alle zu warnen."
Hermes liess sich nun alle Vorgänge schildern und wandte sich am Ende zu Jesus: „Ich wollte, ich könnte Dir auch so Freund sein, wie mein Vater Dir es war. In seinem letzten Schreiben an mich fordert er mich auf, Dich zu suchen und um Deine Freundschaft zu werben — um meines und der anderen Heiles willen. Verzeih mir, Du Freund der Menschen, dass ich es bis jetzt noch nicht tat, aber nun will ich alles nachholen."
Erwiderte Jesus: „Mein Freund Hermes, wer wie du das Werk der Liebe, das dein Vater begann, im gleichen Geiste fortsetzt, der ist schon Mein Freund und auch Bruder. Es bedarf dazu keiner Worte mehr; darum bin Ich auch mit diesen Meinen Brüdern zu dir gekommen."
Hermes: „Jesus, Du würdigst mich Deiner Freundschaft, und ich bin doch ein so harter Mensch gewesen; nun aber, wo ich Dir in Deine Augen schauen darf, ist mir, als lebte ich in einer anderen, bessern Welt."
Jesus: „Hermes, Ich sage dir: einen Himmel sollst du erleben, aber nicht ausser, sondern in dir. In Mir bietet dir der ewige und wahre Gott ein Leben an, das dich in allen Lebenslagen tragen wird, dass du nur Grund zum Loben und Danken haben wirst."
„O Jesus, Du nennst mich Freund; wie glücklich machst Du mich, da ich doch ein Heide und kein Jude bin."
„Hermes, Ich nenne alle Menschen Meine Brüder; Mein Bestreben geht auch nur dahin, allen Menschen ein Mittler und Vermittler zu sein, damit das Gottesleben allen zum ewigen Heile werde."
Bald war das Mahl fertig, und Johannes erlebte, wenn auch nur als Zuhörer, Dinge, die ihm bisher völlig fremd waren. Hermes war ein kluger und weitgereister Mann. Ohne viel zu fragen, verstand er Jesus. So verging unter anregenden Gesprächen der Tag und der Abend. Am frühen Morgen schon besuchten alle eine liebliche Anhöhe, und Jesus bat Seine Begleiter, mit Andacht den Aufgang der Sonne zu beobachten und alle Anzeichen zu beachten, die der werdende Tag brächte.
Auch Hermes war ein Naturfreund; darum sagte er zu Jesus, als die Sonne schon hoch am Himmel stand:
„Freund, schon oft habe ich den Aufgang der Sonne beobachtet, aber was ich heute schaute, schien mir doch nicht ganz natürlich zuzugehen. Zum Beispiel schob sich vor die aufgehende Sonne eine Wolkenbank, die die Form eines Krokodils hatte. Als die Sonne höher und höher stieg, konnte wohl die Wolke der Sonne nichts mehr anhaben, aber das herrliche Sonnenlicht war getrübt und hatte einen rötlich gelben Schein. Auch die Tiere der Luft, die Wasser suchten, waren erregt; nein, so etwas habe ich noch nicht erlebt.
Sagte Jesus: „Hermes, es ist gut, dass du dieses gesagt hast; denn unsere Freunde haben dies nicht bemerkt. Kannst du dir diese natürlichen Vorgänge erklären?"
„Nein, lieber Freund, ist denn da überhaupt etwas zu erklären? Wolken nehmen ja allerhand Formen an, aber merkwürdig war doch das Benehmen der Tiere."
Jesus: „Schon in dem Benehmen der Tiere erleben wir, dass diese Vorgänge, die nur die erleben, die mit der Natur vertraut sind, Ursachen haben müssen, und diese Ursachen liegen in den Naturgeistern, die alle noch ihrer Löse harren. Die Wolkenbank war die Veranlassung, denn in ihr haben sich viele Zerstörungsmächte gesammelt, und schuld daran sind die Verkehrtheiten der jetzt lebenden Menschen. Unsere Erdsphäre ist überfüllt von finsteren und nach Zerstörung trachtenden Mächten. Diese üben einen schlimmen Einfluss auf Menschen aus, und diese wiederum werden zum Medium oder Mittler derer, die nicht wissen, dass sie beeinflusst sind. Was wäre gestern geschehen, wäre Ich nicht Wächter oder Hüter gewesen. Wenn diese Mächte könnten, würden sie uns auch am heutigen Tage viel zu schaffen machen. Aber Mein Vater im Himmel hat auch Vorkehrungen getroffen, dass der Wille dieser Wesen durchkreuzt wird. Später, wenn Ich keine Rücksicht mehr auf die anderen zu nehmen brauche, wird noch manches geoffenbart und viel Licht darüber verbreitet werden. Nun aber wollen wir zurück ins Haus gehen und das Morgenmahl einnehmen; dann aber bleiben wir im Hause, um kein Ärgernis mehr zu erregen, da der Feind alles Lebens sehr tätig 'ist."
