Heft 16. Bei den ersten Christen

Inhaltsverzeichnis
01. Der Überfall
02. Ruth´s Gottvertrauen
03. Die Leiden der Gefangenen
04. Ein Auftrag des Herrn
05. Wie Hilfe naht ( Fortsetzung von Seite 4 ) (wäre Kapitel 1?)
06. Zeugnisse über Jesu Lehre (Fortsetzung von Seite 14 ) (wäre Kapitel 4 ?)
07. Die drei Boten
08. Bernhart (Fortsetzung von Seite 18 ) (wäre Kapitel 5 ?)
09. Der grosse Schreck
10. Elim
11. Asa´s Umkehr
12. Die Befreiung
13. Ruth
14. Ursus
15. Der Sieg dieser göttlichen Führungen
16. Ausklang

 



Der Überfall

Mitternacht war vorüber — am Himmelszelt leuchteten in voller Pracht die Sterne, und die Erde war angefüllt vom köstlichen Duft, den Blumen und Sträucher spendeten.
Ein gebeugter alter Mann eilte keuchenden Atems durch die Nacht. Was kümmerten ihn die Schönheiten der schlafenden Natur. Er glaubte sich verfolgt! Seit Stunden strebte er vorwärts - und müde und abgespannt betete er immer wieder zu seinem Heiland, als einzigem Retter: „O Jesus! Du Barmherziger! Gib mir nur so viel Kraft, dass ich an mein Ziel gelange."
Endlich hatte er es erreicht; mit lautem Pochen weckte er die Bewohner; und als er seinem Freunde ermattet gegenüberstand, fragte dieser erstaunt: „O Vater Eusebius, du hier in der Nacht, was hat das zu bedeuten?"
„Lasst mich ausruhen", seufzte der Alte, „dann erst kann ich euch von der grossen Not und Sorge erzählen, die uns so grausam überfallen hat."
Bernhart, ein grosser, kräftig gebauter Mann, führte den Ermüdeten sorgsam auf einen bequemen Platz im Hause und sprach tröstend: „Sei uns willkommen, im Namen des Herrn! Was du auch Schweres auf dem Herzen trägst, ich bin zum Helfen gern bereit, soweit es in meinen Kräften steht!"
„Bruder im Herrn! Ich danke dir für dein liebend Wort", entgegnete ihm Eusebius, „aber uns ist wahrlich schwer zu helfen. Meine beiden Söhne und meine Tochter Ruth sind mit roher Gewalt von den Tempelschergen als Gefangene fortgeführt, und auch ich werde von ihnen verfolgt."
Ganz entsetzt hörte die Familie diese traurige Kunde, dann ermannte sich Bernhart und sprach: „O Bruder, wo alle Menschen-Hilfe aussichtslos erscheint, kann doch der Herr immer noch Wunder wirken! Bitten wir Ihn um Rat und Unterweisung, dann wird auch diese schwere Prüfung vorübergehen, und wir dürfen den Herrn nur noch mehr loben und preisen."
Der Alte richtete sich auf: „O Freund, du weisst, dass ich nicht so leicht mutlos werde, und so glaube und hoffe ich auch heute noch fest auf die Gnade unseres Herrn und Gottes und die unendliche Liebe Jesu in all meiner Not! Aber was soll ich tun? — wie meinen armen Kindern helfen? Wie lange soll ich diese bitterste Ungewissheit noch ertragen? O wie hoffnungslos sieht dies alles heute aus!"
Bernhart versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen und begann: „O Vater Eusebius, du weisst doch, dass der Herr nur mit denen sein kann, die Seinen heiligen Worten vollen Glauben schenken und restloses Vertrauen Seiner Liebe und Allmacht entgegenbringen. So aber unser Glaube schwach würde, stärken wir den Gegner!
Du weisst, dass Petrus einst aus dem tiefsten Kerker befreit wurde. Werden deine Kinder sich nicht auch in dem starken Glauben an Jesu rettende Macht jetzt bewähren sollen? Doch werde erst ruhiger, damit wir uns ganz in die Gegenwart und unter den Schutz unseres heiligen Gottes stellen können — und dann erzähle. Inzwischen wird mein Weib uns ein Morgenmahl anrichten."
Und so erzählte der alte Vater Eusebius den Freunden: „Gestern kam eine Karawane an unserm Hause vorüber und der Anführer begehrte herrisch Wasser von uns in grösserer Menge. Ohne Misstrauen gaben wir ihnen von unserm kostbaren Wasser — doch sie forderten auch noch Brot und Gemüse, was ich aber unseres geringen Vorrates wegen ablehnen musste. Da wurden sie grob; es gab einen lauten Wortwechsel, und die Wächter drangen schon neugierig ins Haus.
Meine Kinder, die bei mir standen, näherten sich dem Wagen, aus dem jammernde Klagelaute hörbar waren. Sie sahen viele Gefangene, mit Stricken elend an Händen und Füssen festgebunden, und erfuhren, dass es Glaubensbrüder waren. Natürlich wurden sie erregt, sie wollten helfen, und da die Unglücklichen unbeaufsichtigt waren, wollten sie wenigstens ihre Lage etwas erleichtern. Einer der Wächter bemerkte dies und stiess laute Warnungsrufe aus. Es kam zu einem heftigen Handgemenge mit den bewaffneten Wächtern und in kurzer Zeit lagen meine beiden Söhne verwundet und besinnungslos am Boden.
Als Ruth sich um ihre Brüder bemühen wollte, wurde auch sie von den Wächtern gebunden und in einen Wagen geworfen, und ebenso meine Söhne, und als ich ihnen drohend entgegentrat, versuchten sie auch mich zu überwältigen. Nur mit List konnte ich mich in Sicherheit bringen, da der Anführer plötzlich eilig aufbrechen wollte. ,Aber wir holen nach, was heute nicht gelang', riefen sie mir in mein Versteck hinein und fuhren ab in Richtung Hazor.
Als endlich alle Gefahr vorüber schien, verschloss ich mein Haus, und bin den weiten Weg zu dir geeilt. O Bernhart, nun suche ich bei dir Trost und Hilfe."
„Stärke dich, alter Vater", sprach Dieser erschüttert; „ich habe mächtige römische Freunde - mit ihrer Hilfe werde ich sicherlich die Freilassung deiner Kinder erzwingen."


Ruths Gottvertrauen

Schwerfällig hatte sich die Karawane von acht Wagen, mit Maultieren bespannt, wieder in Bewegung gesetzt. Zu jedem Wagen gehörte ein Treiber und ein Wächter, ausserdem folgten am Schluss noch einige bewaffnete Männer. Der Eigentümer dieser Karawane war Elim, ein habgieriger Jude, der vom Tempelrat gedungen war, diesen Gefangenen-Transport heimlich nach Sidon zu bringen, unter Aufsicht des fanatischen Priesters Assir.
Am Abend, als die Tiere auf dem schwer fahrbaren Wege sichtlich ermüdet waren, drängte Elim zum Lagern, aber Assir wollte vorwärts; er fürchtete, die gefangenen Kinder des ihm bekannten alten Eusebius könnten ihm noch Unannehmlichkeiten bereiten.
Endlich wurden in einem abseits gelegenen Wäldchen die Zelte aufgeschlagen und Feuer angezündet. Den Gefangenen wurden die engen Fesseln an Händen und Füssen etwas gelockert und sie erhielten eine dünne Suppe mit trockenem Brot.
Ruth verlangte, ihre Brüder zu sehen, was Assir gewährte. Tief bekümmert kniete sie bei den gefesselten Verwundeten und begehrte Wasser. Joseph hatte eine tiefe Wunde an der Schulter, während Joram den rechten Arm überhaupt nicht mehr bewegen konnte und grossen Schmerz empfand.
„Nicht klagen", tröstete Euth, „unsere Not ist ja auch des Herrn Not, und unser Los liegt ganz in des Allmächtigen Hand. Jesus allein kann unser Retter sein, Er wird Mittel und Wege finden zu unserer Befreiung. Um aber Seinen Weisungen im rechten Augenblick gehorchen zu können, müsst auch ihr voll Hoffnung und Mut werden!"
Sie erhielt nun das Wasser, und bald waren die Wunden gereinigt, konnten aber nicht verbunden werden, weil keine Leinwand zu haben war. In dieser Nacht durfte Ruth bei ihren Brüdern bleiben; mit tiefem Weh im Herzen gedachte sie an den sich sorgenden Vater, und so betete sie ununterbrochen zu ihrem Jesus, dem grossen Heilande in allen Herzens-Nöten.
Gegen Morgen entstand im Lager reges Leben; Ruth wollte sich Wasser besorgen, aber die Wache verwehrte ihr den Ausgang, da es der Hauptführer streng verboten hatte.
„Da droht eine neue Gefahr", sprach Joram zu Joseph, „und wir sind wehrlos gegen diese Teufeleien."
„Erinnere mich nicht an meine Ohnmacht", antwortete Joseph mutlos, „am liebsten möchte ich sterben!"
Doch Ruth widersprach ernst: „Das kann ich nicht glauben, dass ihr schon sterben wollt! Wie soll da der Herr anfangen, uns zu helfen? Ich bin wohl sehr traurig, aber verzagen kann ich nicht, denn wir sind nie ganz verlassen! Und wie lebendig steht die Gnade Gottes vor mir, die wir durch den Apostel Paulus erleben durften!"
„O Ruth", sagte Joram, „hier gefesselt liegen, dich hier so schutzlos zu wissen und über das Geschick des Vaters unwissend zu sein, krampft mein Herz zusammen und macht mutlos."
„Sorget euch nicht um mich", antwortete Ruth stark, „meine grosse Hoffnung gründet sich auf den Auferstandenen, der jedem Leidenden so gern helfen will, wenn er sich nur bittend und gläubig zu Ihm wendet!"
Ein Wächter forderte das Mädchen auf, jetzt das Zelt zu verlassen, doch Ruth erklärte, bei den kranken Brüdern bleiben zu wollen. Darauf fasste er sie hart am Arm und zog sie hinaus. Entsetzt schauten die Brüder ihr nach. Joseph stöhnte laut auf. Joram wollte hinaus, aber der Wächter fragte hart: „Wohin? — es ist noch kein Befehl zum Verlassen der Zelte gegeben!"
„Freund, ich weiss, du tust hier nur deine Pflicht, weil du im Dienste des Tempels stehst", antwortete Joram ernst, „aber verboten wird dir nicht sein, etwas Linnen für meinen kranken Bruder zu besorgen. Der ganze Arm sieht schwarz und braun aus, trotzdem die Wunde an der Schulter ist." - „Lass mich sehen", sprach der Wachmann, „ich bin etwas kundig in Wundbehandlung!" Dann sagte er zuversichtlich: „Die Wunde ist nicht gefährlich, in ein paar Tagen wird der Arm geheilt sein. Ihr hättet euch nicht um unsere Angelegenheiten kümmern sollen, dann wäre euch auch nichts geschehen."
Ruth ward in ein Zelt gebracht, darin noch drei seelisch vollständig gebrochene junge Christinnen auf dem Erdboden kauerten. Voll Mitleid fragte sie diese Armen: „Warum seid ihr denn hier gefangen?"
Zögernd antwortete eine: „Warum wir hier sind? Wir wissen es nicht! Nur dass wir an den stillen Versammlungen der Nazarener teilnahmen, wird vom Tempel als Verbrechen gegen das Gesetz geahndet, und alle sind ja des Todes schuldig, die dem neuen Glauben zustimmen."
„Da seid ihr doch Christen", sprach Ruth und fragte verwundert: „Glaubt ihr denn nicht, dass der Herr Jesus Christus euch erretten kann aus dieser schlimmen Lage?"
„An eine Rettung glauben wir nun nicht mehr, denn dann hätte Christus uns befreien müssen, als wir im Gefängnis waren, wo wir doch so viel beteten", antwortete die Sprecherin, „durch all die ausgestandenen Misshandlungen hat das Leben jetzt keinen Wert mehr für uns."
Ruth schaute die drei ernst an, dann sagte sie bekümmert: „Ihr müsst eine schlechte Schule gehabt haben, dass ihr so nichtig von eurem Leben denkt! Obwohl auch für mich die Aussichten auf Errettung klein sind, wage ich nicht, klein von meinem Leben zu denken. Denn es muss etwas Grosses sein, unser Erdenleben, sonst hätte der Heiland Jesus nicht den Kreuzestod für unsere Erlösung auf Sich genommen. Wie aber kann euch Gott helfen, so ihr euch selber aufgegeben habt? Solange noch ein Atemzug in mir lebt, solange werde ich hoffen und nicht aufhören, an Seine herrliche Hilfe zu glauben."
Da fragte die eine: „Wie lange bist du denn in diesem Zuge, und warum bist du hier?" Antwortete Ruth: „Seit gestern, weil ich mit meinen Brüdern euch befreien wollte!"
„Dann weisst du also noch nicht, was uns erwartet", sprach dieselbe wieder, „damit du dich aber mit dem Gedanken vertraut machen kannst, sei dir gesagt: weil wir jung sind und von ansehnlichem Wuchs, werden wir, gleich wie die jungen Männer, verkauft und wissen nicht, in wessen Hände wir geraten!"
„Trotzdem glaube ich", antwortete Ruth kühn, „dass der Herr alles noch zu einem guten Ende führen wird! Wir müssen aber bedacht sein, unsere Gesundheit zu erhalten, um jederzeit widerstandsfähig zu bleiben."


Die Leiden der Gefangenen

Im Lager ertönte ein Hornruf. Eine der Gefangenen erklärte: „Jetzt gibt es wieder eine dünne Suppe und ein Stück trockenes Brot; inzwischen werden die Zelte aufgeladen und wir werden wieder gefesselt, um nicht zu entfliehen."
Die Wächter führten 40 Gefangene, darunter zehn junge Frauen, in die Mitte des Lagers zum Essen. Mit Erschrecken erkannte Ruth, dass alle diese Christen eigentlich keinen Lebenswillen mehr hatten; wie stumpf bewegten sie sich; doch wie gierig verschlangen sie ihr Brot! „Es wird Zeit, sie aufzurütteln!" nahm Ruth sich vor; auch sie war hungrig, aber laut betete sie erst: „Herr und Gott! Du siehst unsere Not und willst uns prüfen, ob wir Deiner Liebe und Gnade würdig sind! So stärke uns mit dieser Speise, damit sie in uns Kraft werde und wir standhaft bleiben, bis Du uns wieder frei und froh machst! Amen!"
Dann trank sie ruhig ihre Suppe — und schon kamen die Wächter und zerrten die hilfslosen Menschen zu den Wagen. Ruth ging willig mit, sie sagte sich: „Widerstand ist hier zwecklos, ist Kraftvergeudung; ich muss klar bleiben, damit ich die nahende Hilfe des Herrn erkenne!“
Die Verteilung auf die Wagen war heute eine bessere, doch die Fesseln dieselben wie tags zuvor. Menschenleer und völlig unbebaut war die Gegend ringsum, darum liess man die Wagen offen, eine Wohltat für die Gefangenen, die jedoch keinen Sinn für die Eigenart der Natur zeigten.
Anders Ruth. Genau prägte sie sich die Gegend ein und überlegte, wie sie sich die heissersehnte Freiheit erringen könnte. Anfangs hatte sie versucht, mit den Frauen zu sprechen, doch ihre Leidensgenossinnen waren auch äusserlich zu erschöpft. Darum machte sie ihren Heiland zu ihrem einzigen Vertrauten und betete still im Herzen: „O Jesus, wie schwer machen sie es Dir, ihnen zu helfen! — Und wie leicht wäre es Dir, uns beizustehen, wenn wir alle aufmerksamer Deinen Weisungen folgen wollten! Wohl ist es sehr bitter, diese Prüfung im Gott-Vertrauen zu bestehen, aber um so herrlicher wird die Löse dann sein, die Du sicher für uns alle herbeiführen wirst! Darum stärke mich und alle diese Unglücklichen, um Deines Ruhmes willen!"
Heiss brannte die Sonne; grösser wurden die Qualen, und auch die Begleiter schienen matt und träge zu werden, Ruth allein wehrte sich mit allen zu Gebote stehenden Gedanken gegen diese Schwäche, als hinge ihre und ihrer Brüder Rettung davon ab. Endlich kam bergiges Land, bewachsen mit Laubholz, und im Schatten mächtiger Bäume wurde Halt geboten.
In Ruths Seele setzte ein neuer Vorgang ein, sie wurde immer reger und sagte sich: Wenn irgend eine Rettung möglich ist, muss ich mit dazu beitragen! Und dabei wurde ihr klar: „Was ich jetzt als neue Kraft in mir empfinde, muss eine Folge der Schwäche meiner Feinde sein. Wahrscheinlich werden sie hier nur kurzen Aufenthalt machen und dann versuchen, schnell ausser Landes zu kommen." Und so war es auch, denn in Eile wurde wieder aufgebrochen und nicht einmal die zum Essen gelösten Fesseln wurden fester gemacht. Ruth hätte sich vielleicht befreien können — sie tat es nicht, die Wächter sollten in Sicherheit gewiegt werden.
Der Weg wurde beschwerlicher, dann kam man ins Gebirge, links und rechts hohe Felsen mit niedrigen Bäumen bewachsen. Als Ruth nicht mehr ringsum Ausschau halten konnte, beobachtete sie nun die Wächter und bemerkte, dass dieselben immer noch in ihrer trägen Art hinter den Wagen herschritten; die beiden Fahrer sah sie nicht. Mit vieler Mühe gelang es ihr, einen schmalen Saum ihres Kleides abzutrennen und auf einen Baumast zu werfen. Dann beobachtete sie, ob die Wächter denselben bemerkten. Sekunden wurden ihr zu Minuten — wird es gelingen oder nicht?, bangte ihr Herz; jedenfalls kann Jesus mein Tun segnen! Endlich waren alle Wärter vorüber — keiner hatte es bemerkt! Darnach kam eine Ermattung auch über sie, sie vergass ihre Umwelt und rang in ihrem Denken um neue Kraft-Aufspeicherung, denn sie ahnte Gefahr und wollte gewappnet sein!
Langsamer und mühevoller wurde das Vorwärtskommen — die Stunden schlichen dahin; an einem passenden Platz wurde endlich Halt geboten und es wiederholte sich derselbe Vorgang wie am Abend zuvor.
Ruth wurde von einem Wächter zum Oberführer Assir geholt. Sie ging freiwillig mit, denn sie wollte Klarheit darüber: Was wird aus uns werden? Vor seinem Wagen war ein kleines Zelt errichtet und dorthin wurde Ruth geschoben.
Assir erwartete das Mädchen auf einer Kiste sitzend und begann: „Ich habe dich holen lassen, um mit dir zu reden, damit du über dein zukünftiges Schicksal im Klaren bist. Du bist ergriffen worden mit deinen Brüdern, als ihr euch an fremdem Eigentum vergriffen habt - und nach dem Gesetz seid ihr uns verfallen. Ich möchte aber Gnade vor Recht ergehen lassen und deine und deiner Brüder Zukunft nicht vernichten; es kommt aber darauf an, ob du gewillt bist, die Bedingungen zu erfüllen und auf meine Wünsche einzugehen."
Stolz antwortete Ruth: „Ist auch das Gesetz, dass ich gefesselt dir antworten soll? Und welcher Art soll meine Leistung sein? An deinem Eigentum haben wir uns nicht vergriffen, da diese Gefangenen doch nicht dir gehören! Ihr habt sie überwältigt und geraubt, und als Räuber seid ihr auch eingedrungen in meines Vaters Haus, und habt uns als willkommene Beute mitgenommen!" Höhnisch lachend sagte Assir: „Ich hatte geglaubt, dein hochmütiges Wesen wäre zusammengebrochen und du würdest froh sein, so ich dir ein Mittel anbiete, dass deine Brüder wieder zurückkehren können. Willst du also freiwillig mir als Magd zu eigen sein? — Andernfalls werde ich dich zwingen — als meine Sklavin!"
Ruth starrte ihn sprachlos an — Assir trat an den Zeltausgang und pfiff; ein Wächter kam eilends und Assir befahl: „Entblösse dieser meiner Leibeigenen den Oberkörper!"
Ruth schrie auf, doch wehren konnte sie sich nicht, da ihre Hände noch immer gefesselt waren.
Assir befahl weiter: „Hole mir den Jüngeren vom Wagen Nr. 2, aber fest gebunden, denn diesem ist nicht zu trauen!"
Ruth kauerte im Hintergrund des Zeltes und zitterte am ganzen Leibe. Man brachte den Bruder vor den Gewaltigen — stolz stand er vor ihm und mit eisigen Blicken sah er seinem Peiniger ins Gesicht.
„Ich habe auch dich holen lassen, wie hier deine Schwester (dabei hob er das Zelt hoch). Es liegt nun an dir, deine Schwester zu bewegen, freiwillig mir zu dienen, dann erhaltet ihr beide eure Freiheit wieder! Oder ich zwinge sie als meine Leibeigene — ihr aber werdet dann verkauft."
Entgegnete ganz erregt Joram: „Mit welchem Rechte verfügst du über uns? Und aus welcher Macht heraus wagst du überhaupt dieses Ansinnen? Gleich Verbrechern habt ihr uns niedergeschlagen und uns der Freiheit beraubt. Du, als seinwollender Gottesdiener, bedienst dich solcher gottlosen Mittel?"
In diesem Augenblick entriss Assir dem Wärter die Peitsche und schlug erbarmungslos auf den gefesselten Joram ein, dessen Oberkörper völlig nackend war wie bei allen diesen Gefangenen. Joram, sowie Ruth, schrien laut auf — doch kalt lachend sagte der Wüterich: „Nun hast du eine kleine Probe erlebt an deinem noch hochmütigeren Bruder — das nächste Mal kommst du selbst daran."
Joram war vor Schmerz ohnmächtig zusammengebrochen. Assir ging hinaus und befahl, den Menschen wieder zurückzubringen, was aber etwas schwierig war, da der Bewusstlose erst geweckt werden musste. Um nicht laut aufzuschreien, als man den blutüberströmten Joram zurückbrachte, biss Joseph in ohnmächtiger Wut in den Zeltplan; er fühlte sich am Ende seiner Kraft.
Voll Angst und Schrecken kauerte Ruth im Winkel des Zeltes. Durch diese Greuel-Szene hatte sie alle guten Vorsätze plötzlich vergessen — sie vergass sogar den Herrn. Aufflammend dachte sie nur noch an Flucht, um sich zu rächen! Sie wusste aber, das Lager war stets gut bewacht und nur darum durften die Gefangenen sich etwas freier bewegen. Doch keiner von ihnen zeigte Interesse für das harte Los seiner Leidensgenossen. Von dort also würde niemand ihr helfen wollen!
Assir kam vom Feuer zurück. „Komm her!", herrschte er sie an. Ruth wollte nicht — da griff er zur Peitsche. Doch nun flammte ihr Stolz auf. Sie erhob sich, und voll Ruhe schritt sie zu ihm hin. Assir sah sie an — ihre stolze Schönheit fesselte ihn und so ergriff er die Stricke und machte ihre Hände frei. Dann sagte er langsam, aber gebieterisch: „Gehe ans Feuer und hole das Essen für mich! Ob du etwas erhältst, kommt auf dich selber an."
Sie gehorchte und wunderte sich nur über ihre Ruhe, im Innern war plötzlich alle Angst und Furcht verschwunden. Die Wärter waren erstaunt, wie dieses schöne und stolze Mädchen so ruhig an das Feuer ging, wo die Kessel hingen und das Essen für den Anführer verlangte. Sie erhielt eine Schüssel voll Gemüse und einen Löffel und brachte es ihrem Peiniger. Assir liess es sich schmecken, doch seine Augen wandten sich nicht von ihr fort. Dann reichte er die leere Schüssel dem wartenden Mädchen: „Hole dir auch dein Essen, du sollst nicht klagen über Hunger."
Ruth reckte sich stolz auf und sprach in ruhigem Ton: „Nein! — Ich hole mir kein Essen! Und glaube ja nicht, dass ich vor deiner Peitsche, noch Angst, habe - dieser Schrecken ist schon vorüber! Und wenn du mich totschlägst, ich fürchte mich nicht mehr!"
„Du willst dich auflehnen? — Mädchen, ich sage dir: reize mich nicht! Merke dir, hier gilt nur mein Wille, und was ich einmal will, das geschieht!"
„Nein!", sprach Ruth mit fester Entschlossenheit, „so lange ich noch denken kann, bin ich Herr meines Willens, und jetzt nehme ich meine Kräfte direkt aus Gott! Vorhin war ich schwach und tief erschrocken — aber nun ist die Gewissheit auf Gottes Hilfe bei mir eingekehrt und ich sage dir: Du kannst wohl in deiner teuflischen Art mit satanischen Mitteln die Menschen quälen und zu Tode hetzen, aber, die ich eine Bekennerin des Nazareners bin, sage dir noch im Angesicht des Todes: mich bringst du nicht so weit, dass ich an göttlichem Beistand jemals zweifeln werde."
Höhnisch lachend entgegnete Assir: „Nun, das käme auf einen Versuch an, meine Tochter." —
„Und ich antworte dir, dass nicht dein, sondern Gottes Wille bestimmen wird, was mit uns zu geschehen hat!", widersprach kühn und mit ernster Zuversicht das Mädchen.
Seiner Sinne nicht mehr mächtig, griff Assir zur Peitsche und wollte sich auf das stolze Mädchen stürzen. Dieses aber war schneller — und rasch zum Zelt hinaus. Der Wächter, nichts ahnend, wurde zur Seite gestossen. Ruth eilte, so schnell sie konnte, unter einem Wagen hindurch und in wenigen Augenblicken war sie im Wald verschwunden.
Assir, ganz in Wut entflammt, schlug auf den Wächter ein und schrie: „Schafft das Mädchen wieder her oder ich schlage euch tot!" Als aber ein anderer Wächter sah, wie einer von ihnen fast wie tot am Boden lag, nahm sich derselbe den Mut und sagte: „Du bist nicht unser Herr, nur unterstellt sind wir dir! So du aber nicht vernünftig bleibst und noch einmal wagst, einen von uns zu schlagen, dann bist du unser Freund nicht mehr und hast zu gewärtigen, dass dir die Peitsche wird. Was du mit den Christen machst, darüber wird Gott Richter sein, was du aber mit uns treiben willst, darüber werden wir selber mit dir abrechnen!"
In diesem Moment holte Assir aus und wollte zuschlagen, aber der Wächter war schneller und schlug ihn mit der Faust nieder, sodass Assir besinnungslos hinfiel. Rasch nahm er ihm das Messer und die Peitsche ab, fesselte ihn und sagte zu den Anderen: „Nun liegt es an uns, ob wir den Tyrannen klein kriegen oder er uns. Wenn ihr wollt, liefern wir ihn als Gefangenen der Behörde ab, weil er weit über seine Befugnisse hinausgegangen ist."
Als Assir wieder zu sich kam und sich gefesselt sah, brüllte er vor Wut, aber der Wächter gab ihm einen Stoss und sagte streng: „Wir haben beschlossen, dich nicht mehr als unsern Führer anzuerkennen, da du uns, die wir gleich dir Diener des Tempels sind, behandelst, als wären wir deine Sklaven. Was du mit den Gefangenen machst, konnte uns gleich sein. Da du aber deine Methoden auch auf uns anwenden wolltest, bist du nun unser Gefangener geworden. Wir werden dich dem nächsten Gericht übergeben und Sklavenschändung, Raub und sogar versuchten Mord dir nachweisen können. Darum bleiben wir hier, schicken zwei Boten nach Hazor und verlangen Bescheid, was aus der Karawane mit den Gefangenen werden soll."
Der gefesselte Assir ward auf einen Wagen geschoben und all sein Schreien und Brüllen fand kein Mitleid. Asa, der beherzte Wächter, ging zu Elim, dem Besitzer der Karawane und sagte zu ihm: „Elim, du hast eben erlebt, wie man Tyrannen lohnt! Willst du dich unserer Führung unterstellen, dein Lohn wird dir werden; freilich müssen wir 5—6 Tage hier bleiben, bis ein neuer Führer kommt, der die Befehle ganz im Sinne des obersten Tempelrates ausführt. Assir werden wir den Behörden übergeben, damit er seiner gerechten Strafe zugeführt wird, und in diesem Falle kennt der Tempel keine Rücksicht!"
Elim gab keine Antwort; er wusste, dass bei diesem Transport nun nicht mehr viel zu verdienen war, denn Assir hatte ihm eine grosse Extrabelohnung zugesichert. Ein neuer Wachdienst wurde eingerichtet, allen Gefangenen ward das Los sichtlich erleichtert, aber den Grund konnte niemand erfahren. Joseph und Joram erhielten eine bessere Pflege, dazu aber die Mitteilung, dass ihre Schwester entflohen sei.


