Heft 18. Vom Gottesfunken

Inhaltsverzeichnis
01. I. Warum schweigt Gott zu all den Greueln böser Menschen?
02. II. Ursus und Ruth
03. III. Die Hochzeitsfeier
04. IV. Saulus
05. V. Gespräche über das Verhältnisses Gottes zum Menschen
06. VI. Gibt es Beweise für das Dasein eines Gottesfunkens im Menschen?
07. VII. Unsere Arbeit im Weinberg des Herrn - Lebet mit mehr Freude
 


I. Warum schweigt Gott zu all den Greueln böser Menschen?
 
Wochen waren vergangen. In Bethamen waren alle froh und fleissig, und auch die zuletzt Angekommenen dankten dem Lazarus von Herzen für die Aufnahme bei ihm (siehe Heft 17, S. 54). Auch Jonas zeigte sich freundlich und hilfsbereit gegen alle; aber Manche spürten doch, dass er innerlich kämpfte und etwas niederringen wollte, das ihm die heitere Ruhe nahm.
Eines Morgens, als Lazarus nach der Ölmühle gehen wollte, bat er Jonas, mitzukommen, da dieser Betrieb ihm noch fremd sei; und auf dem Wege dahin fragte Lazarus: „Jonas, du scheinst so bedrückt, du bist innerlich unfrei. Dieser Zustand ist aber dem Herrn nicht angenehm und lieb, denn es offenbart mangelndes Vertrauen zu Ihm. Bereuest du, nach Bethanien gekommen zu sein? Du kennst doch unsere Abmachung: du bist frei, sobald du gehen willst. — Ich bitte dich als Bruder, sei offen, und betrachte mich als den, der dir helfen will mit allen zu Gebote stehenden Mitteln."
Beide waren stehen geblieben. Jonas senkte den Blick und sagte zaghaft: „Lieber Lazarus, du hast recht bemerkt; aber: mir zu helfen, bist du ausserstande, da es sich hier um eine Frage zwischen mir und meinem Gott handelt. Wenn du in mein Herz blicken könntest und all das Weh erschauen, das immer wieder in mir aufsteigt; wenn ich an all die vielen Greuel denken muss, die von den Templern täglich an denen begangen werden, die sich zu ihrem Heiland Jesus beken­nen — so muss ich fragen: Warum bleibt der Herr stumm auf all die flehentlichen Gebete Seiner Getreuen? — Warum hilft ihnen Gott nicht? — Hat Er an Seiner Macht und Herrlichkeit eingebüsst, so dass wir uns nun an die Römer wenden müssen um Hilfe gegen diese verbrecherischen Handlungen des Tempels!?
Siehe: ich vermag den Anblick der Unglücklichen in dem Keller des alten Juden nicht auszulöschen, zwischen denen ich Theophil fand. Immer wieder stellt sich dieses grauenhafte Bild vor meine Seele. Ich sehe die verzweifelnden Augen der Gefangenen in ihrer bitteren Not anklagend auf mich gerichtet. Ich habe gerungen mit dem Herrn in vielen Nächten um eine Klarheit, aber Er gibt mir keine Antwort! Doch immer deutlicher kommt das eben Geschilderte zurück, daran ich freilich mir selber auch manche Schuld beimessen muss. Hättest du mich nicht nach meinem Kummer gefragt, ich hätte auch vor dir geschwiegen." —
„Jonas!" entgegnete Lazarus ernst, „hier vermag weder ich, noch der Herr, dir zu helfen, denn das ist Selbst-Qual, was sich in dir abspielt. Wenn schreckensvolle Eindrücke dauernd dich beunruhigen, so ist das Beweis genug, dass sie noch in deiner Innenwelt leben und dich völlig beherrschen, und dass dein Vertrauen auf die weisen göttlichen Führungen aller Menschen-Seelen noch nicht fest ein­gewurzelt ist in deinem Gemüt.
Diese Bilder, die du nicht vergessen kannst, liegen wie einge­brannt in deiner Seele. Sie fesseln den Geistfunken aus Gott in dir und hindern ihn an seiner freien Tätigkeit, deine Gedanken auf einen höheren Standpunkt zu erheben.
Es ist wohl eine Riesen-Aufgabe, Angeborenes, Angelerntes und jahrelang fest Geglaubtes plötzlich als falsche Begriffe vom Wirken Gottes zu erkennen und aus der eigenen Gedankenwelt hinauszuschaffen. Aber es ist doch möglich durch das Licht des aufflammen­den Gottesfunkens!
Es ist jedoch ganz in unsern freien Willen gelegt, ob wir dem in uns wohnenden Funken das Vorrecht einräumen, unsere dunklen Gedanken-Bilder zu beherrschen. Und du kannst erleben, wie die unirdische Klarheit seines Lichtes alle alten Vorstellungen vom Göttlichen durchleuchtet und in ganz neue Begriffe umstaltet, die dir geben, was jeder Mensch zu seinem Seelenfrieden braucht. Kommt jedoch deine Seele nicht zur vollen Frei-Werdung von äusse­ren Eindrücken, dann ist es nicht weit von allerlei Zweifeln; und in einem solchen Augenblick hat der Feind alles harmonischen Innenlebens seine Vorherrschaft in dir übernommen!
Lieber Jonas! Die Menschen könnten zu mir sagen: Lazarus, du läufst einem Schemen nach, denn dein Jesus ist ja längst tot! Was noch lebt in dir von diesem Jesus — ist nur Einbildung! Die harte Wirklichkeit zeigt dir doch, dass Soviele grausam geopfert werden für ihre Ideen, die sie sich von ihrem Jesus, der nicht mehr lebt, gemacht hatten, sonst würde Er Sich doch ein einziges Mal offen­baren!
Siehe, da würde ich ihnen antworten: Jesus — lebt! Er hat aber eine unendliche Geduld und Seine weisen Gründe, Sich vor uns noch zu verbergen, um nicht zum Gericht zu werden für Seiner Kinder Peiniger!" —
Wie sich besinnend sprach Lazarus nach einer Weile erst weiter: „Siehe, ich sage dir, Jonas, jetzt aus meinem Geistes-Leben heraus: Heute aber noch — will Sich Jesus als der lebendige Herr — vor einem Seiner grössten Widersacher offenbaren, und alle Welt soll dieses Wunder Seiner Liebe erleben! Dann wird Loben und Danken uns, Seine Kinder, mächtig erfüllen, denn wir sehen daran: Jesus — lebt!" —
Jonas konnte nichts erwidern — so gingen sie schweigend weiter bis zur Ölmühle, wo Lazarus manches mit seinen Leuten zu be­sprechen hatte. Darnach gingen sie zu dem alten Tobias, der ihnen schon entgegen kam und freudig rief: „Gelobt sei Jesus Christus!" — „Bis in Ewigkeit!" erwiderte ihm Lazarus. — Tobias sprach: „Dass ihr in meine Welt einmal den Weg findet, freut mich besonders, denn lange hast du damit gesäumt, Bruder Lazarus!"
„Ohne Absicht, mein Bruder! Ich weiss das Vieh in guten Händen und weiss, dass du, mein treuer Tobias, gute Wache hältst. Ich weiss aber auch, dass der Meister dich nicht einsam sein lässt, und darum bin ich lieber dort, wo ich nötiger bin! Wenn du dich etwas mit unserm Bruder Jonas unterhalten willst - ich möchte gern einmal in die Ställe gehen." —
Als Jonas mit dem Alten allein war, fragte er ihn: „Seit wann bist du schon in Bethanien?"
„Lieber Freund, ich muss hier geboren sein", antwortete Tobias, „denn seit sehr vielen Jahren schon lebe ich in diesem schönen Winkel und habe auch das Herrlichste erlebt, das es je geben kann — hier bin ich Jesum begegnet! So oft der Meister in Bethanien weilte, bin ich geholt worden, weil mein Herz Ihn so sehr liebte.
Siehe, Er war wohl ein Mensch wie wir und freute sich auch an unserer Arbeit, wie an den Schönheiten der Natur. Aber Seine Worte! — wie tief drangen sie in meine Seele und erweckten ganz neue Vorstellungen über Gott und Sein göttlich-weisheitsvolles Wir­ken in der Welt! Und diese neuen Begriffe wachsen nun in mir und machen mich dauernd so glücklich innerlich."
Jonas fragte bewegt: „Lieber alter Tobias, ich trage ein geheimes Weh in mir und suche diesen grossen Meister, um damit in Ordnung zu kommen. Wenn du Ihn so intim kennen gelernt hast, sage mir, vermissest du Ihn jetzt? — oder genügt dir das Bewusstsein: Im Geiste ist Er ja stets bei mir!"
Tobias belehrte ihn: „Freund Jonas, du hast noch eine falsche Vorstellung von unserm Meister und möchtest Ihn menschlich um dich wissen. Dies würde dich im Augenblick wohl beglücken, aber wachsen könntest du in deinem Innenleben nicht dabei. Siehe, im Verlaufe unserer Gespräche fragte ich Ihn einmal: Herr, wie kommt es, dass Du mit uns sündigen Menschen so überaus gut bist, und doch meidest du den Tempel?
Da sagte der Herr: In wenigen Jahren, wenn Ich heimgekehrt sein werde in Mein ewiges Reich, wirst du erst diese Wahrheit erfahren, indem dein Geist das Zeugnis darüber von Meinem Geiste empfangen wird. Denn diese Meine, dir jetzt noch so unbegreifliche, Liebe zu allen Menschen ist eben Mein in Mir wohnender Vater-Geist aus Gott!
Denke oft an diese Stunde zurück, wo Ich Mich ganz auf deine Stufe stelle, und dir sage: Auch du trägst einen Funken reinster Gottes-Liebe in dir und bist dadurch gewürdigt, dich zu einem Gottes-Kinde zu entwickeln.
Siehe, mein Freund, dieses Sein Wort genügt mir für Zeit und Ewigkeit. Daran bin ich gewachsen, und heiliger Friede ist mein Teil.
Dort kommt Lazarus — frage ihn, er wird dir bezeugen, dass ich in meinem hohen Alter nur noch meiner Seele nach in dieser Erdenwelt lebe, in meiner Innenwelt aber bin ich längst mit Jesum, der mir nun Vater geworden ist, ganz Eins. O du arme Welt, wie dünkest du dich gross und kannst nicht einmal einen Schatten werfen auf die in mir gewordene Gottes-Welt! Und so muss ich dir gestehen: Jesus lebt! Jesus bleibt der Sieger über alle Welt!"
Lazarus war hinzugekommen und hörte noch die letzten Worte. „Willst du noch ein grösseres Zeugnis?" fragte er Jonas, „Dieser ist bereit, sein Leben für Ihn zu opfern, und es würde ihm nicht Schmerz, sondern Freude bedeuten, weil er alles aus den Händen Gottes empfängt!"
Herzlich war der Abschied von diesem ehrwürdigen Alten. Beide gingen lange schweigend nebeneinander, dann sagte Lazarus: „Bru­der, ich fühle es, ich werde zu Hause erwartet und will mich beeilen; du hast Musse und kannst dir Zeit nehmen, deine Umwelt mit den Augen der Liebe zu betrachten."
Erwiderte Jonas: „Ich möchte dich lieber begleiten, lieber Lazarus, um das in mir werdende Lichtlein nicht wieder durch eigenes Grü­beln zum Verlöschen zu bringen. Habe Geduld mit mir, ich ringe nach der Frei-Werdung."
Inzwischen war grosse Freude in Bethanien, indem Demetrius und Ursus mit vieler Begleitung ankamen. Sogleich wurde die Unter­bringung der Tiere und Wagen von Ursus angeordnet, während der alte Enos sich mit seinem Freunde Demetrius unterhielt; dann kam auch schon Lazarus mit Jonas und alle begrüssten sich herzlich.
Als die Römer erfuhren, dass Theophil beinahe ein Opfer der Templer ward, wallte in Ursus der alte starre Begriff römischer Gerechtigkeit auf, aber Enos sagte voll Ruhe: „Bruder, was uns als hart und schwer ankommt, lässt sich auch nur schwer ertragen. Ich aber wusste im voraus: Der Herr wird alles zum Besten lenken — und bin nicht enttäuscht worden von Seiner ewigen Liebe. Ja, wir haben noch viele treue Seelen mit ihm erretten können! Sehet, hätte mein Theophil diese harte Probe seiner Treue nicht gebraucht, wäre dieses Schicksal ihm bestimmt nicht geschehen. Theophil wird es euch selber bezeugen, denn er ist ein anderer geworden."
Bis spät in der Nacht blieben heute die Freunde noch beisammen, nur Jonas zog sich bald zurück. Und als Pura ihn fragte: „Warum bist du immer noch innerlich traurig, wo doch alles um uns Freude und lachendes Leben ist?", da antwortete er zuversichtlich: „Meine liebe Pura, glaube mir, bald bin auch ich erlöst von den Qualen der düsteren Bilder, mit denen ich in so vielen schlaflosen Nächten ge­rungen habe. Wie habe ich um Klarheit gefleht — doch heute end­lich sind mir durch Lazarus und den alten Tobias diese inneren Vorgänge in einem ganz anderen Lichte gezeigt worden. Wenn ich nur ein einziges Mal mit Jesum wirklich sprechen könnte, o wie würde mich das frei und froh machen."
„Mein lieber Jonas, da irrst du", rief Pura bewegt, „eine Begeg­nung mit dem Heiland ändert dein Innenleben auch nicht! Aber das Heilands-Leben in uns ist das Erlösende, und ist so viel wichtiger,
als Ihn schauen oder mit Ihm reden. Denn wo Sein Leben gelebt wird, muss Sein Geist ja gegenwärtig sein!
Warum suchst du noch nach Rettung durch die Aussenwelt? Auf allem Äusseren, und sei es noch so gut, liegt stets ein Stückchen Schatten. Schatten aber ist stets der Beweis, dass sich etwas ins Licht gestellt hat, das sich nicht vom Lichte durchdringen lassen will. Die Person Jesu kann uns auch zum Verhängnis werden, wenn wir an Seiner Aussenform hängen bleiben und unser Innenleben nicht beachten.
Was ich an Lazarus und den Schwestern immer bewundere, ist: dass Jesus aufgehört hat, ihnen noch Person zu sein, sondern nur Vater-Geist geworden ist." —
Frühmorgens hatte David mit seiner Harfe wieder einen köst­lichen Psalm als Loblied dem Herrn dargebracht, und alle befanden sich dadurch in festlicher Stimmung. Auch Jonas fühlte sich freier als seit langem und wehrte sich nicht, diese Freudigkeit auch in seine Seele einziehen zu lassen. Als nun Ursus anfing, zu erzählen von den geheimen Regungen, die er als erwachende Kräfte in sich erlebte, und von den Segnungen, die der Geist damit durch ihn auslöste, lauschte Jonas gespannt und tief ergriffen, denn hier fand er Tatkraft mit Heldentum vereint.
So fragte er Ursus, ob er ihn auch einmal allein sprechen könnte. „Ja, gern", antwortete Ursus, „aber vielleicht ist es gar nicht mehr nötig, lieber Bruder, denn am Abend beleuchtet die Sonne alles anders als am Morgen! Jetzt aber will ich nach Jerusalem fahren, da kannst du mich mit Theophil begleiten, aber nicht mit zaghaftem Herzen, sondern mit dem Sieges-Bewusstsein: Jesus lebt! — und wir durch Ihn!"
Bald sass Ursus mit den beiden und einem schwarzen Diener auf seinem Wagen; er lenkte selbst die feurigen Pferde, und rasch ging es nach Jerusalem.
Inzwischen hatte der reiche Kaufherr Demetrius mit Enos und Lazarus eine ernste Unterredung; er warb für seinen Pflegesohn Ursus um Ruth, die junge Tochter des Enos, damit sie ihm folge als Weib, mit Vater und Mutter — nach Rom.
Langes Schweigen folgte — bis Lazarus sagte: „Lieber Enos, warum so feierlich still? Wenn Ruth bereit ist, und wahre Herzens­neigung zum Ursus empfindet, ich würde es als ein Glück ansehen!"
Da sprach Enos: „Mein lieber Demetrius! Wenn unsere Kinder sich darüber einig sind, gebe ich freudig meinen Segen dazu. — Ich will mit meinem Weibe und mit Ruth darüber sprechen — ich aber bleibe hier in Bethanien."
„Enos hat recht", sprach Lazarus, „erst mag er sich mit den Seinen aussprechen, wir warten gern bis zur reifen Antwort. Zugleich aber, lieber Enos, möchte ich dich darauf vorbereiten, dass dein Theophil auch bald seiner grösseren Bestimmung zugeführt werden wird. In den neuen Gemeinden bei Achibald und Bernhart braucht das erwachte Gottesleben besondere Unterweisung, und Theophil wird der rechte Gottesdiener bei ihnen sein. Ich sprach schon mit ihm. Er geht gern, und wartet nur noch auf den beson­deren Ruf."
Enos sprach langsam: „Ich weiss — die Töchter ziehen mit dem Mann ihrer Wahl, und dort gründen sie ihre neue Heimat. Auch die Söhne suchen sich ihren Beruf. Ich aber bin festgewurzelt in der Nähe der Stadt Gottes und habe hier meine Heimat gefunden."
Unterdessen lenkte Ursus sein Gefährt nach dem Hause Marias, die mit ihrer Magd allein anwesend war. Die Jünger blieben nur selten zu Hause, denn ihre Liebe drängte darnach, den hungernden Seelen weitere Geistesnahrung zu geben.
Ursus bat: „Liebe Mutter, komme mit nach Bethanien, damit wir, solange wir noch hier sind, uns nicht mehr zu trennen brauchen. Komme mit, ich erwarte heute noch eine besondere Freude, die musst du mit erleben!"
„Ursus, ich komme gern mit, doch besuche erst deine Freunde hier. — Theophil und Jonas bleiben inzwischen bei mir, denn auch wir haben noch manches Wichtige zu besprechen."
