Heft 13. Himmelfahrt
Inhaltsverzeichnis
01. I. Ein Morgen in Bethanien
02. II. Rückkehr ins Elternhaus
03. III. In der neuen Heimat
04. IV. War Jesu
sichtbarer Abschied notwendig?
05. V. Jesu Belehrung über Sein Erbe
06. VI. Vom Schweigen
07. VII. Ursus im Tempel und
auf Golgatha
08. VIII. Beim Festmahl aus den
Himmeln
09. IX. Jesu Himmelfahrt
10. X. Ausklang
I. Ein Morgen in Bethanien
„Morgenstund hat Gold im Mund!", nach diesem Wort handelte man auch in
Bethanien. Kaum hatte die Sonne, die für alles sorgende Tages-Mutter, ihr volles
Licht über Bethanien ausgegossen, da regten sich auch schon viele Hände in dem
grossen Betriebe. Die Gäste aber hatten die Weisung, erst nach dem Läuten zum
Frühmahl in die grosse Wohnstube zu kommen, da Lazarus vorher durch alle Ställe,
Lager und Schuppen seinen Rundgang machte, nicht um zu kontrollieren, nein, um
sich auf seine Pflichten für den kommenden Tag vorzubereiten.
Theophil war längst erwacht; knieend lag er vor seinem Lager und betete innig:
„O Gott und Herr! Du ewig erbarmende Liebe! Mit diesem Tage beginnt für mich ein
neues Leben, ein Leben der Liebe in Deinem Dienste! Du siehst mein Herz und
weisst, wie leer es ist von Gütern, die Du seit meinem ersten Atemzug in mich
legtest. Ich kann Dir nichts zum Dank bringen für die Gnade, die ich durch Deine
Erwählten hier erhalten habe, aber. Bin ich auch armselig, so doch voll guten
Willens, mich Deiner Gnade würdig zu machen! Darum stärke mein Wollen und gib
mir Kraft zum Vollbringen!" Durch das Läuten zum Morgenmahl wurde er abgelenkt
von seinem Gebet; sich erhebend sprach er noch: „O Gott, mehr, als mir möglich
ist, wirst Du doch nicht verlangen! (Diese Befürchtung erwachte durch seine
bitteren Erfahrungen mit den tempelpriestern, die oft mehr verlangten, als einem
ehrlichen Menschen möglich war!) Dann begab er sich nach dem Wohnraum, wo
Johannes und Ursus schon in reger Unterhaltung standen.
Herzlich kam Johannes dem Theophil entgegen und sagte: „Mein Bruder, freue dich!
Die ewige Liebe hat dich bedacht und dich schon zur Arbeit bei uns gedungen!
Darum freue dich, wie wir alle uns darüber freuen!"
„Ich danke dir, du lieber Bruder", entgegnete Theophil ernst, „deine Worte geben
mir Kraft und Leben; ich fühle eure Liebe! Je mehr ich aber eure liebevolle
Fürsorge für mich erkenne, umso ärmer und unwürdiger komme ich mir selber vor."
Johannes sah ihn mitfühlend an, ermahnte ihn aber sogleich: „O lasse dich nicht
von Gedanken beeinflussen, die nicht der Liebe entspringen! Niemand hier wird
mehr verlangen, als was man zu geben vermag."
Dann sprach Ursus zu Theophil: „Mein lieber Freund und Bruder in dem Herrn! Es
ist doch die schönste und herrlichste Ermunterung, so die reine Liebe dir
entgegenkommt und dich auffordert zum Freuen und wiederum zum Freuen! Wüsste ich
nicht, dass in der rechten Freude der Geist alles Lebens am allermeisten
angeregt wird, so würde ich schweigen und dich nur mit einem Händedruck
begrüssen! Aber schon die Freude, dich als einen Bruder kennen zu lernen, der in
seiner geistigen Nacht die erbarmende und rettende Jesushand ergriffen hat, löst
ein Glücks-Empfinden in mir aus! Ich weiss nun, du bist von Jesus angenommen,
wie auch ich von Ihm angenommen wurde!"
Auch die anderen Gäste kamen und begrüssten sich froh. Als aber die Mutter Maria
mit Ruth ins Zimmer trat, leuchteten aller Augen. Maria sprach: „Innig grüsse
ich euch alle! Mein Herz fühlt sich so beglückt, denn wohin mein Auge blickt,
sehe ich die Liebe wirken! Wohin mein Ohr lauscht, höre ich den Ton aus der
ewigen Heimat, der uns alle inniger und fester verbindet, der uns vertraut macht
mit den Seelen-Regungen, die aus der Liebe geboren werden!"
Als Ruth über all diese Freude weinen musste, nahm sie das junge Mädchen an ihre
Brust und sprach voll Mitgefühl: „An dir ist viel gutzumachen, denn dein Leben
hatte wenig sonnige Tage auf zuweisen."
Zuletzt kam Lazarus mit Demetrius; nach kurzen, innigen Begrüssungsworten wurde
das aufgetragene Frühmahl, welches in Milch, Brot und Honig bestand, schweigend
verzehrt. Über die Segensworte des Lazarus: „Herr Jesus, der Du im Geiste Deiner
Liebe gegenwärtig bist, segne uns und dieses unser Mahl und lasse damit in uns
reifen Kraft und festen Willen!", dachten alle, hauptsächlich Ursus und
Theophil, noch lange nach. Ursus war beglückt über all dieses aufleuchtende
Innenleben in Bethanien, Theophil aber wurde innerlich zagend, ob solche Freude
am Leben sich auch in ihm einst offenbaren könnte?