Ein Auftrag des Herrn

An diesem für die Gefangenen so schmerzensreichen Tage sah Cornelius, der Hauptmann der römischen Besatzungstruppen in Cäsarea, als er sein Morgengebet verrichtete, plötzlich einen Engel vor sich stehen. Cornelius hatte schon öfter die Gnade, Offenbarungen zu erhalten, und jetzt sprach dieser Gottes-Bote zu ihm: „Cornelius! Der Herr bedarf deiner und lässt dir durch mich sagen: Rüste einige deiner Leute aus und sende sie unter einem treuen Diener nach Hazor und Kedes. Bei Hazor sollen sie drei Boten abfangen, die zum obersten Tempel-Priester wollen, um neuen Bescheid über das Schicksal gefangener Nazarener einzuholen. Diese Boten sind gefangen zu halten, bis sie gewillt sind, deinen Leuten den Weg zu diesem Gefangenen-Transport zu zeigen! Dann sind die Nazarener zu befreien, die Anführer der Karawane aber richte du selber nach euren Gesetzen! Gottes Gnade und Segen sei mit dir!"
Ein Gruss mit der Hand — und verschwunden war der Engel.
Cornelius aber sprach in seinem Herzen: „Herr Jesus! Du weisst, mein Leben gebe ich Dir, so Du es fordern wolltest! So geschehe denn dieser Auftrag ganz in Deinem Sinne."
Dann ging er ins obere Stockwerk zu seinem treuen Freunde Achibald, der aber das Christentum nie so recht annehmen wollte, und sprach zu ihm: „Achibald, heute verlange ich von dir einen grossen Dienst! Höre: ein Engel stand vor mir und überbrachte mir einen heiligen Auftrag meines Gottes, um gefangene Glaubensbrüder zu befreien, die der Tempel in Elend und Sklaverei treiben will!"
„Lieber Cornelius", entgegnete Achibald, „diesen Auftrag soll dir ein Engel überbracht haben? Ich zweifle sehr, aber gern will ich dir dienen - und so bestimme, was geschehen soll!"
Cornelius ordnete nun an: „Nimm 20 Mann, gut beritten und ausgerüstet; nimm Geld für eine Woche, aber wenige Lebensmittel, da ihr in höchster Eile reiten müsst. Zwischen Hazor und Kedes sind drei Boten einer Todes-Karawane abzufangen und zu zwingen, euch zu den gefangenen Christen zu führen. Diese sind sogleich zu befreien; die Anführer aber bringst du gefesselt hierher zum Gericht!"
„Lieber Cornelius, sollte dies alles Wahrheit sein, was dein Engel dir berichtet hat, dann will auch ich an deinen Gott Jesus glauben!", sprach Achibald voll Staunen.
„So gehe mit Gott, und Seine Gnade sei euer Teil", erwiderte noch Cornelius.
Als Cornelius wieder in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt war, kamen ihm doch Bedenken: „Achibald will ein rechter Christ werden, so sich alles bewahrheitet. Wie aber, wenn ich mich dieses Mal getäuscht hätte?" Da sprach eine zarte Stimme in seinem Herzen: „Cornelius, glaube, und du wirst glücklich sein! Auch dein ewiger Vater ist glücklich, wenn Sein Kind Ihm vertraut. Wo aber noch Zweifel entstehen, kann auch Misslingen eintreten."
„Herr! Vergib mir!", sprach Cornelius bewegt, „ich glaube Deinem Wort und vertraue Deiner Gnade. Und heilig sei mir Dein geoffenbarter Wille."
In einer knappen Stunde meldete Achibald sich mit seinen Leuten zum Abreiten bereit. Cornelius sprach zu ihnen: „Höret, meine Kameraden, der Auftraggeber zu dieser Expedition ist Gott, der Ewige! Um Seinen Willen restlos zu erfüllen, gehört bedingungslose Hingabe an dieses Werk. Ich weiss, dass es zum guten Gelingen führt, aber das Gelingen soll mehr auslösen, als nur das Bewusstsein: wir haben unsere Pflicht erfüllt! Darum möge auf aller eurer Tätigkeit Gottes Segen sichtbar ruhen, weil ich nicht der Auftraggeber, sondern nur Vermittler bin. So reitet denn im Namen meines Gottes, der auch der eure ist! Haltet eure Ehre rein und bedenket stets, dass euch Gott gedungen hat! Es sei!"
Achibald gab Befehl zum Aufsitzen, hielt den Arm hoch, und wie eine Windsbraut stürmten sie zum Hof hinaus. Cornelius aber segnete sie mit seiner Rechten: „So reitet im Namen Jesu und seid getragen von Seinem Geist! Damit sich Dein Name verherrliche, Du Grosser und doch so lieblicher Gott!"
Solange er noch seine Leute sehen konnte, hielt er seinen Arm erhoben, dann sagte er zu sich: Wenn wir ins Gefecht zogen, war ich nicht so ergriffen wie dieses Mal! Es muss doch etwas sehr Grosses sein, so man für Gott etwas ausführen darf.


Wie Hilfe naht (als Fortsetzung von Seite 4)

Da die traurigen Ereignisse ein rasches Handeln bedingten, wurden schon im Morgengrauen alle Knechte des Bernhart geweckt, um rasch die Pferde zu füttern und dann den alten Eusebius wieder heimzubringen. „Denn deine Leute müssen wissen, dass trotz deines Unglückes die Wirtschaft richtig versorgt werden muss", schloss Bernhart, und so ritten die beiden Freunde mit vier gut bewaffneten Knechten dem anbrechenden Tage entgegen.
Da die Stallungen des alten Eusebius entfernt vom Hause lagen, konnten seine Knechte ihm gestern keine Hilfe sein; und die Magd war vor lauter Angst gleich geflüchtet. Diese alle wurden nun zu treuem Ausharren ermahnt und dann wurde beraten, wie den Kindern zu helfen sei. „An Gewalt ist nicht zu denken", sprach Bernhart, „obwohl ich römischer Bürger bin. Aber wir können zwei Knechte nach Cäsarea zu Cornelius, dem Besatzungs-Kommandanten, senden und ihn um Schutz und Mithilfe zur Befreiung bitten. Da wir annehmen, dass die Karawane nach Sidon ziehen wird, wollen wir inzwischen auskundschaften, wo sie lagern; und da sie nur einen Tag Vorsprung haben, täglich hinter ihnen herziehen. In spätestens 6—7 Tagen könnte dann mit Hilfe der Leute des Cornelius die Befreiung durchgesetzt werden."
Eusebius hätte am liebsten mitreiten mögen, aber Bernhart wehrte ab, da er in seinem Alter den Anstrengungen des eiligen Rittes nicht mehr gewachsen war. „Aber beten kannst du inzwischen und unser in fürbittender Liebe gedenken. Denn wenn wir jetzt Tag und Nacht diese jüdische Tempelmeute verfolgen, werden wir manchmal keine Zeit zum rechten Beten haben! Und doch wissen wir, ohne des Herrn Beistand ist kein rechtes Gelingen möglich."
Bernhart richtete nun ein kurzes Schreiben an Cornelius und schärfte seinem treuen Knecht Joel den ganzen Sachverhalt gut ein: „Übergib persönlich dieses Schreiben, übernachte nur bei römischen Untertanen und lasse dich unterwegs mit keinem Templer ein, denn keinem Juden kannst du heute trauen! Grösste Vorsicht ist hier am Platze, darum hüte das Geheimnis und sei ein rechter Streiter für die von Leid und Unglück betroffenen Menschen! Bruder Dan sei dein Begleiter. Reitet scharf, aber sorget bei den Pferden für genügend Wasser."
So trennten sie sich; Joel und Dan ritten nach Cäsarea, während Bernhart mit den beiden anderen Knechten und zwei Packpferden den Wagenspuren der Karawane folgte. Gegen Mittag hatten sie den Platz erreicht, wo des Nachts vorher gelagert worden war, doch gönnten sie sich hier nur eine kurze Rast. Dann zogen sie den Wagenspuren weiter nach, bis sie am Abend erschöpft an Ruhe denken mussten. Die ganze Gegend war menschenleer, fast keine Vegetation und vor allem — kein Wasser, um den verbrauchten Wasser-Vorrat in den Schläuchen nachzufüllen. Bernhart verband die Pferde nach militärischer Art zu einem Joch und wickelte eine lange Leine um sich, dass die Tiere sich nicht von ihm entfernen konnten.
So kam die Nacht, leuchtende Sterne grüssten die Erde und wunderbare Stille umgab den einsam wachenden Bernhart. Noch einmal versetzte er sich in das Geschehene, dann fühlte er sich entbunden von allem Irdischen; es war, als eilte seine Seele zu dem, der Himmel und Erde geschaffen, um neuen Zustrom an Kraft und Mut zu empfangen. „O Herr Jesus, Du meines Lebens Sehnsucht, wie musst Du herrlich sein, sobald alles Trennende von uns gewichen ist! Wie trübe aber muss unser Auge noch sein, dass wir von Deiner Herrlichkeit so wenig erkennen! Ich fühle Dich — Du bist bei mir! Aber ich muss blind sein, sonst müsste ich Dich sehen, denn Deine heilige Hand berührt jetzt mein Haar. — O Du mein Jesus! Mein Gott und mein Herr! Nur einen Augenblick lass mich in Dein Auge schauen, dann bin ich gestärkt, und Deine Liebe und Gnade wird mir stets bewusst bleiben!"
Da stand der Herr im weissen Gewand vor dem Bittenden und sprach: „Mein Sohn! Deiner Sehnsucht Bitte konnte Ich nicht widerstehen, darum habe Ich dich berührt, auf dass du Den erschaust, dem du deine Liebe und dein Vertrauen schenkst. Siehe, Ich bin bei und mit euch allen! Und bei allen denen, die nach Meinen Worten leben, soll sich Meine Verheissung erfüllen: dass Ich in ihnen, und sie in Mir sind! Nicht die Erde und alles, was auf der Erde ist, soll das Trennende sein, sondern trennen kann sich nur ein Mensch, so seine Liebe zum Irdischen stärker ist als zu Mir! Nützet Meine Verheissung recht, und der Himmel senkt sich herab zu euch und eurer Erde!"
„Herr, was soll ich tun?", stammelte Bernhart.
„Mir glauben, und alle wahrhaft lieben! Mein Jesus-Geist schafft Erlösung und ein neues Leben in euch! Diesen Geist aber kann Ich dir nicht geben, weil Er geboren werden muss aus deinem Glauben und deiner Nächsten-Liebe! So tue nun nach deiner Liebe um deiner Brüder willen."
Verschwunden war die Licht-Erscheinung, doch froh ward sein Herz. „O mein Gott! Nichts soll mich jetzt hindern, ganz Deinem Willen zu folgen! Ja, lass mich zu einem Bekenner werden und noch vielen Deinen Liebe und Leben schaffenden Geist verkünden!"
Da war ihm, als wenn sich viele Seelen an ihn herandrängten und seinen Gedanken-Worten lauschten — und so sprach er leise: „O ihr unsichtbaren Wesen, habt ihr die grosse Gnade miterlebt, wie Sich der Herr so voll Liebe mir offenbarte? Seid auch ihr durchdrungen von kindlicher Dankbarkeit, dann tragt die Botschaft weiter in eure Sphären, damit der kalte Hauch des Bösen sich ins Wollen für das Gute auflöse! Jubelt mit mir aus vollem Herzen: Gott hat uns lieb! Und seid besorgt um alle Verirrten, damit auch ihnen Rettung naht!"
Bernhart ward wieder in den natürlichen Zustand versetzt und fühlte sich so wohl und frisch, dass sie mit Tagesgrauen schon wieder zum Aufbruch bereit waren. Das Vorwärtskommen war jetzt schwerer, da der Boden am Fusse des Gebirges steiniger wurde. Ein Knecht bemerkte drei Reiter, die ihnen entgegen kamen. Bernhart dachte: „Wie Räuber sehen sie nicht aus, viel Gepäck haben sie auch nicht, folglich reiten sie nicht wochenlang." Dann begrüssten sie sich und er fragte, ob in dieser Gegend wohl Wasser zu finden sei.
Antwortete der eine: „Wir wollen nach Hazor, doch sind wir hier so fremd wie ihr, und an Wasser haben auch wir schon Mangel."
„Nach Hazor kommt ihr aber heute kaum", sprach Bernhart, „denn in zwei Stunden seid ihr erst in der grossen Ebene. Denkt ihr, dass eure Pferde ohne Wasser durchhalten?"
„Sie müssen!", antwortete der Sprecher, „wir hatten weder Gelegenheit, noch Zeit, nach Wasser zu suchen und müssen sehen, wie wir fortkommen!"
„So mag euch Gott helfen!", erwiderte Bernhart, „ich hätte mich besser vorgesehen!" Dann ritten sie weiter.
„Hier stimmt etwas nicht", sagte er zu seinen Knechten, „es ist ja Wahnsinn, ohne Packpferd diese Wegstrecke bezwingen zu wollen. Wir haben es gestern bemerkt, wie durstig wir und die Pferde waren; gediente Soldaten waren es bestimmt nicht."
Der Weg wurde steiler und steiniger; auf einmal stutzte er — dort auf dem Baum hing ein heller Stoffstreifen. Er zog ihn herab, besah ihn und sagte: „Lange hängt dieser Streifen noch nicht hier, es ist ein Stoff, wie ihn unsere Frauen tragen — vielleicht soll er uns etwas bedeuten? Wir müssen aufmerksamer werden, ohne Ursache ist dieser Fund nicht! Ich reite jetzt voraus, und ihr folgt mir erst in Sichtweite."
Der mühevolle Weg forderte vollste Aufmerksamkeit. Nach vielen Stunden hörte er auf einmal Holz schlagen und vorsichtig stieg er ab und liess seine Leute herankommen. „In dieser einsamen Gegend sind Leute im Wald beschäftigt. Wir müssen nachforschen, ob es vielleicht die gesuchte Karawane ist? Darum verlassen wir diese Strasse und gehen rechts in den Wald, damit wir nicht gesehen werden."
Aber bald konnten sie nicht weiter, der Wald war zu dicht, zu steil und für Pferde nicht gangbar. So ging Bernhart allein weiter, dem Schall nach — und plötzlich sah er in ein tiefes Tal, wo Menschen und Tiere bequem lagerten. „Dies sieht nicht aus, als wenn es Gefangene wären", dachte er, und ging unter grosser Vorsicht heran. „Ist es die gesuchte Karawane? Von Joseph und Joram ist nichts zu sehen, auch Ruth ist nicht darunter. Ich muss Näheres erfahren, aber wie? Das mag mir mein Gott eingeben!" Nachdenklich ging er zurück zu seinen Knechten und schilderte ihnen seine Eindrücke. „Was aber könnten wir drei gegen diese vielen Wächter ausrichten? Wir müssen Gewissheit haben und dann zurückreiten, da ich dem Cornelius die Karawanenstrasse Sarechto—Sidon als Treffpunkt angegeben hatte; mit seinen Leuten erst können wir unsere Gefangenen befreien."
So suchten sich die drei einen geeigneten Lagerplatz und stärkten sich an Brot, Feigen und einem Schluck Wasser.
Plötzlich horchte Bernhart auf und sprach leise: „Es muss uns jemand belauschen, ich hörte ein Geräusch — es wäre doch gefährlich, wenn wir von den Lagerposten bemerkt worden wären."
Es blieb aber alles ruhig. Nach einer halben Stunde sprach Bernhart: „Nun wollen wir im Namen des Herrn unser Heil versuchen; einer bleibt hier bei den Pferden, einer auf halbem Wege, und ich versuche, ans Lager heranzukommen. Drei kurze Schreie eines Habichts bedeuten: alles in Ordnung, aber zwei Unkenrufe bedeuten: höchste Gefahr! Dann hilft Einer dem Anderen."
Da stand auf einmal eine Gestalt vor den drei Männern und rief: „O Gott, sei gelobt - und gepriesen sei sein Name! Ich bin Ruth, des Eusebius Tochter, und du bist ja Bernhart, meines Vaters Freund!"
„Ruth! du? Wo kommst du her? Wie bist du aus dem Lager entkommen? Es wird doch bewacht!", fragte Bernhart hoch erstaunt. „Wir sind den Spuren eurer Wagen sogleich gefolgt, als dein alter Vater uns eure Gefangennahme schilderte."
„O gebt mir zu trinken und eine Decke, um meine Nacktheit zu umhüllen", und dann erzählte sie von all den Qualen der Gefangenen und von der Angst, ehe sie im Schutz des Waldes Sicherheit fand. „Als ich merkte, dass ich nicht verfolgt wurde, blieb ich in der Nähe und lauschte all den Vorgängen. Der Anführer Assir ist jetzt ein Gefangener und liegt in seinem Zelt schwer gefesselt. Dieses weiss ich bestimmt, weil sein Brüllen alles verraten hat; aber warum drei Wächter zurückgeritten sind, ist mir unbekannt."
„Gibt es hier Wasser?", fragte Bernhart besorgt. „In reichlicher Menge, aber auf der anderen Seite des Lagers", sprach Ruth. „Dann sind wir dieser Sorge enthoben. Aber wo sind deine Brüder? Ich habe sie nicht bemerkt." „Sie liegen verwundet in zwei Wagen", antwortete Ruth, „aber befreien können wir sie nicht, denn hohe Felswände schützen das Lager."
Bernhart überlegte dennoch einen Plan und fragte schliesslich: „Könntest du nicht ins Lager zurückkehren, um mit offenen Augen alles zu beobachten und deinen Brüdern Aussicht auf Rettung zu bringen? Siehe, wir müssen erst Hilfe holen, denn gegen diese Männer sind wir drei machtlos. Wir haben aber den Hauptmann Cornelius um Beistand gebeten und hoffen durch seine Leute auf eure völlige Befreiung!"
Nach langem, langem Schweigen erst entgegnete Ruth langsam: „Gut, ich werde dieses Opfer bringen, weil Assir ja gefangen ist. Aber wie könnte ich euch nützen, wenn nun morgen früh das Lager aufbricht mit unbekanntem Ziel? Werde ich ruhig bleiben können, so es euch nicht gelingt, zur rechten Zeit mit euren Helfern hier zu sein?"
Bernhart antwortete: „Meine tapfere Ruth! Warum willst du auf einmal zweifeln? Bringe das Opfer und erwecke in deinen Brüdern und all den anderen neuen Mut! Unser Herr und Heiland Jesus wird dieses schwere Werk durch uns zur herrlichen Löse führen, da wir es mit Seiner Hilfe gläubig vertrauend angefangen haben. Und weil ich weiss, Gott hat Seine Hand im Spiel, bin ich völlig sorglos. Sei auch du so ruhig, dir geschieht kein Leid mehr! Siehe, den drei Boten sind wir heute schon begegnet, sie werden neue Befehle in Hazor einholen wollen, was mit der Karawane geschehen soll, da euer Anführer gefangen ist. Es vergehen wohl noch drei Tage, ehe sie zurück sind, und dann sind auch wir wieder hier."
„Lieber Bernhart, den denkbar schwersten Opfergang trete ich jetzt an", sprach Ruth langsam, „wie habe ich Gott gedankt, als ich frei war! Freilich ohne eure Hilfe wäre ich vielleicht verhungert, aber nun die Freiheit wieder aufgeben und in die Hölle zurückgehen? Es ist fast zu schwer."
„Kind", antwortete Bernhart, „wenn es dir zu schwer ist, dann bleibe bei uns, aber wohin sollen wir dich bringen? Denn hier im Gebirge kannst du allein nicht bleiben, da es bestimmt auch wilde Tiere in dieser Gegend gibt."
„So gehe ich schon zurück — für drei Tage! Aber gebt mir ein Messer, damit ich wenigstens eine Waffe habe."
„Tue es, meine Ruth, um des Gelingens willen! Sei versichert, Gott lässt uns Seine reiche Gnade erleben, weil wir eines reinen und guten Willens sind! Denke an das Wort des Meisters, das Er uns hinterlassen hat: ,Alles, was ihr wollt, dass Ich euch tun soll, wird euch werden, wenn es in selbstlos dienender Liebe geschieht.' Denken wir auch an deinen Vater, der so vertrauend um eure Befreiung betet und mit Sehnsucht auf eure Rückkehr wartet!"
„Jetzt weiss ich meinen Weg", sprach Ruth gefasst, „ihr könnt mich ja beobachten, wie ich empfangen werde." Und nach kurzem, innigem Abschied ging sie betend langsam zurück; erst, als ein Feuerschein sichtbar wurde, eilte sie schneller.
Bernhart war ihr gefolgt, er sah vier Wächter am Feuer sitzen, und plötzlich stand Ruth vor ihnen. Diese sprangen auf, erkannten das Mädchen und führten es nach dem Wagen Nr. 2, und da sich weiter nichts ereignete, ging er zu seinen Knechten zurück.