Dies war zwar nicht so recht nach seinem Wunsch, aber Ursus betrachtete diese Anregung als Gottesruf, darum sagte er: „Ja, Mutter, es ist recht so. Ich werde mich aber doch beeilen, denn es ist noch viel heute zu erledigen."
Maria bot den beiden eine kleine Erfrischung an, dann sagte sie: „Dein Auge blickt so trübe, Bruder Jonas, willst du noch mehr Beweise göttlicher Liebe und Erbarmung? Oder hast du vergessen, welchen herrlichen Dienst du deinem Bruder Theophil durch die Gnade Gottes erweisen durftest? Siehe, wer ein einziges Mal er­wählet ward, Gott und seinen Brüdern zu dienen, ist für ewig er­wählt. Gott in Seiner Liebe, weiss um alles, Er kennt auch deinen Kummer. Darum schaue nur auf Gottes reine Liebe, und Seine grosse Barmherzigkeit mit allen Irrenden wird dir immer mehr offenbar!"
Sprach Jonas: „Liebe Mutter Maria, niemand ersehnt die Ruhe und den Frieden des Herzens mehr denn ich. Dass Gott wahrhaft Gott ist, stehet ausser allem Zweifel; dass aber Gott, als Vater Seiner Kinder, das grosse Leid und die Drangsal Seiner Getreuen mit an­sehen kann, wo Er nur zu wollen braucht, und alle Feinde wären zunichte, siehe, dieses macht mich zum leidenden Menschen. Seit in mir die Liebe zum Menschenbruder so mächtig geworden ist, werde ich von dem ihnen zugefügten Leid schwer bedrückt. Ich möchte helfen aus meiner Liebe, bin aber zu schwach; und: Gott, der die Macht besitzt - warum hält Er sich verborgen?"
Sprach Maria: „Mein Sohn, was du sagst, hat wohl, menschlich genommen, vieles für sich. Du bist noch Mensch, und möchtest nach deinen einfachen und schönen Begriffen keinen unglücklich sehen, und fragst dich: Wo bleibt denn die göttliche Hilfe? Ich könnte dir antworten: Gott sieht und weiss um alles und könnte wohl im Augenblick allem Leid und Weh Einhalt gebieten; aber Er tut es nicht — und will es nicht!
Der Mensch fragt erstaunt: Warum denn nicht? Und dazu muss ich dir erklären: Weil die Erhaltung aller Menschen-Seelen Seiner unendlichen Liebe herrlichster Wesenszug ist! Sag, gilt es nur die zu erhalten, die sich zu Ihm bekennen? Oder gilt Seine Erhaltung allem Geschaffenen? Wenn Gott nur die erhalten wollte, die sich zu Ihm bekennen — und würde Seine Allmacht gebrauchen, um die Peiniger zu schlagen, sag, mein Sohn, wo wärest heute du? —
Genau wie du selbst noch gerettet werden konntest, könnten nicht auch noch andere gewonnen und zu Seinen Mitarbeitern werden? Was der Herr im Rate Seines Heils-Planes beschlossen hat, wird wohl allem menschlichen Verstehen ein ewiges Rätsel bleiben. Aber ein von Seiner grossen, erbarmenden Liebe durchdrungener Mensch kann doch um manches davon wissen, indem Gott es ihm offenbart."
Maria schwieg eine Weile — dann fuhr sie fort: „Siehe, du hast gestern schon durch Lazarus die Verheissung erhalten, dass der Herr, um den vielen Bitten Seiner Kinder gerecht zu werden, Sich offen­baren will — und ihrem grössten Peiniger Sein heiliges Angesicht zeigen wird — zum Zeichen, dass Er der Herr ist! Und ich darf dir sagen: dieses ist heute geschehen!
Noch ist es freilich ungewiss, ob es ihm zum Segen oder zum Fluch ausschlagen wird, denn jedes Menschen freier Wille muss aufs Genaueste gewahrt bleiben.
Solange du nun die Vorstellung dieser ewig klaren Gottes-Liebe in dir trübst durch mancherlei unverstandene Vorgänge, wird dir auch vieles in der Aussenwelt trüb erscheinen. Die herrlichsten Wahrheiten und Verheissungen werden in deinem Zustande dunkel und hoffnungslos aussehen. Und wenn dir Gott Selbst entgegen­treten würde, bliebest du doch in dir derselbe, weil dieses dein Übel nicht von Aussen kam, sondern noch Reste deiner alten, verworrenen Gottes- und Glaubens-Begriffe sind.
Nimm dir Theophil zum Vorbild. Er murrte nicht im Gefängnis. In gläubigem Verharren wartete er auf den Herrn, und sein Ver­trauen wurde herrlich belohnt, dafür bist du selber ja der Beweis. Gehe nun in deine eigene Herzensstille, und du wirst die heilige Liebe erkennen, die durch mich — um dich wirbt!"
Jonas war im Tiefsten erschüttert, denn die letzten Worte hatten den Gottesfunken in ihm berührt. —
Erst nach einer Weile bekannte er leise: „Liebe Mutter, wie Hammerschläge sind deine Worte in meine Seele eingedrungen — es wird Licht in mir! O ich blinder Tor! Wie Schleier fällt es von meinen Augen; überall sehe ich nun Liebe walten — Seine Liebe! O Du mein Gott! Wie ganz anders sehe ich Dich nun an! Wie viel herrlicher sind doch Deine hohen Absichten mit uns Menschen, als ich je zu denken wagte. — O Mutter, verzeihe mir mein störrisches Herz!"
„Komm in meine Arme, mein Sohn", entgegnete Maria, „da du dich durchgerungen hast zur Klarheit. Wer diese Liebe erfasst hat in seinem innersten Wesen, will ihr auch ein freier und williger Diener sein. Und wer dieser Liebe heiliges Leben in sich pulsieren fühlt, ist schon ein Bürger der Himmel. Wer zu seiner Beseligung noch Liebe sucht, strebt wohl in himmlische Reiche. Wer aber Liebe geben kann, weil sein in ihm erwachter Gottesfunke strahlendes Leben aussenden muss — ist Sein wahres Kind geworden und kann und wird sich nur freuen über all das, was Sein heiliger Vater will!"
Theophil hatte still und sehr aufmerksam zugehört. Jonas weinte an der Brust Marias, dann sagte er leise: „Mutter! nie mehr sollst du Grund haben, mit bedrücktem Herzen auf mich zu schauen."
Maria sagte: „Nun, wo die Kluft in dir beseitigt ist, wollen wir recht stille werden im Herzen — und danken, damit sich unser Blick weite für die eigene innere Welt, und unsere Seele erfüllt werde von all den Schönheiten, die der herrliche Vater Seinen werdenden Kindern schenkt. Ihr brauchet wohl noch rechte Übung, ehe ihr in Wahrheit eure Innenwelt beschauen lernet. Aber geeintes Wollen, geeintes Bitten und Danken wälzt auch von eurer Herzens-Tür den Stein, den ein alter, aber verkehrter Gottes-Begriff davor lagerte."
So wurde es still im Zimmer bei Maria, und Jonas und Theophil erlebten herrliche Vorgänge der immer lebendiger machenden Liebe Jesu.
Dann kam Ursus zurück, und Maria sprach: „Lieber Ursus, heute ist ein so schöner Tag, wie er sich nicht oft gestaltet! Wir wollen ihn recht dankbar erleben, weil die Freude so selten wird in dieser Zeit."
Ursus aber musste bekennen: „Mutter, für mich waren diese Stun­den weniger schön, ja, ich kann es noch nicht ganz überwinden, dass unser römisches Gericht den falschen Priester Abia, der Theophil gefangen nahm, freisprechen musste, und alle beteiligten Templer frei ausgingen. Auch der Hauptmann Benno war sehr erregt dar­über, und ich musste mir Mühe geben, ihn nur etwas zu beruhigen. Jetzt soll sich sogar der Hauptmann noch entschuldigen, weil er dem Lazarus und dir, Jonas, hilfreich zur Seite stand!"
„Ich verstehe nichts von eurem römischen Recht", sprach Maria, „und denke mir, dieses Urteil bleibt nur eine Gnadenfrist! Die Templer werden bald eines Anderen belehrt werden, denn alles ist bei ihnen Lug und Trug.
Der Herr aber lebt! und keiner kann sich über Ihn erheben! Wisset: bald wird ein neuer Kämpfer für den Herrn erstehen, ja du, lieber Ursus, wirst ihn kennen lernen hier in diesem Hause und wirst dich wundern über seine Umwandlung, die aber nur der grossen Gnade Gottes möglich war."
„Mutter", wandte Jonas ein, „du redest so bestimmt davon, als ob es schon Tatsache sei, es sollte aber doch nur eine beruhigende Verheissung für uns sein." —
„Nein, mein Jonas", antwortete ihm Maria, „was der Geist aus Gott mir zeigte, ist nicht Voraussage, sondern schon Gewissheit ge­worden! Doch nur um euretwegen habe ich diese Botschaft erhalten, denn für meinen Glauben brauche ich nicht dergleichen, da ich in der Gnade, Liebe und Erbarmung des Ewigen völlige Genüge habe.
Ich lebe nur noch zu 6 Teilen für mich, zu 60 Teilen für meine vielen Kinder, und zu 600 Teilen schon im Reiche meines Herrn und ewigen Vaters. Darum kann es für mich keinen Zweifel geben, so ich aus der reinen Gotteswelt eine Botschaft erhalte!
Gewiss bin ich dem Fleische nach noch Mensch, erhalten aber wird mein Leib aus Gotteskräften. Krankheit kenne ich nicht. Ich fühle mich nie mehr einsam! — Doch welche Wonnen und Seligkeiten ich geniesse — ahnt kein Mensch. Engel aber stehen oft um mich und sind beseligt in meiner Sphäre.
Was ich vor Jahren als tiefsten Schmerz empfand beim gewalt­samen Tode meines geliebten Sohnes, ist heute die Quelle eines ganz neuen Lebens in mir, das nun verwachsen ist mit Seinem heiligen Erlöser-Willen. Der Geist aller Wahrheit offenbart meinem Geiste überaus herrliche Dinge; und was eure Seele noch bis auf den Boden niederdrückt, was euch Schmerz oder viel Kummer macht  (Wie die Greuel der Templer und ihr Freispruch vor Gericht), ist für mich schon feste Gewissheit.
Der Herr und liebevollste Vater aller Menschenkinder hält schon neue Gnaden-Wege offen, denn Er hat ja stets das Wohl aller im Auge! Freilich, brennender Schmerz durchfurcht oft Sein Herz, so Er Dinge zulassen muss, welche die Menschen in ihrem blinden Wahn selbst heraufbeschworen haben!
Könntest du, Jonas, jene grossen Dinge ertragen, die ich in der grossen Werkstatt der erbarmenden Gottesliebe erschaue, ich würde sie dich erschauen lassen! Aber wie du als Mensch nicht lange in die strahlende Sonne schauen kannst, so kannst du auch diese Wun­der Seiner Liebe noch nicht im Gotteslichte beschauen. Du würdest im Geiste erlahmen und untauglich werden für das grosse Werk des Herrn. Wenn aber dein in dir wohnender Geist der Seele beengende Fesseln gesprengt haben wird, dann wird dir dein Geistfunke auch manches offenbaren, was dir heute noch als ganz unmöglich erscheint.
Ihr beide aber: du, Ursus, Liebe aus der Kraft, und du, Theo­phil, Kraft aus der Liebe - seid ohne Sorge, euer Weg ist geebnet. Ja, eure stillen Wünsche sind von der Liebe Gottes schon gesegnet. Doch vergesset in eurem Glück, in eurem glücklichen Wirken nicht die Anderen. Denn nur da wird Gott mit vollen Händen geben, wo Er Gewähr hat, dass alles in Seinem heiligen Sinn verwaltet wird.
So freuet euch nun, wie ich mich freue! Liebet euch, liebet eure Brüder und Schwestern, wie ich euch und alle Anderen liebe! Dann wird Sein Vater-Segen durch euch allen Seinen Kindern wahrhaft offenbar, und die Stätte, die ihr bewohnt, wird zu einer Pflegestätte heiligen Gottes-Segens!"
„Liebe Mutter Maria", lief Ursus begeistert aus, „da du uns heute so vieles aus deiner Herzensliebe offenbartest, was uns bis ins Innerste beglücken muss, so wage ich es, dich zu fragen, ob du meinen stillen Herzenswunsch gutheissen magst? Oder betrübe ich dein Herz damit, dass ich immer noch so viel an mein eigenes Glück denken mag?"
„Mein lieber Ursus, Mutterliebe blieb dir so gut wie fremd. So ist es zu verstehen, dass du voll Vertrauen zu mir kommst, um dich in deiner sehnenden Liebe anzulehnen an teure Menschen. Für ge­wöhnlich ist es die Mutter, und ich will dir gerne das mitfühlende Mutterherz ersetzen! Meine Liebe zu dir soll gleich heiligem Mutter­segen deinen Herzenswunsch befruchten, so dass für dich und deine Nachkommen noch dieser mein Segen fühlbar sein soll! Genügt dir diese Antwort, mein Sohn Ursus?"
Ursus fühlte sich plötzlich überglücklich. Das war weit mehr, als er erwartet hatte, und so rief er jubelnd: „O Mutter! Wie oft schon habe ich mich in bangen Nächten nach solchem lieben Wort gesehnt. Doch seit der heilige Vater mein Herz erfüllt und mir immer neue Liebes-Anregungen gibt, ist wohl diese Sehnsucht fast erloschen.
Aber in dieser Stunde, wo du mich so voll Liebe mein Sohn Ursus nanntest, gibt es kein grösseres Glück für mich. Jetzt, wo ich mit meinem ewigen Vater verkehren kann in einfachster und natürlich­ster Art, wird mir auch noch eine Mutter geschenkt! O Du mein Gott und Vater! Mache mein Herz noch stärker, damit es diese Fülle von Glück und Wonne ertragen kann. Und so bleibe Du der Erste und der Letzte in mir!
Du aber, nun meine Mutter, habe Dank für deine Liebe und für deinen Segen! Alles, was ich mir an Gutem und Schönem denken kann, soll dich umgeben, und täglich will ich dich beglücken mit einem Gedanken, der dich erfreuen soll wie der erste Strahl der aufgehenden Sonne.
Aber nun wird mir dieses Zimmer zu eng! Wir wollen zurück nach Bethanien!"
Als die Magd meldete, dass der Wagen vor dem Hause stehe, sprach Maria noch zu ihr: „Kind, hüte das Haus recht! Halte das Mahl bereit für die Brüder und sage ihnen: Bethanien erwartet sie!" —
Viele Neugierige betrachteten das Gefährt und den schwarzen Diener, auch Templer standen dabei und erkannten Theophil und Jonas. Sie wollten ihnen etwas zurufen, aber Ursus rief laut: „In Bethanien sind wir zu Hause, und unser Tempel ist unser Herz, das sich nach Liebe sehnt und gerne Liebe spendet! Jesus Christus sei mit euch!" — Und rasch fuhr er davon.
Unterwegs fragte Ursus: „Lieber Jonas, willst du noch etwas von mir wissen, oder hat sich meine Ahnung auch mit dir erfüllt?"
„O Ursus", rief Jonas, „der Herr hat alle Zweifel in mir geglättet, durch Seine Gnade! Warum aber mussten wohl erst diese Unruhe, diese Zweifel sein? Könnten wir nicht gleich der Wahrheit und allem Guten dienen? Warum erst all dieser innere Kampf?"
„Lieber Jonas", entgegnete Ursus ernst, „diese Fragen müssen durchaus geklärt sein, um nicht wieder in alte Zweifel zu verfallen. Würde uns das Erglühen des Gottesfunkens im Innern wie eine süsse Frucht ins Herz gelegt, nie würden wir die Segnungen des Kampfes erleben! Nie würdest du ein selbständiger und selbstbe­wusster Mann werden, und nie könnten wir dieses Gottesfunkens höchstes Gut, die wahre Kindschaft Gottes, als das Wertvollste be­trachten und uns zu erhalten suchen!
Ohne Kampf würdest du zum Spielball fremder Einflüsse, wärest innerlich weder kalt, noch warm, und ständest ohne Interesse vor all den weisheitvollen Führungen der Menschenseelen durch dieses Erdenleben.
Erst, wer die Nacht und ihre Schrecken, die Sünde und ihre Fol­gen und die eigene Ohnmacht dagegen durchlebt hat, weiss das Licht und die Erlösung vom Falschen und Verkehrten und den Herzensfrieden darnach recht zu achten. Und der wird keinen noch so bitteren Kampf mehr scheuen, um das Höchste und Wertvollste sich zu erringen. Oder bist du, Bruder Theophil, anderer Meinung?"
„O Bruder Ursus, schildere nur weiter das in dir gewachsene neue Leben!" rief Theophil lebhaft. „Es ist mir Freude, so ich davon höre!"
Und Ursus fuhr fort: „Gewiss, es kostet viel Mühe; aber sobald die Höhe erklommen und die Verbindung mit dem Vater-Geiste her­gestellt ist, hört der Kampf mit allen Zweifeln auf. Alle Kräfte werden nun angespannt, um das grosse, herrliche Ziel zu verwirk­lichen: ganz Kind - Sein Kind - zu werden!
So wir im Alltag dahin leben, umgeben von sorgender Liebe, ahnen wir noch nicht, welch ein Schatz von starken Willens-Kräften in uns liegt. Würde keine Unruhe, kein Zweifel, kein Kampf in uns sein, könnten nie Beweise erbracht werden für die in uns liegenden Gotteskräfte. Und der Mensch könnte sich auch nicht im Geistigen höher entwickeln.
Wo kein Kampf stattfindet, kann auch kein Sieg sein! Wo kein Sieg errungen worden ist, kann auch kein Preis sein! Unserm herr­lichen Jesus aber gebühret aller Dank, aller Preis! Er hat gesiegt im Kampf mit der Welt, mit der Sünde und mit dem Tode! Sein Sieg gehört auch mir, darum soll mein Leben — Ihm ganz gehören!
Amen!"
 