„Nun wollen wir danken!", sprach darnach Lazarus, „denn wes das Herz voll ist,
des gehet der Mund über!" (Matth. 12, 34). Johannes erhob sich und sagte: „Meine
Brüder, und ihr Schwestern! Die ewige Liebe hat uns wiederum gesegnet und gab
uns, was nötig war zur Stärkung unseres Leibes. Aber nicht dafür allein wollen
wir danken, sondern: Wir danken Dir, Du treuer und fürsorgender Vater, dass wir
wiederum in Deinen Diensten stehen und Gebrauch machen dürfen von all den uns so
überreich geschenkten Gaben Deiner Vater-Liebe! Gib uns das rechte Licht, damit
wir erfüllen alle auf uns harrenden Aufgaben mit Deiner Liebe! Dein heiliger
Friede in uns sei unsere ganze Kraft und Stärke! Amen!"
„Amen!", sagten alle; dann stand Lazarus auf und sprach: „Meine Lieben! Die
Liebe hat sich zu unser aller Freude bekundet! Nun wollen auch wir bekunden,
dass wir diese Liebe, diese herrliche und ewige, erfreuen wollen durch unser
Tun! Und so denke ich: Du, Ursus, kannst mit einigen deiner Leute nach Jerusalem
reiten, um Ruth zur sehnsüchtig wartenden Mutter zu bringen; denn es geht nicht
an, sie noch länger in Bangigkeit warten zu lassen. Theophil, du und Johannes,
ihr beide bleibt heute zusammen, damit der Boden deines Gemütes noch gereinigt
werde von so manchen Wurzeln und Fasern deiner angewohnten Begriffe. Wir aber,
Demetrius und ich, beschauen das Land vom Ölberg aus und lernen uns dabei noch
näher kennen."
Ursus reichte dem Lazarus dankbar die Hand und sprach froh: „Wenn ich noch
Zweifel hätte an der Gegenwart Jesu hier, so hätte dieser dein Auftrag, Bruder
Lazarus, mir jeden Zweifel nehmen müssen! Siehe, in meinem Herzen formte sich
schon der Wunsch, Theophils Schwester bei der Rückreise behilflich zu sein; eine
leise Stimme aber sagte darauf: ‚Glaube, dass Ich hier bin und das Rechte
veranlassen werde!' Nun habe ich eine besondere Freude daran, nach Jerusalem zu
gehen, denn nun ist es mir gewiss: Die ewige Liebe braucht Helfer, braucht treu
ergebene Diener und ich darf dieser Liebe auch etwas sein!"
„Ganz recht, mein Ursus", entgegnete Lazarus. „Es ist wohl gut, so man aus der
Hand der ewigen Liebe schon einen Auftrag erhält und ihn ordnungsgemäss
ausführt! Aber noch besser ist es, wie du unbewusst getan, so ich selber in mir
nach einer Betätigung suche, die dem Nächsten nützen wird! Siehe, unser aller
Verhältnis zu Gott ist, irdisch genommen, wie Vater und Sohn! Die Liebe unseres
grossen Vaters ist die gleiche zu allen Seinen Kindern! Aber nicht gleich ist
die Liebe der Kinder zu ihrem Vater. In allen lebt wohl der Gedanke: Wir sind
unserem Vater zu Dank verpflichtet! Aber echte Kindes-Liebe sucht bewusst nach
immer neuen Mitteln und Wegen, sich diesem Vater in freien Liebe-Taten dankbar
zu erweisen!"
Nachdenkend antwortete Ursus: „Ja, ein grosses Licht der Wahrheit haben deine
Worte in mir angezündet! Und so will ich mich bewusster noch bemühen, dem Vater
meinen Dank und meine Kindesliebe in freien Taten der Nächstenliebe
darzubringen!" Dann zu Demetrius sich wendend, sagte er: „Nun, lieber Herr und
Bruder, lass mich meine Anordnungen treffen zu dieser Reise nach Jerusalem, die
gewiss deinen Beifall findet." Und rasch verliess er das Zimmer.
„Bruder Theophil, nun bist du an der Reihe, zu beweisen, was die Liebe vermag!",
sprach Lazarus freundlich. „Darum versuche, deiner lieben Schwester den Abschied
von hier recht leicht zu machen, denn ihr Herz gehört dir! Belohne sie für das
Opfer, welches sie dir gestern brachte mit deiner Liebe!" Und zu den Anderen
gewendet: „Verabschieden auch wir uns von unserm lieben kleinen Schwesterlein,
welches vorerst wieder ins Elternhaus zurück gebracht werden muss. So grüsse
dein Mütterchen von Bethanien und sage ihm: Es wartet auf euch!" Mit einem
herzlichen Händedruck und einem tiefen Blick in ihre mit Tränen gefüllten Augen
—, so schied Lazarus von dem Mädchen; auch die anderen nahmen Abschied und
Theophil und Ruth blieben allein.
„Ruben! Warum muss ich fort von hier? — Warum darf ich nicht länger bleiben?",
fragte Ruth traurig. „Ich werde mich zu Hause nie mehr froh fühlen können! Es
ist, als ob hier unsere Heimat sei und dort in Jerusalem das Haus der Fremde."
„Meine Ruth", antwortete der Bruder sanft, „wie oft trennten wir uns schon und
haben nichts dabei gefühlt! Aber nun, da wir die Freude derer gesehen haben, die
in der Liebe den wahren Wert alles Zusammenlebens erkannt haben, da sehen wir
unser Leben, welches wir bisher lebten, anders an! Gewiss, hier herrscht das
Gegenteil von dem wie bei uns! Wenn aber erst der Geist der Liebe auch uns so
mächtig erfüllen wird, dann wird auch unser Elternhaus zu einer Stätte solchen
Friedens werden. Ich bleibe hier, um zu lernen, um mich zu prüfen und mich reif
machen zu lassen für das Werk Jesu! Auch du darfst oft wiederkommen und wirst
vielleicht den Vater überzeugen können von dem, was er bisher versäumte! Denn
ich erkenne immer mehr, dass mein und dein Leben kein Leben war und habe den
brennenden Wunsch, unser Leben lichtvoller zu gestalten! Doch siehe, dazu
brauche ich deine Unterstützung! Solange ich weiss, du bist bedrückt, dir fehlt
der Friede, der die Bethanier zu so frohen Menschen macht, da leide ich mit
dir, und mein Ringen wird mir erschwert. Bin ich aber so weit, dass ich mich
durchgerungen habe, dann, liebe Ruth, gilt mein Leben doch vor allem eurem
Frieden!"