Zeugnisse über Jesu Lehre (Fortsetzung von Seite 14)

Die Knechte des Bernhart, Joel und Dan, waren froh, für ihren Herrn einen aussergewöhnlichen Dienst zu verrichten und ritten unentwegt ihrem Ziel Cäsarea entgegen. Am Abend kamen sie ermüdet an eine grosse Herberge, aus der ihnen lauter Lärm entgegen schlug, denn in der grossen Wirtsstube sassen viele römische Soldaten. Joel ging zum Anführer und fragte nach dem Hauptmann Cornelius, dem er eine Botschaft von seinem Herrn zu überbringen habe.
Achibald horchte gespannt und fragte: „Wer ist dein Herr und um welche Sache handelt es sich? Ich bin Bevollmächtigter des Hauptmanns Cornelius." - „Dann darf ich dir dieses kurze Schreiben übergeben, welches mein Herr, Bernhart mit Namen, mir anvertraut hat, um es dem Hauptmann Cornelius zu überreichen", und damit reichte er dem Römer das Schreiben hin.
Achibald las mit grossem Interesse und liess sich von Joel noch weiteres berichten, dann sagte er: „Ihr braucht nicht mehr nach Cäsarea zu reiten, denn ich habe denselben Auftrag von Cornelius erhalten und wir sind auf dem Wege zu den Gefangenen. Ziehet mit uns und helfet mit am Befreiungswerke, denn Gott Selbst ist unser Auftraggeber."
Der alte Wirt hatte auch zugehört und berichtete noch mancherlei, wie die Templer alle Nazarener mit Gewalt und Willkür verfolgten, dass einem das Herz erstarre. Achibald fragte: „Mein lieber Wirt, bist du auch Christ und durchdrungen von der Wahrheit des Nazareners?"
„Ich bin es", antwortete der Wirt, „an diesem Tische hat der Herr und Meister Selbst gesessen und aus Liebe und Barmherzigkeit meinem kranken Knecht seine Gesundheit wieder geschenkt! Nie werde ich diesen Tag vergessen, denn von dem Tage an bin ich ein neuer Mensch geworden!"
Achibald fragte gespannt: „Aber mein Freund, wie kannst du das mit deinem Gewissen vereinen, da du doch den Glauben deiner Väter damit verleugnest?"
„Nein, Herr, dem ist nicht so", erwiderte der ehrwürdige Wirt, „weil mein Glaube bis zu diesem Tage kein wahrer Glaube war! Ich war blind und habe ohne freien Willen nur getan, was der Tempel alles von uns verlangte. Nun erst ist mir Licht und Klarheit über meinen ewigen Gott und Sein herrliches Wesen geworden und dadurch bin ich jetzt so froh und freue mich, meinem Gott und Herrn täglich dienen zu können."
„Ich danke dir für dein Bekenntnis, denn es erleichtert mir meinen Auftrag", antwortete Achibald. „Es freut mich, so ich von Anderen ein Bekenntnis über Jesus höre, den ich noch nicht kenne."
„Herr", sprach der Wirt noch, „übereile nichts und gehe ruhig deinem Auftrag in den Wegen Gottes nach, denn wo der Herr die Hand im Spiele hat, kann es nur ein gutes Gelingen geben; ist aber eigenes Streben vorherrschend, gibt es auch Störungen. Selig wirst du sein, so du erkennst: dein Gott und Herr hat dich gedungen und dir eine Aufgabe gegeben, die Er schwer einem Anderen anvertrauen konnte! Dazu will ich dich und deine Leute segnen! Du aber gedenke an die Ehre, die dir geworden ist, dass mein ewiger Gott und Vater dich, als Römer, schon Seinen Kindern gleichstellt!"
Achibald war tief ergriffen, dann verabschiedete er sich und gab Befehl zum Abreiten. Stunde um Stunde verrann, die Pferde schritten rasch aus. In Achibald aber zeugten die Worte des ehrlichen Wirtes immer neue Fragen und Gedanken. Bei einer Herberge liess er endlich rasten, und während sich Menschen und Tiere erholten, erkundigte er sich bei dem Wirt über den Verkehr auf dieser Landstrasse.
„Herr", antwortete der ehrfurchtgebietende alte Wirt, „ihr seid Römer und in des Kaisers Diensten - und seit Jahrzehnten betrachte ich euch als Bedrücker und Feinde des Judenvolkes! Nun ich aber das grosse Heil erkannt und mich zu den Bekennern des grossen Meisters und Heilandes Jesu rechne, weiss ich, wer die Bedrücker und Feinde unseres Volkes sind. Wöchentlich ziehen hier Karawanen vorüber, gewöhnlich füllen die Templer ihre Schläuche mit Wasser und auch mit Wein und lassen es sich gut sein, während unsere Brüder und Schwestern schmachtend auf den Wagen liegen. Einmal, als der genossene Wein die Zungen löste, erfuhr ich von einem solchen Satans-Priester, dass man nur junge Männer und Frauen nach der Küste schaffe, weil dort gute Preise für sie zu erzielen sind; alte Männer und Frauen werden gewöhnlich dem Tode ausgesetzt — und warum? Weil sie von den hasserfüllten Spähern und Priestern bei ihren nächtlichen Zusammenkünften überrascht wurden."
Achibald fragte: „Höre, mein lieber Wirt, als Römer habe ich das grösste Interesse an all solchem Geschehen, aber kannst du es auf deinen heiligen Eid nehmen, dass die Templer aus der Verfolgung der Nazarener ein Geschäft machen? Denn zum Sklavenhandel kann nur der Kaiser das Privileg erteilen, der Tempel aber hat meines Wissens keines erhalten. Wohl hat der Tempel das Strafrecht über Verräter und solche, die die Heiligkeit des Tempels verletzen, aber den Tod verhängen oder Sklaven verkaufen, das ist ein Übergriff, der bestraft werden muss!"
„Herr", entgegnete der Wirt, „ich stehe zu meinem Wort, wie ich zu meinem Bekenntnis für Jesum stehe, aber die Templer zu überführen, ist schwer. Besser wäre es, so solche Karawanen abgefangen und nach dem rechtlichen Erwerb der Sklaven nachgeforscht würde - es würde manches Unrecht und manches Verbrechen verhindert werden."
Achibald dankte dem Wirt. Gut zwei Stunden wurde gerastet, dann ging es nach herzlichem Abschied vom ehrwürdigen Wirt in scharfem Ritt nach Hazor. Unterwegs trafen sie eine Karawane, geführt von einem Griechen und einem Juden im priesterlichen Kleid. Achibald liess halten und sich vom Priester über die Waren berichten und forderte Aufklärung über die starke Bewachung.
Zögernd berichtete der Templer, leugnete aber, Menschenware zu haben. Als der Römer Befehl gab, die Waren zu untersuchen, gab der Priester zu, dass er auch Gefangene habe, aber nach Anweisung seiner obersten Tempelbehörde handele.
„Es ist gut", sprach Achibald, „doch warum wolltest du uns belügen? So du nur deine Pflicht erfüllst, bist ja nicht du, sondern der Tempelrat verantwortlich dafür! Kein Römer wird einen Menschen an seiner Pflichterfüllung hindern, ausser er handelt gegen unsere Gesetze! Lass mich mit deinen Gefangenen reden!" Und so befragte er die aneinander Gebundenen nach ihrem Verschulden. Ruhig und gefasst antworteten sie, dass sie Nazarener seien und lieber sterben wollten, als ihren Glauben verleugnen!
Er liess sie von den Fesseln befreien und verhiess ihnen Hilfe. Zu dem Priester aber sprach er ernst: „Danke du deinem Gott, dass diese Menschen dir ein gutes Zeugnis gaben und du nie deine Gewalt benutzt hast, um brutal oder unmenschlich zu sein, darum will ich dich in deinem Dienst belassen. Würdest du mir aber versprechen, bei der ersten Gelegenheit zu lagern und auf meine Rückkehr zu warten, die aber einige Tage dauern kann, würde ich dir einen Gegendienst anbieten, bei dem du gewiss über alle Massen zufrieden sein kannst!"
„Herr, du kommst meinen Wünschen damit entgegen", sprach erfreut der Priester; „mit Widerwillen wird man gezwungen und muss zusehen, wie das Unrecht sich zum Gewalthaber macht. Denn würde ich mich auflehnen, erlebte ich das gleiche Schicksal wie diese hier!"
„Also bleibt es bei unserm Versprechen", erwiderte Achibald, und mit festem Händedruck schieden beide Führer.
Achibald war innerlich erschüttert. Da sehen wir Römer auf Ordnung, haben das Land besetzt, und doch ist dieser Tempel ein Polyp, der seine unsichtbaren Arme überall ausstreckt. „O Du ewiger Gott, ich ahne Deine Grösse! Ich ahne Deine Weisheit und ahne aber auch Deine Fürsorge! O wie würde ich jetzt unglücklich sein, so ich Cornelius beredet hätte, dieser Engelserscheinung nicht so grosse Bedeutung beizumessen. O Herr! Lass mich Dein Werk in Deinem Geiste beenden, damit ich meinen nun gefassten Willen, Dir zu dienen, bekunden kann!" Er hielt an, winkte Joel und Dan zu sich und sprach: „Höret gut zu! Ich muss einige ernste Fragen an euch richten. Es hängt viel, sehr viel für mich von euren Antworten ab. Seid ihr bereit, in allen Dingen mir die rechte Wahrheit zu berichten?"
„Ja, Herr, wenn es dir dient! Verlange von mir, was du willst - nur nicht, dass ich meinen Glauben verleugne, denn ich bin auch Christ geworden!", antwortete Joel mit Bestimmtheit.
„Dein Bekenntnis freut mich und erleichtert mir die Fragen", entgegnete Achibald. „Also, warum bist du Christ geworden? Genügte dir dein Glaube nicht mehr? Und welchen Vorteil hast du nun als Christ?"
Ruhig antwortete Joel: „Herr, ich bin nicht um äusserlicher Vorteile willen Christ geworden, da ich ohnehin in Bernhart einen gütigen Herrn habe. Auch dieser ist Christ mit seiner ganzen Familie! Wenn ich aber zurückschaue, soweit ich nur denken kann, so muss ich bekennen, dass mich mein Leben erst freut, seit ich die Botschaft der grossen Gottes-Liebe gläubig in mein Herz aufnahm.
Meine Eltern waren ehrliche und achtbare Menschen und meine Schwestern waren untertan ihren Eltern, getreu nach dem Gesetz Mosis, bis meine ältere Schwester einen andersgläubigen Mann ehelichen wollte. Von dieser Zeit an erfuhren wir viel Bedrückung von Seiten unserer Tempel-Priester, bis unser Grund nicht mehr uns, sondern den Templern gehörte. Meine Eltern sind aus Gram und Sorge gestorben und wir mussten sehen, in Brot und Arbeit zu kommen. Eben durch Vermittlung der Jesus-Bekenner lernte ich meinen jetzigen Herrn kennen und durch die Art, wie ich und alle anderen Hausgenossen behandelt wurden, wurde ich irre an meinem vergangenen Leben! Ich suchte und forschte, bis ich gefunden habe, was den Menschen wahrhaft glücklich machen kann!"
„Ja, mein Freund", entgegnete der Römer, „lag es nicht an dir, so du in früheren Zeiten nicht so glücklich warst? Bist du nicht vielleicht von der Wesensart deines Herrn etwas angesteckt, dass du jetzt sagst, ich bin glücklich! Wie wäre es aber, so du bei einem Römer, z. B. bei mir in Lohn und Brot wärst, wo Recht und Gerechtigkeit und äusserste Strenge regiert, würdest du dann auch noch so denken?"
„Ja, Herr, immer werde ich so denken, weil die Freude, die mich erfüllt, eine andere ist als früher", entgegnete Joel, „denn diese Freude ist himmlischer Art, weil sie genährt wird von dem Bewusstsein: ich werde getragen von meinem ewigen Gott und Vater, der die grosse Liebe ist und nur Liebe und Gnade sein kann!"
„Gut, mein Sohn", erwiderte Achibald, „wer hat dich unterrichtet von diesen Beweisen der Gottes-Liebe und Gnade?"
Antwortete Joel: „Seine getreuen Zeugen Petrus und Johannes. Nicht nur, dass sie es mit dem Munde bekannten, nein, mit dem Herzen und mit ihrem ganzen Sein, denn Kranke wurden heil, Besessene wieder froh und Suchende wie ich — glücklich! Ich wünsche mir keinen besseren Himmel als wie den, in dem ich jetzt lebe! Denn derselbe macht mir meinen Erdendienst leicht und meine Aufgaben, ob gross oder klein, wertvoll!"
„Ich danke dir", erwiderte der Römer, „denkt dein Begleiter auch so?"
„Im Grunde ja", bekannte Joel, „ob er aber auch in dieser Freudigkeit lebt wie ich, kann ich natürlich nicht bezeugen! Doch liebt er ebenso wie ich Jesum, den Auferstandenen!"
„Dies genügt mir, mein Sohn! Behalte für dich, was ich mit dir sprach, weil ich erst mit mir einig werden möchte. Denn ich fange an, mein Leben nun anders zu betrachten!"
So ritt nun der ganze Tross durch die Sonnenglut weiter und näherte sich der Stadt Hazor. Grössere Anwesen und geschäftige Menschen bekundeten ihren Fleiss und ihre Liebe zu ihrem Grund. Achibald suchte von dem Besitzer eines solchen Grundes Aufklärung zu erhalten, wie er am schnellsten die Strasse nach Kedes erreichen könnte.
„Herr", antwortete der Besitzer, „die ist nicht leicht zu finden, ich werde dir einen Knecht als Führer mitgeben, da gerade das Maultier noch gesattelt ist; ihr spart Zeit und das lästige Fragen."
„Das freut mich sehr, aber ich wüsste nicht, wie ich dir meinen Dank abtragen könnte."
„Von Dank kann keine Rede sein, da ich immer noch ein Schuldner meines Gottes und Herrn bin! Ziehet in Frieden — und Gottes Segen sei mit euch!"
Achibald dankte überaus herzlich; er liess den erhaltenen Führer neben sich reiten und durch kurzes Fragen erfuhr er, dass er selbst, wie auch sein Herr und das ganze Haus Christen seien.
Achibald fragte: „Mein Freund, wie geht es zu, dass ihr euch so frei zu der neuen Religion bekennt? Es ist doch immerhin gefährlich, da der Tempel ein scharfer Gegner der Abtrünnigen ist."
Da wurde ihm zur Antwort: „Herr, wir fürchten den Tempel und seine Priester nicht, da selbige doch nur schwache Menschen sind wie wir! Aber ein Bekenner des Gekreuzigten und Auferstandenen ist ein Wegweiser für viele verirrte und verlorene Seelen. Wäre Christus nicht von den Toten auferstanden, wäre Seine Lehre wohl ohne Kraft und unser Bekenntnis unfruchtbar. So aber sind wir durch die lebendige Hoffnung, eins zu werden mit Ihm, zu Vervielfältigern Seines Lebens und Wortes gemacht worden und sind erfüllt von einer grossen Freude und Kraft! Da ist nichts Gefährliches dabei. Höchstens dass man uns quälen, peinigen oder sogar töten könnte dem Leibe nach, umso mehr aber würden wir entbunden werden von all dem, was uns in der wahren Nachfolge noch hindert!"
„Denkt und spricht dein Herr auch so wie du?", fragte Achibald, „oder ist dieses dein Bekenntnis nur dein eigenes Leben?"
Da schaute der Gefragte Achibald gross an und sprach: „Herr, aus deinen Fragen höre ich, dass du von Christum noch nichts erlebt hast, höchstens von ihm gehört. Wer Ihn erfasst hat mit der Liebe seines Herzens, wird ja ein ganz anderer, ein neuer Mensch, von dem alles Alte, Anerzogene oder Vererbte, welches so viel Plagen, Sorgen und Kräfte-Verluste verursachte, schwindet! Wie wird man froh, nun die Welt, die Menschen, Tiere und Pflanzen ganz anders anzusehen! Es ist, als wenn alles mir zuruft: Komme zu mir, o Mensch, ich brauche dich! Darum wirst du auch verstehen, so mein Herr, ohne zu bedenken und zu überlegen, euch gleich dienend unterstützte, denn im Grunde dient er nicht euch Römern, sondern Gott!"
„Wer lehrte euch dieses alles, da doch Christus längst nicht mehr lebt?", forschte Achibald weiter.
„Wir haben keine Lehrer, da schon lange kein Apostel bei uns war. Aber die Liebe zu unserm Herrn, die wir im freien Dienen an unserm Mitmenschen zu verwirklichen suchen, lässt immer neues Leben in uns erstehen. Darum ist unsere neue Religion ein Leben, das überall der Menschen Elend zu lindern sucht und nach den Ursachen forscht, um dieselben ganz zu beseitigen!"
„Wie lange bist du ein Anhänger des Nazareners?", fragte Achibald noch. „Seit der Heiland und Erlöser mir das Augenlicht wieder gab! Ich war blind durch Anderer Schuld, und seitdem sind fünf Jahre verflossen. Aber ich war undankbar und glaubte, es sei selbstverständlich, dass ein Heiland nur da sei, um zu heilen. Als ich aber später diese meine geistige Blindheit erkannte, suchte ich meinen Helfer an allen Orten, doch kam ich jedesmal zu spät, immer war Er schon weitergezogen!
Vor vier Jahren fand ich Ihn endlich in Bethanien, und dort erst erhielt ich ein rechtes Licht über Sein Wesen, Seine Lehre und Seine grosse Liebe zu allen Menschen. Nichts könnte mir mehr Schrecken einflössen als der Gedanke: Was würde aus mir, so ich Seine Liebe verlieren würde? Ich müsste tief unglücklich werden!" Hier schwieg der Mann. Auch Achibald war tief ergriffen von dem einfachen Zeugnis dieses schlichten Menschen. Still ritten sie weiter, ohne Eile; Hazor blieb links liegen und als sie die Handelsstrasse nach Kedes sahen, hielt der Knecht an und sprach: „Nun könnt ihr nicht mehr fehl gehen. Auf dieser Strasse ist viel Verkehr und an Herbergen kein Mangel; aber nach einer Stunde hören sie auf und ihr müsst euch vorher darauf einrichten, so ihr übernachten wollet. Ja, ich rate es euch, denn dann kommt eine unfruchtbare Ebene, die genau zwischen Hazor und Kedes liegt. Ich kehre nun um, ihr alle aber seid betauet von dem Geiste meines Erlösers und Heilandes Jesus, weil ich durch Seine Gnade euch dienen durfte!" Ein Gruss mit der rechten Hand, und ohne sich umzusehen, ritt der Knecht zurück.
Achibald sprach zu sich: „Bruder Cornelius, wie glücklich musst du sein, solchem Herrn dienen zu dürfen! Doch ich? Ich muss noch blinder sein wie einst dieser einfache Knecht. Welche Gedankentiefen wurden mir enthüllt und welchen Bekennermut musste ich erleben! O Rom, was wird aus deiner Macht und Würde, aus deiner Welt-Stellung, so wir von Christum überwunden werden?" Mit der Hand wischte er über die Augen und sagte dann: „Nicht trübe Gedanken herbeirufen! Wir wollen uns leiten lassen von der Sorge um die leidenden Menschen, die auf unsere Hilfe warten!"
Er hob die rechte Hand, und ein Unterführer kam eilends an seine Seite geritten; da sprach er: „Höre, mir ist, als ob wir hier aufmerksamer beobachten müssten, um die gesuchten drei Boten zu fassen; so reite du scharf voraus und halte einzelne Reiter an, frage nach dem Weg und ihrem Ziel, doch richte es so ein, dass du nicht über die letzte Herberge hinaus reitest, da wir auch an Ruhe denken müssen, und denke vor allem an keine Gewalt!"
„Ich verstehe", gab der Beauftragte zur Antwort, „du wirst zufrieden sein." Ein Schenkeldruck, und fort eilte das Pferd mit der kraftvollen Gestalt.
Achibald dachte wieder an die letzten Worte des Knechtes: „Ich würde unglücklich sein, so ich Seine Liebe verlieren würde!" Wie tief muss diese Liebe gegründet sein! O wenn ich auch solche Gnade erleben dürfte und aus all diesen Zweifels-Gedanken herauskäme! O Cornelius, ich glaube, du wirst deinen Freund Achibald nicht mehr wiedererkennen!
So gingen seine Gedanken nach Cäsarea zurück und gingen wieder zu Jesus, der, im Sinne Achibalds, ein alleredelster Mensch war. „O Jesus, wenn schon Deine Nachfolger und Bekenner so reden, wie musst Du Selbst gesprochen haben!"
Er liess sich treiben, wurde aber dann aufmerksam auf seine Leute, die dem Joel arg zusetzten und ihm die Göttlichkeit seines Meisters abstreiten wollten.
Achibald musste lächeln, als Joel so ruhig und sicher sagte: „Was weiss ein Mensch von Gott und Göttlichkeit, so sein Herz nur an toten Dingen hängt? Und was weiss ein Mensch von der Vielheit der Gaben und der Feinheit des alleredelsten Lebenszuges, so er sich noch nie mit der Einheit in Gott und Seiner alles durchdringenden Kraft beschäftigt hat? Ihr seid Soldaten und ans Gehorchen gewöhnt, gleich welcherlei Art die Befehle sind; habt ihr aber schon daran gedacht, was zuvor im Kopf und im Herzen des Befehlenden voranging? Habt Ihr je an die Verantwortung gedacht, die jeder Befehlsgewaltige übernimmt und übernehmen muss? Über euch steht der Befehlende auch als Richter; aber der Befehlende trägt seinen Richter in der eigenen Brust. So sehe ich es auch in meinem Leben an: Durch Gnade wurde ich zu einem Berufenen und trage nun hohe Verantwortung über mein Tun, doch nur Gott steht über meinem Leben. Weil ich Gott verantwortlich bin, achte ich nun auf mein Leben und Tun, da es mein eigener Besitz, von Gott mir gegeben, geworden ist."
Ein Vernünftiger sprach: „Freund, bedenke, wir sind Soldaten, Willensträger unseres Kaisers und Vertreter seiner Gesetzlichkeit. Es kommt vor, dass wir das Schwert gebrauchen müssen und wir dürfen nicht fragen: verursacht es Leid und Schmerzen? Wie aber, so dein Gott dir geböte, gleich mir das Schwert zu ziehen — und zu töten?"
„O Freund", antwortete Joel, „eben weil der Mensch abgewichen ist von der wahren Ordnung in und aus Gott, bildeten sich solche zersetzenden Zustände. Um nun zu erhalten, was zu erhalten ist, berief er Menschen, welche nach Ordnungen suchen, die der Zersetzung Halt gebieten; und so wurde es notwendig, da Gewalt entgegenzustellen, wo mit elementarer Macht der Vernichtung zugestrebt wurde. Es gelang aber nur zum Teil, weil auch Träger dieser Gewalt von dem argen Geist satanischer Zersetzung eingenommen wurden!
Dies erlebten wir ja an unserem Meister Jesus! Nicht der Tempel, nein, ein Römer (Pilatus) war es, der den Templern den Weg frei machte zum Schalten und Wüten ihres zersetzenden Hasses. Gewiss, Jesus hätte Gewalt gegen Gewalt anwenden können, dann hätte Er aber nur Seine Menschlichkeit bewiesen und wäre heute vergessen! So aber liess Er alle Gewalt über Sich ergehen und stellte Sich mit der ganzen Kraft Seiner Liebe über allen Hass! Damit hat Er den Beweis Seiner Göttlichkeit gegeben, und an dieser Seiner Göttlichkeit wird jede andere Macht zerschellen!"
„Weisst du", sprach der Soldat, „mit dir möchte ich mich länger unterhalten, aber nicht auf dem Rücken unserer Tiere, sondern daheim bei deinem Herrn, der gewiss auch so denkt wie du. Unser Hauptmann ist auch ein edler Mensch, geliebt, aber auch gefürchtet, aber in solcher Überzeugung hat er noch nie zu uns gesprochen."
„Das ist auch nicht nötig", versetzte Joel ruhig, „da das neue Leben aus Gott nie von aussen aufgenommen werden kann, sondern in uns wächst, wie die Liebe zum Anderen wächst. Wenn du aber willst, kannst du ruhig eine Zeitlang bei uns verbleiben, so dein Herr dich frei gibt. Es ist überhaupt überall, wo du hinkommst und Einkehr hältst, eine grosse Nächstenliebe zu finden! Bei uns gibt es fast keinen Menschen, der nicht vom Geist des Erlösers ergriffen wäre. Je mehr die Tempelpriester wüten, je mehr Dieselben Hass und Lüge ausstreuen, desto mehr stossen sie die ihnen noch Treugebliebenen ab. Ich wünschte, ihr Römer würdet diesem gehässigen Treiben endlich einmal einen Riegel vorschieben."
„Wir sind nur Soldaten", antwortete der Mann, „und bekümmern uns nicht um Dinge, die uns nichts angehen. Mich freut es aber ungemein, einmal etwas anderes gehört zu haben, und ich bin dir recht dankbar."