 
II. Ursus und Ruth
 
Der alte Enos hatte mit seinem Weibe und Ruth über die Pläne des Ursus gesprochen; und auf die Frage an seine Tochter, ob sie Ursus so liebe, dass sie Vater und Mutter verlassen könnte, antwor­tete Ruth:
„Vater und Mutter! Mit noch keinem Wort ist zwischen uns beiden davon gesprochen worden, dass wir uns lieben. Ich weiss aber — Ursus liebt mich, und Ursus weiss, dass ich ihn liebe. Wenn er mich nun zu seinem Weibe begehrt - ich bin bereit, ihm zu folgen. Es würde eine Trennung von euch mir wohl sehr wehe tun, aber diese Liebe im Herzen überragt mit ihrer Kraft auch den Schmerz unserer Trennung. Ich habe noch niemals daran gedacht, dass der reiche Römer mich begehren würde; nun es sich aber verwirklichen will, möchte auch ich euch bitten: Kommet mit! — und wir brauchen uns nicht zu trennen!"
Enos sprach: „Meine Ruth! Die beiden vergangenen Jahre haben uns erst ein rechtes Glück gebracht, darum bleiben wir lieber hier in Bethanien. Du aber ziehe gern mit dem Manne deiner Wahl. Ursus wird dein Leben inhaltsreich gestalten. Siehe, in fremden Landen wurzele ich und deine Mutter nicht mehr ein, während ich hier volle Befriedigung darin finde, ganz im Sinne des heiligen Vaters tätig zu sein.
So ziehe im Namen des Herrn, wohin dich deine Liebe und dein Schicksal führt."
Ruth fragte noch: „Wie denkst du, liebe Mutter ? Willst auch du mich gern ziehen lassen?"
„Mein Kind! Mit Schmerzen habe ich dich geboren, doch dein Leben war mir immerwährender Sonnenschein. Mit Schmerzen lasse ich dich gehen, doch werde ich dich überall segnen, denn dein Glück ist unser Glück! Darum gehe im Namen des Herrn deinen neuen Pflichten entgegen und fülle den Platz recht aus, wo dich wahre, reine Liebe hingestellt hat. Jesus ist uns immer nahe und ersetzt uns das noch Fehlende. Vergiss dies nie, dann wird sich dein Lebens-Himmel nicht trüben, sondern wird täglich noch schöner, je mehr du an Liebe und Treue geben wirst."
Im Hofe wurde es lebendig. Ursus war mit Maria und den Brü­dern angekommen, und es gab eine besonders herzliche Begrüssung, weil alle so voll innerer Freudigkeit waren. Ursus war so ganz von seligster Freude erfüllt, dass er allen zurief: „Mein Herz ist heute so froh — ich könnte die ganze Welt umarmen!"
Lazarus suchte ihn zwar weise zu beruhigen: „Nur ruhig bleiben, mein Ursus, das Glücklichsein will gepflegt werden, sonst entschwin­det es uns gar bald."
Aber Ursus entgegnete ihm strahlend: „Heute ist deine Warnung nicht angebracht, lieber Lazarus! Alle Saiten klingen und rauschen in mir! Mein Glück ist ein Geschenk aus den Himmeln, und was von meinem Jesus kommt, bleibt für Zeit und Ewigkeit! Darum will mein Herz sich immer noch mehr freuen, bis ihr alle meine Freude verstehen und euch mit mir freuen wollt."
Und Lazarus lächelte: „Ursus, ich kenne dich heute nicht wieder! Du, der ernste und manchmal so harte Römer gleichst heute einem sorglosen Kinde, das in seiner sonnigen Freude alle beschwingt."
Inzwischen begrüsste die Mutter Maria das Weib des Jenas: „Dir, meine liebe Pura, wird noch ein besonderes Geschenk, denn von heute an hast du einen anderen Jonas, dessen Herz sich von der Nacht zum Licht, von Zweifeln zum festen Gottvertrauen durchgerungen hat."
„O Mutter! Dem Herrn sei Dank! Er allein konnte helfen!" Erwiderte Maria: „Kind, das Leben liebt oft wunderliche Umwege, aber verzagen darf man nie! Der heilige Gott und Vater weiss ja um allen Kampf, und wenn du tagelang gebeten hast, so denke be­ruhigt: ,Nun ist die Grenze erreicht — wo der Gegner nicht mehr seine volle Macht besitzt'." —
Später kamen noch Johannes, Petrus und Jakobus an, und Laza­rus empfand dieses Zusammentreffen als einen Wink des Herrn, mit ihnen zu sprechen über Theophils Sendung in die neuen Siedlungen bei Achibald.
Johannes antwortete darauf: „Du kennst Theophil, du wirst ihn geprüft haben, und die letzte Schule, die er durchmachen musste, wird ihren Zweck nicht verfehlt haben. Darum zögert nicht länger damit, denn ich weiss, in den neuen Gemeinden besteht schon die Gefahr, dass sie verschiedenen falschen Begriffen über die Persön­lichkeit Jesu Raum geben wollen, weil eine einheitliche Leitung von einem berufenen Gottesdiener ihnen fehlt."
Sprach Lazarus: „Ja, du wirst recht haben, Johannes! Und siehe, dadurch entsteht in mir ein neuer Plan, der aber von dir, mein lieber Ursus, ein Opfer verlangt. Ich weiss, dein jetziger Besuch gilt hauptsächlich deiner zukünftigen Lebensgestaltung; du begehrst Ruth zu deinem Weibe, und dazu beglückwünsche ich dich aufs herzlichste. Wir wissen, du bist würdig, dieses junge und reine Mädchen als Weib zu besitzen, wie auch Ruth würdig ist, dich als Ehegemahl zu erhalten!
Ich bin bereit, eure Hochzeit zu richten, da ihr Vater Enos sein beträchtliches Vermögen mir zur Verwaltung übereignet hat. Ich möchte vorschlagen, diese äussere Zeremonie nun so bald als mög­lich vorzunehmen, denn innerlich sind eure Herzen ja schon vereint.
Dann könntest du, lieber Ursus, mit deinem angetrauten Weibe unsern Bruder Theophil nach seinem neuen Bestimmungsort hin­bringen und Ruth damit eine grosse Freude machen, denn ich weiss, sie liebt ihren Bruder sehr. Auch einige Familien von hier möchten sich dort ansiedeln und wären gleich mitzunehmen." —
Ursus unterbrach ihn: „O lieber Lazarus, ein grösseres Glück kannst du mir gar nicht schenken! Ich werde eine Karawane herrichten, unseres Jesus würdig! Und jeder Tag soll gesegnet sein, wo ich ganz der Liebe dienen darf."
Lazarus sah Demetrius an und fragte: „Bruder, ist es auch nach deinem Sinn, oder hast du es anders gewollt?"
Demetrius lächelte und sprach: „Meine Brüder, ich bin über­rascht durch diese schöne Lösung. Ich freue mich über diesen Plan, aber was wird Enos und Miriam dazu sagen? Denn nun haben wir wirklich ohne diese und vor allem ohne Ruth beschlossen. Enos hat uns ja noch keine Antwort gegeben."
Erwiderte Lazarus: „Ich weiss, auch ohne mit ihnen gesprochen zu haben, sie denken ebenso wie wir. Denn in diesen beiden Men­schen lebt nur der Wille, alle glücklich zu machen. Wenn dann nach 4—5 Wochen Ursus und Ruth wieder zurückkommen, wird die Trennung für immer viel leichter sein, als wenn ihr sofort von hier aus nach Rom zurück reiset. Es ist ja aber nur mein Vorschlag - die Verwirklichung sei ganz der ewigen Liebe anheimgestellt."
Sprach Demetrius: „Ich werde mit Enos reden, dann ist alle Ungewissheit geklärt! In aller Stille wollen wir unsere Pläne aus­führen und uns freuen, jungen Menschenkindern helfen zu dürfen."
Als der Abend kam, gab Lazarus das Zeichen, sich im grossen Speisezimmer einzufinden, und ordnete an, dass Ursus neben Ruth sass, und Theophil neben Salome, damit ihnen Gelegenheit gegeben werde, sich näher auszusprechen.
David stand neben seiner Harfe und wartete, bis Enos den Abend­segen gesprochen hatte. Dann griff er in die Saiten, immer herr­licher entquollen dem Instrument die Töne, und nun sang er mit seiner beseelten Stimme: Was kein Aug' und kein Ohr gehört, wird bereitet denen, die da harren auf den Herrn! Aber denen, die da geben aus der Fülle ihres Lebens, wird noch Grösseres zuteil! Weil sich Engel tief verneigen, ihre grosse Freud' bezeugen und in Dankbarkeit nun tragen dieses Zeugnis heim in ihre Welt: Dass bei Menschen sie gewesen, die da pflegen göttlich Wesen zum Glück und Heil für alle Welt. Was kein Engel je gesehen und Himmels­fürsten nie geschaut, wird dem Gottes-Kinde offenbar: dass der Vater weilt bei Seinen Erdenkindern, die hier schon Himmels­bürger sind! Halleluja — Amen!"
Ergriffen lauschten alle, und so waren die Herzen zubereitet für eine Botschaft aus dem Geistesleben.
Johannes erhob sich, segnete die Anwesenden und sprach: „Schwe­stern und Brüder! Freudigen Herzens gebe ich dem Drängen des Geistes in mir Gehör und sage euch: Der heutige Abend steht im Zeichen heiliger Bruder-Liebe. Ich fühle, wie in dieser Stunde unser Gott und Aller Vater, unser Jesus, uns auch zum Bruder werden will, damit wir unsere Nächsten lieben lernen wie uns selbst.
O du reines, du herrliches Jesus-Leben in uns! Du willst ergriffen sein mit aufgeschlossenem Herzen, um auch alle unsere Brüder wiederum damit zu beglücken. Aber lieben kann nicht jeder, und diese Bruderliebe will gepflegt sein in uns! Denn sie ist ein flam­mendes Himmelsgut, aus dem Gottesfunken in uns geboren. Darum wollen wir bitten: Du heiliger Vater! Du Ur-Grund aller Liebe und alles Lebens daraus, öffne du unsere Herzen, dass reiche Liebe in uns erweckt werde zum Heil und Segen für alle unsere Mit­menschen! Amen.
Dann wird der in uns gelegte Gottfunke sich befreien können von all unsern seelischen Schwächen und Hemmungen, und flammen­den Herzens dürfen wir bekunden: Wir sind unseres heiligen Vaters Eigentum geworden und fühlen uns als Brüder untereinander eng verbunden. Amen."
Später stand Demetrius auf und bekannte vor allen: „Liebe Brüder! Mein Herz drängt mich, euch zu danken für alle uns heute hier erwiesene Liebe. Wie glücklich macht es mich, den heiligen Vater gefunden zu haben! Aber kann solches Glück schon Vollkom­menheit sein, so ich weiss, die Erde ist voll von Leid und Kummer, voll Blindheit und Verirrung? O meine Brüder, aus dieser Not und Verwirrung erlebe ich des heiligen Vaters Mahnruf: Ich brauche euch, um das Werk Meiner Erlösung fortzuführen."
Und Lazarus schloss: „Behaltet diese Worte tief im Herzen zur Nachfolge, und danken wir alle unserm treuen Herrn und Meister!"
Dann begaben sich alle still zur Ruhe; beim Hinausgehen fragte Lazarus noch: „Nun, mein Ursus, hast du mit Ruth über eure Zu­kunft gesprochen?"
„Lieber Lazarus, was ihr Mund noch verschwieg, sagte mir ihr strahlender Blick: ich weiss es, wir sind eins!"
Und Lazarus sagte noch: „Ich freue mich mit euch! Nun bringe mit deiner Braut und deren Eltern alles andere in gerechte Ord­nung, damit wir die Pläne unseres Meisters wirksam fördern kön­nen", und ernst setzte Lazarus noch hinzu: „o Ursus, seid euch immer bewusst: wem viel gegeben wird, von dem wird auch viel gefordert!
Die Zeiten sind ernst, überaus ernst. Nur wahre Kinder sucht das Vaterauge, nur treue Herzen sind mächtig in dieser Kampfzeit, wo der Geist aller Vernichtung das keimende, wachsende Gottesleben in den Herzen der Gläubigen vernichten will! Wir in Bethanien haben verlernt, an eigenes Glück zu denken. Die stete Fürsorge für alle Bedrängten erfüllt unsere Herzen, und damit trocknen wir manche Träne unseres Erlösers. Nun aber prüfe noch einmal in dieser Nacht gewissenhaft dein Herz, und der Herr segne dein Be­ginnen!"
Am frühen Morgen schon ging Demetrius zu den Eltern Ruths, um sich bestimmte Antwort zu holen, Ursus aber blieb allen noch fern und wollte warten auf diesen Bescheid.
Enos begrüsste ihn: „Lieber Demetrius, ich weiss, du willst be­stimmten Bescheid von uns hören. Ruth ist bereit, dir zu antworten — ich werde sie rufen."
In wenigen Minuten war Ruth bei ihren Lieben und reichte Demetrius die Hand zum Grusse. Dieser sprach: „Liebe Ruth, du weisst, warum ich in dieser frühen Tagesstunde mit dir reden möchte?"
Und Ruth antwortete: „Ich weiss, darum möchte ich dir die Frage ersparen. Wenn du mich als deine Tochter an dein Herz nehmen willst— ich bin bereit. Die Liebe, die meine Eltern von Kindheit an bis heute empfingen, soll auch dir werden! Denn ich will Ursus lieben und ihm ein wahrer Weggenosse und dir, Demetrius, eine liebende, dankbare Tochter sein!"
„Liebe Ruth, du hast mir meine Mission leicht gemacht! Komm an mein Herz, und dein Versprechen will ich besiegeln mit einem feierlichen Kuss."
Ruth schaute tränenden Auges zu Demetrius auf, als er die Arme öffnete, und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn sagend: „Nun bist du meine Tochter! — Und alle Rechte eines Kindes habe ich dir im Angesichte Gottes und deiner lieben Eltern mit diesem heiligen Kusse übergeben." —
Dann wandte er sich an die Eltern: „Lieber Vater Enos und liebe Mutter Miriam, euer Kind hat entschieden! Nun will ich meinen Ursus rufen, damit wir Alten unsere Kinder gemeinsam segnen können."
Demetrius holte Ursus, und beide luden noch die Mutter Maria ein, dieser heiligen Handlung beizuwohnen, und sie sprach: „Ich habe eure Einladung erwartet, um Zeuge eures Gelöbnisses zu sein, weil ich euch doch wie meine Kinder liebe."
Miriam hatte noch Tränen in den Augen als die drei ins Zimmer traten.
Maria nahm die Hand des Ursus, führte ihn zu Ruth und sprach feierlich: „Ihr meine Lieben! Als zweite Mutter meines Sohnes Ursus bringe ich dir, meine Ruth, deinen, aus eigener Herzensliebe erwählten Ehegemahl! Hier, in der Gegenwart des lebendigen Got­tes und Seiner getreuen Engelschar und im Beisein eurer lieben Eltern bitte ich euch um euer gegenseitiges Gelöbnis! Treue um Treue! Liebe um Liebe! — möge stets das heilige Band sein, das eure Seelen umschlingt. Dann wird eure Ehe ein fruchtbringendes Vorbild sein, und alle eure Segnungen werden noch kommende Ge­schlechter geniessen dürfen."
„Meine Ruth", sprach nun Ursus und ergriff ihre beiden Hände, „Ich gelobe im Namen unseres Herrn und Heilandes Jesus dir und den Deinen unverbrüchliche Treue und Liebe, die nie aufhören soll! Und ich bitte den heiligen Vater um die rechte Kraft dazu. Nie sollst du bereuen, deine Eltern und dein Vaterland verlassen zu haben, denn meine Liebe will dir alles ersetzen und dein Leben nur sonnig gestalten!"
Ruth stand auf und antwortete: „Ich bin dein, Ursus! Bleibe dein in Freud und Leid! Dein Haus sei mein Haus, und dein Wille soll der meine sein! Dazu erbitte ich mir die Kraft von unserem treuen Jesus, unserem ewigen Gott und Herrn!"
Nun trat Enos hin zu den Beiden, die vor ihm niederknieten, und sprach: „Auf solches Gelöbnis hin wollen wir euch segnen aus der Liebe und Kraft unseres heiligen Vaters und Erlösers, damit euer Gelöbnis in guten, wie in schweren, Zeiten nie seine Wirkung ver­liere, und ihr vor Gott und aller Welt wahrhaft beweiset: ‚Ge­segnete des Herrn zu sein!’
Bereitet euch vor, in vielleicht kurzer Zeit schon in den Ehestand einzutreten, und bedenket, dass eine rechte Ehe, auf Erden geschlos­sen, auch noch Gültigkeit in der Ewigkeit haben soll. So seid ge­segnet als Brautpaar im Geiste Jesu, damit ihr eure Mission auch in Seinem Geiste erfüllen könnet zu eurem und vieler Anderen Heil! - Amen."
Nun kam Demetrius, legte ihnen die Hände aufs Haupt und sagte: „Ihr meine lieben beiden Kinder! Ihr wisset nun, für Zeit und Ewigkeit gehöret ihr einander an; und so segne auch ich euren Bund in väterlicher Liebe. Aber versäumet die Pflichten eurer Tage nicht, dann bleibet der heilige Segen unseres grossen Gottes und Vaters stets bei euch und eurem Hause! Amen!"
Alle schwiegen, um den heiligen Ernst dieser Stunde nie zu ver­gessen. Dann sprach Demetrius noch: „Und nun höre, lieber Enos, was wir gestern schon, von unserer Fürsorge getrieben, mit den Brüdern geplant haben.
Wenn schon in einigen Tagen die Hochzeit stattfinden könnte, dann würde das junge Paar deinen Sohn Theophil nach seinem neuen Bestimmungsort hinbringen, damit Ruth dort ein Bild von der geistigen Arbeit ihres Bruders gewinnt.
Darnach kommen Beide wieder nach Bethanien zurück, ehe wir die grosse Reise nach Rom antreten. Dort will ich mich von den Geschäften ganz zurückziehen, und Ursus soll alles übernehmen, so dass für ihn das Wanderleben ein Ende hat. Ich hoffe, ihr kommt mit uns nach dem grossen und schönen Rom und braucht euch um nichts mehr zu sorgen."
Hierzu sprach Enos: „Mein Bruder, ich bin mit allem einver­standen - nur nicht mit dem, dass ich Bethanien verlassen soll. Wir bleiben hier! — Die Kinder aber mögen ihre Pflichten dort erfüllen, wo die weise Führung des ewig liebenden Vaters sie hinstellt."
Demetrius kannte ja schon diesen Entschluss, und so sagte er noch: „Nun, liebe Ruth, sage deinen Schwestern von deinem Glück, während wir mit Lazarus alles weitere noch anordnen; denn es wird noch sehr vieles zu erledigen sein, wenn in einigen Tagen schon die Karawane fertig sein soll zu eurer schönen Hochzeits­reise."
 