Ursus kam ins Zimmer und sprach: „Bruder im Herrn! Alles ist bereit, deine
Schwester ins Elternhaus zurück zu bringen. Hast du noch etwas zu bestellen,
falls ich deinen Vater antreffe?"
„Ja, mein lieber Ursus", antwortete Theophil ernst, „sage ihm, dass die
erbarmende Gottes-Liebe mir die Augen öffnete und mich wieder zu einem hoffenden
Menschen gemacht hat! Nie werde ich zum Tempel zurückgehen! Lieber der
einfachste Taglöhner, als ein blindes Werkzeug des Tempels zu sein, sei mein
bestimmter Wille! Lazarus bot mir nicht nur die Hand, sondern auch seine Liebe
an; und so darf ich hoffen, mit Gottes Hilfe auch noch ein froher, guter und
nützlicher Mensch zu werden! — Und sage ihm weiter, dass diese Umkehr auch für
ihn noch nicht zu spät sei!"
„Gern, lieber Theophil, will ich deinem Wunsche nachkommen", sprach Ursus, „und
werde das Meine noch dazu tun! Denn den Templern kann ich so manches nicht
vergessen — und werde mich freuen, so ich im Geiste Jesu unter ihnen wirken
darf!"
Im Hofe standen fünf Reiter und ein Wagen für Ruth; ein Knecht hielt mit Mühe
das für Ursus bestimmte, lebhafte Pferd, und einige der Bewohner hatten sich zum
Abschied eingefunden. „Ruben", fragte Ruth leise, „warum sind hier die Leute so
gut? Dies frage ich mich immer wieder und werde es nie mehr vergessen!"
Zum Abschied nahm Mutter Maria die kleine Ruth bei der Hand und sprach:
„Besteige ruhig das Gefährt! Die Liebe Jesu geleite dich in die Arme deiner
Mutter! Wir vergessen dich nicht und sehnen die Stunde herbei, wo deine Eltern
von Händen reiner Kindesliebe nach Bethanien geführt werden. Denke oft daran,
was alles ich dir gestern sagen durfte, und vergiss das Schönste nicht: Dass
Jesus, der liebevollste und beste Freund, auch dich sehr lieb hat! Dies zu
wissen, macht dich stark und unüberwindlich! Der Segen des Herrn sei dein Teil!"
— Auch die Anderen nahmen Abschied, und auf ein Zeichen des Ursus rollte das
Gefährt aus dem Hofe.
Theophil sah lange und ernst dem Zuge nach; da sprach Johannes ermunternd:
„Bruder, nicht träumen, sondern stets wachen Auges und wachen Sinnes sein! Ist
dir doch klar geworden, dass, so man seinem Leben einen anderen Inhalt geben
will, man auch das alte abstreifen muss! Mit dem Abschied deiner Schwester ist
der letzte Stein deiner alten Anschauungen ins Rollen gebracht! Halte ihn nicht
auf, sondern schaue auf das Kommende und auf den Herrn! Dann wirst du spielend
alles noch Hindernde in dir überwinden! Denke auch daran, dass keinem Menschen
das Streben nach Vollkommenheit kampflos zufallen kann! Auch Jesus musste darum
ringen, oft bitter und schwer! Aber nun, wo Er all Sein Menschliches überwunden
hat, ist Er der Herr, und erkennen wir Ihn als den Sieger! Darum gedenken wir
bei jedem Kampfe mit dem Weltlichen Seiner Worte: ,Fürchtet euch nicht! Denn das
neue Leben, welches euch nach dem Kampf von Mir zufliesst, birgt keine Gefahren
mehr, sondern ist Kraft und gibt klarstes Bewusstsein!' Auch du, lieber
Theophil, wirst dieses Sein Leben in dir erfahren! Darum komm, heute führe ich
dich als künftigen Bewohner des Hauses Lazarus durch den ganzen Besitz. Es ist
nötig, damit du weisst, wo du zu Hause bist; die Gefahren durch die Templer sind
oft fein angelegt, doch hierher getrauen sie sich nicht mehr!
II. Rückkehr ins Elternhaus
Verwundert blickte Ruth auf das selten schöne Pferd und den kräftigen Römer, der
schweigend neben ihrem Gefährt herritt; als aber zwei Männer im griechischen
Gewand ihnen begegneten und tief in den Wagen schauten, fragte Ursus: „Sind dir
diese beiden Männer bekannt? Ihre Neugierde ist mir doch sehr auffällig — ich
glaube, es sind verkleidete Templer."
„Mir sind sie nicht bekannt", antwortete Ruth; „wurden wir doch vom Vater so
streng gehalten, dass wir kaum jemanden kennen lernten." „ Hoffentlich wird
alles jetzt anders, liebe Schwester", tröstete Ursus sie, „denn auch für deinen
Vater gibt es ja einen Meister - und dieser ist Jesus, unser aller Freund!"
Rasch ging die Fahrt weiter. Als man am Stephans-Tore angelangt war, bat Ruth,
hier aussteigen zu dürfen, da sie lieber zu Fuss bis zum Elternhause gehen
möchte. Ursus schickte den Wagen zurück nach Bethanien und folgte, im Schritt
reitend, mit seinen Leuten der vorauseilenden Ruth. Ihn bewegten verschiedene
Fragen: Ist der Vater noch feindlich auf Jesus eingestellt? — Wie mag es der
kranken Mutter ergehen? — Werde ich ihnen etwas Gutes sagen können?