Die drei Boten

In die Herberge des Griechen Hermes kamen drei Reiter auf abgehetzten Pferden und erbaten Speise und Trank und für die müden Pferde Wasser und Futter. Willig gab der Wirt einem Knecht Anweisung dazu und bewirtete die drei in der leeren, kühlen Gaststube. Inzwischen kam auch ein römischer Soldat an und verlangte Wasser für sein Pferd; dabei erfuhr er von dem Knecht, dass diese drei Pferde den ganzen Tag noch nichts zu trinken erhalten hätten. Eine solche Quälerei müsste gerügt werden! „Dies können wir ja sogleich versuchen", sprach der Römer; „jedenfalls sehe ich mir diese Tierquäler etwas näher an."
Er betrat das Gastzimmer, nahm am anderen Tische Platz und erbat vom Wirt einen kühlen Trunk, dann sprach er zu den Dreien: „Von wo seid ihr denn hergekommen, da eure Pferde vor Mattigkeit das Futter verweigern? Das ist unklug und kann euch grosse Mühsale bringen, denn Pferde sind uns hier doch unentbehrlich!"
Antwortete der eine: „Wir handeln nach Befehl und hatten nicht Zeit, noch Gelegenheit, grössere Mengen Wasser mitzunehmen. Unser Auftrag geht nach Hazor; in einer Stunde sind wir am Ziel, da können sich die Pferde schon erholen."
Der Römer sprach ernst: „Ich aber bin ein Tierfreund, und Menschen, die ihre ihnen anvertrauten Tiere quälen, kann ich nicht ungerügt lassen! Woher ihr eigentlich kommt, habt ihr noch nicht gesagt."
„Wir sind in einer Mission des Tempels unterwegs und haben kein Recht, Andere davon zu unterrichten!"
„Wie ihr denkt", antwortete kurz der Soldat, stand auf und ging hinaus, wo er zu dem Wirt sprach: „Wir werden wohl hier Rast halten; du hast doch genügend Futter für 25 Pferde und ebensoviel Leute?"
„Gewiss", versicherte der Grieche, „und wenn 50 Mann kämen, es würde reichen!"
Der Soldat ging auf die Strasse. Von weitem sah er seine Kameraden kommen; ein Zeichen, und in kurzer Zeit war Achibald zur Stelle. „Ich glaube, wir sind am Ziele", meldete er; „es sind hier drei verdächtige Männer eingekehrt, dort, ihre ermüdeten Pferde sind wert, dass man sich für sie interessiert."
Achibald liess sich berichten, und dann betraten beide das Gastzimmer, wo er sich die drei Leute ansah. Doch diese fühlten sich nicht ganz sicher und wollten aufbrechen. „Ich muss mit euch sprechen", sagte Achibald, „da ihr meinem Vertreter die Auskunft verweigert, die er befugt ist, von euch zu verlangen!"
„Wir haben keinerlei Auskunft zu geben, da wir dem Tempel dienen und nur ganz im Sinne unserer obersten Behörde handeln", ward ihm zur Antwort.
„Ganz recht, deswegen werdet ihr von mir auch keinerlei Vorwurf erhalten. Die Art aber, wie ihr mit hilflosen Tieren umgeht, lässt uns vermuten, dass ihr nicht im Sinne eurer Tempelherren handelt. Wir Römer sind die Herren und Hüter dieses Landes - und jede Ungerechtigkeit wird geahndet. Also: wo kommt ihr her? Und welcherlei Auftrag ist euch geworden? Noch frage ich euch als Mensch. Zögert ihr aber oder wollt ihr uns belügen, dann stehe ich vor euch als Richter, laut meiner Vollmacht!"
Die Drei schwiegen; diese Fragen waren ihnen sichtlich unangenehm und eine Ahnung mahnte sie zur Vorsicht.
Achibald ging kurz entschlossen an das Fenster und gab ein Zeichen, sofort kamen drei Soldaten ins Gastzimmer und er gab Befehl: „Bewacht diese Leute gut, ich traue ihnen nicht recht!" Dann fragte er nochmals: „Habt ihr euch besonnen und wollt aufrichtig bekennen, wess euer Amt und Dienst ist?"
Antwortete der eine: „Herr, wir fügen uns, weil ihr die Macht habt, aber ich bitte auch, uns Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Wir sind beauftragt, beim obersten Priester von Hazor Bescheid zu holen wegen eines Karawanenzuges, der auf unsere Rückkehr wartet; hier ist meine Order."
Achibald las, gab das Schreiben wieder zurück und liess sich näheres berichten, dann sprach er: „Euch wird deswegen kein Leid geschehen, doch überzeugen muss ich mich von der Wahrheit eures Berichtes, weil auch ich nach gesetzlicher Anweisung handle. Ihr werdet nicht zum Tempel-Obersten gehen, sondern sogleich mit uns zurückreiten; sind eure Angaben richtig, dann ist es gut; habt ihr mich belogen, dann wehe euch!"
Ein Schrecken legte sich auf ihre Gesichter und die Antwort blieb aus, aber Achibald sagte ruhig: „Überlegt es euch bis morgen früh, bis dahin seid ihr Gefangene!"
Am Abend wurde ihm gemeldet: „Einer von den Bewachten möchte eine Aussprache haben, am liebsten gleich jetzt!" „Bringe ihn her", antwortete Achibald, „aber bleibe solange hier, bis ich fertig bin mit ihm." „Was hast du mir zu sagen?", fragte Achibald streng.
„Herr, antwortete der Tempeldiener, „ich möchte erzählen, was ich bis jetzt noch verschwiegen habe, denn ich sehe ein, dass du, Herr, doch die Wahrheit erfahren wirst, sobald wir das Lager erreicht haben."
„So rede! Doch merke dir, einen Grad von Milde habt ihr euch verscherzt, weil ihr nicht gleich ehrlich gegen mich gewesen seid. Sprich also die reine Wahrheit!"
Nun enthüllte der Bote dem Achibald von Anfang bis Ende das ganze Geschehen und sprach zum Schluss: „So richte du uns nach Gerechtigkeit und handle nach deinen Befugnissen! Wir sind nur Knechte und müssen gehorchen."
„Möchtet ihr ein besseres Leben und ein menschlicheres Dasein führen?", fragte Achibald milder, „denn dieser Gewaltstreich ist ja nicht euer erster und schliesslich auch nicht euer letzter. Vielleicht könnte ich, so ihr wollet, eurem Leben eine andere Richtung geben."
„Herr, für meine Kameraden kann ich nicht sprechen, aber ich möchte lieber heute als morgen fort vom Tempel, denn Gewalt und Grausamkeiten sind ja unser tägliches Erleben. Würde aber einer von uns sich dagegen auflehnen, würde an uns dasselbe vollzogen!"
„Gut, ich will euch helfen", sprach Achibald, „aber ihr müsset auch mir helfen wollen - so hole deine beiden Kameraden!"
Der Mann ging und sprach zu diesen: „Kommet schnell, ich glaube, wir erleben hier ein grosses Glück!" Achibald reichte jedem die Hand und sprach: „Wir können gute Freunde werden, wenn ihr bereit seid, mir den Weg zu zeigen, um dieses grosse Unrecht wieder gutzumachen. Wir Römer sind nicht eure Feinde, sondern nur Feinde all jener Grausamkeiten, die in eurem Lande geschehen. In unserem Schutz kann und darf euch nichts geschehen, aber was denen geschieht, die wissentlich grausam handeln, darüber seid ihr wohl im Bilde. Darum leget euch jetzt ruhig nieder, doch frühzeitig wollen wir zu eurer Karawane zurückreiten."
„Herr, du wirst zufrieden sein", sprach nochmals der eine, „denn ich fühle es, der heutige Tag ist ein entscheidender in unserm Leben!"


Bernhart (Fortsetzung von Seite 18)

Im Lager blieb alles ruhig; die Wächter nahmen es mit ihrer Wachsamkeit nicht mehr so genau und waren gegen Morgen eingeschlafen. So bemerkten sie nicht, wie Elim, der Karawanenbesitzer, leise auf den Wagen stieg, auf dem Assir gebunden lag und zu ihm sprach: „Still sein! Niemand darf merken, dass ich zu dir komme."
Assir aber befahl sogleich: „Mache meine Fesseln los, damit ich mich frei bewegen kann! Konntest du nicht früher kommen? Und was ist überhaupt geschehen? Konntest du mir nicht zur Hilfeleistung beispringen? Oder — was forderst du für meine Freiheit?"
„Du willst recht viel wissen auf einmal und es ist schon besser, du bleibst gebunden, sonst könnte ich vielleicht deine Stelle einnehmen; also dies sei dir mitgeteilt: Asa hat deine Stelle eingenommen und gestern drei Mann fortgeschickt, um Ersatz für dich zu holen. Dann ist auch das geflohene Mädchen wieder zurückgekehrt und zu ihren Brüdern in das Zelt geeilt. Asa aber weiss anscheinend garnichts davon, da die Wächter ihn nicht in Kenntnis setzten."
Assir wollte sich aufrichten, aber die Stricke hielten zu gut. Bittend sprach er: „Elim, bei unserer Freundschaft, du musst mir zu meinem Rechte verhelfen, du weisst, dass du bestimmt keinen Schaden davon hast! Lass mich nur fünf Minuten frei und du wirst sehen, wie die Leute mir wieder gehorchen! Wir müssen fort, auf keinen Fall darf ein Anderer dieses Lager betreten, schon der beiden Männer und des Mädchens wegen!"
Entgegnete Elim: „Das würde dir wohl gefallen, so ich deinen Wunsch erfüllte, und in Sidon würdest du wieder sagen: Elim, fahre ruhig mit deinen Wagen heim, jederzeit kann ich Andere bekommen. Darum stelle ich dir erst meine Rechnung auf: die Hälfte von dem Gewinn und das wiedergekommene Mädchen."
„Die Hälfte ja, aber das Mädchen nicht, die bleibt mir!", antwortete Assir in ohnmächtiger Wut.
„Ist das dein letztes Wort?", fragte Elim mit funkelnden Augen; „überlege dir genau, was du sagst!"
„Lieber verzichte ich auf den Gewinn", entgegnete Assir, „aber das Mädchen bleibt mir!"
„So sollst du weder Gewinn, noch das Mädchen, haben. Lasse dir die Zeit nicht lang werden, vielleicht ist mit Asa besser handeln!", sagte Elim gelassen und verschwand lautlos aus dem Wagen. Assir schrie laut auf vor Wut und suchte sich zu befreien, aber die Fesseln hielten stand.
Um diese Zeit erwachte Bernhart. Doch glaubte er zu träumen, denn vor ihm stand ein fremdes, lichtes Wesen. „Wer bist du?, oder träume ich?", fragte er und griff hin zur lichtvollen Gestalt.
„Versuche nicht, mich zu fassen, denn ich trage nicht Fleisch und Blut wie du, aber um dir dienstbar zu sein, bin ich von meinem Herrn und Gott gesandt und möchte mich meines Auftrages entledigen; er lautet: Bleibet hier in der Nähe dieser Menschen, denn Hilfe ist unterwegs! Ehe Gott der Herr um Hilfe angerufen wurde, hat Er schon Massnahmen dazu unternommen!"
„Was tun wir nun?" fragte Bernhart erstaunt, „Sollen wir zur Rettung der Unglücklichen nicht etwas unternehmen?"
„Glauben sollst du, dass dein Gott alles so führt, dass ihr alle euch freuen könnt!", antwortete das lichte Wesen. „Alle eure Gebete und die vielen Tränen jener Armen sind bis in die höchsten Himmel gedrungen. So ist es erklärlich, dass auch alle Kräfte dort angespannt sind — zur herrlichen Löse!"
„So hätten wir ruhig zu Hause bleiben können?", fragte Bernhart verwundert, „und hätten nur im Beten und Fürbitten anhalten sollen, um den Herrn zur Hilfe zu bewegen?"
„O nein, da irrst du sehr, mein lieber Menschenbruder", erwiderte der Engel, „durch dein ernstes Bemühen und durch deinen Tat-Willen hast du ja den Geist wahrer Nächsten- und Gottes-Liebe in dir entbunden! Nun bedarf es nur noch der Erprobung, ob dein Tatwille deinem Mitleid oder dem wahren Innen-Leben aus Gott entsprungen ist. Bei allen deinen Bestrebungen, die zur völligen Ausreife des in dir wohnenden Gottes-Lebens dienen, kommt immer nur der wahre Grund deiner Absichten in Frage, da Gott in Seinen Kindern ja Sein eigenes Leben ausreifen sehen will! Bist du in dir schon eins mit Gott, dem Ewigen, dann bist ja nicht mehr du das Wollende; sondern: Sein Erlöser-Geist drängt in dir zur helfenden Tat! Siehe, wir stehen euch mit unserem Einfluss bei und haben das allergrösste Verlangen, jenen verderblichen Fluch entsündigen zu helfen! Aber unsere Hilfe kann erst Hilfe sein und werden, so der wahre, lebendige Glaube bei euch vorhanden ist! In dem Augenblick, wo der kleinste Zweifel deiner Brust entsteigt, hinderst du uns - und die Kraft eurer Gebete ist geschwächt. Um des grössten Werkes willen — glaube und vertraue! Damit das, was verflucht ist, sich in Segen umwandeln kann. Der Segen Gottes sei mit dir!"
Finster war es wieder um ihn; wie in Nichts war die Erscheinung zerronnen, aber die Worte blieben und wurden in ihm immer lebendiger. „O Du gütiger Gott und heiliger Vater aller Deiner Kinder! Glauben will ich und glauben werde ich an Deine All-Liebe, an Deine Erbarmung und an die Gnade, die ich wiederum erlebte! Stärke Du mehr und mehr meinen Glauben, damit ich endlich zu dem ausreife, was Dein Erlöser-Geist in mir sehen möchte! Hilf mir, das Rechte zu finden und stehe mir bei, damit ich ganz in Deinem Sinne handle! Für Deine gefangenen Kinder aber bitte ich um Deinen Vater-Segen!"
Da erschallten vom Lager her Wutschreie; Bernhart wurde dadurch in seiner Andacht gestört und schon wollte sich etwas in ihm regen, was seine frohe Stimmung sehr beengte. „Mein Jesus! Was soll ich hier tun? Ich fühle mich so hilflos jenem Hass-Geiste gegenüber, dass ich direkt ängstlich werde, obwohl ich weiss: Du bist bei mir!" In ihm wurde es wieder ruhiger und da der Tag graute, weckte er seine beiden Knechte und berichtete ihnen das am frühen Morgen Erlebte. „Wir müssen nun hier bleiben und abwarten, darum ist Sorge zu tragen, dass unsere Pferde vor allem frisches Wasser bekommen. Wie Ruth sagte, sei auf der anderen Seite Wasser, also müssen wir uns mit unseren Pferden dahin begeben. Vor denen, die das Lager bewachen, brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn Gott ist ja mit uns!"
So wurde der Ort verlassen und nach einer Viertelstunde Weges rieselte eine kleine Wasserrinne in ein sumpfiges, von hohen Bäumen umgebenes Wiesenland. Abseits von der grossen Karawanenstrasse suchten sie sich ein Lager und als alles geordnet war, wurde dankbaren Herzens ein Frühmahl mit Brot, frischem Wasser und einigen gedörrten Datteln gehalten. Bernhart besprach nun mit seinen Knechten, einen Wachdienst einzurichten, um das Lager stets zu beobachten. Er selbst ging als erster und fand einen Felsenblock, von dem aus er ungestört alles übersehen konnte.


Der grosse Sehreck

Im Lager wurde es lebendig; Männer und Frauen gingen umher, es war ein Bild des Friedens. In der Mitte des Lagers war man um das Feuer bemüht, und nach längerer Zeit ertönte ein Pfiff, darauf kamen die Männer und dann die Frauen mit Schüsseln, um ihre Suppe zu holen. Auch Ruth kam hoch erhobenen Hauptes und bekam ihre Töpfe gefüllt, und alles geschah mit einer gewissen Ruhe und Sicherheit. Dann sah Bernhart, wie die Männer mit Geschirr fortgingen, wahrscheinlich um Wasser zu holen, und das Lager war wie ausgestorben.
Plötzlich hörte man wütende Rufe — Assir raste unter die Dagebliebenen und drohte mit der Peitsche! „Wo ist Asa?", brüllte er die Leute an, „wie könnt ihr wagen, gegen mich zu sein? Redet, oder ihr fühlt die Peitsche!"
Ängstlich duckten sich die Leute, keiner sagte ein Wort; in diesem Schweigen aber kam Assir etwas zur Besinnung und sagte nun ruhiger: „Leute, höret zu! Ich will vergessen, was ihr mir angetan habt; auch will ich dahin wirken, besseren Sold für euch zu erhalten, aber ich verlange Gehorsam! Asa muss fort, weil er euch veranlasste, treulos gegen mich zu werden. Wo ist er hin?"
„Zum Wasserholen sind die Männer fortgegangen, denn das vorhandene geht zu Ende", wurde ihm zur Antwort. „Das Wasser ist schon hin?", fragte Assir entsetzt, „dabei sind noch fast acht Tage zu rechnen, ehe wir nach Sidon kommen. Warum laufen überhaupt die Gefangenen so frei herum? Sie können fliehen und niemand merkt es! Das erste, was getan werden muss, ist die Fesselung der Gefangenen!"
„Ich würde es nicht tun", entgegnete ein Wachmann, „die armen Menschen sind ja so froh und dankbar, so wir sie nicht quälen! Das erste, was Asa tat, war, er redete gut mit den Gefangenen und versprach, sie wie Menschen zu behandeln, und nicht die geringste Arbeit hatten wir gestern mit ihnen. Ist es denn so schwer, menschlich zu sein? Dir geht ja nichts ab von deiner Würde als Priester und als Führer dieser Todes-Karawane!"
„Das verstehst du nicht", sprach Assir, „nur weil ihr gegen mich eingestellt seid, ist euch auf einmal nichts mehr recht."
Grollend wandte er sich ab und schaute in die Zelte, als aber die Gefangenen den Assir sahen, waren sie plötzlich ganz verstört. Assir freute sich über ihr Erschrecken, dann ging er in das Zelt, in dem Joseph, Joram und Ruth weilten und musste sich wundern, dass diese sich nicht vor seinem Anblick fürchteten. Spöttisch fragte er: „Na, du Flüchtling, hier bist du ja wieder! Der Hunger hat dich wohl wieder zurückgetrieben?"
„Nein", antwortete Ruth stolz, „sondern weil ich meine Brüder nicht verlassen wollte!"
„Ich denke, dass es von meinem Willen abhängt, wo du bist! Glaube ja nicht, dass ich meine Ansprüche an dich aufgegeben habe."
Da sprang Joram auf und drohte: „Aber jetzt hinaus aus diesem Zelt! Wenn du mich auch bald totgeschlagen hast, ein zweites Mal geschieht es nicht! Dass du es weisst: es könnte auch der Spiess umgedreht werden! Nur ein Wort an meine Leidensgenossen und du wirst von uns bewacht! Ich weiss, dass Elim dich freigemacht hat. Ich weiss, dass ihr gehandelt habt um Ruth. Ich weiss aber auch, dass Gott wacht und deine Verbrechen gesühnt haben will! Darum verlasse uns, sonst rufe ich alle Mitgefangenen zum Kampf gegen dich auf."
Und so verliess Assir das Zelt und sprach zu Elim: „Die drei können uns gefährlich werden, sie wissen, dass du mich freigemacht hast, und dass das Mädchen der Preis sein soll!"
Elim aber lächelte höhnisch und sagte: „Mein Freund, es geht nicht um mich, sondern um dich! Bringe mir das Mädchen und ich erfülle dir jeden Wunsch! Wenn nicht, stelle ich mich auf die Seite der Gefangenen, und das übrige kannst du dir denken."
„Also auch du", sprach ganz erbost Assir, „bist auf die Seite meiner Feinde getreten? Das wirst du teuer bezahlen müssen!"
„Nicht teurer wie du", spottete Elim, „entweder du erfüllst dein Versprechen oder ich handle nach eigenem Ermessen. Du bist ein Teufel, ich nicht minder; aber du sollst erleben, dass ich doch noch ehrlich handeln kann. Um dir aber zu beweisen, dass der alte Elim ein ehrlicher Mensch sein kann, hole ich mir die Drei in mein Zelt und auf meinen Wagen. Willst du mich hindern, versuche es; jetzt reut es mich, dich befreit zu haben!"


Elim

Elim liess Assir stehen, ging zu den Geschwistern und sprach: „Ich komme eben vom Assir, der voll Gift und Galle gegen euch ist. Darum möchte ich euch in meinen Schutz nehmen. Es reut mich gewaltig, ihm zur Freiheit verhelfen zu haben."
Sprach Joram: „Du bist Elim und nicht viel besser als Assir! Wir werden deinen Schutz nicht annehmen, da wir ihn nicht gebrauchen. So dich aber deine Handlung reut und du uns dienen willst, so halte dich von Assir fern und vergiss, dass du Ruth, meine Schwester, als Lohn für dein Verhalten ausgehandelt hast! Wir sind Christen und können nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern wünschen, dass auch du, so du vor einen Richter gestellt wirst, in Ehren bestehen kannst. Wir wollen vergessen, was du vorhattest und vergeben dir deine Torheit. Um aber Freunde zu werden, musst du versuchen, solche Verbrechen zu verhindern und deine Goldgier bezähmen. Siehe, du wunderst dich, dass ich dies alles weiss? Ich weiss aber noch mehr und zwar: dass Jesus Christus uns erretten und von euch Rechenschaft fordern wird!"
Elim war wie stumm; nach längerem Schweigen erst sprach er: „Du magst Recht haben, aber kann ich dafür, dass ich von meiner frühesten Jugend an in solchen Ansichten erzogen bin und nichts anderes kenne als handeln und verdienen. Von Jesus habe ich nicht viel Gutes gehört, denn dass Er den Tempel hasste und seine Diener beseitigte, war doch bestimmt verwerflich. Viele frommen Juden hat Er zu Abtrünnigen gemacht und das soll etwas Gutes sein? Ich fürchte Ihn nicht! Ich kenne Ihn nur als Aufrührer - und an Seine Auferstehung glaube ich nicht!"
„Elim, du sprichst wie einer, der nichts Besseres weiss", erwiderte Joram, „darum verzeihe ich dir! Würdest du aber erleben, was wir erlebt haben, würdest du vielleicht deine Meinung ändern. Wir jedenfalls haben vom Tempel zu Jerusalem und seinen Dienern noch nie etwas Gutes erlebt und der Hochmut und die Habsucht der dortigen Priester ist fast nicht zu beschreiben! Nun wir durch Christum Jesum die Wahrheit über Gott und sein ewiges Wort empfangen haben, sind uns auch die Augen aufgegangen über das Haus Jehovas und seine getreuen Diener. Das beste Zeugnis aber hat mir der Priester Assir auf meinen Rücken geschrieben und solange ich diesen Leib trage, kann es mir keine Kunst der Erde wieder abnehmen. Und nun frage ich dich, kannst du mir einen Fall nennen, wo ein Christ so gehandelt hat wie Assir an mir? Ich verlange nicht, dass du ein Christ wirst, denn du kannst es nicht, weil sich dein ganzes Inneres wehrt, Jesum als den Messias anzuerkennen. Aber so du an Moses glaubst und seine Gesetze als Gottes-Gesetze anerkennst, warum richtest du dich dann nicht darnach? Wir Christen leben nach der Lehre Jesu und Seinen Liebe-Gesetzen!"
Aus dem Lager ertönten laute Rufe; Assir hatte die zurückkehrenden Wasserholer kommen sehen, ging eilends auf sie zu und schalt nun Asa, das Lager ohne genügend Schutz verlassen zu haben.
„Wer hat Assir befreit?", fragte Asa erregt die Zurückgebliebenen. „Ist das die Treue, die ihr mir gelobt habt, bis wir einen neuen Truppführer haben?" Und zu Assir gewendet, sprach er: „Dir leisten wir keinen Gehorsam mehr, denn du hast Missbrauch getrieben mit deiner dir verliehenen Macht!"
„Asa schweige!", drohte Assir, „du bist der Störenfried und wirst dich vor dem Rat zu verantworten haben! Du hast deinen Eid gebrochen und die vom Tempel Beauftragten zur Untreue bewegt. Wenn du schon vor mir als Mensch keinen Respekt mehr haben konntest, so musstest du aber den Priester in mir achten, als Beauftragten des Tempelrates, und dieses hast du vergessen!"
Asa, dem diese Wendung zu überraschend kam, war natürlich dem Assir nicht gewachsen. Und da er zugleich die Unentschlossenheit seiner Kameraden sah, fragte er sie ernst: „Wer von euch bekennt sich zu seinem Eid? Und wer von euch will aufrecht erhalten, was wir beschlossen hatten?"
Keiner sagte ein Wort - und ein Blick auf Assir sagte ihm: es ist vergeblich, noch etwas zu erwidern. Er sah ein, Assir hatte durch die Einfalt der Anderen gesiegt und so sagte er zu ihnen: „Ich entbinde euch von dem mir gegebenen Versprechen, obgleich ihr es sicher bald bereuen werdet!"
Assir sprang hin zu Asa und schrie: „Schweige, sonst machst du dich des Aufruhrs schuldig! Ich habe dich nicht zu richten, aber das Lager steht dir offen, du kannst gehen, wohin dich dein Sinn führt."