 
III. Die Hochzeitsfeier
 
Demetrius hatte es fertig gebracht, dass schon nach wenigen Tagen im Tempel zu Jerusalem öffentlich die Ehe der beiden Kinder ge­schlossen werden konnte. Von den römischen Kaufherren und den Obersten des Militärs in Jerusalem waren die näheren Freunde als Gäste und Zeugen dieser Tempel-Feier eingeladen, die ein Ober­priester in der gewohnten Zeremonie vollzog.
Nach Beendigung der Trauung fuhren das junge Paar und alle Gäste in bereitstehenden Wagen nach Bethanien, begleitet von be­rittenen römischen Soldaten, und mancher Priester mag gedacht haben: diese unsere Feinde tun, als wären wir ihre Freunde! — Sie haben wirklich Mut!
Als die Grenze Bethaniens erreicht war, machte der lange Zug halt, denn Lazarus, Enos, Theophil und die männlichen Bewohner hatten sich dort aufgestellt, um den Hochzeitszug zu begrüssen. Und so gingen alle zu Fuss nach dem Herrenhause, während die Wagen und Soldaten umkehrten, um sich in der Herberge Bethania zu einem frohen Festmahl zu vereinigen.
Die Frauen und viele Helferinnen hatten den grossen Saal fest­lich geschmückt, und in allgemeiner Freude ward ein reiches Fest­mahl eingenommen.
Ehe sich die Gäste in den schönen Plantagen in angenehmer Unterhaltung zerstreuten, erklärte Lazarus, als der Gastgeber, ihnen noch, dass nach dem Abendmahl noch ein zweiter Teil dieser Hoch­zeit gefeiert werde. „Der erste Teil galt dem äusseren Leben, dem auch wir als Christen Rechnung tragen, und sogar Opfer dafür zu bringen bereit sind. Und nur deswegen wurde auch diese Trauung im Tempel vorgenommen, um vor aller Welt gerecht dazustehen. Aber wir vermögen uns eine rechte Feier wie die heutige ohne den zweiten Teil für das innere geistige Leben, in Verbundenheit mit unserm Meister Jesus Christus, nicht zu denken. Wenn nun einer oder der andere von euch, liebe Freunde, diesen Teil nicht mit­feiern möchte, stört es uns nicht, so ihr vorzieht, lieber nach Jeru­salem zurückzufahren; Wagen stehen in jedem Augenblick bereit. — Hier gilt nur der freie Wille, und jeden Entschluss respektiere ich als den richtigen."
Die Kaufherren, die Bethanien nur vom Geschäftlichen her kann­ten, wurden neugierig, und keiner wollte gehen; denn wo solche Gastlichkeit und Eintracht unter den Bewohnern herrscht, würden sie sicher doch etwas Schönes noch erleben.
Nach dem Abendessen lag dann eine erwartungsvolle Weihe über dem grossen Speisesaal. Leuchter brannten auf allen Tischen; nach den Anweisungen Enos war vorne ein kleiner Altar errichtet, vor dem das junge Paar hatte Platz nehmen müssen. Die Gäste sassen in der Mitte des Saales, und die zu Bethanien Gehörigen um­gaben im Halbkreis die ganze Hochzeits-Gemeinde. — David bat Lazarus, während der Rede leise mitspielen zu dürfen nach seiner Art, da er um der vielen Römer willen nicht singen mochte.
Johannes, der von den Jüngern allein anwesend war, ging an den Altar und begann: „Ihr lieben Freunde, Brüder und Schwe­stern! Wir stehen hier an heiliger Stätte, denn die Liebe hat uns gerufen! — Die Liebe, die der Grund- und Eckstein alles harmo­nischen Zusammenlebens ist.
So richte ich nun an dich, Ursus, und an dich, Ruth, heute beson­ders meine Worte, nicht um euch Lehren zu geben, sondern die Freude zu bekunden, die in meinem Herzen lebt, und die Freude all derer, die heute an eurem Feste teilnehmen. Seid euch bewusst, dass Liebe ein Geschenk der Himmel ist und von allem Weltstaub sorgsam freigehalten sein muss! Dann werden euch Früchte himmli­scher Art daraus erwachsen. Ein jeder Gedanke, sei er aus der Liebe oder aus dem Hass geboren, ist gleich einem Samen, und muss nach ewigem Ur-Gesetz Frucht bringen — nach seiner Art.
Liebe Freunde und Brüder! Unser Aller Leben, sorgsam behütet und bewacht von der ewigen Vater-Liebe, ist dennoch oft ein schweres Ringen, ein Kampf, und darnach wohl erst ein Ruhen. Im Ruhen sind wir vereint mit all unsern Lieben, doch im Kampfe steht jeder meistens allein! Doch wahres Leben hat den Zug, sich immerwährend zu offenbaren. Und je inniger und herzlicher unser Innenleben sich gestaltet, um so herrlicher auch seine Offenbarun­gen! Und so ist es für jeden eine himmlische Wonne, so sich sein Herzensleben in der höchsten Fülle offenbaren kann. Darum blei­ben wir uns bewusst: dass, wo echte Liebe wohnt, auch der Herr gern Einzug hält."
Die Harfe schwieg plötzlich — die Lichter spendeten nur mattes Licht — seltsame Stille trat ein — doch um Johannes erstrahlte ein grosses Leuchten. Aller Augen schauten erwartungsvoll hin, — da auf einmal ward Jesus — als herrliche Licht-Gestalt — allen sicht­bar! —
Segnend breitete der Herr die Hände über die Festgemeinde — dann sprach Johannes weiter: „Im Namen der ewigen Vater-Liebe spricht jetzt der Herr durch mich zu euch: Meine Freunde, Brüder und Kindlein! Getragen vom Geiste der ewigen Liebe, die Mein Leben ist, segne Ich euch, und verkünde euch Meinen Frieden und Meine Gnade!
Es ist Mir eine hohe Freude, unter denen zu weilen, die Mich lieben und Meinen Willen beachten! Da aber Ich, als der Herr, Mich nicht aus Meinem Ur-Zentrum entfernen kann, ergeht auch an euch alle der Ruf: Entfernet auch ihr euch nicht von eurem Herzen, (dem Lebens-Zentrum!) sondern achtet auf alles, was darin vor­gehet, und ob es bereitet ist für Den, der euch unvergängliche Seligkeiten bieten kann, oder für den, der euch nur irdische Vor­teile verheisst?
O Kindlein! Glaubet eurem allmächtigen Vater: Wollte Ich auch euren Kampf verhindern, euer Leid und euer oft schweres Ringen - so wäre dieses doch ohne Nutzen für eure Entwicklung! Denn ge­rade durch den harten Kampf mit dem Irdischen wird eure Seele freier und selbsttätig, wodurch der in euch noch still ruhende Geist­funke aus Mir erwacht, und seine einstige herrliche Lichtgestaltung sich wieder erringen kann!
Wer hinaufsteigen will auf Meines herrlichen Reiches Stufen, muss alle noch hemmenden Fesseln abstreifen können, die in den Wünschen eures Fleisches und in eurer noch irdisch gesinnten Seele liegen. Doch wer Bewohner Meines geistigen Reiches geworden ist, obgleich er noch Fleisch und Blut trägt, hat sich durchgerungen zum Sieg über alle Feinde des inneren Lebens.
Mag nun die Welt um euch auch noch so düster erscheinen, mag auch der Feinde Wüten ärger sein denn je, seid dessen gewiss: Ich bin bei euch, und trage euch in Meiner Liebe! Und nur Mein Er­barmen ist es, so Ich die Welt und ihre Freunde noch nicht richte. Denn Mein allliebend Vaterauge ersieht schon den Zeitpunkt, wo auch sie ihre Knie beugen und gutmachen möchten, was sie in Blindheit schadeten!
Wenn euer geistiges Auge schon alle die Wesen schauen könnte, die euch gern Helfer sein wollen, so würdet ihr mit Freude kämp­fen für Mein ewiges Reich, dessen Bewohner ihr ja jetzt schon seid! Aber nicht im Schauen, sondern im Bewusstsein des Erkämpften werde dieses Höchste euer Eigentum!
„Kindlein! Die Welt braucht euch, seit Ich mich verhüllen muss! Um eurer vollen Frei-Werdung willen seid ihr es, die an Meiner Statt dem Bösen Einhalt zu gebieten haben und allen Verderbern ein Halt setzen sollen. Mein Geistfunke in euch sei der Führer! Mein Leben in euch das erhaltende Prinzip für alle, und euer Glaube an Mich sei die Kraft, die Erlösung schafft. Meinen Engeln gewähre Ich gern, euch zu stärken, euch zu stützen in diesem Kampf für Mein Reich. Aber übertragen habe Ich euch Mein be­gonnenes Werk im vollen Vertrauen auf eure Liebe zu Mir. Denn Meinen wahren Kindern muss es gelingen."
Der Herr geht auf Ursus und Ruth zu — legt Seine Hände auf ihr Haupt und spricht durch Johannes weiter:
„Gesegnet seid in Meiner Kraft und Liebe, die ihr Treue Mir und euch gelobet habet! So, wie ihr Mich jetzt erschauet, werde Ich immer bei euch sein und bleiben, wenn ihr zu vollbringen sucht, um was Meine Liebe euch bittet! So bleibet denn in Mir, damit Ich in euch verbleiben kann! Amen!"
Der Herr geht nun wieder an den Altar — Johannes spricht dann weiter:
„Ihr aber, Kindlein, Brüder und Freunde, vergesset Meiner nicht! Denn Ich, als Vater aller, gedenke in Liebe auch derer noch, die Meine Vernichtung wollen. So sei gesegnet euer reines Wollen und Lieben, gesegnet euer selbstloses Tun und Schaffen für Mein Werk, gesegnet eure Bereitwilligkeit und eure Hingabe und die Demut in euren Herzen! Mein Segen sei euch stets ein herrlicher Beweis! Mein Frieden sei euch Freude und Glück! Meine Liebe gebe euch Leben und Kraft und Meine Gnade sei euer ewiger An­teil an Meinem Reiche! Amen!"
Unsichtbar wurde allen der Herr — — und erst nach einer längeren Stille sprach Johannes weiter:
„Das Wunderbare ist geschehen — wir Alle durften den Herrn in Seiner unirdischen Licht-Gestalt schauen, und ihr durftet ver­nehmen, was Er, der Übergute, durch meinen Mund euch sagen liess! Glaubet diesen Worten, sie sind Brot für das innere Leben, und reicher Segen wird uns daraus erwachsen. Amen!"
Die Leuchter brannten nun wieder so hell wie zuvor, David jubelte in seiner Weise und vergass, dass noch Fremde zugegen waren. Lazarus liess noch Wein und Früchte reichen, und die Römer stellten noch viele Fragen an Johannes und Lazarus. Auch Maria wurde sehr in Anspruch genommen, als bekannt wurde, sie sei die Mutter Jesu.
Unterdessen sprach Theophil mit Salome und gab ihr kund, dass auch er nun bald von Bethanien scheiden würde, um dem Herrn zu dienen bei den Gemeinden am Merom-See. Er fragte sie: „Sa­lome, möchtest du nicht auch so glücklich sein wie meine Schwester Ruth?"
„O Bruder! ein Mädchen wie ich, als Tochter eines fahrenden Sängers, darf keine solchen Wünsche haben! Bedenke, mein Vater braucht mich, es wäre lieblos, wollte ich nur an mich denken!"
Theophil bat: „O Salome, höre mich an, Lazarus hat für alle Menschen Hilfe und Beistand bereit, wollen wir nicht mit deinem Vater zu Lazarus gehen und ihn um Rat bitten? — Denn ich mag nicht viel Worte machen. Sag! Möchtest du mein Weib sein und mir folgen dorthin, wohin mich der Ruf führt?"
„Theophil, ich möchte wohl, aber meine Pflicht ist unumstösslich: ich gehöre zu meinem Vater! Seit meiner frühesten Jugend wan­dern wir zusammen, da ich meine Mutter schon sehr frühe verlor. Er kann ohne mich sich nicht behelfen, und diese Pflicht hat mich an die Seite meines Vaters gestellt."
Theophil bat noch einmal: „O Salome, offenbaren wir unsere Wünsche dem Lazarus - er hilft, so es in seiner Möglichkeit liegt."
Die Gäste unterhielten sich noch lebhaft bis zum Morgengrauen und fuhren dann nach Jerusalem zurück.
Als die Letzten sich verabschiedet hatten, sagte Lazarus zu Enos und Demetrius: „Dieser Tag brachte uns reichen Segen, und ich wünsche, dass noch Alle diese Gnade erkennen lernen! Gehet nun auch ihr zur Ruhe, ich gehe noch nach den Ställen, auch die Tiere brauchen meinen Morgensegen." —
„Dann komme ich mit", sagte Theophil, „denn ich könnte doch nicht schlafen." „Komme nur mit, ich habe sowieso mit dir zu reden."
„Lieber Lazarus", begann Theophil, „du hast wie ein Vater an mir gehandelt, hast mich, der ich fast verloren war, wieder aufge­richtet und uns allen eine Heimat gegeben. Um was ich dich aber heute bitten möchte, ahnst du nicht."
„Doch, mein Theophil, ich weiss, du liebst Salome und möchtest sie als dein Weib mitnehmen. Aber Salome weigert sich wohl, ob­gleich sie dich auch liebt?"
„Ja, Lazarus, so ist es! Sie behauptet, ihre Kindespflicht stelle sie an die Seite ihres alten Vaters, der ohne sie dem Herrn nicht so gut dienen könne."
„Ich muss sie darob loben", bestätigte Lazarus. „Wahrlich, solche Kindesliebe muss belohnt werden! Ich werde mit den beiden reden und schon alles in Ordnung bringen. Nun aber möchte ich dir noch mitteilen, dass deiner Abreise nach dem Merom-See nichts mehr im Wege steht, und in wenigen Tagen schon Ursus die Karawane dahin fertig haben wird; du hast inzwischen Zeit, dich darauf vor­zubereiten. Bist du mit dieser Weisung einverstanden?"
„O Lazarus, dein Wort ist mir so gut wie Gottes Wort! Ich könnte mir nichts besseres wünschen als das, was du mir anratest." „Dann ist es gut — und heute noch rede ich mit David!"
Es geschah; Lazarus hatte mit David und Salome eine Unter­redung, die beide Teile befriedigte. „Ihr bleibt beide in Bethanien, bis die rechte Stunde gekommen ist! Und du, liebe Salome, nimmst die Stelle ein, die Ruth bis jetzt hatte bei meinen Schwestern und bei Mutter Miriam. Betrachte dich als gebunden an Theophil, damit er voll Hoffnungsfreudigkeit in sein neues Amt eintreten kann. Der Herr weiss ja um alles und wird auch eure Sache ordnen zu Aller Wohlgefallen. Vertrauen wir stets Seinen Führungen." —
Auch Theophil war mit diesem Bescheid sehr zufrieden und konnte in diesen Tagen noch viel Freude erleben, denn Salome hatte ein reiches Innenleben und eine grenzenlose Liebe zu dem Heiland und zu allen ihren Mitmenschen.
Am letzten Abend vor der Abreise wurde noch eine weihevolle Andacht gehalten zum Abschied des Theophil; und da kein Jünger anwesend war, übernahm der alte Tobias, Bethaniens ältester Bru­der, die Abschiedsrede und den Segen. Mit aus dem Herzen quellen­den Worten leuchtete er hinein in die ernsten Aufgaben eines rech­ten Gottes-Dieners, der das Höchste zu verwalten hat: Das Wort und die Verheissungen des heiligen Vaters.
„Du gehest nicht von uns, denn im Geiste folgen wir dir, im Geiste weilest auch du oft bei uns, und in dieser Verbundenheit wirken wir gemeinsam durch die Gnade des Herrn an unserm geistigen Fortschreiten. Ziehe hin in Frieden, der Herr gehe dir voran! Amen!"
Und dann segnete Tobias noch die 25 Brüder und Schwestern, die bei Achibald eine neue Heimat erhalten sollten.
Früh am Morgen waren beim Morgenmahl noch einmal alle ver­eint, dann gab Ursus das Zeichen zur Abfahrt. Er wusste, dass Mutter Miriam schwer trug an diesem Abschied, denn sie liebte ihre Kinder wie selten eine Mutter. Theophil aber nahm Salome bei der Hand: „Hier, Mutter, — deine neue Tochter! Sie wird dir Ruth ersetzen und mich, denn sie liebt dich inniglich! In einem Jahre hole ich Salome als mein Weib. Liebe du auch sie, du wirst nur Freude erleben!"
Lazarus ging bis an die Grenze seines Besitztums mit, dann blieb er stehen und segnete den langen Zug, bis er nichts mehr sehen konnte. — Und langsamen Schrittes kehrte er zurück nach seinem Hause.
„Mein Jesus! es ist schwer, alle die Lieben scheiden zu sehen, und doch, mein Vater, es muss sein! Dein heiliger Wille geschehe! Ich weiss, Du hast schon wieder neue Aufgaben in Bereitschaft, lass mich nicht müde werden, Dich zu verkörpern in Liebe und in Ge­duld um Deines grossen Werkes willen! Amen!"
 