Für Johannes waren dies alles Dinge, die er nicht verstand, die ihm aber stark zu denken gaben, und immer deutlicher trat ihm das bisherige Leben seiner Mutter und vor allem sein eigenes vor seine geistigen Augen. Wenn es so war, wie Jesus es schilderte, dann hatte ja nicht die Mutter schuld, sondern die sie beeinflussenden Wesen. Nun galt es, die Aufgabe zu lösen, dass seine Mutter sich nicht mehr beeinflussen liess. An diesem Sabbat wurde viel gesprochen von dem Leben aus Gott und in Gott, und Jesus brachte alles so natürlich vor, dass es den anderen nicht im geringsten langweilig, sondern höchst fesselnd war. Zu Johannes sagte Er noch:
„Johannes, wolle du nichts über das Knie brechen, denn von deiner Mutter darfst du gar nichts verlangen. Du selbst musst tätig sein, und je mehr du die Sphäre um dich reinigst, wird auch aller niedere Einfluss aufhören. Alles in der ganzen Unendlichkeit ist nach Gesetzen geregelt; darum achte nur auf dich, dass dir nicht bewusst oder unbewusst Dinge unterlaufen, die dir oder den Deinen Ärgernis erregen. Nimm dir an Mir ein Beispiel: alle Kämpfe, die Ich zu bestehen hatte, mussten sein; denn dadurch sind alle diese Dinge aus Meiner Seele zu Stufen geworden, die in Meine innere Welt führen und dort ein Leben aus Gott schaffen, damit Ich nun alles, was Ich tue, aus diesem Gottleben wirke. Solange aber in Meiner inneren Welt noch Dinge herrschen, die Meiner Ichseele gehören, ist das Leben aus Gott oder der Lebensanteil aus Gott noch nicht das freie Eigentum Meiner inneren Welt und Ich kann noch sehr von aussen beeinflusst werden. Jede Beeinflussung aber soll dazu dienen, uns nach innen und aussen zu festigen und zu reinigen."
Johannes hatte dieses gut verstanden, und in ihm herrschte grosse Freude, aber Hermes sagte:
„Jesus, Du lieber, guter Mensch und Freund, wenn tausend Menschen mir dieses erzählen würden, ich könnte es weder glauben noch fassen, aber Deine Worte sind Licht und Leben, ich sehe und fühle die Wahrheit Deiner Worte. Warum können denn die anderen Menschen dieses nicht fassen oder gar selbst finden?"
„Mein Freund Hermes, diese Wahrheit ist uralt. Unsere Weisen vertreten diese auch heute noch; aber wenn die Priester und auch eure Priester so natürlich redeten, würde ihr Nimbus bald verschwinden. Je geheimnisvoller und unverständlicher sie sich vor dem Volke geben, um so nötiger machen sie sich ihm. Das Volk aber braucht jemanden, an den es sich halten kann, und so sind alle diese Zustände entstanden. Nimm dem Volk seine Priester, und es ist geschlagen für lange Zeit. Darum ist die Einung eurer Seele mit dem eigenen Geist so wichtig, weil der ewige Gottesgeist eurem Geist alles übermitteln möchte. Niemand kann aus dem Geiste zeugen, der ihn nicht zuvor empfangen hat. Könnt ihr euch nun erklären, dass die Priester eurem geweckten Geiste nicht mehr das geben können, wonach er hungert? Siehe, Johannes, die Sehnsucht, die dich zu Mir trieb und noch treibt, ist aus dem Geiste, der in deiner Seele die Schwingen heben möchte, um das zu empfangen, was ihm deine eigene Seele nicht geben kann. Freilich, jetzt könnt Ihr nicht alles fassen, aber bald werdet ihr euch freuen, und ein neuer Abschnitt eures Lebens wird beginnen."
Die Trennung von Jesus fiel diesmal Johannes nicht schwer; in seinem Herzen war Hoffnung, und in den kommenden Tagen wandelte sich sein Wesen.
Mutter Salome hatte keinen Grund mehr, sich über ihren Sohn zu ärgern; jetzt hatten auch Zebedäus und Jakobus, wenn sie beim Fischen waren, Gelegenheit, sich über Jesus auszusprechen. Der Verkehr mit Simon Kana wurde reger, und Jesus galt schon in ihren Reden und Vorstellungen als der kommende Messias.