Asa's Umkehr

Asa ging nach dem Zelt des Elim, der tief erschrocken diesen Vorgang beobachtet hatte und ganz zerknirscht sagte: „Dein guter Wille hat auch dir einen Streich gespielt, wie er mir einen gespielt hat, denn ich habe Assir befreit."
Nun kannst du auch die Folgen tragen", entgegnete ihm Asa, „ich fürchte, grausam wird er sich rächen! Gib mir ein Maultier, dass ich das Lager verlassen kann, ich fühle mich nicht mehr sicher!" Elim aber bat: „Bleibe lieber in meiner Nähe, wir warten das Weitere erst ab." Und so geschah es.
Der Tag verging langsam, die Christen erhielten wie früher ihr Essen und im Lager herrschte wieder der alte Geist. Assir war innerlich voll Hass; äusserlich aber ruhig und schickte die Leute mehrmals nach Wasser, bis der Vorrat wieder aufgefüllt war, dann ging er zu Elim und sagte ganz freundlich: „Also, lieber Elim, ich wäre wieder soweit, dass wir ans Abbrechen denken können; hier können wir nicht länger liegen bleiben!" Elim sprach kalt: „Spanne ruhig deine Gefangenen an deine Wagen, meine Tiere jedenfalls nicht, über die habe ich das Eigentumsrecht. Löse dein Versprechen ein und ich stehe weiter zu Diensten. Zu diesem Mädchen aber verlange ich noch die beiden Brüder hinzu, dies ist mein letztes Wort!"
„So? Und ich sage dir: morgen früh stehen deine Wagen abfahrtbereit; wenn nicht, wirst du gezwungen werden!", entgegnete Assir. „Du scheinst vergessen zu haben, welchen Gehorsam du dem Tempel schuldest!"
Antwortete Elim mit innerer Ruhe: „Da hast du Recht, aber du scheinst dich in einen gewaltigen Irrtum verstiegen zu haben und bildest dir ein, du seiest der Tempel. Nein, Assir, ein Räuber bist du und Lügner zugleich. Wie hast du heute morgen gebettelt, ich solle deine Fesseln lösen; einen heiligen Eid hast du geschworen, doch jetzt, wo du frei bist, zeigst du deinen wahren Charakter. Gehe, sonst rufe ich meine Knechte!"
„Versuche es!", zischte Assir, „meiner Leute bin ich wieder sicher! Willst du es wirklich darauf ankommen lassen und mir Trotz bieten? Du weisst, mein Arm reicht weit, und dies alles um dieses Mädchens willen?" Assir ging, er wusste, er hatte gewonnenes Spiel.
Als die Sonne sich neigte, umzog sich der Himmel, schwarze Wolken jagten schnell vorüber und endlich entlud sich unter Blitz und Donner und strömendem Regen ein schweres Gewitter. Assir war voll Furcht in das grosse Zelt der Gefangenen geeilt, die in den Ecken hockten und um Schutz und Beistand beteten. Leicht wäre es ihnen gewesen, ihren Peiniger jetzt zu überwältigen, er wusste es, aber ihre lange Haft hatte sie völlig mutlos gemacht.
Als das Gewitter sich verzog, alarmierte Assir sofort seine Leute und liess alle Männer wieder fesseln, zum Dank, dass er unbehelligt blieb. Elim kam mit seinen Knechten und holte die drei Geschwister in sein Zelt, er war besorgt um sie, die ihm verzeihen konnten. Assir sagte nichts. Ich kann warten, dachte er, in Sidon ist Abrechnung! Die Geschwister fanden den Asa in dem geräumigen Zelt, und Ruth fragte, warum er sich vor Assir versteckt halte. Mit kurzen Worten erfuhren sie die Wahrheit darüber und so sagte Joram: „Du warst wie ein Freund zu uns, darum erfahre, dass wir wissen: unsere Freunde sind schon auf dem Wege, uns zu befreien! Rufe doch Elim herein, dass wir die Sache besprechen und keine unnötige Aufregung entstehe."
Elim kam und wurde auch eingeweiht, doch gebeten, vorläufig in alle Wünsche Assirs willig einzugehen. „Es können höchstens noch 2—3 Tage vergehen, dann ist Hilfe und Erlösung da. Nötig ist nur, da Assir vom Wege abweichen wird, ein Verbindungsmann; es kann aber auch sein, dass einer unserer Freunde in der Nähe ist und das Lager beobachtet."
Sprach Asa: „So könnte ich das Lager still verlassen und Umschau halten. Wie nennt sich dein Freund?"
„Bernhart ist sein Name, und ist ein grosser Menschenfreund! Suche ihn in Richtung der Wasserquelle. Findest du niemand, so ist für uns die Hoffnung grösser, denn dann sind alle auf unsere Rettung bedacht."
Eilig entfernte sich Asa, denn nach der Elim-Seite hin waren keine Wächter aufgestellt. Nützen wollte er die Zeit, ehe es ganz finster wurde und bemerken würde Assir sein Fehlen ja auch nicht. So eilte er vorwärts, auf einmal wurde er von zwei Männern angehalten; es war Bernhart und ein Knecht, die das Lager scharf beobachteten. „Wohin des Weges? Es geht auf die Nacht zu!" „Bist du Bernhart, den ich suche?", fragte Asa froh. „Ich gehöre zu denen im Lager, bin aber glücklich ausgeschieden; ich muss aber wissen, wer ihr seid!"
„Ja, ich bins", sprach Bernhart, „wir lagern ganz in der Nähe und hoffen auf baldige Hilfe. Der Wüterich ist ja wieder im Besitze seiner Allgewalt, da ist mir eigentlich bange um Ruth." „Nicht nötig", antwortete Asa, „wenn du willst, hole ich euch das Mädchen und auch ihre Brüder, aber so bald Hilfe kommt, wäre es für euch eine unnötige Belastung."
Sagte Bernhart: „Daran erkenne ich, dass du uns Freund bist. Aber wie wäre es, so wir im Lager das Gastrecht in Anspruch nehmen würden? Wir wären da und könnten mit offenen Augen und Ohren Dinge gewahren, die uns vielleicht dienlich sind." Sprach Asa: „O Freunde, ich rate nicht, denn Assir ist misstrauisch und habsüchtig. Er hätte keine Ruhe, so er nicht euer ganzes Gepäck durchforscht hätte. Ich bin der Meinung, ihr verlasset euren Späherposten, lagert hinter dem Lager und folget morgen früh dem Karawanenzug. Es muss den Anschein haben, als wisst ihr garnichts von diesem Lager, die Posten bewachen ja nur die Gefangenen. Sollte Gefahr im Anzüge sein, so werdet ihr durch den Lärm sowieso gewarnt."
Sprach Bernhart noch: „So kehre zurück und verkünde ihnen die Freude: Gott, der Herr, ist um eure Rettung bedacht!"
Lautlos bewegte sich Asa wieder zurück. Die Feuer loderten auf von dem Holzstoss in der Mitte des Lagers und so sah er, wie Assir um die Zelte des Elim herumstieg. Er verhielt den Schritt und war neugierig, was derselbe eigentlich wollte. Asa erschrak, die drei Freunde waren sein Ziel, sie könnten sich verraten. Und schnell ging er dem Lager zu, doch so, dass er bemerkt werden musste. Assir schaute hin und fragte laut: „Wo kommst du her? Was hast du im Walde zu suchen?"
„Nichts, das dich angeht", entgegnete Asa kühl, „doch ich weiss, warum du hier herumspionierst: du möchtest das Mädchen überwältigen! Aber nun bin ich ihr Wächter, da ich in Elims Dienste getreten bin."
Assir wandte sich stolz um und ging zum Feuer. Asa meldete im Zelt: „Ich bin wieder zurück und habe euren Freund Bernhart getroffen! Er lässt dir, Ruth, sagen: Gott, der Herr, ist bedacht auf Rettung!"
„O Gott! Sei gelobt und gepriesen! In mir wollte schon wieder Angst aufsteigen, aber nun will ich ruhig sein — und glauben!"
Asa sprach: „Schlafet ruhig, ich wache! Und sollte der Schlaf mich überwinden wollen, dann wecke ich einen von euch, wach muss einer sein! Und hier sind zwei Schwerter für den Notfall, die ich mir schon am Nachmittag besorgt habe. Ich traue dem Fuchs nicht. Und nun schlafet, dieweil ich wache!"
Asa setzte sich vor das Zelt und hatte nun Zeit, über sein früheres Leben und seine Zukunft nachzudenken: „Was war mein Leben im Dienste des Tempels und der Priester? Ein Verhärten meiner Gefühle und Empfindungen! Und wie stehe ich nun vor mir? Wie ein verdorbener Mensch, der nicht wert ist, geachtet zu werden! Wo wird meine Mutter und meine Schwester sein? Seit Jahren bin ich von ihnen getrennt. O Gott, gibt es für solch verirrte Menschen auch noch Hilfe und Errettung? Wie musst Du, Gott, Deine Gläubigen lieben, wenn Du ihnen sagen lässt, Du seiest bedacht auf ihre Rettung! Ich glaube, Du, Gott, bist überall, nur nicht in Deinem Tempel und den Synagogen. O wie müssen Dich jene Gefangenen lieben, wenn sie sogar ihr Leben für Dich aufs Spiel setzen!"
Im Lager war inzwischen vollständige Ruhe eingetreten, da hub ein Singen an aus einem Zelte, in dem die Frauen schliefen. Dies klang so schön, so lieblich, wenn auch die Worte nicht verständlich waren, aber die Töne drangen ihm so ins Herz — er musste weinen. Dann schaute er empor zum Sternenzelt, welches in wunderbarer Pracht leuchtete und strahlte, und dachte: „O Gott! Für wen hast Du eigentlich dies alles geschaffen? Für die Menschen wohl nicht, denn wie wenig achten sie auf die Schönheiten Deiner Werke!" Immer mehr vertiefte er sich in die Geheimnisse, die Gott und Seine Schöpfung umgeben; aber plötzlich konnte er nicht weiter denken; denn die Gegenwart, in der er lebte, war zu schrecklich.
„Herr, alles atmet Friede, die Sterne, die Natur, nur die Menschen nicht! Warum nur lässt Du ihre Schlechtigkeiten zu? Deine eigenen Kinder, Deine Dir Getreuen sind die Leidtragenden dabei! O gib mir Aufschluss! Wenn ich nur an den Assir denke, bin ich am Ende meines Glaubens an Dich!"
Er stand auf, ging um das Zelt, schaute hinein und sah, dass die drei nicht schliefen, so sprach er: „Wenn ihr nicht schlafet, könnten wir uns in dieser herrlichen Nacht vor dem Zelt unterhalten, denn ich bin nun schon so weit gekommen, dass ich an Gott zweifeln muss!" Diese horchten auf und wunderten sich, Asa so reden zu hören. Vor dem Zelt sitzend, sprach Joram: „Lieber Freund, dein letztes Wort sagt uns, dass du in einen Konflikt mit dir selbst geraten bist, indem dein stilles Verlangen nach wahrem Frieden dich das Unstete deines bisherigen Lebens empfinden lässt."
„Du nennst mich Freund?", fragte Asa erstaunt, „und ich war dir doch Feind!" Und bewegt erzählte er, wie eine innere Umkehr in seinem Denken stattfinden wollte, dann aber vor seinen Gedanken eine dunkle Wolke stand. „Sehet, alles in der Natur ist erfüllt von Frieden, Ordnung und Schönheit; alles verkündet die Weisheit eines grossen, wunderbaren Schöpfers! Als ich aber mich betrachtete, die ganzen Bilder der letzten Woche, ja Jahre, vor meinen Augen abrollen liess, da musste ich mir sagen: Bei den Menschen trifft dies alles leider nicht mehr zu, denn sie trachten nur darnach, ihr Leben schöner zu gestalten, auf Kosten so vieler Leidtragender! Wo ist da Gott? Wo bleibt Seine Weisheit? Seine Allmacht? Ich bin am Ende, weiss keinen Ausweg mit meinen Gedanken und möchte doch nicht, dass dieses mein Leben so weitergehen soll."
„Lieber Freund Asa, es ist gut für dich, so dich solche Gedanken bewegen; dies ist der Beweis, dass Gott um dich wirbt und dich mit Seinem Geist umgibt. Was du suchst, haben Tausende vor dir schon gefunden! Sie haben redlichen Herzens nach einer befriedigenden Antwort gesucht und hüten nun still das ihnen Offenbarte wie ein Heiligtum! Nur eines möchte ich dir sagen: du beurteilst alles nach dem Schein, aber nicht nach dem Sein. Du hast Kenntnis von Gott, aber kennen tust du Gott nicht. Du stossest dich jetzt an Wirkungen, aber du magst nicht nach den Ursachen forschen! Siehe, mein lieber Freund: es würde jedes Wort nutzlos sein, so du mir nicht glauben könntest. Frage dich aber selbst und erforsche dich, ob du mir glauben kannst. Auch wir Bekenner Jesu haben uns erforschen müssen, ob wir Ihm glauben wollen. Siehe, einem Menschen voll von Irrtum, Irrlehren und verkehrten Begriffen ist schlecht predigen. Es würde uns ergehen wie einem Landmann, der einen neuen Acker kaufte und beim Umackern gewahrt, dass derselbe voll Unkraut ist. Würde der nicht ein Tor sein, der in diesen Acker guten Weizen legen würde? Er würde sich sagen: ich muss erst den Acker von dem Unkraut reinigen und darum den Weizen für das nächste Jahr aufsparen.
So geht es auch mir — mit dir. Dein Herz ist voll von Irrlehren und falschen Begriffen; es befriedigt dich nichts mehr, und du möchtest jetzt den letzten guten Gedanken an Gott noch vernichten. Jedes Wort von mir, wie wahr es dir auch augenblicklich erscheint, würde bald von dir in Zweifel gezogen, weil dein alter Mensch sich nicht erneuern lassen will! Wohl oft hättest du Gelegenheit gehabt, der Wahrheit tiefsten Sinn zu erfassen, aber du wolltest es ja nicht! Der Antrieb, dich selbst ernstlicher zu erforschen und das dir Fehlende zu ergänzen, wird dir aber nicht recht gelingen, so du nicht an Gott und Seinen alles durchdringenden Geist glauben willst."
Sprach Asa: „Ich habe dich gut verstanden, den letzten Satz aber: ich solle an Gott und Seinen alles durchdringenden Geist glauben, kann ich nicht erfassen, denn wie sollte ich an Gott glauben können, den mir die seinwollenden Gottesdiener raubten? Wenn Gott nur etwas von Seinem alles durchdringenden Geist Seinen berufenen Dienern offenbart hätte, müsste ich etwas davon im Tempel erlebt haben!"
„Lieber Freund, du bist verbittert", entgegnete Joram, „bedenkst aber nicht, dass doch so mancher ehrliche Gottesdiener seine Pflichten und Aufgaben treu und gewissenhaft erfüllte. Denke zurück, was du über den letzten Hohenpriester Zacharias gehört hast. Diesem Menschen war es gegeben, nicht mehr aus sich, sondern nur aus dem alles durchdringenden Geiste aus Gott zu reden! Dieser Hohepriester, der Letzte seiner Art, verkehrte oft mit Engeln, wie wir jetzt untereinander verkehren und holte sich bei ihnen Rat. Es gibt auch heute noch viele Menschen, denen Gott das Höchste und Liebste bedeutet — und warum? Weil sie sich durchdrungen fühlen von einem ganz neuen Leben aus diesem göttlichen Geiste!
Du wirst nun fragen: Was ist denn dieser Gottes-Geist eigentlich? Dieser Geist aus Gott ist das alles Sein durchdringende und alles Sicht- und Unsichtbare umschliessende geistige Leben. Dieses Gottes-Leben umgibt uns wie die Luft uns umgibt, unsichtbar, und doch absolut notwendig, denn ohne Luft müssten wir alle sofort zu Grunde gehen. Ebenso müssen auch all die Seelen sich höchst unglücklich fühlen, die ohne Gott und das neue Leben aus Ihm durch dieses Erdenleben pilgern wollen.
Wo sich einem ehrlich suchenden Menschen Gottes Sein und Wirken in allem Lebenden als Liebe, Weisheit und Kraft in herrlichen Ordnungsgesetzen offenbart, kann der noch zweifeln am Dasein Gottes? Sobald sich unser inneres Auge erst öffnet für all dieses heilige Leben rings um uns und unser Glaube es einmal schauen und erfassen will, zeigt sich auch schon die Wirkung dieses Gottes-Geistes uns fühlbar und bald auch sichtbar, als etwas uns Heiligendes! Nur Menschen, die sich nie die Mühe gaben, darüber nachzudenken, wollen gern ein eigenes Leben sich aufbauen. Ihre Ordnungen lehnen sich nicht an die göttliche Ordnung und Weisheit, und so entstehen die grossen Disharmonien unter den Menschen, die dir eben so klar vor Augen standen und dich am Dasein Gottes zweifeln machten!"
Asa hatte diese Worte sehr aufmerksam in sich aufgenommen. Nach längerem Schweigen fuhr Joram fort: „Es gibt im ganzen Lande hier nicht einen Menschen, der nicht die Gesetze und die Ordnungen Gottes kennt, und doch leben so viele lieber auf Kosten Anderer nach ihrer eigenen, ihnen bequemen Art. Ebenso, wie es treue Gottesdiener gab, durchdrungen von den Wahrheiten der Gottes-Lehre, gibt es auch ungetreue, die sich wohl Gottesdiener nennen, aber von einem ganz anderen Geiste beherrscht sind. Aber unser Bestreben muss gerade dadurch zunehmen, das schwindende Gottesleben mit allen Mitteln in uns selber und in Anderen festzuhalten.
So war es bei mir! So ist es bei allen, die ehrlich bemüht sind, Gott getreu zu bleiben! Und der Lohn blieb nicht aus. Das Bewusst-werden Seiner steten Gegenwart schuf Wunder an neuen Kräften, stärkte den schwachen Glauben, erfüllte das Herz mit froher Zuversicht und offenbarte immer mehr neues Leben in und aus Gott. Seit nun Jesus Christus in mein Erdendasein trat, offenbart sich mir auch Gottes Liebe, Gnade und Erbarmung und macht mich dadurch zu Seinem Kinde. Dass wir hier jetzt so schwer leiden müssen, tut meinem Glauben an Gott keinen Abbruch, weil Glaube erst durch Prüfungen zum lebendigen Glauben wird. Was im Menschen durch solchen Glauben wächst, ist erst sein wahres Leben, ist sein Eigentum, weil es ja durch Kampf errungen ist. Im Kampf Errungenes, das ist ein wahres Gottes-Geschenk, weil die Kraft, mit der ich kämpfte, mir als Gottes-Kraft bewusst ward!"
Joram schwieg plötzlich; er fühlte, diese seine Worte waren aus höherem Einfluss gesprochen und er hatte selber noch darüber nachzudenken.
Asa hatte wie ein Hungriger alles tief in sich aufgenommen. Endlich sagte er: „Ich glaube, ich könnte dich verstehen, da du als Mann zum Manne sprachst! Wie würdest aber du, Ruth, mir darauf wohl antworten?" „Nicht viel anders", sprach Ruth, „nur müsste ich dir noch sagen: „arm bist du, weil du diese Liebe Gottes noch nicht kennen lerntest und bist doch dauernd an den Wundern heiligster Liebe tagtäglich vorübergegangen. Ist es nicht ein Wunder, so die Menschen, denen auch du Kerkermeister warst, dir nicht grollen? Ist es nicht ein Wunder heiligster Liebe, dass wir, die wir dem Tode so nahe stehen, schon wissen: Rettung kommt und ist sehr nahe! Ist es nicht Wunder über Wunder, dass gerade wir dich unterweisen dürfen, in den Geist der erlösenden und erbarmenden Liebe einzugehen? O mein Freund, ich habe die Wunder der herrlichen und heiligen Liebe erfahren!
Als ich gestern abend meine Schritte wieder zum Lager lenkte, wie wurde es mir zuerst schwer! Als ich aber an meine Brüder dachte, die doch einen Zuspruch brauchten, wurde mir wohler, und wie ich ganz unbehelligt ins grosse Zelt huschen konnte, da erlebte ich das grösste Wunder der göttlichen Liebe, denn die Botschaft: Hilfe ist nahe! löste in uns ein Dankgefühl gegen Gott aus, das uns heiligte im wunderbarsten Schweigen! Wenn ich aber das tiefe Leid, welches ihr uns zugefügt habt, bedenke, so war es wohl hart, sehr hart, und Vater wird noch mehr leiden wie wir! Ist es aber möglich, dass dein Sinn sich ändert, um auch an dieses hohe und herrliche Ziel zu gelangen, dann wäre auch das ein hoher Zweck und ein Wunder dieser unserer göttlichen Prüfungen! Darum vergeben wir auch dem Assir und hoffen, dass auch er sich noch Anderen möchte!"
„Wir wollen nicht von dem Anderen sprechen", antwortete Asa, „sondern bei unserem Thema verbleiben. Wer weiss, wo ich morgen sein kann, da mich Assir vernichten möchte! Darum möchte ich fort, sobald ich kann, am liebsten zu Bernhart, und in seinen Dienst treten. Bei ihm könnte ich wohl den Frieden meines Herzens finden!"
Sprach der ernste Joseph: „Asa, du warst uns kein Kerkermeister und hast allen ihr schweres Los nicht schwerer gemacht. Dafür möchte ich dir danken und zwar, wenn du willst, so kannst du bei meinem Vater in Dienste treten, wir würden Freunde, sogar Brüder werden! Bemühe dich um nichts, bleibe bei uns, bis die Rettung kommt, dann ziehst du mit uns und kommst mit Assir nicht mehr zusammen.
Der Geist im Hause meines alten Vaters ist derselbe wie bei Bernhart, es ist der Geist des Glaubens und der Liebe. Bei uns ist keiner Herr und keiner Knecht; der Vater ist das Oberhaupt und der Überwachende, wir alle aber sind gleichen Sinnes, keiner mehr und keiner weniger. Uns freut unser Leben! Sorgen hat wohl jeder einmal, aber wir tragen Freude wie Leid gemeinsam und fühlen uns stets geborgen in der grossen All-Liebe und All-Erbarmung unseres Heilandes Jesus Christus! Unsere Hoffnung auf Befreiung wird sich erfüllen, denn was Gott zugesagt, hält Er gewiss! Und so sich die Feinde mehren würden wie Sand am Meer, Gott lachet ihrer und wird allen beweisen, dass Er der Allmächtige ist!"
In diesem Augenblick sprang Assir vor das Zelt, wo die Vier sassen und schrie voll Hohn: „Ich werde euch beweisen, dass Gott nicht lachen wird und werde Gott beweisen, dass ich noch bin!"
Assir wollte sich auf Asa stürzen, der ein Schwert in die Hand nahm, da sagte Ruth: „Lasse dein Schwert in Ruhe, Gott bedarf solcher Waffen nicht! Eben erlebten wir die Weihe Seiner Gegenwart, darum wollen wir warten, bis der Herr wirkend eingreift!"
Assir, ganz voll Wut, gebot den Wächtern, die Vier zu fesseln und kein Auge von ihnen abzulassen und drohte: „Ich werde ihren Gottesglauben schon zunichte machen!"
„Tue es immerhin", sprach Joseph sehr ernst, „wir werden ja erleben, wer Recht behält!"
„Schweig!", gebot Assir, „sonst lernst auch du mich kennen, wie dieser da!" Rasch waren sie gebunden; Asa empfand heftige Schmerzen und stöhnte laut, aber Ruth tröstete: „Auch ich empfinde Schmerzen, die fast unerträglich sind, aber klagen, nein, das dürfen wir nicht, damit wir denen draussen den Triumph nicht gönnen. Sondern der Triumph gehört unserm Gott und Herrn Jesus Christus!" So kauerten sie zusammen und sehnten den neuen Tag herbei.