 
IV. Saulus
 
Darnach war es in Bethanien recht ruhig geworden. Das Ernte­fest war vorüber, und Lazarus war oft ausserhalb beschäftigt, so dass Demetrius mit Enos viel zusammen war. Eines Tages, als Lazarus am späten Abend noch nicht von Jerusalem zurückgekehrt war, wurden seine Schwestern doch ängstlich und sprachen mit Demetrius darüber.
Er beruhigte sie: „Habt ihr vergessen, dass der Herr über ihn wacht? Ich gebe zu, es muss etwas Besonderes geschehen sein, fühle aber, es ist nichts Betrübendes; darum: habt Vertrauen, denn ihr wisset, dass selbst der kleinste Zweifel an Gottes Fürsorge die Macht des Feindes in uns stärkt! Lazarus wird in der Nacht nicht heimkommen, der gehässig gesinnten Templer wegen. Morgen früh aber werde ich deshalb selbst nach Jerusalem fahren."
Doch Ruhe brachte diese Nacht in Bethanien nicht, denn Pura, das Weib des Jonas, lag in Kindesnöten. Mutter Miriam war bei ihr, aber selbst Jonas, der doch Arzt war, konnte nicht helfen.
Schon bei Tagesanbruch rüstete Demetrius mit zwei Dienern zur Abfahrt, da kam Jonas, übernächtig, und bat mit angstvollen Augen: „Lieber Demetrius, der Herr hat uns heimgesucht, ich kann meinem Weibe keine Hilfe bringen. Bitte, schicke mir durch einen deiner Diener eine Wehemutter, ich bin in grosser Sorge."
„Lieber Jonas, in einer Stunde sollst du deine Bitte erfüllt sehen."
Demetrius hatte es eilig, aber wohin? fragte er sich. — Mutter Maria wird mir den besten Bescheid geben.
Als der Wagen am frühen Morgen vor ihrem Hause hielt, stand Maria schon reisefertig in der Tür und erwartete ihn, sagend: „Schon vor einer Stunde hat der Herr mir die Not Puras ange­zeigt, und ich bin bereit, mit dir zu kommen. Doch um Lazarus habt keine Sorge, er befindet sich mit den Brüdern wohlbehalten hier im Hause."
„Damit ist mein Besuch erledigt", rief Demetrius froh und fuhr mit der Mutter Maria sogleich zurück, um Freude und Hilfe zu bringen.
Pura lag in leichtem Schlummer auf ihrem Ruhebett. Mutter Miriam weinte leise, als Maria eintrat und meinte: „Wie ohnmächtig ist doch der Mensch, man möchte so gern helfen — und kann nichts!"
„Ja, wir Menschen können freilich nicht helfen, darum muss der Herr und Meister gebeten werden, das uns Fehlende zu ersetzen. Doch wir müssen erst die Bedingungen dazu erfüllen, und diese sind in diesem Falle: grosses, festes Vertrauen!"
Pura war erwacht von den leise gesprochenen Worten, und als sie die Mutter Maria gewahrte, schluchzte sie auf, und ihr ganzer Körper wurde aufgerüttelt.
„Aber warum denn weinen, liebe Pura", sprach Maria sanft, „wo der Herr dich so unendlich beglücken will! Alle Himmel sind voll seliger Erwartung, harrend auf den Augenblick, wo sich nach ihren Begriffen das grösste Wunder vollziehen wird. Mein Kind, siehe mich fest an — unser Gott und Vater, unser Schöpfer und Erhalter, unser Heiland und Erlöser — Er helfe dir! — Er vollende Sein Werk in dir durch Seine Liebe und Erbarmung!"
Maria drängte den eintretenden Jonas sanft hinaus und bat: „Lass uns allein! Du aber erlebe mit den Anderen die Heiligkeit dieser Stunde!" Dann legte sie ihre Hand auf den Kopf der Pura und nach wenigen Augenblicken — war das Kindlein geboren.
Als dann Miriam das Kind in den Arm der Mutter legte, sagte Maria bewegt: „So, meine liebe Pura, nun blicke voll Dankbarkeit in deine Umwelt — und dann in deine Innenwelt und erlebe all die Freude, die der Herr dich erfahren lassen will. Wir lassen dich jetzt eine Weile allein, damit du im innigsten Verband mit deinem Heiland und Vater Ihm alle Wünsche für dein Kind anvertrauen kannst. Denke auch daran: nie kehren solche heiligen Augenblicke zurück, nur noch in der Erinnerung kannst du davon zehren. — Wir wollen die Freudenkunde jetzt den ängstlich Harrenden brin­gen, bald kommen wir wieder zu dir."
Im Vorzimmer betete Jonas. Maria sprach zu ihm: „Der Herr hat Sein Wort wahr gemacht. Du, Jonas, hast jetzt einen neuen Beweis Seiner nie aufhörenden Liebe erhalten: dein Weib hat dir einen Sohn geschenkt! Doch beide bedürfen für kurze Zeit noch des Alleinseins mit dem allgütigen Vater. Sammle auch du dich und erlebe die Weihe, die da ausgehet von denen, die mit Gott allein sein wollen. Wir aber gehen voll Freude zu den Anderen."
„Freuet euch, Kinder! Heil ist uns allen widerfahren", sagte Maria, „alle Angst ist in Freude und alle Sorge in Dankbarkeit ausgelöst. Pura hat einen Sohn geboren, und wir dürfen einem wer­denden Himmelsbürger unsere volle Liebe angedeihen lassen. —
Und nun höret weiter - noch eine andere Freude kann ich euch mitteilen: Gestern kamen aus Syrien einige Brüder zurück und brachten in ihrer Mitte des Heilandes Jesu grössten Gegner mit, Saulus von Tarsen! Es muss wie ein Triumphzug gewesen sein, als Saulus vor dem Hohen Rat seine Abkehr vom Tempel bekannte und sein Glaubensbekenntnis für Jesus Christus, den lebendigen Gottessohn, klarlegte. Der Hohepriester war derart betroffen, dass er Saulus mit den ihn Begleitenden ohne Worte ziehen liess. Bald werdet auch ihr ihn begrüssen können und mit ihm diese grosse Herrlichkeit der sich ihm offenbarenden Gottesliebe erleben dürfen. Dadurch wurde es gestern recht spät bei uns in Jerusalem, und so blieb Lazarus in unserer Mitte. Eure Angst um ihn war ganz un­begründet und war geboren aus eurer Liebe zum Bruder. Wäret ihr aber im Herzen geeint gewesen mit Dem, der Alles — in Allem ist, wahrlich, in eurem Innern hätte der Abglanz von Freude sich spiegeln können, wie wir sie gestern erlebten."
Und Maria erzählte weiter: „Noch nie war bei uns soviel Verkehr wie gestern. Ich vermute, dass auch heute und in den nächsten Tagen viele bei uns einkehren werden; und es ist eine Freude, so viel Be­geisterung zu sehen, weil sie von Herzen kommt."
Sprach Martha: „Dann will ich noch ein paar Mägde in dein Haus schicken, denn dich möchten wir noch hierbehalten."
Demetrius sagte nun: „Da möchte ich zu den Brüdern fahren und kann die Mägde gleich mitnehmen. Aber zuvor will ich doch zu unserer Kranken gehen und sie und ihr Kindlein begrüssen."
Nun wollten auf einmal alle zu Pura, aber Maria bat: „Wartet noch damit, eben ist Jonas bei seinem Weibe, dann aber könnet auch ihr eure Freude bekunden."
Jonas, der allein im Vorzimmer geblieben war, dankte auf den Knien seinem Gott für die Hilfe und erflehte Seinen Segen für das Kindlein. Da sah er plötzlich eine lichte, grosse Gestalt, die sich verneigte vor der Mutter und dem Kind und segnend die Hände über beide hielt. — Er hörte die Worte: „Gesegnet sei dein Eintritt auf diese Erde, du Menschenkind, damit du deine dir erbetene Mis­sion erfüllen kannst. Du aber, mein Gott und mein Herr, lasse mich, Deinen Diener, meine Aufgabe als Schutzgeist an diesem Kind restlos erfüllen! Amen."
Vor Jonas entschwand die Gestalt — er eilte ans Lager seiner Lieben, und voll Dank und Freude kniete er nochmals nieder, in tiefe Andacht versunken. —
Dann kamen Demetrius und Enos und segneten Mutter und Kind.
Ehe Demetrius abfuhr, zwei Mägde hatten schon Platz genom­men, kam Jonas und bat, mitfahren zu dürfen, da es ihn nach Jerusalem ziehe. So fuhr Demetrius nochmals nach der Stadt und unterhielt sich mit Jonas über das eben erlebte Wunder bei Pura. Jonas war der Meinung, dass es Maria gegeben sei, Kranke zu heilen, und nur Maria sei es zu danken, denn sie sei die Begnadete!
Demetrius sprach: „Bruder, ich teile diese Meinung nicht, ich weiss, dass die Gabe, Kranke zu heilen, Geschenk aller sein könnte. Nur erfüllen wir die Bedingungen, die diese Begnadung voraus­setzt, nicht. Ich weiss von Ursus, dass er, ohne viel zu reden, schon wunderbare Heilungen durch die Gnade Jesu erlebte."
„Du magst recht haben mit den Bedingungen", sprach Jonas, „denn wie habe ich gerungen mit Gott in dieser Nacht, aber es hat nicht geholfen, weil ich die notwendige Glaubenskraft wohl nicht hatte. Maria betet ja auch, legt dann aber im vollen Bewusstsein Seiner Gnade die Hände auf, und das Wunder geschieht."
„Richtig, Jonas! Gott allein weiss, warum sich die Geburt dieses Kindes auf diese wunderbare Art vollziehen musste. Ich aber denke nicht viel darüber nach, sondern bin glücklich, dass wir diese Lö­sung erfahren durften. Über Dinge, für die ich heute noch keine Er­klärung habe, grübele ich nicht, sondern weiss: wenn Zeit und Stunde für mich da ist, erhalte ich auch die rechte Klarheit. Wohl gehe ich oft in mein Herz und halte Zwiesprache mit dem in mir lebenden Gottesfunken. Erhalte ich Antwort, freue ich mich. Bleibt es aber stumm in mir, so bin ich auch ruhig, dann ist es eben für mich noch nicht an der Zeit."
„Da gehest du leichter durch das Leben, lieber Demetrius! Ich habe nicht eher Ruhe, bis ich Beweise habe, und alles sich restlos aufgeklärt hat."
„Jonas, lass dir das Verlangen nach Beweisen nicht zu einem Hin­dernis werden auf dem Wege des Herzens zum Herrn. Ist ein kind­liches Anlehnen und Anschmiegen an unseren Heiland nicht genug? Ein einziges Mal habe ich diese Wonnen durchlebt und in meine Seele ist jener heilige Augenblick eingebrannt, wo ich Seine Liebe als das Grösste und Herrlichste erleben durfte! Nun mag kommen was will, ich weiss: Er ist mein Heiland und mein ewiger Gott — mein guter Vater! Er ist der Fels, an dem sich alle feindlichen Kräfte eine Niederlage holen werden. Und so bemühe ich mich nur, hinter allem Geschehen doch stets die führende und leitende Ab­sicht des Herrn zu erkennen."
„So fürchtest du keine Prüfungen oder Versuchungen, die dich vielleicht doch schwach oder mutlos machen könnten?"
„O Bruder Jonas, habe ich früher als blinder Mensch niemand gefürchtet, jeder Gefahr, selbst dem Tod, furchtlos ins Auge ge­schaut, was sollte ich jetzt fürchten? Ich fühle mich nicht stark, weil ich etwas besitze, sondern weil Jesus Christus mich besitzt! Ihm gehöre ich! Ihm allein gehört mein Leben und mein Vermögen. Nur als Treuhänder fühle ich mich in Seinen Diensten, und in die­sem Sinne wird auch Ursus das Geschäft übernehmen. Gewiss muss ich alle Geschicklichkeit anwenden, um etwas zu erreichen. Aber Hindernisse und Schwierigkeiten sehe ich nur als Notwendigkeiten an, die eben überwunden werden müssen, damit ich vor dem eige­nen Richter in meiner Brust bestehen kann."
Man näherte sich Jerusalem, so schwieg die Unterhaltung. Demetrius fuhr in die Herberge Bethania, übergab Pferde und Wagen dem Pächter, und dann gingen die vier zum Hause Marias, wo die Mägde freudig als Hilfe aufgenommen wurden. Die Brüder waren im eifrigen Gespräch über Saulus, und als Demetrius und Jonas eintraten, merkten beide, dass dessen plötzliche Umkehr doch Meinungsverschiedenheiten unter ihnen hervorrief.
Johannes war der einzige, der offen und rückhaltlos Saulus von Tarsen schon gestern an seine Brust gezogen hatte und mit einem brüderlichen Kuss alles Frühere zu überbrücken versuchte, indem er ihm einen neuen Namen gab.
Die Anderen aber befürchteten eine neue Falle der Templer. De­metrius teilte dem Lazarus das Wunder bei Pura mit, und dass Maria einige Tage in Bethanien bleiben werde. Johannes dankte im Herzen dem Herrn für diese Kunde, brauchte nun Maria doch nicht Zeuge zu sein von diesen Unstimmigkeiten zwischen den Jüngern.
Nach einer Stunde kam nun Saulus selbst in Begleitung von Barnabas, bei dem er beherbergt wurde. Jonas, der Saulus schon kannte, begrüsste ihn sogleich und gab seiner Freude Ausdruck, dass auch er sich vom Tempel gelöst hatte. Demetrius war überrascht, in dem jungen Mann mit dunkelblondem Haar und hellerem, klei­nem Bart, der auf ihn einen so guten Eindruck machte, den berüch­tigten Saulus kennenzulernen. Die anderen Jünger aber blieben noch recht zurückhaltend, denn sie wussten um die schrecklichen Dienste, die er den Templern geleistet hatte.
Lazarus bat nun Saulus um einen ausführlichen Bericht seiner Erlebnisse und fragte, warum Ananias aus Damaskus nicht mit ihm hierher gekommen sei.
Saulus, dem man eine seltene innere Freudigkeit ansah, begann mit grossem Eifer zu erzählen: „Liebe Männer, es ist freilich be­rechtigt, so ihr meinem Kommen zu euch und meiner plötzlichen Bereitwilligkeit, dem Gottessohne Christus Jesus zu dienen, noch Zweifel entgegensetzet. Glaubet mir aber, dass ich früher in dem Wahn lebte, mit meinem Eifer gegen andersgläubige Juden unserm Gott Jehovah einen grossen Dienst zu erweisen und deshalb solche Männer und Frauen in die Gefängnisse einlieferte. Die geheimsten Versammlungen wurden mir hinterbracht, und oft habe ich diesen Gemeinden schwerstes Leid zugefügt. Auch wusste ich, dass viele Christen unser Land verlassen hatten und sich in angrenzende Nachbarlande flüchteten.
Doch der Tempel, der ja über alle Juden das Verfügungsrecht hat, gab mir die Macht, auch diese ausserhalb des Judenlandes Wohnen­den, als dem Tempel Untreugewordene, zu strafen, und sie mit Gewalt wieder in ihren alten Glauben zurückzuführen. So habe ich rücksichtslos, mit steinernem Herzen, die Anhänger des Gottessohnes Jesus mit willigen Werkzeugen des Tempels in die Gefäng­nisse schaffen lassen.
Dann, an einem Mittage, wir ritten durch Syrien, unser Ziel war Damaskus, überkam uns der Übermut. Ich sang Spottverse auf den Gekreuzigten und auf die so geduldig leidenden Nazarener. Da schlug plötzlich ein Blitz vor meinem Pferde in die Erde. Mein Pferd ging hoch, warf mich ab und blieb zitternd stehen. Meine fünf Begleiter konnten ihre Pferde fast nicht halten, so bebten auch sie an allen Gliedern.
Dann wurde vor mir eine ganz unirdische Gestalt sichtbar, heller wie die Sonne, und eine laute Stimme erscholl: Saul! — Saul! — was verfolgst du Mich?
Ich hatte mich etwas aufgerichtet und fragte unter Zittern: Herr! — Wer bist Du? — Da sagte die hohe Lichtgestalt: Ich bin Jesus! — Den du verfolgest! Aber es wird dir schwer werden — wider den Stachel zu löcken!" (= lecken. Gegen den Stachel zu lecken, lässt die Zunge sich daran aufspiessen) (Apostelgesch. 9, V. 5.)
Dann wurde es plötzlich finster um mich. Ich stand vom Boden auf, suchte meine Gefährten, sah aber niemanden um mich. Ich rief sie, da reichten sie mir die Hände und fragten erstaunt: „Was ist hier geschehen? Wir hörten eine Stimme, dann dich sprechen, und doch sahen wir niemanden." Ich musste bekennen: Ich bin dem gekreuzigten, dem totgeglaubten Jesus — begegnet! Ganz deutlich sah ich Seine ernsten Augen auf mich gerichtet, als wollten sie mich durchbohren, dann hörte ich Seine Stimme, und wie Donner rauschte es in mir. Und alles Denken war wie ausgelöscht, als Sein Mund ausrief: Ich bin Jesus, den du verfolgest! —
Dann wurde es um mich Nacht — und es ist auch noch Nacht! O kommet und führet mich in die nahe Stadt, ich bin erschüttert bis ins Tiefste.
Die Begleiter führten mich schweigend bis in unsere Herberge. Der Wirt bemühte sich, mir zu helfen, aber in mir und um mich blieb alles finster. Ich fand keinen Schlaf, konnte nichts essen und wollte allein sein, denn verzerrte Gestalten umgaukelten mich, ich fühlte mich recht elend. Saul! Saul! — was verfolgst du Mich? stand mit feurigen Buchstaben vor mir, als ich mit Gewalt diese verzerrten Bilder verscheuchen wollte. Und der Blick Seiner alles durchdringenden Augen liess mich immer wieder erschauern.
Wenn ich glaubte, etwas Ruhe zu haben, wurde ich wieder auf­gescheucht, und hässliche, von roter Feuersglut brennende Gestalten wollten mich umarmen, so dass ich laut aufschrie! Sie lachten mich aus, umtanzten mein Lager, und diese Qual dauerte für mich eine Ewigkeit. Ich hätte gern meinem Leben ein Ende gemacht, aber ich hatte keine Möglichkeit dazu. Da betete ich zu unserm Gott und flehte um Rettung, doch der hässlichen Gestalten wurden immer mehr; sie stiessen mich hohnlachend mit ihren Stangen und glühen­den Spiessen, so dass ich aufhören musste, zu beten. Ich jagte im Zimmer herum (trotzdem ich blind war), und mit trotzig nach der Decke erhobenen Händen wollte ich Gott zwingen, Sich mir als Retter zu offenbaren.
In meiner grössten Herzensangst rief ich dann aus: Herr Jesus! — Wenn es eine Möglichkeit gibt — hilf Du mir! Ich weiss, dass ich gegen Dich und die Deinen schwer gesündigt habe.
Da stand plötzlich vor mir ein lichtes Wesen und sprach freund­lich: Saul! Jesus, der Herr, hat deine Bitte gehört. Er hat deine Reue gesehen und gab mir den Auftrag, dir dein vergangenes Leben mit all den Verkehrtheiten und ihren schweren Folgen zu zeigen. Erkennest du mich?
Ich sah diese Gestalt genauer an und sagte erschrocken: Ja, ich erkenne dich! Du bist Stephanus, an dessen Qualen und Tod ich so viel Wohlgefallen empfand.
Da sprach Stephanus: Wohl dir, dass du mich und dich erkennest! Nun wird es mir leichter, dich in eine andere Welt zu führen, vor­ausgesetzt, dass du mit mir gehen willst. Ich gab stumm meine Zu­stimmung, dann bat ich noch: Stephanus, kannst du mir verzeihen? Mich bedrückt meine Schuld gewaltig. Und er antwortete: Ich habe allen verziehen und den Herrn und heiligen Gott und Vater aller gebeten, keinem die Schuld gegen mich anzurechnen. Darum kannst du dich ruhig meiner Führung anvertrauen. Auch ich wünsche ja deine Errettung, damit auch du noch ein brauchbarer und treuer Diener des Herrn werdest.
Ich danke dir, antwortete ich, dein Wunsch ist mir die erste Wohl­tat in meiner langen, dunklen Bussnacht. Darum tue du weiterhin mit mir nach deinem Ermessen, ich folge dir gern.
So komm und gib mir deine Hand, sprach Stephanus, und in diesem Augenblick ward alles hell um mich und wir schwebten in einer herrlichen Landschaft. In weissen Kleidern lustwandelten schöne Menschen durch blühende Gärten; liebliche Gesänge drangen an mein Ohr, es musste ein heiliger Feiertag sein, weil eine so wunderbare Weihestimmung über allem lag. Doch mein Führer Stephanus zog mich weiter, vorbei an Blumentempeln, bis auf einen freien Platz, wo viele Menschen sassen.
Hinten stand ein Altar, daneben sass Jesus, der Herr, und hatte wahrscheinlich zu den Anwesenden gesprochen, denn aller Augen leuchteten. Wir aber stellten uns etwas abseits. Wie von vielen Harfen ertönte jetzt eine liebliche Musik und zarter Gesang, dar­nach kamen, geführt von lieblichen Wesen, zwei Gestalten die Stu­fen zum Altar herauf, denen man ansah, dass sie Schreckliches er­lebt hatten.
Ich sah genauer hin und erkannte: es waren zwei Menschen, die ich vor wenigen Tagen ins Gefängnis schaffen liess. Jesus, der Herr, stand auf und ging ihnen entgegen. Sie sanken Ihm zu Füssen. Jesus aber hob sie auf und sprach: Kindlein, ihr habt euch heimgefunden zu mir, eurem himmlischen Vater! Kommet an Meine Brust, damit Ich euch danke für eure Treue und eure Ausdauer im Leiden.
Wie gerne hätte Ich euch dieses erspart, aber um des Lebens-Feindes freien Willen nicht anzutasten, konnte Ich euch nur stär­ken mit Meinem Überwinder-Geiste! Er umarmte beide, die vor Freude weinten. Mich aber durchbohrte ein tiefer Schmerz, weil ich doch die Ursache all ihrer Leiden war.
Fest drückte Stephanus meine Hand — und sah mich schwei­gend an.
Als die beiden eine Weile an der Brust des Herrn geruht hatten, sagte Er: Kindlein! Lasset euch nun an den Platz führen, den Meine Liebe für euch bestimmt hat. Dann bat der Herr die Anderen: Brin­get nun Brot und Wein, damit ihr diese Meine beiden Kindlein stärken könnet, dass sie fähig werden, die Wonnen und Seligkeiten zu ertragen, die Ich denen bereite, die sich im Kampf für Mein Leben bewähren.
In dem Augenblick, wo sie Brot und Wein zu sich nahmen, ver­klärten sich ihre Gestalten und waren im Nu umwandelt. Der Herr sprach weiter: Nun habt ihr das Hochzeits-Gewand erhalten, und somit wollen wir uns zur herrlichen Feier begeben.
Stephanus zog mich fort, wir schwebten hinweg von dieser schö­nen Welt." Und Saulus schwieg, wie in Erinnerung daran versun­ken. —
Endlich fuhr er fort: „Dann ward es Abend, ja Nacht um uns, und Stephanus sprach: Saul, was du bis jetzt hier erschauen und erleben durftest, war Gnade, und vollzog sich in meiner, mir vom Herrn geschenkten Innen-Welt. Jetzt aber führe ich dich in deine Welt, ja, wir sind schon mitten drin in diesem Dunkel um uns, und was du hier erleben wirst, sind Vorgänge, die du selber erleiden müsstest, so Gott dir deinen Fleischleib schon jetzt genommen hätte. Fürchte dich aber nicht, halte dich fester an mich, denn wisse, alle Himmel und ihre Bewohner wollen nur deine und aller Verirrten Rettung.
Vor uns schien eine Stadt zu liegen. Feuer und Rauch erhellten die Umgebung und gaben ein schauriges, aber auch sehr trauriges Bild. Wir kamen näher, es war Jerusalem, wie ich es aber noch nicht gesehen habe. Die Menschen trugen teuflische Masken, ihre Kleidung schien zu brennen, und der Brandgeruch war fast uner­träglich. Ein Johlen umgab uns, man schien uns aber nicht zu sehen. Wir kamen an den Tempel, der von Flammen umgeben war, und die Hitze wurde unerträglich. Im Mittelbau glühten die Altäre, aber nicht Tiere, sondern Menschen wurden darauf geopfert. Mir ward schwindelig vor diesem Geschehen, aber Stephanus hielt meine Hand fest, ich konnte nicht fort. Da kam ein Engel und machte das Zeichen des Kreuzes über all die Unglücklichen, und plötzlich war alles unsern Blicken entschwunden.
Stephanus führte mich zurück — wir waren wieder in meiner Herberge und er sprach: Saulus, du sahest die Welt der Seligen — und sahest nun auch in die Welt der Verirrten und in ihr verblen­detes, abscheuliches Tun. Mehr kann die Gnade des Herrn dir nicht geben — und nun bestimme dir selber dein künftig Geschick! Nach dem Masse deiner Demut kann dir der Herr beistehen als Kraft. Nach dem Masse deiner Liebe aber kann Er dir geben von Seiner Liebe und viele Gnadenbeweise. — Der Herr sei mit dir! Amen! —
Nun war ich wieder allein — verschwunden waren die hässlichen Bilder, doch war ich in grösster Verwirrung, denn ich war ja blind. So rang ich im Gebet und bat demütig Jesus um Abhilfe. Immer inniger flehte ich zum grossen Heiland — und endlich, nach langer Zeit, erschien mir im Geiste ein fremder Mann in weissem Ge­wand, legte die Hände auf mich, und sprach: Bruder Saul, der Herr hat dein Gebet erhört und hat mich zu dir gesandt. Jesus, der dir erschienen ist auf dem Wege nach Damaskus, will, dass du wieder sehend werdest und mit Seinem Heiligen Geiste erfüllt werden möchtest.
Wie Schuppen fiel es von meinen Augen, ich konnte meine Um­gebung plötzlich wieder sehen, und neben mir stand derselbe Mann, den ich schon im Geiste geschaut hatte. Es war Ananias. Dieser sprach weiter: Siehe, lieber Saul, alles was du im verkehr­ten Wahn getan, gehöre nun der Vergangenheit an, da du nun in Jesus, dem alleinigen Herrn, deinen Erlöser finden wirst! Denn nur durch Seine Gnade durftest du die Lichtwelt der Erlösten er­schauen, doch durftest du hier nicht verweilen, denn noch bist du Mensch, und deine Mission soll erst beginnen!
Durch mich fragt dich der Herr, dein Heiland und Erlöser: Willst du Mir ein getreuer Diener, Nachfolger und Jünger werden? Doch völlig frei, ganz ohne jede Nötigung sollst du Ihm die Antwort geben. Und je nach deinen freien Entschlüssen, wie du dich Ihm nahest, wird der Herr dir entgegen kommen. Und so bedenke wohl: Jesus Selbst bietet dir Hilfe und Beistand an, damit du ganz von Seiner heiligen Liebe erfüllt werden mögest.
Ich war erschüttert, warf mich vor Ananias nieder, umschlang seine Knie und fragte: Bruder, bist du ein Mensch oder ein Engel? — Zum Richten bist du nicht gekommen, denn deine Worte klingen so glückverheissend! O der langen Nacht in mir! Wie Feuer brennt in mir die Reue, Den verfolgt zu haben, der allen Menschen doch nur Gutes bringen wollte! Zu schwer fühlte ich meine Sünden, doch im Ringen um Befreiung von den Geistwesen, die in höllischer Lust nur Freude am Vernichten hatten, hörte ich den Zuruf: Durch das Blut, das geflossen ist auf Golgatha — ist auch deine Schuld ge­sühnt. Mache dich dieser Gnade würdig!
Da ward es in mir ruhiger, aber Gewissheit erhielt ich erst, als ein letzter innerer Kampf mich hinauf nach Golgatha führte. Dort erlebte ich nochmals die Grösse meiner Schuld in all den verkehr­ten, eigenwilligen Gedanken über Göttliches und ersah den Gottes­sohn als den einzigen Erlöser davon. Nun erst konnte ich beten zu Ihm in voller Dankbarkeit, und dabei erwachte die Sehnsucht, gut zu machen. — O Jesus, Du Gekreuzigter, Du Lebendiger und von den Toten Auferstandener — meine Liebe und mein Leben gehört nur Dir!
Da sagte Ananias: Bruder Saul, der Herr hat dein Bekenntnis angenommen, indem du aus freiem Entschluss heraus deine Liebe und dein Leben Ihm weihen willst! So darf ich nun nach dem Wil­len des Herrn, sichtbar der ganzen Geisterwelt, dich taufen und weihen. Und er nahm eine Schüssel mit Wasser, segnete dieses und besprengte mein Haupt damit, sagend: „Ich taufe und weihe dich im Geiste Jesu Christi, damit du ganz erfüllet werdest von Seinem Heiligen Geiste der Liebe und Erbarmung und werdest zu einem berufenen Träger des Gottessohnes-Lebens, das Er dahingegeben hat zum Neuen Leben für alle Verirrten. Damit du Erfüller werden kannst all der Aufgaben, die in deiner Liebe noch verborgen liegen. Des Herrn Friede sei mit dir! Des Herrn Liebe sei dein Leben, und des Herrn Segen werde all denen zum Segen, denen du noch Diener sein darfst! Amen.
Nun. fühlte ich mich wunderbar frei — und nun erst konnte ich wieder Speise und Trank zu mir nehmen."
Saulus schwieg — und keiner wagte diese Stille zu unterbrechen, denn alle Herzen standen unter dem Eindruck dieses ganz ausser­gewöhnlichen Gotterlebnisses.
Nach einem tiefen Atemzug fuhr Saulus dann fort: „Statt dass ich sonst in den Synagogen nach Christen suchte, predigte ich nun in Damaskus von Jesum und bewies ihnen, dass Er der so lange von uns erwartete Messias sei! Doch alle entsetzten sich, wie auch ihr euch entsetzt habet, und es entstand unter den Juden viel Ver­wirrung.
Schliesslich verfolgten sie mich, und so musste ich fliehen. In der Nacht, bei geschlossenen Toren, liessen mich dann Brüder in einem Korbe über die Stadtmauer hinab, und so kam ich hierher.
Getreu meinem Versprechen: gut zu machen, was ich an dem Herrn und Seinen Gläubigen verbrochen habe, ging ich sogleich in den Tempel, löste mich von allen Verpflichtungen und will nun von dem grossen Gottes-Sohn predigen, dem Herrn, der auch den Tod überwinden konnte, und nun unser einziges Heil gegen alle Ver­irrungen ist!
Hiermit habt ihr nun meine Erlebnisse und meine Gelübde ge­hört. Nehmet ihr mich nicht auf in eure Gemeinschaft, so predige ich allein. Denn ich will meinem Gott dienen, den ich nun erst in Seiner göttlichen Wesenheit erkennen durfte.
Mit dieser Beichte vor euch, Seinen Jüngern, lege ich nun meinen alten Namen ab, und als Paulus will ich, als ein wahrer Gottes­diener, euch, allen Gläubigen und allen Heiden dienen. Denn Jesus Christus hat mir von Seiner Kraft, von Seinem Willen und von Seinem Heiligen Geiste gegeben."
Stunden waren darüber vergangen. — Die Brüder waren tief er­griffen von dieser mächtigen Gnade, die einen Saulus — zu einem Paulus umgewandelt hatte.
Dann musste Petrus bekennen: „Lieber Johannes, wir haben dir wehe getan mit unsern Zweifeln, denn unsere Herzen waren hart, und unsere Gedanken waren nur auf unsern Schutz bedacht. Ver­zeihe uns, denn nun haben wir aufs neue die Grösse der Macht und Herrlichkeit in unserm Herrn als Jesus Christus erlebt.
Darum, lieber Saulus, sei uns in der Liebe Jesu als unser lieber Bruder Paulus willkommen, und dieses unser Heim sei nun auch dein Heim. Gesegnet seien deine Dienste und gesegnet deine Liebe!"
Nun war aller Bann gewichen; ein rechter Eifer machte sich be­merkbar, und jeder wollte mit Paulus reden. Dieser aber sagte: „Meine Brüder! ich möchte noch viel gutmachen an denen, die noch gefangen gehalten werden, und will versuchen, ihnen wieder die Freiheit zu bringen, damit ich das Vertrauen aller gewinne!" — Damit verabschiedete er sich.
Demetrius fuhr mit Lazarus und Jonas nach Bethamen zurück; und alle Bewohner waren hocherfreut, als Lazarus ihnen in der Abendstunde diese wunderbare Bekehrung des Paulus schilderte.
 