Vor einem grossen Hause blieb Ruth stehen und sagte zu Ursus: „Hier bin ich
daheim! Bitte, komme mit zu meinem Vater, da ich das Gefühl habe, er braucht
uns!" Ruth ergriff den Klopfer, und nach kurzer Zeit wurde sie mit lauter Freude
von der Magd begrüsst. Ursus übergab unterdessen sein Pferd seinen Untergebenen
und gab Anweisung, sich ein Quartier zu suchen, ihn aber dann sogleich davon zu
benachrichtigen.
Die Magd war voll Freude ins Zimmer gestürzt: „Ruth ist gekommen! Ruth ist
angekommen!" Die Mutter wollte sich von ihrem Lager erheben, war aber viel zu
schwach dazu; da trat schon Ruth, gefolgt von Ursus, herein und wollte freudig
Mutter und Vater begrüssen; als sie aber die beiden Priester Hosea und Joab
erblickte, brachte sie vor Schreck kein Wort hervor.
Da sprach Ursus zu ihr: „Begrüsse ruhig deine Eltern und fürchte dich nicht;
denn Jesus hat mich ja zu deinem Schutz bestellt!" — Die Anwesenden aber
begrüsste er nur durch Neigen des Kopfes. — Nun eilte Ruth zur Mutter und
umarmte sie stürmisch.
Hosea aber sah Ursus verächtlich an und sprach: „Was heisst das: Jesus hat mich
zum Schütze bestellt? — So du vielleicht noch unwissend bist, so sage ich dir:
du bist in einem jüdischen Hause, das von Jesus nichts wissen will!"
„Bist du der Hausherr und der Vater von Ruth?", fragte Ursus erstaunt. „Wenn ja,
dann will ich meine Mission erledigen! Wenn nicht, hast du doch nicht das Wort
an mich zu richten."
Ehe Hosea antworten konnte, trat Enos zu Ursus und sprach: „Ich bin der Vater
Ruths! — Und wer bist du?"
„Mein Name ist Ursus!", antwortete dieser. „Ich bin der Sohn des römischen
Kaufherrn Demetrius, jetzt Gast des grossen Menschenfreundes Lazarus von
Bethanien. Auf ausdrücklichen Wunsch unseres Freundes Lazarus habe ich mit
mehreren Soldaten deine Tochter wohlbehütet und ohne Schaden wieder
zurückgebracht und hoffe, mir dir und deinem Weibe noch etwas Wichtiges
besprechen zu können."
„Nichts gibt es zu besprechen", fiel Hosea dem jungen Römer in die Rede, „denn
wir sind Priester und Herren des Hauses." Worauf Ursus ihm scharf entgegnete:
„Mit welchem Rechte du dich zum Herrn dieses Hauses machst, kümmert mich nicht!
Aber mit welchem Rechte du mir verbieten willst, mit dem Vater der Ruth zu
sprechen, möchte ich wissen! Denn ich bin gewohnt, klar zu sehen."
„Mit dem Rechte, welches uns Jehova gegeben!", antwortete herausfordernd Hosea,
„da wir Seine Diener und Priester sind."
Ursus aber entgegnete ihm kühl: „Mit Jehova und Seinen Dienern habe ich nichts
zu tun, folglich auch mit euch nicht! Da ich aber Gast in diesem Hause bin,
möchte ich nicht der Grund von Unfrieden sein! Darum werde ich gehen, und komme
später wieder."
Da rief Ruth bittend: „O Ursus, bleibe um meinet- und der Eltern willen! Diese
Priester geben wohl an, Freunde zu sein, aber sie sind unsere Feinde."
„Schweige!", rief Hosea erregt, „bis du gefragt wirst, und kümmere dich um deine
Mutter, die du gestern ohne wichtigen Grund verlassen hast, du Ungetreue."
Schmerzlich berührt wollte Ruth etwas erwidern, da nahm Ursus sie zur Seite und
sprach tröstend: „Kümmere dich nicht um diese Männer! Vertraue Jesum und mir."
Zu Hosea gewandt aber sagte er stolz: „Ist das die Art eines Gottes-Dieners, als
Gast im Hause eines Priesters und Kollegen so brutal das Hausherrn-Recht
auszuüben? Ich glaubte immer, Priester seien auch Erzieher! Hier aber lerne ich
einen Priester kennen ohne jede Erziehung."
Immer erregter werdend, rief Hosea laut: „Was kümmert dich meine Art, da du doch
nur ein Fremdling bei uns bist und dich sogar noch auf den uns verhassten
Nazarener berufen willst!"
„Halt! — In diesem Tone kein Wort weiter!", sprach Ursus streng. „Denn Jesus ist
mein bester Freund und geniesst meine allergrösste Achtung! Solltest du noch
einmal so beleidigend von Ihm sprechen, so betrachte ich mich als beleidigt und
werde dich mit dem mir zustehenden Rechte zur Verantwortung ziehen! Ich hoffe,
dass in meine Worte kein Zweifel gesetzt wird, denn ich bin ein Römer!"
Hier trat Joab vor und sprach begütigend: „Herr, ich bitte um Verzeihung für
meinen Bruder Hosea, er ist erregt und überlegt nicht, was er spricht."
Ursus entgegnete ihm kurz: „Erregung ist keine Entschuldigung! Ein Mann muss
wissen, wo seine Grenzen sind, und darum trifft ihn auch die volle
Verantwortung. Das Recht, welches mir als Römer dank meiner Bestallung zusteht,
schliesst nicht die Pflichten aus, die mit dem Amt zusammenhängen!"