Johannes teilte diese Meinung nicht, denn nach seiner Ansicht würde ein Messias, der das hoffende Volk enttäuschen würde, es ärmer statt reicher machen. Da hatte er, als er an einem Sabbat so recht sich in das Leben Jesu vertiefte, ein Gesicht. Vor seinem geistigen Auge gestaltete sich ein wunderbares Bild:
In einer grossen Halle, getragen von herrlichen Säulen, befanden sich viele, viele Menschen. Ihre Kleidung war nicht nach der Juden Art, aber durchgehend weiss. Unter ihnen war ein alter, mit einem grossen weissen Bart geschmückter Mann; dieser sprach zu den Versammelten:
„Väter und Kinder, endlich ist es möglich, dass wir uns verständigen können. Wohl sind unsere Kleider mit dem Zeichen der Reinheit geschmückt, aber unser Verlangen nach der Quelle alles Lebens ist noch nicht gestillt. Immer werden wir von herrlichen Lichtwesen vertröstet auf die heilige Zeit, die nun angebrochen sei, aber das ist auch alles. Wer von euch kann etwas Näheres sagen und bekunden?" Da trat in die Mitte ein ganz junger Mann, sah sich um, ob auch alle versammelt seien, und sprach:
„Ihr Väter und Urväter, wir sehen mit Ehrfurcht auf zu euch und erwarten von euch das Zeugnis, das uns das wahre Leben künden soll, und soeben mussten wir hören, dass auch ihr vertröstet werdet. Woran kann dies denn liegen? Sind wir doch mit den Kleidern angetan, die uns das Höchste verheissen. Wohl sehen wir den Lichtmenschen, wie Er immer strahlender wird, wir sehen aber auch die schwarzen Vögel, die Ihn immer stören. Saget, ihr Väter und Urväter, könnten wir dem Lichtmenschen nicht helfend zur Seite treten?"
Sprach der ehrwürdige Greis: „Wohl hast du recht gesehen, aber wir haben keine Anweisung dazu. Unsere Hoffnung ist wohl auf den Lichtmenschen gerichtet, aber Er ist Mensch, und wir sind Geister."
Sprach der junge Mann: „Väter, ich lasse mich nicht länger vertrösten, denn wir haben kein Verbot erhalten, den Menschen beizustehen. Ich sehe ihre Not und wie ihre Seelen mehr und mehr verkümmern, ich sehe aber auch, wie der Lichtmensch viele Seelen mit Seinem Lichte stärkt. Auf der Erde war es uns das Höchste, mit unserer Liebe Diener sein zu dürfen, und hier im seligen Leben sollen mich nur die Zustände in unserem Sein und Leben befriedigen? Dieser Lichtmensch hätte es doch gar nicht nötig, auf der dunklen Erde sich abzumühen, denn Sein Kleid überstrahlt unsere Kleider hundertfach."
„Mein Sohn", sprach der Alte, „ich verstehe deine Ungeduld nicht, da wir von den Lichtwesen nur den Auftrag haben, den Lichtmenschen ja nicht aus den Augen zu lassen. Hat die dunkle Erde doch übergenug Schatten auf unsere Seele geworfen."
Da trat ein Lichtwesen in ihre Mitte und sprach:
„Auch wir dürfen das Ringen des Lichtmenschen nicht stören, da der Feind alles Lebens dieses nicht dulden und den Lichtmenschen noch mehr bedrängen würde. Aber etwas anderes wäre es, wenn die Menschen dieser dunklen Erde Ihn unterstützen würden. Unser Wesen ist losgelöst von der Erdgebundenheit; die Erdmenschen aber müssen ihre Fesseln selber lösen mit dem Licht, das der Lichtmensch allen reichen wird, wenn Seine Zeit gekommen ist. Darum will ich aus der mir von Gott verliehenen Macht den Feind alles Lebens rufen."
Da stand im Nu ein kräftiger Mensch unter ihnen, und das Lichtwesen sagte: „Ich habe dich gerufen aus der mir verliehenen Macht und Freiheit und frage dich vor dieser Versammlung seliger Geister: Warum bedrängt ihr den Lichtmenschen, der mit den Menschen die besten Absichten hat? Es ist den Seligen unverständlich, wie Wesen deiner Art ein Interesse daran haben, den Lichtmenschen in Seiner Entwicklung zu hemmen?"
Sprach der Feind: „Es ist mein gutes Recht und meine Absicht, den Lichtmenschen, der doch alles in allem Gott selber ist, vollständig zu erledigen, und daran kann mich auch Gott selbst nicht hindern."
Trat der frühere Sprecher vor und sagte:
„Wer du auch sein magst, ein derartiges Ziel steckt sich kein Ewigkeitswesen; wo soll denn die Schöpfung hingeraten, wenn alles so denken wollte? Der Lichtmensch hat Absichten, die offen und klar sind, und es ist das grösste Unrecht, diese Absichten zu stören. Wenn ich es mir recht überlege, könnten auch wir dir und deinen schwarzen Dienern einen Riegel vorschieben."