 
V. Gespräche über das Verhältnis Gottes zum Menschen
 
Als Jonas am Abend zu seinem Weibe kam, konnte er ihr das ge­waltige Erlebnis des Saulus durch die plötzliche Offenbarung Jesu Christi als dem Herrn Himmels und der Erde nicht genug rühmen, und ebenso die wunderbaren Führungen des Stephanus mit Saulus durch die verschiedenen geistigen Welten.
„Pura", sprach er, „mein Herz war im Tiefsten erschüttert, als wir aus dem Munde des Bekehrten sein plötzliches Licht-Erleben aus den geöffneten Himmeln vernahmen. Wie konnte ich nur so klein sein, und den Allmächtigen dort suchen, wo Er doch nie zu finden ist."
Pura fragte: „O Jonas, warum musstest du erst durch Andere er­fahren, wie gut und weise unser Gott alles führt? Hast du nicht genug Überherrliches schon an dir und mir erlebt? O mein Jonas, ist es nicht genug all der Liebe, die wir hier empfangen durften? Lasse uns auch an das Weitergeben und Dienen solcher Liebe denken, und damit unsern Dank abtragen. Welch ungeheure Arbeit ist noch nötig, um all den Irrenden diese Botschaft von der erlösenden Liebe und Gnade Jesu zu bringen! Es ist viel Elend unter den Menschen.
Und was Jesu Liebe durch Maria jetzt an mir wirkte, wird Er auch durch uns wirken wollen, allen Bedürftigen zum Segen. Ich fühle es, mein Jonas: Gott wartet nur auf uns Menschen, ob wir freiwillig Seinen hohen Absichten dienen wollen, um alle Leidenden wieder glücklich zu machen.
Als die Mutter Maria heute neben meinem Lager sass und ihre Hand in die meine legte, führte sie mich in meine innere Welt, und ich erlebte Wunderbares! „Kind", sagte sie, „nun wollen wir mit unserem Gott und Vater reden und Einkehr halten in die geheimnisvolle Welt, die wir durch Seine Gnade selber uns ausbauen dürfen. So lasse nun tiefe Stille und Ruhe in dich einziehen, damit der Gottes­funke in dir sich offenbaren kann." —
So wurde es ruhig in mir, ich glaubte zu schweben, so losgelöst von irdischer Schwere fühlte ich mich, und schon war ich in einem schönen Garten. Vor einem grossen, weissen Hause sah ich viele spielende Kinder; freundliche Pflegerinnen begrüssten mich und führten mich umher. In hellen Zimmern wurde Schule gehalten, auf Spielplätzen sah ich allerlei fröhliche Spiele, aber nicht zum Zeitvertreib, sondern zur Belehrung. Z. B. ein Kind war gefallen und hatte sich wehe getan, daran wurde gezeigt, wie man helfen und Schmerzen lindern soll, und diese Aufgabe löste grosse Freude aus. Weiter erlebte ich, wie grössere Kinder zur Wohltätigkeit erzogen wurden, denn es hatten sich welche als arme Bettler verkleidet, und alles geschah unter den leitenden Augen der freundlichen Pflegerinnen.
Als ich aus diesem Zustand erwachte, fragte ich Mutter Maria, ob sie dasselbe erlebt habe wie ich. Sie antwortete: „Kind, dasselbe wohl nicht, aber ähnliches, denn du warst in deiner, ich aber in meiner Innenwelt. Meine Welt aber ist die grosse Welt meines Sohnes Jesu, dessen Werk ich, als Seine Leibesmutter, fortsetzen will durch den Geist, der Ihn als Menschensohn belebte. Nun ist Er Eins in Gott und mit Gott und hat mir, als Seinem Kinde, alles zur Ver­fügung gestellt, und ich kann nun ganz meiner eigenen Liebe gemäss dienen.
Darum liebe ich diese Stunden der Stille und Einkehr und komme damit immer näher meinem und auch deinem Gott, unserm ewigen Vater. Vergiss, o Kind, diese heilige Stunde nie, denn darin wirst auch du noch Grosses erleben und wirken können! Du musst bedenken: Gott, als die ewige Liebe zu allen Menschen, will Seinen Kindern so gern das geben, was sie festigt im Geistigen, um allen Verlockungen des Irdischen widerstehen zu können."
Jonas hörte mit grosser Aufmerksamkeit zu und wollte versuchen, sich auch mehr solcher inneren Vertiefung hinzugeben, um eine Offenbarung seiner Innenwelt zu erleben. -
Nach einer Pause erst fuhr Pura fort: „Maria erzählte mir aus ihrem reichen Innenleben, dass Gott überall weise Ordnungen eingesetzt hat zur Erhaltung und Vervollkommnung alles Bestehenden. Aber die Klugen unter den Menschen haben eine andere Welt um sich erbaut, nach ihren eigenen Idealen, zum eigenen Vorteil. Sie haben sich damit von der Gottesordnung völlig getrennt, und dadurch viel Leid über die Menschheit gebracht.
Die ewige Liebe Gottes will aber diese, von Seinen Ordnungen ge­trennten, Welten nicht einfach niederreissen und vernichten, sondern die Menschen sollen den grossen Irrtum ihres Egoismus selber er­kennen und sich dann aus ihrer so leidvollen Gott-Ferne zurück­sehnen nach ewig giltigen [=geltenden], gerechten Ordnungen untereinander. Ja, die Menschen sollen diese, nur zu ihrem eigenen Vorteil erbauten weltlichen Gesetze selber niederreissen, indem sie einsehen müssen, dass ihre grossen Hoffnungen darauf sich nie erfüllen können.
Und darum muss Gott warten und immer wieder Geduld haben mit allen den Irrungen der Weltmenschen und all dem Leid daraus. Will dann der Mensch, je nach seiner freien Liebe und im Vertrauen auf den allweisen Gott und Seine Gesetze, in Demut und Geduld eine neue Welt sich aufbauen, so wird er seinem heiligen Gott und Vater das volle Verfügungsrecht darin gern einräumen!"
Ich antwortete: „Aber liebe Mutter, wie wenig Menschen können dieses Ziel wohl erreichen? Die Verhältnisse zwingen ja die meisten, sich vor allem mit den rein irdischen Vorteilen zu beschäftigen. Wieviele werden diese heilige Wahrheit nie einsehen, wie ich sie eben durch dich jetzt erfahren durfte, und so wird das Elend der Welt wohl noch länger bestehen bleiben."
Maria aber belehrte mich: „Kind, die sorgende Gottesliebe weiss um alles! Sie offenbart sich uns gern als heimlicher Helfer und Er­löser und hat Mittel dazu in Überfülle. So, meine Pura, gehe ich durch mein Erdenleben und lebe doch schon in den Himmeln! Leid und Weh drücken mich nicht zu Boden, sondern schaffen neue Kräfte in mir zum Helfen, Lindern und Heilen. Wolle dieses, wie ich es will - und du erlebst viele Seligkeiten. Himmels-Kräfte durchdringen deinen schwachen Körper und machen aus dir einen Fels und einen Licht-Träger."
Jonas war ergriffen von der Wahrheit dieser Worte und sagte dann: „Ja, Pura, täglich erleben wir neue Liebes-Beweise unseres Gottes. Maria hat recht, Gott wartet auch auf uns, ob wir freiwillig alles uns von Ihm noch Trennende beseitigen wollen? Ich werde mit Lazarus reden, um mir einen Wirkungskreis zu suchen, wo auch ich den göttlichen Gesetzen gemäss meinen Mitmenschen wahrhaft dienen kann."
Lazarus aber konnte nicht gleich einen rechten Wirkungskreis für Jonas finden, es lebte noch zuviel vom alten Studium in ihm, das immer nach Beweisen verlangte.
Plötzlich kam Paulus nach Bethanien. Er war ein Eiferer und hatte ohne Scheu in Schulen und Synagogen von Jesus gepredigt, weshalb die Templer ihm nach dem Leben trachteten. Demetrius und Enos konnten seine ganz neue Art, von Jesus zu zeugen, wohl gut ver­stehen, aber viele andere blieben etwas unbefriedigt davon.
„Bruder Paulus, deinen Eifer in Ehren", sagte Demetrius, „ich weiss, du möchtest die Feuer löschen, die du in falschem Wahn entzündet hast. Aber siehe, in solchem Eifer bleibst du nur ein Knecht, ein Diener deines ewigen Herrn. Ich habe dem Herrn wohl das Grösste zu danken, denn nur durch Seine Gnade war es mir vergönnt, Ihn als den Auferstandenen zu schauen. Und wenn es auch nur wenige Worte waren, die Er zu mir sprach, so genügen sie mir für mein ganzes Leben. Denn in diesen Augenblicken wurde mir bewusst: dass dieser göttliche Jesus — von uns nur geliebt sein will!
Wievieles bliebe mir noch unbekannt, Wievieles wäre noch zu er­gründen, wenn mein Bekenntnis sich nur auf den Glauben an Ihn stützen wollte! Aber es hat nicht not, denn Liebesbande umschlingen uns. Und ich wage zu behaupten, dass ich durch das Erkennen Seines Liebe-Wesens hinreichend ausgestattet bin.
Wollte Gott nur gute und getreue Knechte durch uns haben, so hätte Er sich nicht zu opfern brauchen für Seine Menschenkinder. Im Bewusstsein Seiner Allmacht hätte Er ja alle Seine Widersacher hier züchtigen können und wäre dann, unter Millionen von treuen Engeln, zurückgekehrt in das Reich, von wo Er zu uns kam. Doch Seine Lehre wäre uns zum ewigen Gesetz geworden.
Des heiligen Vaters Sehnen geht aber nach freien Kindern, die in Ihm nicht nur den grossen Schöpfer und Gott erkennen, sondern in Ihm den liebenden Vater schauen wollen. Der Glaube an Gott setzt Ehrfurcht und Gottesfurcht voraus. Die Liebe aber zum heiligen, guten Vater verlangt Kindesliebe und völlige Hingabe in Seine Wünsche. Um deinen Glauben an Ihn zu beweisen, sind viele Worte nötig. Die Liebe zu Ihm aber bringt freudig manche stillen Opfer. Der Glaube erfordert Kräfte. Die Liebe aber empfängt immer neue Gnaden-Gaben!"
Paulus war betroffen von dieser einleuchtenden Wahrheit — und be­kannte: „Von diesem Standpunkt aus habe ich Gott und Sein Wesen — und die Stellung des Menschen zu Gott noch nicht betrachtet! Aber ich fühle es in mir, du bist tausendmal glücklicher denn ich."
„Ja, Bruder Paulus", erwiderte Demetrius erfreut, „darauf kommt es an: ob du wirklich glücklich bist in deinem Glauben an Gott! Denn nur ein glücklicher Mensch kann andere mit seinem Zeugnis von Gott beglücken. Und nur ein von Liebe zu Gott durchdrungenes Gottes­kind kann wünschen, dass der Gottesfunke auch in Anderen in solcher Liebe zu Ihm entflammen möchte!"
„Lieber Bruder Demetrius, du magst recht haben. Aber siehe: du hast keine Schuld auf dich geladen! Du hast nicht arme, gläubige Menschenkinder in Gram und Leid und sogar in den Tod gebracht. Zu dir hat der Herr ganz anders kommen können als zu mir!"
„Lieber Paulus, an diesem Tage und vorher, warst du eben noch Saulus, und der Herr konnte Sich dir nicht anders offenbaren, als eben auf solche wunderbare, doch sehr ernste Art. Bedenke, du warst einer Seiner grössten Widersacher, aber Sein Vaterherz war erfüllt von erbarmender Liebe. Die Zulassung, dass Stephanus dich hinein­führen durfte in die Welt der Seligen und in die Welt der Unseligen, war ja nur Erbarmung mit deinen falschen Gottes-Begriffen. Diese Erbarmung Seiner Liebe gab dir die Möglichkeit, dich umzuwandeln und ein ganz neuer Mensch zu werden.
Du bist nun ein Anderer geworden. Damit ist dir aber nicht geboten, dass du fortan unter einem Gesetz und Zwang stehen sollst. Sondern frei und fröhlich darfst auch du wirken und dienen, ganz nach dem Drängen deines erwachten Gottesfunkens in dir.
Kannst du mein Verbundensein mit dem Herrn verstehen? Siehe, auch ich habe gefehlt und war ein harter Mann. Gerechtigkeit war mein höchster Begriff neben der Wahrheit. Nun aber, da ich Gott als die reinste Wahrheit und daraus auch als die höchste Gerechtigkeit erkannt habe, liebe ich Ihn. Denn diese Liebe, als Sein heiliges Innen-Leben, will Er uns Menschen ja schenken, und so wäre ich unklug, so ich Sein heiliges Liebe-Leben weniger achten wollte als die in Ihm wohnenden hohen Eigenschaften.
Ich weiss bestimmt: auch der grösste Eifer meinerseits, Ihm ein treuer Knecht und Diener zu werden, würde scheitern an meiner Ohnmacht und an vielem Niederen, das noch als Mensch in mir lebt. Nun aber habe ich mein Leben ganz in die Hände und in die Liebe des Herrn gelegt, und so konnte Er, der Herrliche und Über-Gute, mich umstalten [=umgestalten] und hat eine ganz neue Schöpfung aus mir gemacht. Nicht ich, o nein, nur Er in mir ist die Triebkraft all meines Tuns und ist die Erfüllung und Vollendung in mir!"
„Du sprichst wie Johannes", erwiderte Paulus sinnend — „ich aber werde noch viel ringen müssen, ehe ich mir diese Anschauung zu eigen gemacht habe. Aber es war doch mein Wille, dem Herrn ein eifriger, getreuer Knecht und Diener zu sein."
Sprach Demetrius: „Bruder, dazu gebe dir der Herr die rechte Kraft, ich aber gebe dir meinen brüderlichen Segen."
Jonas war hoch erstaunt, wie Demetrius, der am wenigsten Um­gang mit den Jüngern pflegte, solch herrliches Zeugnis über sein inniges Verhältnis zu Gott nach aussen stellen konnte, und sprach nun zu Demetrius: „Bruder, ich bin überrascht von deiner Aus­führung dem Paulus gegenüber! Du hast mit einem Schlage viele Be­denken auch in mir ausgelöscht und mir eine richtigere Anschauung gegeben. Es ist wirklich wahr: viel zu viel der alten Begriffe möchten wir noch vermengen mit den neuen Erkenntnissen, und trüben damit doch nur den Gottesfunken, der in uns alles neu machen will."
„Ja, Jonas, das ist das rechte Wort", antwortete Demetrius. „Der Geist in uns wird getrübt! Doch müssen wir klar erkennen, welchen Geist wir trüben. Wir sind Träger und Eigentümer eines Geist­funkens aus Gott — schon seit unserer Erschaffung — sind aber auch Eigentümer eines ganz anderen Geistes, der in unserm Seelenwillen wohnt, und dieser Geist hat eben noch immer die Vorherrschaft in uns. Siehe, Jonas, jeder Kampf bedingt stets einen Gegner. In diesem Falle aber ist der Gegner uns leider unsichtbar.
Zu diesem meinem Geistfunken aus Gott kommt nun, so ich mich ganz Ihm übergebe, Sein Geist der grössten Erbarmung mit uns. — Und diesen Seinen Geist, der meinem Geistfunken das rechte Licht geben will, trüben wir durch unsere noch zu sehr vorherrschenden Triebkräfte des Verstandes in unserer Seele.
Erst wo völlige Hingabe erfolgt, kann der Gottesfunke uns sein Leben offenbaren. Dafür aber muss abnehmen, was in der Seele noch liegt als Wesenheit von Unten. Je weniger wir den seelischen Be­gierden Rechnung tragen, umso reicher werden wir an Gottes-Kräften. Siehe, so habe ich mein Innenleben erfasst durch meines herrlichen Vaters Liebe und Erbarmung. —
Um mich dieser Liebe nun wert und würdig zu machen, musste ich Sein Kind werden wollen. Frage dein Weib, ob sie je noch etwas anderes sein will. Ihr Erleben ist uns ja das grösste Zeugnis, aber auch die beste Lehre.
Frage David, der fast jeden Tag Seine Liebe besingt, er könnte ebenso auch die Allmacht, die Grösse und die Herrlichkeit Gottes be­singen. — Er fühlt sich aber als Kind und will als Kind nur Seinen Vater preisen.
Und vor allen Dingen denke an Lazarus, an seine Schwestern und an ihr Lebenswerk! Hier siehst du, was rechter Kindes-Liebe mög­lich ist. Bruder-Liebe ist kein leerer Wahn. Bruderliebe kann nur der ausleben, der in Gott — Seinen Vater sieht! Und alle Menschen werden ihm dann zu Brüdern."
„O Bruder Demetrius, du hast das rechte Wort für mich gefunden!" sprach Jonas erfreut. „Obwohl all die Anderen mir Ähnliches sagten, du hast meine Bedenken jetzt völlig überwunden! Ich möchte dir danken, weiss aber nicht wie? —"
Demetrius lächelte: „Lieber Jonas, hier sucht ein Bruder dem Anderen nicht zu danken, sondern ihn zu erfreuen! Wenn du aber be­reit wärest, in meine Dienste zu treten, siehe, du würdest mir damit grosse Freude machen, denn ich brauche solche Männer, die von der Wahrheit des Gotteslebens im Menschen durchdrungen sind!"
Freudig überrascht fragte Jonas: „O Demetrius, du wolltest mir ein Arbeitsfeld in deinen grossen Besitzungen übergeben? Ahnest du, wie ich mich nach einer rechten Tätigkeit sehne? Obwohl ich schon zu Bethanien gehöre, finde ich sie hier nicht, ich möchte meinem Gott und meinen Mitmenschen noch besser dienen können. Lazarus kennt meinen Wunsch. Auch er wird sich freuen, so ich in deine Dienste treten könnte."
„Lieber Jonas, wir wollen noch darüber sprechen in Gegenwart deines Weibes und meines Sohnes Ursus. Aber zuerst möchte ich mit Lazarus reden, und ich hoffe, wir werden alle zufrieden sein."
 