Der alte Enos wurde bleich, als der Römer in seiner kraftvollen Art den alten
Priester so zum Schweigen brachte; aber dann fasste er sich ein Herz, reichte
Ursus die Hand und sagte: „Mir ist, als wenn ich dir danken sollte für die Mühe,
die du mit meiner Tochter Ruth gehabt hast; aber ich weiss auch, dass ein Römer
wenig Wert auf Dankesworte legt."
„Es ist nicht nötig, nur ein Wort darüber zu verlieren", antwortete Ursus ernst;
„es war mir eine Freude, deine Tochter ins Elternhaus zurückzuführen;
gleichzeitig will ich mich nun meiner Mission entledigen, welche darin besteht,
dir zu sagen, dass dein Sohn Theophil in Bethanien verbleiben wird und dass er
nie mehr in den Tempel zurückkehren kann! Lieber will er als ein geringer
Tagelöhner zufrieden und frei leben, als ein willenloser Templer und Heuchler zu
sein. Ein einziger Tag in Bethanien genügte, ihm das Verkehrte seines
vergangenen Lebens zu zeigen; und nun will er sich eine neue Einstellung zum
Leben erringen, welche inneren Frieden und ein glückliches Sein zum Ziele hat."
Enos fragte erstaunt: „Du sprichst doch von Ruben, meinem Sohn, und nennst ihn
Theophil? Sage ihm, dass mein Vater-Segen mit ihm ist! — Denn gestern wurde auch
mir klar, dass unser bisheriges Leben, obwohl grösstenteils im Tempel verbracht,
keinem von uns die rechte Befriedigung bringen konnte! Dieses habe ich kurz
zuvor meinen Freunden schon klarzumachen versucht, aber zu tauben Ohren und
harten Herzen gesprochen. Siehe, wir sind alte Leute geworden und haben dem Zuge
der neuen Zeit nicht folgen können, die durch Jesus, den Nazarener, eine ganz
andere geworden ist! Er ist nun tot, und vielleicht wird auch das von Ihm
Gewollte bald der Vergangenheit angehören; aber ein Stachel bleibt doch zurück;
denn was gesündigt wurde, ist nicht wieder gut zu machen!"
„Mitnichten!", entgegnete Ursus lebhaft, „das ist nur eure verkehrte
Vorstellung, die in eure Seele wie eingebrannt ist! Nichts ist verloren und
jedweder Stachel kann beseitigt werden, denn Jesus ist ja nicht tot, sondern
lebt und wirkt lebendiger denn je! Ich selbst habe Ihn kennen gelernt als den
Auferstandenen und habe hineinschauen dürfen in Sein von grosser Liebe erfülltes
Herz für alle Menschen! Wenn dem nicht so wäre, aus welchem Grunde hätte ich
denn dieses Interesse an Ihm? Nie zuvor habe ich Jesum gesehen, sondern nur von
Ihm gehört! Und als ich mit der grössten Hoffnung nach Cäsarea kam, um Jesus nun
kennen zu lernen, erfuhr ich Seinen tragischen Tod! Enttäuscht, innerlich
zerrissen, ja, bis zum Tode betrübt war ich —, da kommt Er Selbst zu uns und
macht mich frei und froh! Macht viele Kranke gesund, die im Heilbade des alten
Markus weilten! Doch ihr Templer möchtet all dieses am liebsten als Betrug
hinstellen! Aber diese Tatsachen sprechen gewaltiger als eure Predigten."
Hosea stand auf und sprach erregt: „Bruder Joab, wir wollen gehen! Wir können
diesen Frevel nicht länger anhören, wo man den Tempel und seine Diener als
Betrüger hinstellt! Dir aber, Enos, sagen wir: Wirst auch du ein Verräter, so
wird dich der ganze Zorn Jehovas treffen!"
„Mitnichten!", entgegnete Ursus ihm ruhig und fest. „Die herrliche, grosse Liebe
Gottes wird ihm erst offenbar, so er den Mut findet, euch den Rücken zu kehren!
Gehet nach Bethanien und fraget die Glücklichen! Gehet nach Cäsarea und lasset
euch erzählen, welch ein Jubel, welch ein Glück dort entstanden ist, als die
beseligende Liebe Jesu, die da lebendig und wahrhaftig unter ihnen weilte, alles
Leid in Freude verwandelte! Nennet mir nur eine ähnliche Liebes-Tat des Tempels,
und ich will schweigen! Aber solange ihr dies nicht könnt, bekunde ich es aller
Welt und wo es auch sei: Jesus lebt! Jesus ward Sieger, auch über den Tod!"
„Herr“, sprach nun Joab einlenkend, „wir können dir, als einem Römer, nicht zu
schweigen gebieten! Aber die Geschichte Israels weist tausend Fälle auf, wo
Männer am Werke Gottes tätig waren und ihre Treue an Jehova durch Wunder
bewiesen! Unsere Heiligen Schriften sind voller Beweise solcher Gottes-Boten.
Und so meine ich, wäre es doch gefehlt, den Tempel als das geheiligte Haus
Jehovas nicht mehr zu achten!"
„Diese Rechtfertigung gelingt dir nicht", sprach Ursus kühn, „denn alle die
Männer, an die du denkst, hat der Tempel allezeit verfolgt! Und gerade sie gaben
euch doch die Verheissung eines kommenden Messias! Wie kommt es, dass ihr nun
diesen Messias nicht erkennen wollet, der auch euch suchte, auch euch die Liebe
bringen wollte? Wie blind und verstockt ihr doch seid! Sehet, dort liegt die
Hausfrau und Mutter krank; ihr als Priester und Ärzte seid ohnmächtig und könnet
nicht die Schmerzen lindern! Aber Jesus, der Lebendige, mein Heiland, spricht in
mir: ‚Bringe du Hilfe durch Meinen Beistand!' Und so will ich euch einen Beweis
geben von Seiner allmächtigen, überall helfenden Liebe!" — Mit wenigen Schritten
war Ursus am Lager; und als er sanft die Hand auf den Kopf der Mutter legte,
sank Ruth auf ihre Kniee. Nach kurzem, tiefinnerlichem Gebet sprach Ursus mit
starker Stimme: „So erhebe dich von deinem Lager! Denn Jesus hat deine Schmerzen
und Schwächen von dir genommen! Aber glaube! Glaube an Ihn und zweifle nicht! Er
will ja auch dein Heiland, dein Erlöser sein!"