Der Feind: „Das könnt ihr eben noch nicht, und darum gilt mein Kampf in der Hauptsache dem Lichtmenschen, denn gelingt es Ihm, Sein Ziel zu erreichen, dann muss ich auch euch fürchten, und meine Macht geht zu Ende. Dass dieses aber nicht geschieht, das lasset meine Sorge sein, denn die Gottheit lässt mich auch nicht ihre Absichten durchschauen."
Sagte der Lichtengel: „In diesem Hochmutsengel ist keine Vernunft noch Schonung; darum lasset ihn wieder gehen, und ihr, die ihr Bewohner eines schönen Paradieses seid, lasset den Dingen ihren Lauf. Wenn alles vollbracht sein wird, sieht alles anders aus; denn dann ist der Lebensfeind der Geschlagene, wir aber müssen zu allem schweigen."
Langsam verging das Gesicht, und Johannes dachte: „O Jesus, das ist auf Dich und Deine Sendung gemünzt; an diesen Sabbat werde ich noch oft denken, wer wird mir das rechte Verständnis dafür geben?" —


Johannes der Täufer - Das öffentliche Auftreten Jesu und die Jüngerschaft des Johannes

Wie ein Lauffeuer drang nun die Kunde des Predigers Johannes durch die Lande, und die Fischer am See Genezareth horchten auf. Auch Zebedäus und Simon Kana besprachen sich, und nach Wochen entschlossen sie sich und fuhren mit ihren Booten nach Tiberias. Sie erfuhren vieles über den Bussprediger, aber von dem kommenden Messias kein Wort. Schon wollten sie wieder zurückkehren, da kamen Templer in ihre Herberge. Nun hörten sie eine Hetzrede gegen den Täufer, wie sie sie nie erwartet hatten.
Da war aber einer, der seine warnende Stimme ertönen liess, und bat, nichts über die Knie brechen zu wollen. Er sagte: „Ist der Täufer der Mann, der den kommenden Messias ankündigt, dann wollen wir uns gut mit ihm stellen; denn dann wird auch das Volk auf unserer Seite stehen."
Andere wieder meinten: „Der Täufer ist gefährlich und schont weder Volk noch Priester, ihm sind Busse und Himmelreich alles."
Johannes horchte auf, und was sein Vater und die anderen nicht verstanden, gewann vor seinem geistigen Auge Klarheit. Das grosse Gesicht an dem Sabbat wurde wieder lebendig, und in aller Ruhe hörte er nun, wie sich die anderen über den Täufer unterhielten und sagten: „Jedenfalls müssen wir mit dem Täufer zusammenkommen."
Eine mühselige Reise war es freilich, aber endlich war es ihnen allen geglückt, dem merkwürdigen Menschen zu begegnen.
Johannes war eigentlich enttäuscht. So würde Jesus nicht vor das Volk treten. Die ganze Sehnsucht des Johannes war auf den Geist abgestimmt, den Jesus vertrat und den er sich Mühe gab, ganz in sich aufzunehmen.
Jesus wirkte auf den Innenmenschen, damit alles von innen aus in Ordnung käme; Johannes der Täufer aber wirkte auf den äusseren Menschen, damit er umkehrte und Busse täte, also umgekehrt, von aussen nach innen.
Wie wird sich Jesus zu dem Täufer stellen, war seine Frage.
Es vergingen Wochen. Die Botschaften über den Täufer wurden immer interessanter. Die Priester warnten, drohten. Trotzdem hörten die Botschaften nicht auf. Johannes hatte Jünger geworben, die wieder für ihren Meister warben; auch sie waren Bussprediger und Herolde für das nahe herbeigekommene Himmelreich.
In diese Zeit fiel nun der Wendepunkt für Johannes und viele andere. Jesus trat Sein Lehramt an, und ohne ein Wort zu fragen, schloss sich Johannes mit Vater und Bruder dem Heilande an. Gewaltig waren die Botschaften, die nun das Land durcheilten. Johannes der Täufer trat über diesem Geschehen in den Hintergrund, und die Priester wurden offene Gegner des mit Sehnsucht erwarteten Messias.
Johannes kam nur in das Elternhaus, wenn Sein Meister einmal in die Gegend um Bethsaida kam: für ihn war der Heiland Jesus seine Heimat geworden. Wie verständlich war ihm nun jedes Wort aus Seinem Munde, und seine Aufzeichnungen unter der Aufsicht seines Meisters bildeten einen Teil des Erbes Jesu, das nun Allgemeingut werden sollte.