Die Befreiung

Im Lager ward es früh lebendig. Assir war plötzlich wieder überall, und mit Eifer trieb er seine Leute zur höchsten Eile an. Im Wagen des Elim durcheilte ein Schreck die Leute, man rief und suchte nach ihm, nichts war zu erfahren — Elim blieb verschwunden! Assir aber tat, als bemerke er nichts davon: „Rasch die Tiere füttern und dann weiter, weiter!" —
Bereits vier Stunden fuhr die Karawane, als das Gebirge links liegen blieb und Assir aus Vorsicht vom geraden Wege nach Sidon abwich, um in eine buschige Ebene einzubiegen. Er sprang vom Wagen, um die Karawane an sich vorüberziehen zu lassen. Da erfasste ihn ein Schrecken — mit Sturmgebraus kam eine Schar bewaffneter Reiter und forderte zum Halten auf. Am liebsten wäre er geflohen, aber wohin in dieser Buschwüste? „Wer ist hier der verantwortliche Führer?", rief Achibald, denn dieser war es, der die Karawane eingeholt hatte. „Hier, ich bin es!", sprach Assir stolz. „Seit wann ist es denn Sitte, dass friedliche Karawanenzüge angehalten werden? Es sieht aus, als wolltet ihr Gewalt anwenden?!"
Achibald war vom Pferde gesprungen und sagte kalt: „Seit Räuber und Mörder die Lande durchziehen, macht es sich nötig, zu kontrollieren. Die Herren im Lande sind wir Römer und hier ist meine Vollmacht! Bitte, mit welcher Fracht sind diese Wagen beladen?"
Entgegnete Assir: „Ich lasse mich nicht kontrollieren, da ich im allerhöchsten Auftrag handele; hier ist meine Vollmacht!"
Achibald nahm das Schreiben, steckte es in seine Tasche und sagte: „Hättest du ein reines Gewissen, so hättest du sofort in eine Kontrolle eingewilligt, weil du sie aber verweigerst, so werde ich dieselbe durch meine Leute vornehmen lassen; aber erst werde ich mich deiner sichern."
Auf einen kurzen Wink erhielt ein Soldat den Befehl: „Fessele diesem Mann die Hände auf dem Rücken und schone ihn nicht, so er sich durch Flucht der Gefangennahme entziehen will!" Mit kräftigem Griff fasste der Mann zu und im nächsten Augenblick war Assir ein Gefangener!
Jetzt kam Bernhart herangeritten und meldete: „Bruder, der Kranke ist aus seiner schweren Ohnmacht erwacht und klagt Assir an!" —
„Wer ist Assir?", fragte Achibald, „er mag freiwillig vortreten." „Assir war unser Anführer und liegt dort gefesselt", entgegnete ein Wächter. „Dann ist es gut", sprach Achibald, „der entgeht seinem Schicksal nicht mehr." Nun begann die Kontrolle, wobei die Gefangenen sogleich von ihren harten Stricken befreit wurden.
Bernhart eilte an die Wagen und rief: „Ruth! Ruth!" Aus einem Wagen erscholl: „Hier! Hier sind wir!" Rasch waren die Fesseln gelöst, aufjubelnd fiel Ruth dem Bernhart in die Arme, dann kniete sie im Sande nieder und betete laut. Andächtig sahen die anderen Befreiten zu und endlich begriffen auch sie: dies ist die Rettung! Knieend dankten sie nun alle für diese wunderbare Hilfe und unter Weinen und Schluchzen beendeten sie ihr Gebet.
Achibald war tief erschüttert; ein grosses Glücksgefühl durchströmte ihn und so betete auch er: „O Gott! Wie danke ich Dir, dass ich diese Stunde erleben durfte! Aber nun Du mir so huldreich Deine ewige Güte bewiesen hast, so gib mir auch den rechten Verstand, um diesen heiligen Auftrag in Deinem Sinne zu Ende zu führen!"
Achibald nahm nun den Asa in ein ernstes Verhör. Er wollte klar sehen, um restlos den ihm geoffenbarten Willen Gottes zu erfüllen. Aus Rücksicht auf die Anderen hatte er die drei Abgesandten der Karawane, die ihn hierher führten, bei dem schwer verwundeten Elim zurückgelassen, damit auch nicht der geringste Schein des Verrates auf dieselben fallen sollte.
Als die Leute etwas gegessen hatten, ging es zurück nach dem alten Lagerplatz, wo ja genügend Wasser in der Nähe war. Assir musste die ganze Strecke laufen; mit einem festen Gurt um den Leib ward er an das Pferd seines Wachmannes gebunden und als er sich störrisch zeigte, erhielt er einen Hieb auf seinen nackten Rücken. Alles dauerte aber länger wie gedacht, und erst am späten Nachmittag konnten die Zelte wieder aufgebaut werden. Elim lag in schwerem Fieber und für Ruth begann sogleich ihre Samariter-Tätigkeit, die dem Achibald stille Bewunderung abzwang.
Nach einem gemeinsamen Mahl rief Achibald alle zusammen und fragte: „Was soll nun mit euch geschehen? Ich bin beauftragt, alles zu lösen, dass ihr selbst und auch Gott, euer Herr, voll befriedigt sein kann. Die Knechte des Elim scheiden aus, da sie sich ihm verpflichtet haben; es handelt sich zuerst um euch, die ihr dem Tempel verpflichtet seid. Ich könnte euch bestrafen wie euren Anführer, aber meine Freunde haben für eure Freiheit gebeten, darum, wer sich mir anvertrauen will, soll es nicht bereuen.
Dann bat Bernhart, mit den Glaubensbrüdern über ihre Zukunft zu reden und bald war auch dieses alles geordnet, denn kein einziger hatte den Wunsch, in die alte Heimat zurückzukehren, der Templer wegen! Die Frauen aber hatten überhaupt keine Wünsche mehr, mit denen beschäftigte sich Ruth.
Glückselig rief Bernhart aus: „Mein Bruder, mein Herz brennt vor Liebe und Glück, wenn ich bedenke, wie viel Leid nun in Freude verwandelt ist! Ein Herz voller Liebe, und es löst sich alles wie von selbst. Alle, die zu mir ziehen wollen, nehme ich mit Freuden auf, und Joseph und Joram nehmen gern die Anderen, denn fleissige Hände sind überall zu gebrauchen!"
„Damit bin ich einverstanden!", antwortete Achibald, „so nehme ich nur den Assir und werde mich seiner bald entledigen."


Ruth

Ruth kam eilend in den Kreis und rief froh: „Elim ist gerettet! Das Fieber ist gewichen, er ist ruhig eingeschlafen."
Verwundert fragte Achibald: „Wie konnte dieses so schnell geschehen? Wundfieber ist schwer zu beseitigen und endet oft mit dem Tode."
Sagte hierauf Ruth: „Ja, Elim wäre wohl auch gestorben, wenn der grosse Heiland Jesus ihn nicht geheilt hätte! Der erste Blick auf ihn sagte mir: Hier kann nur noch Gott helfen! Und so betete ich solange zu meinem Jesus, bis ich innerlich die Gewissheit erhielt: Er wird gerettet werden! Unaufhörlich sprach Elim im Fieber und machte sich Vorwürfe über sein verkehrtes Leben, da legte ich betenden Herzens meine Hand auf seine heisse Stirn und ich erlebte aufs Neue — Jesu Gegenwart! Elim wurde ruhiger und sagte noch: „O diese schönen Hände — und doch blutig, aber wie kühler Tau fächeln sie mir Linderung zu! Ziehe doch diese Hände nicht mehr weg, Du Lieber — Lieber! Jetzt schläft er, darum wollen wir unserm Jesus danken, recht innig danken für das neue Wunder Seiner Liebe!"
Achibald war ganz erstaunt — noch nie hörte er solche lieblichen Worte, dann fragte er doch: „Meine liebe Ruth, bist du der festen Überzeugung, dass der Heiland Jesus dir so nahe war, dass du Seine Gegenwart empfinden konntest, oder könnte es auch eine Sinnestäuschung gewesen sein? Ich frage nicht, um dein Erleben herabzusetzen oder aus Neugierde, sondern weil ich anfange, mich auch für Jesus Christus zu entscheiden. Ich möchte aber ganz sicher gehen; und so ich mir eine Brücke baue vom Diesseits bis zu Gott, dem Ewigen, so soll dieselbe mich und auch andere für Ewigkeiten tragen!"
Ruth antwortete freundlich: „Sinnestäuschung kann es wohl für irdische Dinge geben, aber für ewige Dinge nicht, weil ich ja mein ganzes Sehnen, Hoffen und Lieben vom Irdischen weg und dem Ewigen zugewendet habe. Dabei habe ich mich aber nicht von meinem Verstand und meinen Sinnen, sondern nur von den Regungen meines Herzens leiten lassen. Mein Herz aber kann nur Bejahung, Wonne und Glück, oder Verneinung, Enttäuschung und Schmerz empfinden. Dass ich dieses Empfinden schon öfter erlebte, danke ich eben meinem Jesus, meinem Gott und ewigen Vater! Wenn du dich wahrhaft für Jesus entscheiden willst, dann stelle den Verstand zurück und lasse deine Herzens-Regungen sprechen und du wirst dann, ohne noch zu fragen, von der beglückenden Wahrheit Seiner Gegenwart überzeugt werden."
„Liebe Ruth, die ewige Liebe meint es gut mit dir und hat dich zu einem Rüstzeug für ihre Wesenheit gemacht! Aber nun stelle ich an dich noch eine Frage, ob du sie beantworten kannst oder nicht, wird meinen Entschluss nicht beeinflussen! Es handelt sich nämlich darum: ich kenne Jesum nur vom Hörensagen und habe mich noch nicht viel mit Ihm beschäftigt und so ich nun in die Reihen Seiner Bekenner trete, fehlt mir noch so Vieles und Wichtiges! Ja, ich fühle mich auf einmal so unwissend, obschon Cornelius viel und oft von Jesus geredet hat.
Siehe, was habe ich von Jesus, da Er ja ein Bewohner der Himmel und uns Erdenmenschen nicht mehr schaubar ist! Wie könnte ich nun mit Gewissheit feststellen: Er ist bei mir? Soll ich mich mit dem Glauben begnügen, weil Sein Mund einmal gesagt hat: ,Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!' oder soll ich mir lebhaft vorstellen, Er sei bei mir? In mir lebt noch manches von unserm Göttertum, obwohl ich längst die Götter beiseite schob. Wenn du mir eine befriedigende Antwort über Jesu Gegenwart geben könntest, würdest du mir eine grosse Last abnehmen."
„Lieber Freund", antwortete Ruth, „du stellst tiefe Fragen, die ich dir wohl gern beantworten will, aber nur so, wie ich es in meinem Herzen empfinde. Siehe, Jesus, den ich in Seinem Erdenleben wohl gesehen habe, und habe auch Seinen Worten gelauscht, war doch in meinen Erinnerungen so gut wie ausgelöscht. Was denkt ein so junges Menschenkind von 13 Jahren viel an Dinge, die weit in die Ewigkeit hineinragen! Wohl bedauerte ich diesen lieben Menschen, als die Kunde unser Land durcheilte, Er sei am Kreuz gestorben! Und wieder erscholl eine Kunde, Er sei von den Toten auferstanden! Ungläubig hörten wir diese Reden an, bis später einige Männer zu unserm Vater kamen und erzählten, Er sei wahr und wahrhaftig ihnen erschienen und sie hätten nun von dem auferstandenen Jesus den Auftrag erhalten, allen zu verkünden: Er lebe!
Lieber Freund, nun hatten wir keinen sehnlicheren Wunsch, als Jesus, den Auferstandenen, auch zu sehen! Allabendlich beteten wir gemeinsam: „Herr, würdige uns Deines Besuches, unsere Herzen brennen vor Verlangen, Dich noch einmal zu schauen und von Dir gesegnet zu werden!
Immer inniger wurde das Verlangen, bis endlich der grosse, selige Augenblick kam: Er war bei uns — mitten in der abendlichen Andacht, und segnete uns mit Seinen durchbohrten Händen! Mit Seinen tiefen Augen blickte Er uns so voller Liebe an und Sein Mund sprach die mir unvergesslichen Worte: ,Fürchtet euch nie mehr, denn ich habe die Welt und allen Tod überwunden, auf dass ihr mit dem Bewusstsein: Ich lebe, und ihr wollt durch Mich leben — ein neues Leben in euch gestaltet, das da eins ist mit Meinem Leben! Mein Frieden und Mein Segen sei mit euch! Ich gehe jetzt heim zu Meinem ewigen Vater, sonst könnte das neue Leben in euch nicht erstehen!' Diese Worte sind mir geblieben! Noch manches sprach Er — aber dies genügte mir voll und ganz.
Wenn ich nun Seine Gegenwart verspüre, bin ich wie losgelöst vom Erdendasein; dieses erlebte ich am klarsten in der Nacht, da ich dem Assir entfloh. Finster und allein im tiefen Wald, noch erfüllt von den Schrecken des zuvor Erlebten, öffnete ich mein Herz Seiner grossen, helfenden Liebe und umklammerte im Geiste Seine ausgestreckten Hände.
Da vernahm ich in mir die klaren Worte: ,Fürchte dich nicht! Ich bin bei dir! Halte fest deinen Glauben, dann kann Ich dir Retter sein!' Das Furchtbare meiner Lage war verschwunden, ich fühlte mich wie eingehüllt in Gottes Liebe und wurde ruhig und froh trotz meiner nicht beneidenswerten Lage und wusste: Seine Rettung naht! Wenn dies Täuschung oder nur Vorstellung gewesen sein sollte, so weiss ich nicht, wie ich zu dieser inneren Ruhe und diesem wunderbaren Kraftgefühl kam. Und tatsächlich, wäret ihr nicht alle schon auf der Suche nach uns?
Ich denke, aus dem dir Gesagten hast du auch die Antwort erhalten und darum wundere dich nicht, so wir dir vielleicht nicht genügend danken, da ja unser aller Dank unserem Herrn und Retter Jesum gilt!"
In Achibald war es still geworden; die einfachen, schlichten Worte gingen tief in seine nach Licht und Wahrheit hungernde Seele. Er war so tief ergriffen, dass er aufstand und tiefer in den Wald ging. Die Männer und Ruth sahen sich ernst an, dann sagte sie: „Lasst mich zu ihm gehen, er bedarf nur noch der Liebe, Worte hat er genug vernommen!"
Sprach Bernhart: „Ja gehe, vielleicht gelingt es dem Herrn durch dich, ihn ganz zu gewinnen!" Lautlos folgte sie dem Römer und sah, wie er sich auf den Boden setzte und weinte. „O Gott", betete er leise, „Deine Liebe zersprengt mir fast die Brust und doch steht mein vergangenes wüstes Leben vor mir, als wenn es mich trennen wollte von Dir und Deiner Wahrheit und von Deiner Güte, die so überwältigend ist!"
Da legte ihm Ruth leise die Hand aufs Haupt und fragte sanft: „Warum, mein Bruder, machst du es dem Heiland so schwer; was bedrückt dich, dass du noch kämpfen musst? Siehe, des Heilands Liebe gilt allen Menschen! Sie ebnet uns den Weg zum alliebenden Vater-Herzen. Was dich so elend macht und dich wie einen Sünder trennen möchte von Ihm, dem Über-Herrlichen, ist gesühnt auf Golgatha! Nicht um Seinet-, sondern um unsertwillen liess Er dieses alles an Sich geschehen! Und in diesem starken Glauben an Seine Liebe zu uns Menschen wird uns Sein Erlöser-Geist zum herrlichen Geschenk!"
„Ruth", sprach Achibald, „du redest wie ein Engel, aber es ist zu viel des Bösen geschehen! Kriege haben mich zu einem grausamen Menschen gemacht und schon von Natur aus war ich härter wie ein Stein. Liebe strich ich aus meinem Herzen, ich lebte nur nach Wahrheit und Gerechtigkeit; jetzt aber muss ich einsehen, das war nicht Wahrheit, sondern Hartherzigkeit gegenüber denen, die Unrecht getan hatten."
„Lieber Freund, der Herr sieht deine Reue und vergibt dir! Er fragt nur: Willst du Mir nachfolgen, so glaube an Meine Liebe, die auch dich erfüllen will mit Meinem Geiste! In diesem Geiste aber wirst du Vollzieher Meines Liebe-Willens! Darum schaue jetzt auf das, was Ich mit dir will und nicht auf das, was die Vergangenheit aus dir machte!"
Nach einer Pause erst sprach Ruth weiter: „Lieber Achibald, ich musste so zu dir sprechen, weil ich nicht anders konnte! Kannst du aber diesen Worten den Glauben entgegenbringen, dass es nicht meine Worte, sondern des Heilands Worte waren, dann hast du in deinem Herzen die letzte Schranke zwischen Ihm und dir niedergerissen." —
„Liebe Ruth, du gibst mir das Vertrauen wieder! Gelingt es dir nun, noch den letzten Zweifel an die grosse All-Liebe von mir zu nehmen, dann kenne ich nur noch den einen Weg: Hin zu Ihm! Siehe, wohl könnte ich glauben, Er hat meine Schuld gesühnt und ich darf wie ein Befreiter wieder aufatmen! Aber das Verhältnis ist doch dasselbe geblieben: Er, der heilige Gott! — und ich — bin ein sündiger Mensch! Es könnte doch geschehen, dass ich wieder zurückfalle in mein früheres Leben und vergesse: Er ist Gott! — und ich bin als Sein Kind nun Ihm verpflichtet! Was dann?"
„Bruder Achibald, kümmere dich nicht darum, was werden wird, wenn der alte Mensch wieder einmal auflebt. Wie die Sonne jedem neuen Tage Licht und Wärme spendet und die Nacht zum Scheiden zwingt, so wird mit jedem Tage eine neue Kraft, neue Lebens-Energie in dich einziehen und damit das Bild Seiner Liebe schöner gestalten, sodass du immer wieder spürst, wie selig Seine Liebe macht! Ich weiss nicht, ob du noch eine Mutter hast, ich habe schon längst meine Mutter verloren; seit ich aber das Bild meines Jesus in mir trage, ist es mir, als wenn ich eine zweite Mutter habe, die die Liebe meiner ersten Mutter mit übernommen hat und darum darf ich nun Mutter — meinen Brüdern sein."
„Ruth! Du Liebe, jetzt warst du mir Engel und auch zugleich Mutter! Nie werde ich diese Stunde und deine Hilfe vergessen, da ich mich ganz dem Einen anvertrauen will, dem Gott die ganze Menschheit anvertraute! O jetzt wird es lichter um mich, jetzt lerne ich das Walten Gottes begrüssen."
Sprach Ruth: „Nun lass uns umkehren, dass es auch die anderen erfahren, wie du von Seiner immer helfenden und so froh machenden Liebe ergriffen bist!"
Als beide zurückkehrten, hörten sie schwermütige und liebliche Gesänge aus den von Dank und Sehnsucht erfüllten Herzen der Befreiten, die diesem Abend eine besondere Weihe gaben. Ruth ging zu dem Kranken. Er schlief und Asa wachte bei ihm. Betend legte sie ihre rechte Hand auf seine Stirn, aber so zart, dass er nicht in seinem Schlafe gestört wurde. Bernhart und Achibald waren ergriffen von dem Bild, das sich ihnen hier bot: der verwilderte kranke Mensch und das zarte, schöne Mädchen.
Als Achibald und Bernhart dann still in den Wald gingen, sagte er noch: „Mein Bruder, dieses Kind muss ein Engel sein, wie klug sie ihren Glauben verteidigen kann und wie stark ihr Wille zum neuen Leben ist!"
„Ja, Bruder", erwiderte Bernhart, „sie ist der gute Engel in ihrer Heimat, überall, wo zu helfen oder zu trösten ist, da ist Ruth zu finden!"