Schon wollte Hosea höhnisch etwas erwidern, da stand Miriam auf, alle Schwäche
war gewichen, aufrecht stand sie vor dem Priester Hosea und sprach: „Schon
wolltest du spotten; danke Gott, dass du es nicht getan hast. Aber nun lasse uns
in Ruhe, denn deine Macht ist hier zu Ende! Du aber, Enos, Vater unserer beiden
Kinder, ermanne dich und erkenne die reine Gottes-Wahrheit und Gottes-Liebe!"
Enos war höchst erstaunt über sein Weib und über ihre Worte, darum sprach er
zweifelnd: „Aber Miriam, beruhige dich! Wer weiss, ob deine Schwäche nicht
nachher wiederkehrt und uns neue Sorgen macht!"
„O nein, Enos", sprach Miriam voll Freude, „in mir ist alles wie neu! Ein
Feuer-Strom durchdrang meinen ganzen Leib, und nun fühle ich einen wunderbaren
Mut in mir, für Jesus zu zeugen! Und all dieses verdanke ich diesem jungen
Römer! Es ist kein Zweifel mehr möglich: Jesus hat mich geheilt, wie Er
Tausenden geholfen hat! O, wie froh bin ich, dass auch ich nun laut bezeugen
kann: Jesus, der grosse Heiland, hat auch mir geholfen!"
Hosea wurde bleich unter dem stahlharten Blick des Römers, sagte aber trotzdem:
„Enos! Wie wird der Hohepriester uns fluchen, dass wir in unserer Gutmütigkeit
deinen Sohn frei liessen! O wir Toren, dies ist nun der Dank! Statt, dass wir
dich dadurch festgehalten hätten, müssen wir nun mit ansehen, wie du dem
Nazarener in deinem Hause — in unserer Gegenwart — einen Thron errichtest! Heute
noch erhält das Tempel-Gericht von deinem Verhalten Kenntnis - und du wirst die
Folgen zu tragen haben!"
„Seid ohne Sorge", antwortete Enos ernst und bestimmt, „auch hier wird sich ein
Ausweg finden! Es ist aber gut, dass ich im voraus unterrichtet bin - und so
könnt ihr gleich Zeugen sein, wie ich mich unter den Schutz dieses jungen Römers
stelle, der meinem Hause, ohne es zu kennen, solche grossen Wohltaten erwies. Zu
dir aber, Ursus, komme ich mit der Bitte: Versage mir deinen Rat und deine Hilfe
nicht!"
Gerührt reichte Ursus dem alten Enos die Hand und sprach: „Noch nie hat ein
Mensch mich umsonst um irgend etwas gebeten, so seien auch dir mein Rat und
meine Hilfe zugesagt, selbst unter Einsatz meines Lebens! Doch eine Bedingung
stelle ich dir: Verschliesse dich nicht länger der Heilands-Lehre! Denn nur im
gegenseitigen Vertrauen, im Geiste meines Heilandes Jesu, kann ich mein dir
gegebenes Versprechen halten."
Lange sah Enos den jungen Römer an, innerlich doch sehr schwankend über diese
Bedingung; dann sprach er langsam: „Ich will es versuchen! Aber ich bitte dich,
habe Geduld mit mir, denn noch bin ich wie ein alter, knorriger Baum, der sich
schwer biegen lässt."
„Das genügt mir!", sprach Ursus, „ich zweifle nicht daran, dass auch du die
herrliche Gnade noch erlebst, Jesus zu erkennen als den Retter und Heiland
deiner verirrten Seele! Um aber deinen künftigen Weg zu besprechen, ist es
nötig, dass du diese Priester gehen heisst oder bewirkst, dass sie dir
wohlgesinnt bleiben."
„Wir gehen!", sprach Hosea hochmütig zu Enos, „doch hüte dich, dass du nicht in
die Hände des Tempels gerätst! Denn für Verräter gibt es keine Gnade!"
Da antwortete Ursus streng: „Das wird nicht geschehen, solange dieses Haus unter
römischem Schutz steht! Für euch aber wäre es bestimmt ein Vorteil, so ihr doch
einmal wahrhaft und ernstlich eure finstere Einstellung zu dem von euch
Gekreuzigten, aber nun Auferstandenen, prüfen wolltet! Es ist wohl möglich, die
Wahrheit über Jesus eine kleine Weile zu verbergen, aber für die Dauer nie und
nimmer! Wie wollt denn ihr als Verfechter der Gottes-Wahrheit eigentlich vor
euch selbst bestehen bei den vielen Beweisen von dem neuen Leben des
Auferstandenen? Ist es noch nicht genug all der Bosheit und Lüge? Ist es noch
nicht genug, dass das ganze Volk in grosse Zweifel getrieben wurde? Nur noch
kurze Zeit, dann ist des Nazareners Sendung vollendet; und ihr werdet es
erleben, wie die Wahrheit über Jesus gleich einer aufgehenden Sonne alle Lügen
über Ihn belichtet und offenbart!"
„Herr", entgegnete Hosea nachdenklich, „du als Fremder, gestützt auf die Macht
des Kaisers, kannst gut wie ein Richter verlangen: Glaube dies und tue das!