 
VI. Gibt es Beweise für das Dasein eines Gottesfunkens im Menschen?
 
Zur festgesetzten Zeit kehrte Ursus mit seinem jungen Weibe von der Reise zurück. Beide waren vorausgeeilt, um ihren Vätern und Lazarus die Ankunft ihrer grossen Begleitung schon anzuzeigen, denn Ursus hatte unterwegs noch viele neue Waren angekauft. Wie war die Freude gross, als Ruth in strahlendem Glück mit ihrem Ursus vor ihre Eltern und Demetrius trat. Als aber bald schon die ersten Wagen ankamen, musste Ursus die Anleitungen zum Ausladen geben, und erst nach dem Abendessen konnte er über die Reise und über Theo­phils Einstellung bei den Brüdern erzählen.
„Meine Brüder, und alle, die die Liebe in Bethanien eint", begann er, „eine Zeit der Freude und grosser Gnade liegt hinter uns. In den ersten Tagen unserer Abreise ereignete sich nichts Besonderes. Wir mieden die Herbergen und begnügten uns mit unsern Zelten, zu deren Aufbau meine Leute ja alte Erfahrung besitzen. Wir alle waren gut miteinander bekannt und konnten den Abend stets mit Gesang und einer Andacht in voller Harmonie beschliessen, worauf sich auch schon unsere Begleitmannschaften freuten.
Als wir am vierten Abend, ferne jeder menschlichen Siedlung, am Lagerplatz alles geordnet hatten, sangen wir den Psalm: „Ich hebe meine Augen auf zu den Höhen, woher alle Hilfe kommt! Unsere Hilfe ist der Herr, der Himmel und Erde gemacht hat, Er wird unsern Fuss nicht gleiten lassen! Der uns behütet, schläft und schlummert nicht. Er sei unser Hüter am Tage und der Wächter in der Nacht! Er behüte auch unsere Seele, damit sie keinen Schaden erleide. Der Herr behüte unsern Ausgang und unsern Eingang — bis in alle Ewig­keit! Amen."
Laut schallten die frohen Stimmen in die Stille der Nacht, und unsere Herzen waren zubereitet für ein Wort aus der Höhe. Wir fühlten uns so sicher und geborgen in der Hut des Herrn und ahnten nicht, dass unweit unseres Lagers noch ein Lager von römischen Soldaten war, die nach Judäa zogen. Angelockt von unserm Gesang, kamen heimlich zwei Soldaten zu uns und lauschten auch den Worten Theophils, welcher mit sichtlicher Freude das Leben derer schilderte, die in der Welt des Heilandes leben.
Als er geendet hatte, richtete er seinen Blick unwillkürlich in die Ferne, sah die beiden Soldaten und sprach nun zu ihnen: „Kommet, ihr Freunde, auch euch soll der Weg zur Wahrheit gezeigt werden, damit ihr erfahret, wie der Heiland Jesus jedem die Hand entgegen­streckt."
Die Soldaten kamen näher, der eine sprach zu mir: „Verzeihe uns, Herr, wir wollten nicht stören, sondern nur unbeachtet euren Ge­sängen lauschen. Bei den Worten des Predigers aber waren wir wie festgebannt. Denn obwohl wir Soldaten an strengen Gehorsam ge­wöhnt sind, fragen wir uns doch öfter: Ist das alles wirklich gerecht, was so einfach als Pflicht von uns gefordert wird?"
Um einen Einblick in seine Welt und seine Wesensart zu erhalten, liess ich ihn aussprechen, und so erzählte er: „Vor kurzem mussten wir einen Transport gefangener Menschen begleiten, die sich an unsern Gesetzen vergangen haben sollten. Im täglichen Umgang mit ihnen aber mussten wir einsehen, dass jene Menschen gar keine Ver­brecher sein konnten, da ihr Wesen nur Güte und Geduld war. Die harte Behandlung dieser Unglücklichen aber machte mich irre an unserer Gesetzgebung, und so entstand in manchem von uns der Wunsch, noch mehr von diesen edlen Menschen zu erfahren, die sich Christen nannten."
Ich sagte: „Höret, ihr seid hier bei Freunden und dürft hoffen, von uns Aufklärung über den Glauben dieser Christen zu erhalten. Gehet aber erst zu eurem Anführer zurück und holt euch Erlaubnis, denn euer Hiersein ist gegen jede Lagersatzung. Verschweiget aber eurem Führer nicht, weshalb ihr zu uns kommen wollt. Mein Name ist Ursus, und dieses Lager gehört dem Römer Demetrius."
Dankend entfernten sie sich. Unsere Leute hatten gespannt zu­gehört. Nun brachten sie neue Fackeln, und dann meldeten schon die Wächter, dass sich viele Männer unserm Lager näherten. Mein Name genügte dem Führer Herminius; er kam selbst und hatte seinen Soldaten erlaubt, mitzukommen. Herzlich begrüsste er mich: „Ursus! Du lieber Mensch, von dir hörte ich schon viel und manches Geheim­nisvolle. Wir sind ein Trupp römischer Soldaten von Sidon nach Judäa ziehend, doch sage, wohin wollt ihr?"
„Wir sind auf dem Wege zu Freunden am Fusse des Libanon. Hier siehe mein mir vor kurzem angetrautes Weib Ruth und hier Theophil, ihren Bruder, einen früheren Priester, jetzt aber überzeugten Künder der göttlichen Lehren Jesu. Und so sind wir alle frohe Bekenner Seiner Gottes-Offenbarungen!"
Herminius horchte auf, dankte mir für meine Offenheit, und nach­dem wir uns gelagert hatten, bemerkte er: „Ich bekenne, dass ich schon vieles hörte von diesem neuen Glauben und auch von den harten Verfolgungen durch die Templer, habe mich aber noch nicht näher damit beschäftigt. Und du, Ursus, glaubst auch an diesen Gott der Christen? Sag, könntest du mir einen Beweis vom Dasein dieses Gottes geben, dass auch ich davon überzeugt sein könnte? Denn siehe, solche Beweise könnte ich von unsern Göttern nicht geben, da sie meinen Sinnen noch nie wahrnehmbar geworden sind."
Ich erklärte ihm: „Wie soll ich dir den ewigen, allmächtigen Gott beweisen, da du doch inmitten all Seiner Werke lebst, und alles Daseiende Beweis Seiner göttlichen Schöpferkräfte ist! Ist nicht jeder werdende Tag und jede vorangehende Nacht mit ihrem regelmässigen Wechsel ein Zeugnis einer erhabenen Gesetzmässigkeit? Es gibt aber kein Gesetz ohne einen Verkünder. Kein Ding ohne einen Schöpfer.
Siehe all die wunderbaren Dinge an in der Pflanzenwelt, im Tier­reich! Musst du nicht allen Seinen Werken, sei es Erde, Sonne, Mond und Sterne, Anerkennung zollen ob der weisen Gesetze, die ihr Dasein regeln und bedingen?" Und ich erzählte ihm, wie dieser All­mächtige und Allgütige bemüht ist, Sich überall uns zu offenbaren in Wort und Werk. —
Aber wie wenige wollen dieses beachten und glauben! Wie wenige wahre Priester und Gottesdiener gibt es, welche die Menschen auf Seine göttlichen Ordnungen und Einordnungen hinweisen, um die Nutzzwecke ihrer eigenen Ordnungen damit zu vergleichen! Denn Gott hat die Menschheit geschaffen mit vielerlei göttlichen Eigen­schaften, und jeder einzelne sollte sich mit dem in ihm ruhenden Gottesfunken eine eigene Welt gestalten nach dem göttlichen Vor­bild, um glücklich zu sein und glücklich zu machen!
Aber die Menschen wollten, ohne die göttliche Ordnung zu beachten, sich lieber nach eigenen Ideen ihre Umwelt schaffen und ordnen. Sie haben sich verirrt und ahnen heute kaum noch, was sie damit ver­loren haben!" —
Da fragte Herminius lebhaft: „O Ursus! Könntest du es mir be­weisen, dass noch etwas von solchen göttlichen Eigenschaften in manchen Menschen lebt?"
Ich antwortete ernst: „Damit forderst du Gott auf — Sich dir zu offenbaren! — Wenn dir nun ein solcher Beweis gegeben wird, was aber würdest du dann tun?"
„Ich werde diesen Gott anerkennen müssen! Ob ich mich Ihm aber unterwerfe, behalte ich mir noch vor, bis ich in Seine Wesens-Eigenschaften mehr eingeweiht sein werde!"
Ich musste ihm antworten: „Gut, dir soll geschehen, was du ge­wünscht hast! — So höre: Einer deiner Wachsoldaten, der schon seit längerer Zeit an einer Verwundung in seiner rechten Schulter leidet, wird von fast unerträglichen Schmerzen geplagt. Eben hat er sich in dein Zelt geschlichen — er will allein und unbeobachtet sein — er betet! Betet zu dem Gott der Christen, den er zwar nicht kennt, von dem er aber doch schon manches gehört hat, und hofft auf Heilung durch Ihn. Gehe zu ihm hin, nimm dir einige Leute und einen Bruder von uns mit, der ihm die Hände auf die schmerzende Wunde legt, und du sollst den gewünschten Beweis erhalten!"
„Gut, mein Ursus", sprach er, — mich lange fest ansehend, „ich werde nach deinen Worten handeln, obwohl ich wenig Glauben habe, dass sich dieses so verhält. Gib mir den jungen Priester Theophil mit, oder willst du selbst mit mir gehen?"
„Nein, Herminius, es ist schon richtig, wie du gewählt hast. So gehet mit Gott."
Herminius nahm zwei seiner Leute mit, sie grüssten mit der er­hobenen Rechten und verschwanden in der sternenklaren Nacht. „Wollen wir nun ein Lied singen", sagte ich zu den Zurück­gebliebenen, „denn Gesang macht die Herzen aufnahmefähiger für die Gnaden-Gaben aus Gott, unserm gütigen Vater. Es wird immer­hin einige Zeit vergehen, bis sie zurückkommen."
Nach dem Psalm ward mir die innere Sehe geöffnet, und ich sagte laut, dass alle es hörten: „Wir dürfen jetzt ein Wunder der göttlichen Liebekraft mit erleben! Herminius ist soeben in seinem Lager an­gekommen und geht auf sein Zelt zu, welches unbewacht ist. Er öffnet es — und sieht einen knieenden Mann darin, der vor ihm er­schrickt. Herminius fragt erstaunt: „Claudius, was ist dir? Warum bist du in meinem und nicht in deinem Zelt? Und warum kniest du hier auf dem Boden?"
„Verzeihe mir, Herminius", bat der Knieende, „dass ich in meinen grossen Schmerzen dein Zelt aufsuchte. Ich wusste mir keinen anderen Rat, um ungestört zu sein, um mich an den grossen, unbekannten Gott der Christen zu wenden, weil unsere Götter völlig versagten! Siehe meine kranke Schulter — ich bin unfähig, den Arm zu rühren, und die Kameraden können mir auch nicht helfen!"
Herminius besah die Wunde und fragte teilnehmend: „Warum meldetest du mir nichts? Ich hätte dich in Sidon zurückgelassen."
„Ich muss die Wahrheit bekennen, Herr! o zürne mir nicht", bat der Kranke; „ich hoffte heimlich, in Judäa noch etwas von dem Nazarener zu erfahren, den die Juden kreuzigten, der aber nach drei Tagen aus Seinem Grabe wieder auferstanden sein soll und jetzt ein mächtiger Gott und Heiland aller Christen geworden ist. Zu Dem betete ich — vielleicht nicht ganz richtig — doch weiss ich, dass dieser Gott gerne Gebete erhört."
Herminius nahm nun Theophil bei der Hand und sprach: „Mein Freund, auf dich fiel meine Wahl! Dauert dich dieser gute Kamerad, und könntest du ihm helfen durch das Göttliche in dir?"
„Nein, Herminius, helfen kann ICH nicht. Aber Jesus, der Heiland, der in mir lebt, der auch mich einst aus Not und tiefem Leid errettet hat — kann helfen!" — Er trat hin zu Claudius und sprach:
„Freund, durch mich fragt dich der grosse Heiland: Kannst du glauben, dass Er dich gesund machen will?"
„Ich glaube! — sonst hätte ich nicht knieend darum gebeten!" „Nun, so höre", sprach Theophil feierlich, „der Herr und Meister Jesus hat in dein Herz geschaut, und dich für würdig befunden: Seine
Herrlichkeit zu erleben!
„Herr Jesus! — du Heiland! Du unser Erretter von allem Übel! Wir bitten Dich, hilf diesem Deinem kranken Kinde nach Deinem Willen, den Du uns so herrlich offenbart hast, und lasse mich es segnen durch Deine Kraft und Gnade!
Bruder Claudius! — Der Herr sei mit dir! — Er erwecke in dir deinen Gottes-Geist! Und so sei gesund — durch Seine Kraft und Gnade! Amen."
Ein lichter Funke aus der segnenden Rechten des Theophil über­strömte den Kranken — dies sahen alle.
Theophil sprach: „Claudius ist geheilt! — Überzeugt euch selbst, und dann lasset uns zurückkehren zu den Anderen."
Herminius wusste nicht, wie ihm geschah. Alles war so natürlich — und doch so geheimnisvoll.
Nun sprach Claudius: „O Freund, ich bin frei von Schmerzen! Ein Feuer durchdrang meinen Körper; vor meinen Augen blitzte es, und ein Wonnegefühl durchzitterte mich. Herminius, greife an meine Schulter, sie ist heil und gesund!"
„Ja, Claudius, ich sehe es! Und nun kommt zu unserem Freund Ursus, dass wir ihm dieses Wunder eures Gottes erzählen", sagte Herminius.
Theophil aber erklärte ihm: „Ja, und noch ein neues Wunder lässt der grosse Gott dich erleben: Siehe, Ursus wurde im Geiste erweckt, er durfte dies alles hier schon miterleben und hat es den Anderen schon berichtet."
So erlebten wir alle heilige Stunden. Später gestand mir Herminius, er werde sich von jetzt an bemühen, diesen grossen Gott auch näher kennenzulernen. Ich sagte noch: „O Herminius, so sei mir ein wahrer Bruder. Denn Gott, unser aller Vater, ist ja überall um uns und auch in uns. Wer Ihn ganz tief in sich suchen will, wird Ihn auch finden und Seine überirdische Herrlichkeit erleben dürfen."
Herminius, jetzt ganz ernst, sagte: „Bruder nennst du mich? O mein Ursus, ich danke dir! Aber um eines bitte ich dich: erzähle, wie du Gott gefunden, Ihn geschaut und Ihm dich verpflichtet hast! Dann kann ich mir vielleicht das beste Bild von Seinem Wesen machen."
Antwortete ich: „So höre! Ich suchte lange den Nazarener, dessen Taten und Lehren fast überall gerühmt wurden" — und erzählte ihm von meinen wunderbaren Erlebnissen mit Jesus! Zuletzt fragte er noch: „Welches ist nun die Bedingung, dass dieser in uns ruhende Funke aus dem Gottesleben zum Feuer sich entflammen wird?"
Da sagte ich: „Liebe den Gottesfunken in deinem Nächsten und hilf ihm mit all deinen Kräften, sich zu befreien! Dann dienest du den göttlichen Absichten, und der Gottesfunke in dir selber wird immer lebendiger sich offenbaren können.
Dein Beruf, so hart er dir oft erscheinen mag, wird zum Segen, so du aus ganzem Herzen deine Pflichten erfüllst. Jede Liebe, so sie vom Herzen ausgehet, ist aus göttlichem Ursprung und wird wieder andere Herzen berühren. So lebe ich aus Seiner Gnade und Liebe, die sich so wunderbar in meiner Innenwelt bekundet. So darf ich in mir die Wunder Seiner Liebe schauen, darf in mir das Wesen Seines Heiligen Geistes empfinden und darf aus meiner Innenwelt nehmen, was ich Anderen geben kann zu ihrem Heil und mir und meinem Gott und Vater — zur reinsten Freude.
Nun ziehet hin in Frieden! Geöffnet ward das Tor für Ihn in euch. Tuet, was das Herz euch gebietet, und glaubet, was das Herz euch sagt! Der Friede des Herrn sei mit euch!"
Wir konnten uns schwer trennen, aber die Pflicht mahnte. „Wir sehen uns wieder, Bruder", waren seine letzten Worte.
 