Ursus

Die Beiden sprachen dann noch über ihre Erlebnisse aus früheren Jahren und bemerkten nicht, wie weit sie sich vom Lager schon entfernt hatten. Als sie dort anlangten, wo der Wald in den Busch übergeht, sahen sie in einiger Entfernung eine Karawane lagern und wie geschäftige Leute hin- und hergingen; ein interessantes Bild für die beiden Zuschauer.
„Wo mögen sie hinziehen wollen?", fragte Achibald, „sie können nicht von Judäa kommen, sondern von einem Hafen am Meere."
„Gehen wir hin", antwortete Bernhart, „wir können beruhigter sein, wenn wir wissen, wer unsere Nachbarn sind." So gingen die beiden ruhigen Schrittes hin; es musste der Leiter der Karawane aber schon verständigt sein, denn er kam ihnen entgegen und grüsste: „Der Friede sei mit euch! Seid willkommen in meinem eben errichteten Lager!"
„Und auch mit dir, bis in alle Ewigkeit!", antwortete Bernhart. „Unser Lager liegt hier ganz in der Nähe; aber wären wir nicht, in Gespräche vertieft, so weit gegangen, wir hätten uns nicht treffen können."
„So bitte ich euch, seid jetzt meine Gäste", entgegnete überaus freundlich der Fremde; „ich kann ja einen Boten hinsenden in euer Lager, damit die Eurigen ohne Sorge sind;" und so geschah es.
Achibald nannte seinen Namen und sagte: „Unser Lager ist ganz besonderer Art, denn wir haben keine Waren, sondern Menschen, die wir der Freiheit und der Freude wiedergeben möchten. Ich bin römischer Soldat und stehe unter dem Kommando des Hauptmanns Cornelius in Cäsarea. Dieser ist Bernhart, früher in römischen Diensten und seit heute mein Freund. Er besitzt einen grossen Grund, hat aber auf Veranlassung seines besten Freundes eine schwere Mission übernommen, die nun fast restlos erfüllt ist, darum sind wir auf dem Rückwege."
„Ich bin Ursus, der Sohn und Vertraute des Demetrius in Rom und bin auf dem Wege nach Jerusalem", sprach der Römer zu Achibald, „also sind wir ja Landsleute." Sie schritten in das errichtete Zelt; hier sprach Ursus nochmals: „Herzlich willkommen! Es freut mich, dass ich so liebe Gäste begrüssen kann."
In kurzer Zeit wusste Ursus um alles Geschehen aus dem Munde Bernharts, der seine Rede schloss mit den Worten: „Voll befriedigt sind wir mit dem Erfolg, nur die Wächter des grausamen Assir machen uns Sorge. Wir sind Christen und möchten im Sinne des Heilandes Jesu handeln, aber dürfen wir ohne weiteres diesen Leuten glauben? Gar zu vertrauensselig — hat schon manchem viel Leid gebracht."
Ursus, der die ganze Erzählung ruhig, aber mit grossem Interesse anhörte, sagte: „O Freund, wenn du ehrlich besorgt bist um diese Leute, so kommt dir der Herr mit Seiner Hilfe schon entgegen. Siehe, ich bin gern bereit, dir deine Sorge abzunehmen, weil ich weiss, wenn ich nur den Willen habe, zeigt mir der Herr auch den Weg! Auch ich liebe Jesus, den Auferstandenen, und habe Teil an dem neuen Leben durch Ihn! Darum bemühe ich mich, alles an mich Herantretende in dem Geiste Seiner Liebe zu ordnen!" So vergingen rasch einige Stunden und Ursus versprach, morgen gemeinsam die Sache mit den Wächtern zu regeln.
Achibald war wie ausgewechselt. „Es wird der Liebe fast zu viel für mich! Dass ich in einem jungen Römer solche Hingabe an Jesus erlebe, geht über meine Begriffe. Morgen muss ich wissen, wie Ursus eigentlich dazu kam, Christ zu werden! Dabei scheint er der Sohn eines reichen Kaufmanns zu sein."
Bernhart wieder war dankbar, dass der Herr ihm Ursus in den Weg führte, war es doch wie göttliche Hilfe für seine Aufgaben! Im Lager der Befreiten war es ruhig geworden; ganz unbesorgt gaben sich alle der Ruhe hin, weil sie wussten: Der Herr ist jetzt unser Wächter!
Nur Assir verlebte schlimme Stunden. Von allen gemieden, allein in einem Zelt und schwer bewacht, grübelte er, wie er sich befreien könnte. Seinem Wächter bot er eine ungeheure Summe Geldes; dieser aber sagte: „Nein, dein Gold gehört sowieso uns. Gib dir keine Mühe, ein Römer ist unbestechlich. Dich zu retten, hiesse, mich ans Kreuz ausliefern!" Auf solche Antwort hin schwieg er nun, er wusste, er hatte ausgespielt.
Bei anbrechendem Tage loderten schon hell die Feuer, an denen das Morgenmahl bereitet wurde und Achibald war erfreut, solch munteres Leben zu sehen; seine Soldaten waren mit ihren Pferden beschäftigt. Bald war das Mahl verzehrt, dann wurde frisches Wasser besorgt, während Andere die Zelte abbauten und kunstgerecht verstauten.
Auf einem herrlichen Hengst kam Ursus geritten und wurde freudig begrüsst von Achibald und Bernhart. Sein erster Wunsch war, den kranken Elim sehen zu dürfen. Beide begleiteten ihn, riefen Ruth heraus und fragten nach dem Befinden Elims. Sie sprach: „Er schläft noch immer. Seine Wunde im Rücken habe ich seit gestern abend nicht gesehen, denn, wecken mochte ich ihn nicht."
Ursus, der an das Lager getreten war, sprach ernst: „Den Mann kenne ich aber, ein niedriger und habsüchtiger Charakter, der euch eure Liebe schlecht lohnen wird."
Ruth schaute auf den jungen Römer und sprach mutig: „Mag er gewesen sein, wie er will, unsere Liebe hat er verdient, da er uns dem Wüterich entreissen wollte. Eben um uns zu retten, musste er das Opfer werden."
Ursus, der ganz betroffen Ruth anschaute, sagte: „Deine Worte sind mir ein liebliches Geschenk! Nichts kann mich mehr beglücken, als so ich erfahre, dass sich ein Mensch zum Guten entschlossen hat und durch sein Tun bekundet, es sei ihm ernst!"
Elim musste durch das Reden erwacht sein, denn er bewegte sich und suchte mit den Händen eine Stütze, um sich zu erheben.
Ruth war besorgt und sprach: „Bleibe noch ruhig liegen, wir helfen dir, so gut wir können."
„Ja, wo bin ich eigentlich? Ich muss eine grosse Wanderung hinter mir haben, ich bin noch sehr müde!"
„Denke jetzt an nichts, du bist in getreuen Händen, die alles für dich tun wollen."
„Ich fühle mich nicht so sehr krank", sprach Elim, „nur noch etwas Schlaf, dann geht es schon besser; wer sind denn diese drei Männer?"
„Es sind gute Freunde, die auch hoffen und wünschen, dass du so bald wie möglich ganz gesund wirst."
„Gute Freunde? Wer das glauben könnte! Ich könnte einige gebrauchen, dass sie mir helfen, denn ich habe eine weite Wanderung gemacht und habe all die Stätten gesehen, wo man mir droht und mich verdammt! Nur nicht wieder dorthin müssen, es war schrecklich!"
Ursus sprach zu Ruth: „Mache ein bequemes Lager und lasse mich Elim hinaustragen in die Sonne, damit er in die Wirklichkeit zurückkehrt, seine Seele ist noch zu sehr bei den Geschehnissen im Schlafe!"
Elim liess es gern geschehen. Ruth reichte ihm etwas Suppe und dann untersuchten Ursus und Achibald die Wunde, die gefährlich aussah, aber normal zu verheilen schien.
„Der Stoss muss aufgehalten worden sein", sprach Ursus zu Achibald, „sonst wäre bestimmt innere Verblutung eingetreten. Könntest du nicht diesen Assir jetzt holen lassen, damit er sieht, dass wir von allem unterrichtet sind!"
Als Assir vor den beiden Römern stand, wollte nochmals Trotz und Wut in ihm aufbrausen, aber Achibald sagte streng: „Siehe hin, wie du Freundschaft lohntest! Menschen, die andere belügen und betrügen, kann man vielleicht zu Besserem erziehen, was soll ich aber sagen, wenn einer seinen Freund meuchlings beseitigen will? Wir wissen alles! Was du aber nicht weisst, will ich dir sagen: Dass auch Gott dies alles gesehen hat und weiss, wie du ihn verlästert hast! Dieser Gott hat dich nun in unsere Hände gegeben und von uns wirst du gestraft werden. Wie die Strafe ausfällt, weiss ich noch nicht, aber dieses weiss ich, dass du nicht genug Tränen haben wirst, um deine Verbrechen zu büssen!"
Assir sprach stolz: „Was habe ich mit euch zu schaffen? So ich Verbrechen begangen habe, verlange ich vor ein Tempel-Gericht gestellt zu werden! Ich weigere mich, vor Heiden mich zu verantworten, ich habe in gutem Glauben gehandelt!"
Achibald erwiderte: „Assir, es ist gut, wir handeln auch im guten Glauben! Wenn du aber hoffst, vor Templer gestellt zu werden, so hoffst du vergebens! Dein Mass ist voll! Die Tränen und all das Herzeleid und Weh, was du verursacht hast, ist bis zu dem Thron Gottes gedrungen. Darum gab Gott Selbst uns die Anweisung, dich unschädlich zu machen, also hoffe von uns Menschen nichts Gutes! Gutes könnte dir nur von Gott kommen - und Diesen hast du verleugnet. Hast du uns noch etwas zu sagen, so ist jetzt noch Gelegenheit, denn von mir wirst du kein Wort mehr vernehmen!"
Assir schwieg. Achibald gab Anweisung, den Gefangenen fortzuführen.
Ruth sagte: „O Du guter Gott, welch eine Führung! Was mag ihm bevorstehen?"
Achibald sagte ernst: „Voraussichtlich das Kreuz! Es kann aber auch sein, dass er auf einem Kriegsschiff als Ruderer angeschmiedet wird; dieses Los ist aber noch trauriger als ein rascher Tod!"
„Achibald, mein Bruder", sprach Ursus, „erschrecke ihr Herz nicht! Wir wollen sagen: Ihm geschehe jetzt, damit er noch gerettet werde und Anteil habe am grossen Werk des Herrn! Siehe, Gott hat kein Wohlgefallen an der Strafe eines Gefallenen, und sei der Sünder noch so gross! In dem Augenblick, wo ein verirrtes und gefallenes Wesen, sei es Mensch oder Geist, bittend die Hände aus demütigstem Herzen Gott entgegenstreckt, ist es, als ob alle Schuld vergessen wäre. Und der herrliche Gott wird ihn nur noch prüfen, ob seine Bitte nur Angst oder heiliger Lebens-Ernst war! Darum mag kommen wie es will, der irdischen Gerechtigkeit muss wohl stattgegeben werden, aber die Liebe zeigt auch andere Wege! Mir liegt nun daran, die Leute kennen zu lernen, die ihr gern versorgt haben möchtet."
„Das kann sofort geregelt werden", erwiderte Achibald, „ich werde sie rufen." Es kamen nun alle Wächter, die dem Tempel verpflichtet waren; an ihren Gesichtern sah man ihre Unsicherheit und Unentschlossenheit. Ursus sprach zu Achibald: „Lasse mich mit den Leuten reden, mir ist es geläufiger denn dir, du bist befehlen gewöhnt!"
Achibald freute sich, dass ihm diese Arbeit und Sorge abgenommen war und Ursus begann: „Liebe Leute, ihr seid 20 Männer und stehet vor der Entscheidung, ob sich euer Leben in diesen Bahnen weiter bewegen soll, oder ob ihr eurem Dasein eine neue Richtung geben wollt. Wenn ich auch ein Römer bin, so kenne ich eure Lebensbedingungen und Gewohnheiten genau. Wohl ist euer Brotherr der Tempel und ihr seid Diener der Priester, aber eure Beschäftigung ist eines Menschen ganz unwürdig. Saget: wollet ihr beim Tempel verbleiben, oder wollet ihr eine sich bietende Gelegenheit ergreifen und euch von eurem Brotherrn lossagen? Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Ob ihr ihn annehmt oder nicht - unser jetziges Verhältnis bleibt das gleiche.
Demetrius, mein ehrwürdiger Vater in Rom, besitzt viele Niederlassungen, dieselben sind besetzt mit erprobten und würdigen Freunden, es sind aber immer noch Arbeiter nötig, und diese fehlen manchesmal. Wer da will, kann sofort in meine Karawane übersiedeln, ihr erhaltet dann die römische Untertanenschaft - und der Tempel ist euch gegenüber machtlos. Wer also will, komme zu mir! Aber eines ist zu bedenken: wir alle sind Anhänger des grossen Nazareners und Heilandes Jesu!"
Einer sagte: „Herr, dabei ist nichts zu bedenken, deine Worte verheissen uns Hilfe aus der Gesetzes-Fron und Versorgung! Dass wir keine Nazarener sind, ist nicht unsere, sondern die Schuld des Tempels; es kann nicht schwer sein, Christ unter Christen zu werden, weil sich für uns ja nur Vorteile daraus ergeben."
Sprach Ursus: „Ihr werdet die heutige Stunde noch oft segnen, denn wahrhaft glücklich könnt ihr erst werden, so euch die Fülle der grossen Gottes-Liebe offenbar wird!"
Ein Reiter kam, und als er Ursus sah, meldete er: „Ursus, unsere Wagen stehen abfahrtbereit, es bedarf nur noch deiner Zustimmung."
Erwiderte Ursus: „Fahret bis an diese Wagen hier, inzwischen wird auch hier alles geregelt sein. Und nun, liebe Freunde, rufet mir Asa, der beim kranken Elim wacht." Ursus sah ihn an und sprach freundlich zu ihm: „Höre, lieber Freund, ich weiss um alles hier; deine Genossen sind schon in meine Obhut getreten und ich glaube, dich schon so weit zu kennen, dass ich grosses Vertrauen zu dir haben darf. Ich könnte dich sehr gut gebrauchen auf meinen vielen und grossen Karawanenzügen und frage dich, ob du bei mir bleiben möchtest."
„Herr, du nennst mich Freund? Daran habe ich grosse Freude! Ja, ich bin der deine, obwohl ich auch gerne mit den Brüdern der Ruth gegangen wäre. Gebiete über mich! Keinen Treueren wirst du finden, weil du mich als Freund angesehen hast."
Ursus reichte dem Asa die Hand und sagte erfreut: „Bruder nenne ich, dich, weil mein Herz mich dazu drängt! Also höre: Du kennst deine Genossen, nimm sie in deine Obhut bis zu deren Bestimmung. Die Karawane von Elim übernehme ich solange, bis er wieder gesund ist. Aber nun eine Vertrauensfrage: Woher stammen die gefangenen Christen und welche Güter habt ihr noch auf euren Wagen, sind sie rechtlich erworben?
Asa sprach: „Wo die gefangenen Christen zu Hause sind, ist mir nicht bekannt. Auf drei Wagen sind teure Seiden und Teppiche verladen, auch ihre Herkunft ist mir unbekannt; ich fürchte, es ist Diebesgut von gefangenen Christen. Wo ein Christ in die Hände der Tempelschergen fiel, war auch ihr Hab und Gut für sie verloren."
Ursus sprach zu Achibald: „Hier offenbart sich aber grosses Unrecht! Es ist wohl das Beste, ich kaufe die Waren und du verteilst den Erlös unter die Armen, damit wenigstens der Fluch, der auf diesem Gut liegt, sich nicht weiter verpflanze."
„Dies würde ich gerne tun, ja, ich freue mich, dass du alles so gut regeln willst!", erwiderte Achibald.
In Asa hatten sich noch Bedenken eingestellt, darum sagte er zu Ursus: „Nun bist du mein Brotherr, aber wie soll ich dich in Zukunft nennen? Freund und Bruder wage ich nicht zu sagen, meine Vergangenheit steht wie ein Fels von Schuld da, dass ich erschaure! Und wie soll ich dir danken, dass mein Leben durch dich in geordnete Verhältnisse kommt?"
Ursus war plötzlich ganz ernst geworden und sprach: „Asa, nenne mich Ursus, wie alle Anderen. Siehe, an deiner Vergangenheit stosse ich mich nicht, denn was du gutzumachen hast, damit gehe du nicht zu Menschen, sondern zu dem ewigen Gott, der uns Seine grosse Liebe offenbar werden liess durch Jesum Christum, den Auferstandenen! Ich hoffe, in Zukunft wirst du ein neues Leben beginnen, du wirst froh und friedlich, liebend und versöhnend leben und als ein Bekenner Jesu von Seinem Geiste durchdrungen werden, denn das Annehmen Seines grossen Liebe-Opfers bedingt die Hingabe des ganzen Menschen an Ihn! So wie Jesus einst zu mir sagte: ‚Komme — wie du bist — auch um dich habe ich gerungen!', so nehme ich auch dich und alle und sage nicht: bessert euch erst und dann gehören wir zusammen! Siehe, darum dieser grosse Ernst! Denn die restlose Erfüllung jeden Liebes-Zuges zu betätigen, ist unsere erste Pflicht!"
Achibald war wunderbar ruhig; eine Welt voll Schönheit tat sich ihm auf. So sagte er zu Ursus: „Bruder, seit meinem Abreiten von Cornelius sind mir so viele Beweise von Gottes Weisheit und Liebe geworden, dass ich verstummen muss! Deine Art aber ist mir doch das grösste Erlebnis; ich weiss nicht, soll ich dich für einen Menschen oder einen Engel halten. Dein Mund spricht alles so frei und überzeugend aus und dein Wesen versetzt mich in eine ganz andere Welt! Sage, bist du immer so, oder nur, weil du mir helfen willst?"
Lächelnd sprach Ursus: „Ich bin, wie du mich siehst, Mensch und Engel! Mensch — weil ich als Mensch diene, und Engel denen — die ich aus Not und Gewissensqualen befreien darf. Nimm beides als richtig an, aber dass ich so wirken darf, ist nicht mein Verdienst, sondern Gottes grosse Güte und Gnade."


Der Sieg dieser göttlichen Führungen

Elim fühlte sich gestärkt, das Fieber war gewichen und Ruth sagte freudestrahlend zu den beiden Führern: „Kommt ohne Scheu, er möchte mit euch sprechen." So setzten sie sich zu dem Kranken und warteten, bis er sprach: „O Freunde, ihr seid zu mir gekommen wie von Gott gesandt und ich danke euch für eure Liebe und Pflege. Doch möchte ich euch über meine Verwundung noch eine Aufklärung geben, und so höret:
Als Assir sich wieder frei fühlte und die Gefangenen gefesselt waren, kam er, als es fast noch Nacht war, in mein Zelt und begehrte mit mir zu sprechen. Kaum hatten wir uns einige Minuten vom Lager entfernt, so verlangte er, dass ich seinen Befehlen willig gehorche. Ich aber hatte mich entschlossen, ihm nicht mehr zu dienen, sondern den drei Geschwistern helfend zur Seite zu stehen, und dieses habe ich ihm offen gesagt. Darüber war er empört und drohte mir, und als ich bei meinem Vorsatz blieb, fühlte ich plötzlich einen harten Stoss im Rücken, dann wurde es Nacht um mich. Hättet ihr, Freunde, mich nicht gefunden, wer weiss, ob ich noch lebte!
Assir ist ein Teufel, wie er rachsüchtiger nicht zu denken ist. Aber ich war auch nicht viel besser, bis dieses Mädchen und ihre Brüder mir meine grosse Schuld vor Augen führten! Da ersah ich den Abgrund, vor dem ich stand - zugleich aber auch die rettende Absicht Gottes."
Ursus sagte ernst: „O Elim, wenn du nun gestorben wärest, weisst du, was dich erwartet hätte? Ich weiss, du hast sehr vieles gut zu machen und ein Leben voller Arbeit und Mühe könnte all das Leid kaum mildern, das du Anderen verursacht hast. Und weil du nicht in Harmonie mit den ewigen Gesetzen Gottes gelebt hast, hättest du all dieses Leid nun an dir selber erfahren müssen. Nun lerne einsehen, wie Gott in Seiner erbarmenden Liebe dich vor dem Abgrund rettete und diese Verwundung zuliess, um dir die Möglichkeit zu geben, ein ganz neues Leben zu beginnen!
Was willst du tun? Willst du weiter deine Wagen und Tiere in den Dienst des Tempels stellen? Oder hättest du Lust, für andere zu schaffen? Dein Eigentum würde dir gewahrt bleiben, so du in die Dienste des Römers Demetrius treten würdest. Überlege es dir und im Laufe der nächsten Tage gib mir Bescheid. Mein Ziel ist Jerusalem, doch möchten wir vorerst an den Moran-See, weil dort Ruth mit ihren Brüdern zu Hause ist"
Elim war damit einverstanden und so gaben Achibald und Ursus Anweisung zur Weiterfahrt. Gegen Abend erst konnte auf einem günstigen Platz Halt gemacht werden. Die Zelte wurden fröhlich und schnell errichtet und nach dem Mahl lauschten die vielen Menschen dem Ursus, der von den herrlichen Führungen Gottes auf seinen weiten Reisen erzählte. Auch nicht ein einziger blieb unberührt, sondern das innere Leben steigerte sich bis in ein Hineinleben in die fühlbare Gegenwart Jesu; und auch Bernhart konnte ihre Herzen hineinführen in die wunderbaren Wege, die Gott ihm erschlossen hatte.
Zum Schluss offenbarte Achibald dem Ursus und Bernhart, dass noch eine grosse Aufgabe ihrer harre, da noch eine Karawane hier in der Nähe auf Erlösung und Befreiung hoffe! Ursus sagte sogleich voll Freude: „Senden wir Boten in der Frühe voraus, damit kein Zeitverlust oder unnötiges Suchen stattfindet. Wir können noch viele Hände beschäftigen, da der Herr unsere Unternehmen so überreich gesegnet hat."
Am Morgen nach dem Abbau des Lagers zogen all die Menschen fröhlich weiter, und als der Zug kurz vor Hazor an die Herberge des Thomas kam, liess Achibald halten und fragte nach dem ihm bekannten Besitzer. Dieser kam ihm froh entgegen; doch als er erst Ursus erkannte, war seine Freude unbeschreiblich. Alle Wagen mussten in den grossen Hof fahren und zu Ursus sprach der Wirt: „Lasse mich nur sorgen, für alle ein Gastmahl herzurichten. Du. weisst doch, wenn wir uns gegenseitig Freude machen, freut sich auch unser herrlicher Meister!"
Welch ein frohes, buntes Leben entwickelte sieh nun im Hofe und im Hause, und doch geschah alles in so freudiger Harmonie, dass selbst die Soldaten des Achibald sich verwundert fragten: Wie kommen die Menschen dazu, sich so viele Mühe und Arbeit zu machen für all diese Fremden? Als aber das gut zubereitete Essen aus Gemüse und Lammfleisch aufgetragen wurde, fragte doch ein Soldat seinen Führer, warum heute alles so festlich sei, und Achibald sagte: „Es hat Gott gefallen, dass wir Seinen Auftrag so gut ausgeführt haben und so viele Gefangene befreiten, darum diese Feststimmung bei allen. Und so danket auch ihr und freuet euch an allem hier!"
Als das Mahl gesegnet war und fleissige Hände überall sorgten, dass nichts mangelte, steigerte sich die gemeinsame Freudigkeit so sichtbar, dass es für Achibald etwas noch nicht Erlebtes ward und er Ursus fragte: „Mein Bruder, oft schon habe ich an grossen Gastmählern teilgenommen und wir waren auch heiter und voll Freude, aber solche Herzens-Fröhlichkeit bei allen habe ich noch nicht erlebt!"
Und Ursus erklärte ihm, dass die Fröhlichkeit dieser Christen nicht zu vergleichen sei mit dem Frohsein in der Welt. „Hier erlebst du ein Abbild der Freude, welche herrscht, so wir uns einst wohlgeborgen heimgefunden haben! Siehe, unser Wirt gönnt sich keine Ruhe und Rast, denn in seinem Herzen lodern Feuer, deren Strahlen alle beglücken möchten. Wir wollen ihn auch nicht darin stören, denn bei ihm lebt sich die Freude im grossen Dienen aus!"
„Ja, mein Ursus", fragte Achibald, „wo nimmt aber der einfache Wirt die Mittel her, diese 150 Menschen zu beköstigen und alle ihre Tiere zu versorgen?"
„Achibald, da frage unseren Bruder Thomas selbst!", antwortete Ursus, „aber wundere dich nicht über seine Antwort, sie wird lauten: Mir gehört ja eigentlich nichts hier, alles gehört meinem ewigen Gott und ich bin nur Sein geringer Diener, darf aber nach freiem Wollen über dieses Besitztum verfügen, um Ihm Freude damit zu machen! Siehe, wie würde es mich belasten, so ich etwas darin versäumte!"
Achibald war von dieser Erklärung nicht ganz befriedigt und fragte: „Wir sind doch Menschen und hängen alle vom Materiellen ab. So ich in blinder Liebe alles verschenke, kann es geschehen, dass ich vor dem Nichts stehe."
„Verstandesmässig hast du recht", gab Ursus zu, „aber Thomas ist ein wahres Kind seines und unseres Gottes und seine Liebe ist durchaus keine blinde. Er sagte selbst zu mir: Je mehr ich einst rechnete, umso schwerer wurde es mir; seit ich mich aber treiben lasse von meinem Herzen, sehe ich überall Segen über Segen!"
„Das ist mir wieder ein Wunder. Und ich kann nicht begreifen, dass ich mich jahrelang dagegen wehrte, solchen herrlichen Glauben anzuerkennen!"
„Siehst du, Achibald, jetzt kommst du auf den Kern unseres heiligen Glaubens und deine Augen schauen in das Wahre und Lichtvolle der Jesus-Lehre! Es mag für Thomas schwer gewesen sein, Jesum anzuerkennen, dem er einstens aus dem Wege ging. Als er aber das Wunder Seiner erlösenden Liebe erlebte, war er wie umgewandelt und ist jetzt ein Segen für alle Menschen hier. Dort kommt er auf uns zu, nun frage ihn selbst!"
Thomas kam an den Tisch und sagte: „Ihr Brüder, welche Freude muss es für unseren heiligen Vater sein, so Er zu Seinen Engeln und den Bewohnern Seiner Himmel sagen kann: Schauet auf die arme, finstere Erde, welch herrliches Lichtband reicht bis herauf zu uns! Kein Sternenhimmel könnte Mir Schöneres bieten, als was die Erde uns jetzt schenkt. O du Liebe! Was wirst Du uns noch alles offenbaren! Aber du, Freund Achibald, bist noch nicht ganz überzeugt von dem so selig machenden Geiste der Vater-Liebe?"
Entgegnete Achibald: „Da hast du nicht ganz unrecht, aber bedenke, dies alles ist mir noch zu neu. Ungeahntes wird Wirklichkeit, und was man kaum zu glauben wagte, ist Natürlichkeit!"
„Bist du erst einmal eins in dir mit diesem Jesu-Geiste, dann, mein Freund, wird dir alles Dunkle enthüllt", antwortete der Wirt, „und du wirst klar erkennen, welchem herrlichen Gott du dich zu eigen gabst! Siehe, es ist uns offenbar gemacht, dass Gott uns Menschen zu Seinen Kindern erwählen will! Dazu darf aber von uns aus der nötige Fleiss und der ernste Wille, bewährt in starken Prüfungen, nicht fehlen, sonst wäre die zu erringende Kindschaft nicht so wertvoll."
Die Unterhaltung wurde unterbrochen: zwei Soldaten und zwei Leute des Ursus, welche in der Frühe aufgebrochen waren und nach Angaben des Achibald die Karawane suchen sollten, kamen zurück und meldeten, dass dieselbe eine Wegstunde von hier lagere und sehnsüchtig auf Achibald warte.
Achibald war erfreut, dass sich ihm auch hier wieder der helfende Einfluss Gottes zeigte und fragte Ursus und Thomas: „Wollen wir hinreiten?" Doch Ursus antwortete: „Senden wir lieber zwei Boten hin mit dem Auftrag, dass morgen in der Frühe die ganze Karawane hier sein soll! Warum wollen wir uns hinbemühen, da dieselben doch gerne herkommen, und da wir nach dem Moran-See wollen, wäre es unnötiger Zeit- und Kräfte-Verbrauch"; und so geschah es.
Es wurden nun noch Vorbereitungen zur Weiterreise getroffen, da sich der Transport des Ursus gewaltig vergrössert hatte und am Jordan entlang nur ärmliche Gegenden waren. Am wohlsten fühlte sich Elim; Ruth war wie eine Tochter um ihn besorgt und ihre beiden Brüder unterstützten sie aufs beste. Schlimm aber erging es Assir. Die Speisen rührte er kaum an, er hörte die Freude der Anderen, war aber allein und dachte in ohnmächtiger Wut nur an Flucht.
Es wurde ein herrlicher Abend, als die nun ziemlich grosse Gemeinde sich zur Andacht sammelte und Thomas in seiner natürlichen Art das neue Leben aus der Liebe schilderte, wodurch in manchen eine tiefe Sehnsucht nach solchem Leben zu keimen anfing.
Aber Thomas war nicht nur ein Verkünder, er war auch ein Beter! Achibald gab es viel zu denken, wie Thomas mit seinem Gott redete, Ihm alles so kindlich ans Herz legte und Ihn bat, ihm neue Kraft-Wellen zu senden, damit er wirkungsvoll segnen könne; so schloss er: „Mein Vater! Dein ist alle Kraft und Herrlichkeit! Lasse es immer bewusster in mir werden, dass ich nichts bin und nichts habe! Aber alles aus Dir tun darf, was Du aus dem Füllhorn Deiner Liebe und Gnade in mein Herz geschüttet hast. O wie glücklich machst Du uns, so wir erkennen: Du hast uns wieder eine Gelegenheit gegeben, wo nicht wir, sondern Du durch uns der Liebe- und Freuden-Spender sein willst. Dein Jesu-Geist und Deine Erbarmung mit allen Irrenden werde zu unserm Leben, damit Dein Leben Eigentum der ganzen Menschheit werden kann! Amen!"
Und nun wollen wir uns alle in die Ruhe begeben, die Du, o heiliger Vater, durch Deine Diener und Engel bewachen lassest!"
Nichts störte die Nacht, aber ehe der Tag graute, waren Thomas und sein Haus schon beschäftigt, um noch ein Morgenmahl, welches zugleich ein Gedächtnismahl sein sollte, zu bereiten. Als alles soweit fertig war, sammelte er die Seinen und stimmte den Psalm an: „Jauchzet dem Herrn! Dienet dem Herrn! Und seid erfüllt mit Jubel! Erkennet, dass Er, Gott, unser Vater ist und uns zu Seinen Kindern gemacht hat! Gehet ein in den Tag mit Loben und Danken und preiset Seinen heiligen Namen! Denn Er ist gut und Seine Gnade währet ewiglich! Seine Treue hat keine Grenzen, doch Seine Liebe umfasset auch das Kleinste und Geringste! Halleluja! Amen!"
Voll Andacht hörten alle Gäste diesen heiligen Weckruf und in kurzer Zeit waren sie fröhlich beim Mahl vereint. Hier ward es Ursus gegeben, aus übervollem Herzen mit ergreifenden Worten nochmals das Leben des Meisters in Seinem heiligen Liebeszug zur Menschheit darzustellen, sodass alle ergriffen wurden von dem Hauche, der aus der Ewigkeit herüber wehte in ihr Erden-Sein. Ursus endete: „Ich trage den höchsten Preis Seiner Liebe in meinem Herzen und in meiner Hand das Mahn-Mal Seines gewaltigen Opfers. O meine Lieben, was ist uns die Welt ohne Ihn? Wohin wäre die Menschheit getrieben ohne Ihn? So sehe ich in das viele Erden-Leid, wie es gleich Sturm-Brandungen die Menschen immer kraftloser und kleiner machen will, bis aller Mut untergegangen ist und in ihren Herzen nur noch ein Trümmerhaufen entsetzlichen Unglücks übrigbleibt.
Was es aber heisst, einen Heiland und einen gütigen Vater zu besitzen, der Seine Kinder so gern glücklich sehen will, kann nur der empfinden, der durch Ihn aus der grössten Not und Bedrängnis herausgeführt wurde, wie ihr in den letzten Tagen! Darum lasst es uns nie vergessen: Er, unser Vater, hat uns lieb! Lasst es zu einem Jubel werden in euch: Er hat uns lieb! Dann ist euer Herz erfüllt mit Dank und steter Freude und das neue Leben kann sich in euch entfalten! Du aber, Du herrlicher Vater und Heiland Jesus, sei bei uns und um uns, wie auch in uns! Amen!"
Ein langes Schweigen machte die Harmonie mit dem Ewigen noch inniger, es löste sich noch so manche Bangigkeit und alle Herzen wurden froh und weit.
Aber einer, der nur noch mühsam seine Erregung verbergen konnte, Elim, fragte Ruth, ob er einige Worte sagen dürfe. Ruth bat die Anwesenden für Elim um Gehör und so sagte er: „Ich muss mich fragen, ob ich noch lebe, oder ob ich träume. Vor einigen Tagen noch ein Bösewicht, und nun lebe ich hier wie im Himmel! Wohl schmerzte die tiefe Wunde im Rücken, aber was für Schmerzen sind es für den inneren Menschen, als ich fühlte, ich bin ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Menschen, die den Himmel in sich tragen!
Da wurde mir Hilfe und Rettung durch einen Engel in Menschengestalt! Die, welche ich um einen hohen Preis verkaufen wollte, um mich zu bereichern, schenkte mir ihr Mitleid und bettete mich in die Arme Jesu. O Gott, verdient hätte ich, dass ich ins Feuer geworfen würde! So aber darf ich die heilige Hand ergreifen, die Jesu Erbarmung mir entgegenhält und auch mir Hilfe und Rettung bringen will.
Ja, ich möchte euer Bruder sein, der gut machen will, was Übles er auch getan hat — und so bitte ich euch: unterstützet mich in diesem Wollen!"
Achibald stand plötzlich auf und stürmte hinaus - vor seinen Soldaten wollte er nicht weich werden! Alles in ihm war in Aufruhr, erst draussen konnte er ruhiger werden! So ging er weiter und in dem Lichte des jungen Tages sah er die grosse Karawane schon kommen. Sein Herz sprach: „O Gott! Auch dies ist ein Geschenk Deiner fürsorgenden Liebe! Mache mich stark, damit ich all diese Beweise Deiner so sichtbaren Erbarmung ertragen kann!"
„Soweit deine Liebe reicht, soweit reicht auch deine Kraft!", sprach es in ihm. „Nicht Ich kann dich stark zum Tragen machen, sondern inwieweit du geben lernst, wirst du zum Träger Meiner Liebe, Meiner Kraft und Meines Erlöser-Geistes!"
„Wo kommen diese Worte nur her?", dachte er, da ertönte es aufs Neue: „Glaube nur und frage nicht, wie auch Ich dir glaube!"
„Wieder ein neues Wunder!", dachte er. „Warum nur ist der Mensch so blind und dumm, dass er solche Zeichen und Wunder nicht sieht? Aber nun hast Du, Jesus, mir die Augen geöffnet zum Sehen und Ohren zum Hören gegeben, darum, o Gott, habe innigen Dank!"
Näher kamen die Wagen und Achibald beschleunigte seine Schritte; man hatte ihn erkannt und rasch kam der Priester und begrüsste ihn freudig: „Herr, deinen Worten folgend und deiner Liebe und Einsicht vertrauend, sind wir deinem Wunsche nachgekommen. Alle kommen freiwillig zu dir, denn ich hatte alle früheren Gefangenen freigegeben! Aber sie wollten zu dir, da sie fühlten, bei dir allein ist Sicherheit vor dem Tempel!"
„Ich freue mich, dass du meinen Worten geglaubt hast und dieses Vertrauen mir entgegenbringst; du wirst es nicht bereuen! Wie soll ich dich nennen und wer ist der Besitzer dieser vielen Wagen und Tiere?"
„Herr, nenne mich Jona, und Basil ist der Besitzer der Karawane." „Wieviel Leute hast du in Obhut?" „Herr, es sind mir 60 Männer und 20 Frauen vom obersten Tempelrat als Gefangene übergeben und 24 Wächter dazu. Waren habe ich so gut wie keine, aber Basil führt auf eigene Rechnung einige Wagen mit kostbaren Spezereien mit."
„Also, Jona, höre: dort in der Ferne lagern viele Menschen und erwarten euch. Ich möchte noch nichts beschliessen über die dir Anvertrauten, aber wenn du in römische Dienste treten willst, bin ich dir gern behilflich dabei. Denke darüber nach und lasse dort an dem grossen Gehöft halten, jetzt möchte ich die Befreiten begrüssen!"
So fuhren die Wagen an ihm vorüber; die Menschen hatten ihn erkannt und grüssten und winkten, der Grieche Basil aber grüsste sehr unterwürfig, sodass Achibald zu ihm sagte: „Basil, fürchte nichts, dein Lohn wird dir werden! Wenn wir Bedrängten gern helfen, dann sei versichert, dass ehrlichen Menschen von uns kein Schaden zugefügt wird. Aber sei zu mir offen und wahr, so ich dich frage: hast du es nötig, für den Tempel Sklavenfuhren zu übernehmen? Gibt es nicht genug Römer und Griechen, die da froh sind, ehrliche Karawanenbesitzer zu mieten?"
„Herr! Du magst es gut mit mir meinen, aber jeder ist sich selbst der Nächste, und Ware ist Ware, ob tot oder lebendig. Nur nach der beförderten Ware wird mein Verdienst berechnet, darum habe ich mir nie eine Gewissensfrage daraus gemacht."
Entgegnete Achibald: „Basil, weisst du auch, dass diese gefangenen Menschen nichts verbrochen haben und nur um ihres Glaubens willen Gefangene sind?"
„Herr, ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Werden Unschuldige transportiert, habe ja nicht ich, sondern der Auftraggeber die Verantwortung. Darum habe ich auch nie mit dem beigegebenen Priester darüber gesprochen!"
„So, also Basil, ich denke, wir werden uns noch besser verständigen; aber dort ist schon das vorläufige Ziel, nachher wirst du weiter unterrichtet werden." Als die vielen Wagen an der Herberge hielten, kamen alle aus dem Hause und begrüssten die Neuangekommenen herzlich.
Achibald ging mit Jona zum Ursus, der sich sogleich erbot, mit diesen befreiten Christen über ihre Zukunft zu reden und es gelang ihm leicht, ihr Vertrauen zu erwecken. „Wer von euch nach der Heimat zurück will, trete hervor, für den sind diese Besprechungen erledigt!"
Aber niemand meldete sich, nur einer sagte: „Lieber Herr, die Heimat bleibt uns für immer verschlossen, der Templer wegen, darum beschliesse du über uns, wie wir in Lohn und Brot kommen könnten bei wahren Menschenfreunden."
Dann holte Jona die vom Tempelrat angestellten 24 Wächter zusammen und zu ihnen sprach Ursus: „Habt ihr schon bedacht, was aus euch werden wird?"
Und Jona antwortete ihm: „Wir alle sind längst dieses Treibens müde und wissen nun, dass wir uns mitschuldig an den vielen Verbrechen machten. Darum haben wir den Gefangenen nie Gewalt angetan oder ihnen Speise und Trank entzogen, was sie euch alle bezeugen können. Wenn es nach mir ginge, würde ich mit meinen Leuten gern in römische Dienste treten, um für alle Zeiten vom Tempel loszukommen."
„Solche Wünsche können erfüllt werden", sprach Ursus, „denn mein Herr und Vater Demetrius kann noch viele frohe Arbeiter beschäftigen."
Als Ursus ins Haus zurück wollte, wurde er von den vielen Menschen aufgehalten, die Zeuge eines Wiedersehens zwischen Asa und seiner Schwester Salome waren, die eine Gefangene der neuen Karawane war. Tief erregt rief Asa: „Welche Freude, o Ursus! Meine Schwester Salome, von der ich seit 10 Jahren getrennt war, habe ich hier wiedergefunden!"
„O Asa, auch ich freue mich um deinetwegen", sprach Ursus, „so bleibet denn zusammen, bis der ewige Gott es anders über euch bestimmt!" Auch die anderen waren erfreut über dieses Sich-wieder-finden und Thomas verstand es, das rechte Verständnis für diese Gnade in ihnen zu wecken.
Es wurden nun drei Karawanen zusammengestellt: Eine des Ursus, der auch noch all diese Wächter zu sich nahm, eine für Bernhart und eine für Joseph und Joram, und ganz frei durften sich die Männer und Frauen entscheiden. Dann nahmen sie Abschied von dem gastlichen Hause und seinem Besitzer Thomas, der sie alle segnete.
Achibald musste sich entschliessen, seiner Neigung nach noch mit Ursus zu reisen oder nach der Stätte seiner Pflicht zurückzukehren, denn seine Mission war erfüllt.
Ursus aber versprach ihm, sobald sein Geschäft erledigt sei, bestimmt nach Cäsarea zu kommen. So trennten sich die Freunde mit dem Vorsatz, jede Gelegenheit zu benutzen, sich wiederzusehen. Achibald ritt mit seinen Soldaten und dem gefangenen Assir nach Cäsarea zurück, wo sie am anderen Tage gegen Mittag ankamen.
Cornelius aber hatte durch seinen Engel schon Kunde von dem glücklichen Ausgang der Mission erhalten und begrüsste sie voll Freude: „Mein Achibald, und ihr, meine Kameraden! Ich bin unterrichtet von all eurem Tun und eurem schönen Erfolg! Doch nicht ich danke euch, sondern Gott, der Ewige, dankt euch! Ich darf euch nur Seinen Dank übermitteln.
Das grösste Geschenk aber, welches ihr mir mitbringet, ist die Freude, die ich in euren Augen lese! Ihr seid Zeugen geworden von Gottes Weisheit, Liebe und Erbarmung und ich wünsche, dass ihr dieses grosse Erleben nie vergessen möchtet! Dieses sagt euch euer Hauptmann und Führer Cornelius. Wer aber von euch das Bedürfnis hat, sich über des ewigen Gottes Liebe und Erbarmung beraten und unterweisen zu lassen, der soll ohne Scheu kommen und soll erfahren, dass ich euch auch ein Bruder und Diener sein kann! Heute seid ihr frei — und abends seid ihr meine Gäste! Heil euch!"