Wärest du aber gleich uns ein Jude, so würde ich dir sagen: Hast du vergessen,
dass wir auf Leben und Tod dem Tempel verpflichtet sind? Schon seit der
frühesten Zeit meines Lebens war ich Kostgänger des Tempels und habe bis jetzt
nichts anderes gewollt als das, was der Tempel verlangte! Es ist nicht möglich,
mir nachzuweisen, dass ich nur ein einziges Mal ungehorsam war denen, die im
Tempel meine Vorgesetzten sind! Nun kommt dieser Nazarener und bringt eine ganz
neue Lehre, entheiligt den Sabbath und gibt an, älter zu sein als Abraham! Und
dies sollen wir, als Hüter des Hauses Jehovas, gutheissen? O Herr, dein Glaube
in Ehren, aber unser Glaube ist ebenfalls zu ehren und zu achten!"
„Nun", entgegnete Ursus, sanfter gestimmt, „kämen deine Worte aus dem Herzen und
wären sie aus der Aufrichtigkeit geboren, da liesse sich auf diesem Boden wohl
weiter verhandeln. Aber was du sagtest, ist ja nur aus deinem Verstande geboren
und soll euren Hass verdecken! Darum lass dir sagen: Euer Glaube, ja, der ist
auch mir ein Heiligtum und an euren Gottes-Lehren wird auch nicht einer von uns
rütteln! Aber eure Gesinnung, eure Art und Weise, wie ihr handelt an denen, die
gleich mir an die herrliche Gottes-Botschaft von einem neuen Leben der Liebe
glauben, ist tiefst zu verachten! Denn diese eure Art sucht nicht Verstehen,
sondern will verderben! Würden wir mit gleicher Münze heimzahlen, wahrlich, ich
sage euch, der Tempel stände nicht mehr! — Saget mir nicht: Seit
Menschengedenken ist der Tempel das Haus unseres Gottes! Ein jeder Fremde wird
bestätigen müssen, dass euer Tempel und seine ganzen Einrichtungen nur eine
Goldgrube für eure Interessen sind. Von Jehova kennt ihr Templer nur noch den
Namen; alles andere aber ist Menschen-Werk! Statt Gott dankbar zu sein, dass Er
in dem Messias Jesus zu euch kam und Sich als den offenbarte, der Sein Volk noch
liebt und euch zeigen wollte Seines Lebens herrlichste und heiligste Güter, habt
ihr euren Gott in dem Menschen Jesus ans Kreuz geschlagen! Nun sehet zu, wir ihr
mit eurem Gewissen fertig werdet! Dem Tempel-Gericht aber saget ruhig, wie wir
Römer und Heiden von euch denken! Denn der Mensch, den ich achten und dem ich
glauben soll, muss ehrlich sein! Ihr seid es nicht!"
In diesem Augenblick kam die Magd und führte einen Soldaten des Ursus herein;
dieser grüsste, schwieg aber, da ihm Ursus ein Zeichen gab. Den beiden Priestern
schien die Zeit gekommen, zu gehen; stolz aufgerichtet entfernten sie sich ohne
Gruss.
Nun trat die Mutter zu Ursus und dankte ihm für die Heilung; aber Ursus sprach:
„Nur dem Herrn wollen wir gemeinsam danken und wollen freudig bekennen, dass nur
Er allein es ist, der uns helfen kann!" — Ruth wollte etwas sagen, aber ihre
tiefe Freude über die Umkehr ihres Vaters machte sie stumm; und zugleich weinte
sie vor Glück über die Heilung ihres Mütterchens. Enos aber schwieg auch, denn
er fühlte sich doch sehr bedrückt. Der Soldat berichtete nun seinem
Vorgesetzten, und die Mutter liess für alle eine Erfrischung bringen. Enos aber
wollte nichts zu sich nehmen und entschuldigte sich: „Dies alles ist doch zu
niederdrückend für mich! — Jetzt, am Ende meiner Lebenstage, muss ich erkennen:
mein ganzes ernstes Streben war umsonst! Muss ich mich nicht selber verachten,
ein Leben lang etwas vertreten zu haben, das mir jetzt so grossen Kummer bringt?
Es gibt wohl Möglichkeiten, vom Tempel frei zu werden, aber der Tempelrat sieht
mein Zurücktreten als Verrat an der Gottes-Sache an und hat das Recht, mich zu
strafen, wie er meinen Sohn so qualvoll behandelt hat!"
„Lieber, alter Enos!", sprach Ursus begütigend, „sorge dich nicht um dieses,
sondern darum, dass du im Herzen mit dem ins Reine kommst, der allein helfen
kann: mit Jesus, dem Lebendigen und Wahrhaftigen! — Dein ganzes Leben und Sein
musst du in Seine Hände legen können, dann wird sich alles andere wie von selbst
ordnen! Was dir heute noch so trüb und dunkel erscheint, wird sich lichten! Denn
ich sage dir: Hätte nicht Jesus, der grosse Menschen-Freund, die Hand nach dir
ausgestreckt, dein Weib läge noch in Schmerzen auf seinem Lager! Deinem Sohn
wäre der weitere Lebensweg noch nicht geebnet, und deiner Tochter wäre noch
nicht so recht zum Bewusstsein gekommen, welches Leben besser ist, hier bei euch
oder in Bethanien! Darum ermanne dich und ziehe einen Strich unter dein
bisheriges Leben! Vor dir liegt ein neues, ein herrliches Leben, aber nur mit
Jesus!"
„Du lieber junger Freund", sprach Enos gerührt, „deine Liebe für Jesus lässt
dich warme Worte für mich finden; aber leider kann ich dir nicht so schnell
folgen, da es in mir noch wüst und öde aussieht. Bedenke: vor kurzem noch sein
glühender Gegner, der sich Handlungsweisen zu Schulden kommen liess, die ich mir
selbst nicht vergeben kann! Was nützt mir die köstliche Botschaft, wenn sie
nicht in mich eindringen kann? Was nützt mir die Aussicht auf ein neues Leben,
wenn das alte unverrückt doch noch besteht?" —
„Lerne doch erst einmal Jesus und Seine grosse Liebe-Lehre verstehen!",
entgegnete Ursus, ihn tröstend; „dann wirst du erfahren, was alles Seiner
Heilands-Liebe möglich ist! Und wenn deine Schulden-Last ins Unermessliche
gestiegen wäre, so ist Seine Gnade und Erbarmung immer noch grösser! Es ist
jetzt aber vor allem nötig, zu überlegen, was ihr tun und unternehmen wollet?