 
VII. Unsere Arbeit im Weinberge des Herrn
 
Das Leben in Bethanien ging in gewohnter Weise weiter, und an den Abenden schilderte Ursus verschiedene Szenen aus dem weiteren Verlauf der Reise und von der grossen Freude in den Siedlungen bei ihrer Ankunft.
„Auch die neuen Geschwister, die ich mitbrachte, fanden freund­lichste Aufnahme, denn es gab viel Arbeit überall und kaum genug Hände dafür. — Der alte Eusebius lebte auf bei unserm Besuch; mit Achibald und Bernhart machte ich weite Ritte ins Land, bis ins Ge­birge, und der grosse Wunsch stieg in uns auf: Könnte all dies un­bebaute Land doch fruchtbar gemacht werden für die so arg ver­folgten Glaubensbrüder in Judäa! Und nun höret, wie der allgütige Vater uns solche Wünsche erfüllte:
An einem heissen Mittag kamen drei berittene römische Soldaten zu Bernhart, der die Amtsperson im weiten Umkreise ist, und be­richteten uns von einer verdächtigen Karawane:
Auf unsern Patrouille-Ritten sahen wir sie gestern in der Ferne auf der Heerstrasse nach Sidon, doch da dieselbe nicht bei unserm ständigen Militärposten vorüberkam, schöpften wir Verdacht und suchten nach ihrem Verbleib. Schon wollten wir gegen Abend um­kehren, da hörten wir entfernte Hilferufe, und als wir in dieser Richtung weiter ritten, sahen wir ganz abseits der Heerstrasse ein Lagerfeuer.
Im Schütze der Dunkelheit schlichen wir uns heran und sahen einen Massentransport von gefangenen Menschen lagern. Wir beob­achteten alles, bis es Tag wurde, und mussten dann Zeuge einer rohen Vergewaltigung werden. Nach einem kurzen Wortwechsel mit einem jüdischen Priester wurden einige Gefesselte abseits geführt, ihrer Kleidung entledigt und mit Ruten grausam durchgepeitscht, dass ich am liebsten dazwischengesprungen wäre.
Als diese Unglücklichen fortgeschleift waren — traute ich meinen Augen nicht — brachten sie zwei gefesselte römische Kameraden von uns vor den Priester. Dieser schien etwas von ihnen zu verlangen, was sie verweigerten. Dann brüllte er, mir deutlich vernehmbar: Morgen wird euer Rücken so aussehen wie der dieser Nazarener! — Fort! mir aus den Augen!"
Wir drei beschlossen nun, die nächste Ansiedlung aufzusuchen, um Hilfe zu holen, und bitten darum euch um Beistand, ehe diese Ver­brecher weiter ziehen.
Bernhart sagte sofort: Wir danken euch für den Bericht und wollen versuchen, zu helfen. Stärket euch inzwischen und ruhet, bis wir alles vorbereitet haben. Er schickte einen reitenden Boten zu Achibald mit dem Bescheid, mit allen verfügbaren Männern, auf Pferden, bewaffnet, in zirka drei Stunden an der Zugangsstrasse nach Sidon auf uns zu warten. Es gelte, einen grossen Schlag zu tun gegen Übel­täter weltlicher und göttlicher Gesetze.
Auch wir machten uns fertig, trafen Achibald mit seinen Mannen, und in grosser Eile ging es nach dem Lagerplatz, wohin die drei Soldaten uns führten. Als es schon dunkelte, hatten wir das Ziel erreicht.
Achibald ritt mit einigen Soldaten kühn mitten ins Lager, und verlangte den Führer zu sprechen. Da kam schon der Priester, durch die lauten Worte aufmerksam gemacht, und frug stolz: Wer will mich sprechen? Ich, rief Achibald, zeigte seine Urkunde und sagte streng: Gegen dich liegt Anzeige wegen Misshandlung vor, und dass du kaiserlich-römische Soldaten gefangen hältst! Ich muss deshalb deine Karawane untersuchen!
Der Priester lachte höhnisch: Ich bin vom Tempel beauftragt und werde niemals gestatten, dass jemand in meine Rechte eingreift!
Entgegnete Achibald: Ob du es gestattest oder nicht, ich werde tun, was mir meine Pflicht gebietet. Finde ich alles in Ordnung, steht dir das Recht der Beschwerde zu.
Der Priester wollte aufbegehren. Doch Achibald griff nach der Signalpfeife. Ein Pfiff — und im Nu waren alle unsere Männer im Lager. Mit lauter Stimme befahl er: Wer sich widersetzt, ist des Todes! Doch bindet zuerst diesen Priester hier! Im Augenblick war es geschehen.
Dann rief Achibald: Leute, tretet her zu mir! Ich bin nicht euer Feind, sondern nur ein Richter für jegliche Gesetzlosigkeit. Euch ge­schieht nichts, so ihr euch meinen Anordnungen fügt.
Da trat ein Alter hervor und sprach: Herr! Gebiete, was wir tun sollen, wir waren hier nur schlecht bezahlte Knechte. Machet alle Gefangenen los, sie sollen frei sein! befahl Achibald, und der Alte rief den Anderen zu: Tut, was der Herr gebietet! Ein Römer hält sein Wort!
In kurzer Zeit kamen gegen zweihundert Männer und Frauen und wollten uns danken. Mit tränenerstickter Stimme erzählte ein ge­beugter Greis von dem grausamen Schicksal der Gefangenen und den ruchlosen Schikanen durch den Priester. Suchet in seinem Zelt, dort ist ein Bildnis, welches den Heiland darstellt. Vor diesem Bild sollten wir Nazarener den Heiligen verfluchen, wer es aber nicht tat, erhielt die Peitsche. Hier, überzeuge dich wie mein Rücken aussieht, es ist vielleicht zwei Wochen her, wo diese Grausamkeit an mir geschah.
Wir waren entsetzt von dem Anblick und fragten noch: Gab es auch welche, die dem Willen des Gewalttäters folgten und den Gottes­sohn verleugneten?
Ich glaube kaum, denn täglich erlebten wir, dass es des Priesters Vergnügen war, dass etliche geschlagen wurden.
Bernhart übernahm nun die Verteilung der Wachen. Ich durch­suchte die Wagen und fand Lebensmittel und kostbare Waren, aber auch kranke Menschen darin. Als wir endlich ein klares Bild von dieser Karawane hatten, sagte Achibald in fester Entschlossenheit: Ursus, das Kreuz ist diesem Oberpriester sicher!
Am frühen Morgen, nach einem einfachen Mahl, wurden alle zu­sammengerufen und Achibald erklärte ihnen: Liebe Leute, ein neuer Abschnitt eures Lebens bricht mit diesem Tage für euch an. Eins ist sicher, wir wollen nur euer Bestes, denn auch wir bekennen uns zu dem grossen Heiland Jesus Christus. Ihr seid jetzt frei! Doch wir führen euch zuerst in unsere Siedlungen, wo ihr euch überlegen könnt, ob ihr lieber zurückziehen wollt in eure Heimat, oder unter römischem Schutz ein neues Leben bei uns beginnen wollt, wo Land und Arbeit auf fleissige Hände schon warten.
Jetzt aber wollen wir zuerst unserm heiligen Gott danken für all die wunderbaren Führungen, die nötig waren, um euch aus dieser grausamen Gefangenschaft zu befreien. Und so wollen wir gemein­sam beten: O Herr! — Du unser Heiland Jesus! Der Du uns die rechte Tatkraft gegeben hast, um Deinen Widersacher unschädlich zu machen! Du guter, treuer Vater Deiner Kinder, unsere Herzen danken Dir innig für diese Errettung! O Jesus! Wir bitten Dich, so nimm auch weiterhin unser Schicksal in Deine weisen Vater-Hände und führe uns zum rechten Ziele! Segne uns alle, o Herr, und lasse uns immer lebendiger werden in Deinem Geiste der grossen Liebe-Tätig­keit! Amen.
Als es völlig Tag geworden war, setzte sich der lange Wagenzug in Bewegung, und am Nachmittag erreichten wir endlich die Häuser des Bernhart. Sogleich nahm sich die Mutter Elisa der müden Frauen und Mädchen an. Allen wurden Erfrischungen gereicht und Mut zu­gesprochen, und als auch Wasser und Futter für die vielen Tiere be­sorgt war, konnten sie sich der wohligen Ruhe hier hingeben.
Am anderen Morgen sollten sie sich die Gegend ansehen und mussten sich dann entscheiden. Viele blieben gern hier, um sich ein neues Heim in dem Neuland aufzubauen. — Andere zogen mit Achibald in seine fertige Siedlung, um ihrem früheren Beruf nachgehen zu können. Zurückkehren wollte keiner der gefürchteten Templer wegen. Für den Abend wurde ein allgemeiner Dank-Gottesdienst angeordnet, und dazu wünschten sich Achibald und Bernhart einen vom Herrn erwählten Gottes-Diener, den ich ihnen in Theophil sogleich vorstellen konnte.
Theophil war sichtlich erfreut über diese Aufgabe. Im grossen Wohnraum liess er einen kleinen Altar errichten, einige Leuchter wurden angezündet, und das Bild Jesu, mit Fruchtähren geschmückt, ward, allen sichtbar, darauf gestellt.
Als alle festlich versammelt waren, begann Theophil: Freunde, Brüder und Schwestern! Ein heiliger Augenblick ist es, wenn wir in die Nähe unseres Gottes und Vaters treten, der uns mit Sehnsucht schon erwartet und uns neue Lichtstrahlen Seiner Liebe schenken will zum Erkennen Seines weisen Wirkens unter uns.
So wollen wir still werden und beten: Vater! Du ewige Liebe! Wir neigen unser Antlitz und öffnen Dir dankerfüllt unsere Herzen für die grosse Gnade, die uns alle hier so froh vereint hat. Wie aber das Beste wertlos wird, so es nicht erkannt, und nicht mit heiliger Liebe umschlossen wird, so bitten wir Dich, mache uns aufnahmefähig und würdig, Dein heiliges Wort als einen lebendigen Feuer-Funken in uns zu bewegen. Lass Deines Geistes Licht darin den in uns noch schlummernden Funken aus Dir erwecken, auf dass Er uns leite in allen Lebens-Lagen.
Dann sprach Theophil in Andacht von all den uns oft so unbegreif­lich scheinenden Schicksalen, die sich auch in diesen Tagen wieder so wunderbar offenbart haben an diesen nun befreiten Brüdern und Schwestern. Ja, wir alle werden oft durch tiefe, schmerzliche Zeiten der inneren Dunkelheit geführt, um diesen Funken göttlichen Liebe-Lebens in uns von seinen Hemmungen zu befreien und zu immer hellerem Aufleuchten in unserm Wesen zu entfachen, ja, unser ganzes Gemüt zu einem neuen, so glücklich machenden Innenleben zu er­wecken!
Und von seinen eigenen Führungen erzählte Theophil, wie sein Funke durch viel anerzogene Irrlehren über Göttliches wie begraben in ihm. lag. Erst durch harte Gewissens-Qualen und bittere Kerker­haft musste er sich selbst durchringen bis zum bewussten Aufleuchten; welches Licht wir alle doch gern noch zu erleben hofften.
Mit einem gemeinsamen Dankgebet für unsere göttlichen Führun­gen schloss er die Feier. Alle hatten tief ergriffen seinen Worten gelauscht, und damit hatte sich Theophil zugleich als den berufenen Pfleger der Jesus-Lehre für all die aufnahmewilligen Herzen in beiden Siedlungen erwiesen."
Ursus hatte seinen Bericht beendet. — Für seine Zuhörer in Bethanien fügte er noch hinzu: „So können wir alle doch täglich etwas beobachten und erleben von diesen oft seltsamen Gottes-Führungen der verschiedenen Menschenseelen! Wir erfahren, wie der Gottes-Funke in uns befreit sein will von unsern alten Schwächen und Hemmungen, um mitzuwirken im grossen Weinberge Seines Vaters an unserer Erlösung aus Gleichgültigkeit und Irrtum, und in Seiner grossen Geistes-Klarheit uns zur freudigen Tatkraft zu ent­flammen sucht! Amen."
 
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Lebet mit mehr Freude!
Gehet freudigen Herzens in jeden neuen Tag hinein,
und freudig und dankerfüllt beschliesset ihn! Erkennet die weisen Wege, die Gott euch führet, und wie Er die Menschen und die Völker führet! Er ist der Herr, dem alle dienen! Ob scheinbar gegen Ihn, ob für Ihn, alles macht Er Seinen hohen Absichten dienstbar. So gehet nun beschwingt durch eure Tage — eurer Umwelt ein Licht, das da leuchtet in dieser und jener Welt, eine Flamme, die da wärmet alle, die sich dazuhalten! Gehet aufrecht in euren neuen Tag hinein, innerlich froh und frei als hochgeborne Kinder eines göttlichen Vaters! Schon schwingen die Glocken — bald schlagen sie an! Die Erde erbebet — ihre Erlöser nah'n! Hinter ihnen — der Vater, den Ring in der Hand, um zu schmücken den Sohn, der den Heim-Weg nun fand!