Ausklang

Die Sonne hatte sich schon stark geneigt, als der alte Eusebius nochmals den Blick in die Ferne schweifen liess. In seiner Seele war eine Unruhe, die immer stärker wurde und so sprach er zu der Magd: „Mir ist, als wenn Bernhart mit den Kindern bald kommt." Die Magd nahm es nicht so ernst, weil diese Tage für Eusebius immer voll Unruhe waren; aber plötzlich sah er Reiter und Wagen kommen und fragte erregt: „Wer ist denn das? Sind es Templer, oder könnte es Bernhart sein?" Und ehe die Magd antwortete, kamen schon Ursus und Bernhart angeritten, sprangen vom Pferde und begrüssten den Alten.
Dieser fragte ängstlich: „Wo sind meine Kinder?", doch schon waren auch Joseph und Joram da und stürmisch umarmten sie ihren Vater. Dann kam auch Ruth mit den Wagen und Eusebius stand fast sprachlos vor Freude unter ihnen.
Ruth berichtete gleich: „Vater, wir bringen noch all die gefangenen Christen mit und auch einen Kranken; du behältst sie doch gern in unserem Hause?"
„Kinder, dass ihr nur wieder da seid! Für die anderen wird schon auch Platz geschafft. Wer ist dieser Mann hier?"
„Dieses ist Ursus, ein Römer, aber einer der Unsrigen, den uns Gott wie einen rettenden Engel zugesandt hat."
Ursus wartete, bis sich der Freudensturm gelegt hatte. Er war ergriffen von all der Freude, aber ihn schauerte, so er daran dachte: Wenn den Templern ihr Raub geglückt wäre, was wäre aus diesen edlen Menschen Und dem ehrwürdigen Alten geworden?
Eusebius sah seinen Ernst und entschuldigte sich: „Lieber junger Freund! Lasse keinen Schatten auf dein Herz fallen, weil wir in unserer Freude dich fast nicht beachten. Die Freude, uns wieder zu haben, ist ja so gross, dass sie nicht geschildert werden kann."
„Auch ich freue mich mit euch, mein Vater!", sprach Ursus freundlich, „da ich ja auch mithelfen durfte, dieses grosse Rettungswerk zu vollbringen! Wenn du erst alles erfahren wirst, dann ist kein Himmelsbürger seliger als du, denn alle diese harten Prüfungen und Führungen sind ein sichtbares Gottes-Werk und für alle ein Gottes-Wunder!
Aber, lieber Vater, unsere Leute und Tiere brauchen jetzt ihre verdiente Ruhe, lass mich nur alles anordnen, denn du bist der vielen Leute ungewohnt."
Ein Händedruck und Ursus ging hinaus; er liess die Kolonne Bernharts und seine Leute Zelte aufbauen und Kochfeuer anrichten. „Ihr Anderen aber, die ihr nun zu diesem Hause gehört, geduldet euch, euer Brotherr Eusebius muss alles erst mit seinen Söhnen beraten."
Nach so mancher Mühe, die an diesem Abend noch nötig war, wurde das zubereitete Mahl fröhlich eingenommen und zuletzt wurde eine allgemeine Andacht gehalten. Eusebius wollte noch vieles erfahren und so wurde bis nach Mitternacht berichtet und der Alte sagte zuletzt noch: „O Gott! Wie gut bist Du! Was wäre uns ohne Dich geschehen!"
Auch Ursus konnte noch so manches Schöne erzählen von dem jungen Römer Achibald und wie er ganz durchdrungen ward von dieser überall sichtbaren göttlichen Liebe, die seinen Auftrag segnete.
Ursus wollte dem Eusebius gern ein grösseres Geschenk machen, weil er doch nun für all die Leute zu sorgen hatte, aber dieser sagte: „Mein Bruder, du warst Zeuge unseres Glücks, als meine Kinder, die ich fast als verloren ansehen musste, wieder in meine Arme eilten! Nur Gott weiss, in wie schweren Sorgen ich war, ich wäre gestorben, wären sie nicht zurückgekommen. Nun schenkte mir Gott zum zweiten Male meine Kinder und dazu noch 50 Seelen, deren ich mich in Liebe gern annehmen will!
„O mein Ursus, mein Bruder! Wenn Gott eines Seiner Kinder prüft, tut Er es nicht ohne Zweck und kommt mit Seinem so reichen Lohne, wie es nicht erwartet werden konnte. Behalte, was du mir zugedacht, du triffst ja auf deinen Reisen so viele, viele Arme! Aber kannst du nicht noch einen Tag rasten und mir behilflich sein bei der Unterbringung der neuen Hausgenossen? Meine Söhne sind dessen noch ungewohnt und Bernhart muss heimziehen, denn er nimmt doch die vielen Anderen zu sich!"
„Lieber Vater Eusebius! Gern bliebe ich noch einen Tag bei euch, aber solange ich die sich mir anvertrauten Templerdiener nicht restlos versorgt habe, ruft mich die Pflicht zur grössten Vorsicht! Ich komme später wieder, um das Eigentum Elims zurückzubringen. So wie du heute die Neuangekommenen schon wie deine Kinder lieben willst, so will auch der überherrliche Jesus uns Vater sein! Sei versichert, in diesem Lieben und Dienen bist du aller Sorgen entbunden und euer Leben wird täglich bereichert! Denn wo Gott weiss, dass sein Kind getreulich Lasten und Bürden tragen will, kennt Er schon Wege, die uns glücklich machen. Dies habe ich oft erfahren, dadurch ward mein Herz erst fähig, so reich zu lieben und zu geben!"
Frühzeitig schon war Ruth mit anderen Schwestern mit der Zubereitung des Morgenmahles tätig und dann nahte die Stunde des Abschieds. Ursus nahm die Wagen und Tiere des Elim vorläufig mit und versprach, alles Gut, das Assir sich angeeignet hatte, im Sinne der Liebe zu verwenden. So segnete denn Eusebius all die Scheidenden im Namen des Heilandes und Retters Jesus.
Ruth fühlte sich wieder in ihrem Element und sorgte für ihren alten Vater und für Elim, der fast gesund war und den beiden Söhnen gute Ratschläge erteilen konnte, um den fünfzig Menschen neue Arbeit und Brot zu geben, und das Wort des Ursus: „Wer ein Leben der Liebe und des selbstlosen Dienens lebt, ist der Sorge entbunden!", erfüllte sich auch hier.
So verging ein Monat. Da kamen römische Soldaten und fragten nach Elim, ob er noch im Hause weile, und meldeten: „Heute in drei Tagen ist hier Gerichtsverhandlung! Wir haben noch Bernhart und seine beiden Knechte hierher zu laden, ebenso sollen Joseph, Joram und Ruth sich als Zeugen bereit halten!"
Elim sprach, als er davon Kenntnis erhielt: „Dieser Tag wird uns die Abrechnung all dieser unserer Prüfungen zeigen und unseres Gottes gnädige Vorsehung offenbaren!"
Als der Tag kam, an dem sich das Schicksal Assirs entscheiden sollte, erschien gegen Mittag Bernhart mit seinen Knechten, freudig begrüsst von allen. Dann kamen die Römer Cornelius und Achibald im prächtigen Wagen und die Soldaten, die den Zug vor einem Monat begleiteten. Assir war stark bewacht und war fast nicht mehr zu erkennen. Römische Richter und Schreiber liessen Tische und Bänke auf dem Hof herrichten und das Gericht trat zusammen.
Die erste Frage lautete: „Assir, erkennst du uns als Gericht an?" Assir antwortete laut: „Nein! Ich verlange vor ein Tempelgericht gestellt zu werden!"
Sprach der Richter: „Assir, du hättest milde Richter gefunden; aber nun kann nur noch Gerechtigkeit walten, denn Milde willst du nicht!"
So wurden Joseph, Joram und Ruth gehört. Als Ruth schweigen wollte, sagte der Richter: „Ruth, du stehst hier im Angesichte Gottes vor den Menschen, die Gott als Richter gedungen hat, du hast die Pflicht, alles der Wahrheit gemäss zu berichten, ein Schweigen und Verschweigen rettet den Angeklagten nicht vor Strafe!"
Als alle vernommen waren, fragte der Richter ernst: „Assir, was hast du darauf zu erwidern?" „Was soll ich erwidern", entgegnete Assir, „der Tod ist mir doch sicher!"
„Du irrst", erwiderte der Richter, „wir wollen nie den Untergang eines Menschen, sondern bieten einem jeden Verirrten die Hand zur Rettung. Du gibst zwar alle Schuld dem Tempelrat, wir aber haben es mit dir zu tun! Du hast den Raub angeordnet, du hast dich durch Betrügereien bereichert, du hast die dir anvertrauten Menschen grausam misshandelt und einen Mordversuch an deinem Freunde Elim verübt! Noch einmal frage ich dich als dein Richter: gibst du zu, schuldig zu sein?"
„Gewiss bin ich schuldig", antwortete Assir, „aber die Strafe gehört den Templern, die mich zu dem erzogen haben! Was geht es überhaupt euch Römer an, so ich mir im Dienste des Tempels Übergriffe erlaube? Seid doch ihr Römer nichts anderes als auch Räuber. Wo sind meine Leute, wo mein Eigentum? Geraubt und gestohlen!"
„Wenn du zu deiner Entschuldigung nichts besseres sagen kannst, schliessen wir das Verhör, in zwei Stunden wirst du dein Urteil hören!"
Ein Mahl wurde bereitet, aber Freude wollte nicht aufkommen, wie ein Alp lag es auf allen. Dann trat das Gericht noch einmal zusammen und verkündete das Urteil: „Zehn Jahre Galeeren unter strengster Bewachung!" So wurde Assir schwer gefesselt abgeführt, hätte er Reue gezeigt und Besserung versprochen, wäre er nur zu 1-2 Jahren Galeerenstrafe verurteilt worden.
Der alte Hausvater bat die Römer: „Bleibet noch einige Tage meine Gäste. Zu all diesem Trüben gehört auch die Freude, und diese ist wahrhaft in mein Haus eingezogen mit all den von euch befreiten Menschenkindern!"
Cornelius möchte nun die neuen Hausgenossen in ihrer Beschäftigung sehen und war erfreut, wie gut Eusebius für seine Leute sorgte.
Achibald fragte, wie er über Elim dächte.
Eusebius erwiderte: „Bruder, Elim ist uns fast unersetzlich geworden! Seine klugen Anweisungen aus seinen reichen Erfahrungen haben etwas an sich, was wir nicht in uns haben, ich möchte ihn immer hier behalten. Das Beste ist aber, er ist ein Christ geworden, wie es wenige gibt: gross im Schweigen, aber hilfsbereit für alle."
Durch die neuen Arbeiter konnte Eusebius aus seinen Wäldern einfache, hübsche Holzbauten für die Unterkunft der vielen errichten lassen und wollte nun, nach Elims Ratschlägen, das viele Weideland in Acker und Gartenland verwandeln, um alle Produkte, die nötig waren zum Erhalt und Gewinn, selbst zu bauen.
Auch Bernhart berichtete von seinen neuen Mitarbeitern, dass sie sich zufrieden und glücklich bei ihm eingewöhnt hätten, und Cornelius versprach, auch ihn zu besuchen, was grosse Freude auslöste.
Als sich nachher alle im gemeinsamen Schweigen gesammelt hatten, stand Cornelius auf und sprach: „Meine teuren Freunde! Den heutigen Tag darf ich als einen der schönsten in meinem Leben ansehen, denn ich durfte erfahren und erschauen, wie wunderbar Gott uns die Wege zum Helfen zeigt und wie herrliche Mittel Er uns dazu in die Hände spielt, wenn wir Seinen Weisungen vertrauen und unsern ganzen Tat-Willen für die Befreiung unserer Mitmenschen einsetzen! Der grösste Lohn ist uns die Freude, zwei Brüder, Elim und Achibald, als tüchtige Arbeiter an dem grossen Jesus-Werke der Erlösung aus allem Leid gewonnen zu haben.
Welch reinste Freude war es für mich, als mein junger Freund Achibald nach der Reise strahlend zu mir kam und sagte: ,Dein Gott ist nun auch mein Gott und dein Heiland ist auch der meine geworden! Nun habe ich nur noch den einen Wunsch: auch ein Anderer dem Beruf nach zu werden, da sich Christ und Soldat noch nicht ganz in mir einen.'
Darum, lieber Eusebius, habe ich eine grosse Bitte an dich, an deren Erfüllung mir sehr viel liegt. Achibald möchte Landmann werden, nimm ihn auf in dein Haus. Nur wegen Achibalds Zukunft weilen wir noch hier, und wenn du damit einverstanden bist, dann sage ich dir: er kommt auch noch mit anderen Absichten, über die ich aber nicht sprechen will."
Eusebius sprach herzlich: „Sei uns willkommen, Achibald! Du ahnst wohl kaum, wie glücklich du mich machst und mir meine einzige Sorge abnimmst; du kommst und möchtest mein Sohn werden? Was Ruths Mund verschwieg, haben aber schon ihre Augen verraten, darum sage ich dir: Was unser Heiland zusammenführt, kann nur Gutes zeitigen! Darum komme, meine Ruth, und haltet euch fest fürs Leben! Mein Segen ist und soll wortlos sein, weil eure Werbung auch eine wortlose war! Ich fühle es: eine grosse Aufgabe ist euch noch zugedacht. Und eine Ahnung sagt mir, dass auch ein geheimer Wunsch unseres guten Gottes und Vaters dabei in Erfüllung gehen wird."
Cornelius war tief ergriffen, dabei wurde plötzlich ein Engelsbote seinen Augen sichtbar und dieser sprach: „Offenbare deinen Brüdern auch unsere Teilnahme! In allen Himmeln ist Jubel, weil endlich wieder Bedingungen erfüllt sind, um neue Segens-Ströme, neue Lebens-Wellen aus dem Geiste wahrer Liebe und Hingabe an das grosse Erlösungs-Werk erstehen zu lassen. Die ewige Liebe ist besorgt um viele, viele Ihrer treuen Kinder, die aus Not und Bedrückung einen Zufluchtsort der Ruhe suchen, und diesen dürft ihr mit schaffen!
Erwerbet so viel Grund und Boden wie nur irgend möglich. Die Mittel fliessen euch zu, wenn ihr wahrhaft an das Gelingen glaubt, und erbauet nicht nur in eurem Herzen, nein, auch auf dem neu erworbenen Land, Wohn- und Ruhestätten für die Verfolgten. Denn das Böse in den Herzen jener Gottes-Feinde versucht mit Macht, grünende Saaten zu zertreten, die der Herr als Menschensohn in die Herzen Seiner Getreuen gelegt hat. Bauet nicht nur euch ein Haus, wo ihr euch sonnen könnt in Seiner Liebe; sondern bauet dem Herrn ein Haus in den Herzen derer, die da wissen: Alles Leben ist Gnade! Alles ist durchdrungen vom Geiste Seines ewigen Schaffens und Erhaltens! Erschrecket nicht über das, was in der Welt vorgeht! Je sicherer ihr euch in der Fürsorge eures Gottes und Vaters fühlt, umso mehr könnt ihr die Wunden lindern, die die Welt schlägt! Trocknet die Tränen! Lindert den Schmerz! Dies sei mein Wunsch und mein Segens-Gruss aus meiner Welt, die hereinragt in die eurige!"
Cornelius schwieg bewegt — dann fragte Achibald glückstrahlend: „Ruth, ist es wahr, du willst mit mir gemeinsam durchs Leben gehen und mir Weib und Kamerad sein?"
„Ja, Achibald! Da du dich zum Heiland bekannt hast, habe ich mich zu dir bekannt! Siehe, der gütige Heiland sagte einmal zu mir: „Harre der Stunde, die Ich seit Ewigkeit schon in Bereitschaft halte! Denn dem du gern Gefährtin sein willst, den muss Ich erst noch zubereiten, weil, solange dein Bild in ihm mehr lebt denn Meines, er noch nicht deiner wert ist!"
Und so hat sich nun die Verheissung meines Gottes erfüllt!
Wir aber wollen dem Herrn dienen und in allem Geschehen Seinen heiligen Plan zu erkennen suchen, dann sind wir Gesegnete und dürfen wieder segnen!"





So wurde Leid in reinste Freude verwandelt, Schmerz und Kummer zu einem grossen Glück umstaltet, welches der grosse Gott vorgesehen als Sieg für Seine geprüften Kinder!