Denn der Tempel wird seine Massnahmen wohl bald treffen! So ich euch einen Rat
geben darf, ist es nur der, mit nach Bethanien zu kommen! Denn dort ist die
Heimstätte all derer, welche die Macht des Tempels zu fürchten haben,"
„Nach Bethanien mitzukommen, kann ich mich nicht entschliessen", wendete Enos
ein; „zwar bin ich dort oft aus- und eingegangen, aber leider nicht als Freund,
sondern als Hasser und Gegner."
„Lieber Enos", begütigte Ursus ihn wieder, „was vergangen ist, musst du auch
vergangen sein lassen! Ein neuer, ein anderer Enos kommt ja nach Bethanien, um
dort Hilfe und Schutz und ein neues Arbeitsfeld zu suchen! So, wie ich Bethanien
in einem Tage erlebt habe, bin ich gewiss, ganz im Sinne Lazarus zu sagen: ,Komm
mit!' — Wir lassen zum Schutz deines Hauses zwei Soldaten zurück, die deine Magd
zu versorgen hätte, bis du von Bethanien aus deine Sachen mit dem Tempel in
Ordnung gebracht hast. Was du an Kostbarkeiten und Wertvollem hier im Hause
hast, kannst du ruhig mitnehmen; und alles Andere ordnest du mit Lazarus."
Hier eilte nun Ruth zum Vater und bat inbrünstig: „Sage nicht nein, lieber
Vater! Was dir und uns dort geboten wird, kommt wie aus dem Himmel, den ich
gestern und heute morgen lebendig dort erlebt habe! Noch nie war ich so
glücklich wie in Bethanien! Noch nirgends habe ich so gute Menschen kennen
gelernt wie dort! Und noch nie habe ich von solchen himmlischen Harmonien etwas
gehört, wie unter den Bewohnern von Bethanien! Mache doch wenigstens einen
Versuch! Du kannst ja jederzeit wieder zurück, so es dir nicht zusagt."
„Kind!", antwortete der Vater ernst, „ich bin in Jerusalem alt geworden und kann
mich schwer trennen von dem, was in all den Jahren mir ans Herz gewachsen ist!
Auch wäre es doch Vermessenheit, Liebe und Freundschaft von denen annehmen zu
wollen, die ich bisher nur zu verderben suchte."
„Vater, lieber Vater!", bat Ruth, „trenne dich lieber von dem, was dein Herz so
hart und lieblos gemacht hat! Und denke, dass die Liebe Jesu auch dir vergeben
hat mit dem Ausspruch bei seinem Sterben: ,Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen
nicht, was sie tun!' Vater, nimm die dargebotene Hand, die dir helfen will, und
denke auch an Ruben, wie er sich durch bitteres Leid schon durchgerungen hat zum
rechten und wahren Frieden! Vater, ich will dich lieben mit der ganzen Glut
meiner Seele! Ich will den Heiland solange bitten, dir zu helfen, bis ich weiss,
dass nun auch du glücklich bist! Denke an Mutter, die ebenso denkt wie ich und
die Jesu helfende Heilands-Liebe schon erfahren hat! In Bethanien flehen sie im
Herzensgebet zu dem All-Gütigen auch für dich; und ihr letztes Wort war an mich:
Bringe deine Eltern sobald wie möglich zu uns, wir erwarten euch!"
Enos schwieg! — Innerlich kämpfte er einen gewaltigen Kampf, endlich aber sagte
er fest: „Nun, so sei es! — Euren Bitten kann ich nicht länger widerstehen!"
Da kniete Miriam nieder und betete laut: „O Du gütiger Gott und Vater im Himmel!
Wie spät lerne ich Deine Güte und Erbarmung kennen! Wie wunderbar sind alle
Deine Wege und Führungen! Wir waren blind und sind nun sehend! Wir waren taub
und dürfen nun hören! Du hast das grosse Leid gewendet, und dankend rufe ich Dir
zu: ,Aus der Irre hast Du uns geführt und zeigst uns die Pforten Deiner
himmlischen Stadt!' Wir wollen uns aufmachen und zu Dir gehen in Danksagung und
Pflichterfüllung! Wir sind nun Dein! Mache aus uns, was Deine Liebe vorgesehen
hat und nimm den Dank hin, den ich jetzt nur sprechen kann, aber in Zukunft
leben will! Gib Kraft und Segen unserm Vorhaben, denn ohne Segen ist kein
Gelingen! Amen." „Amen!", sagten Ruth und Ursus; Enos aber weinte. —
Ursus ordnete nun an, dass der Soldat die Kameraden und einen grossen Wagen
hierher bringe und sogleich begannen die Vorbereitungen zur Abreise, wobei Ursus
dem alten Enos hilfreich zur Hand ging. Nach einer Stunde hielten die Soldaten
mit den Pferden und dem Wagen vor dem Hause —, da kam ein Bote vom Tempel-Rat
und brachte den Befehl, Enos solle unverzüglich in den Tempel kommen! Enos ward
wankend, er war gewohnt, zu gehorchen, doch Ursus handelte als Römer! Er liess
sich Pergament und den Stift geben und schrieb an den Tempel-Rat:
„Der von euch bestellte Priester Enos hat sich unter meinen, d.h. unter
römischen Schutz gestellt! Da zu befürchten ist, dass der hohe Tempel-Rat meinem
Schützling nicht das rechte Verständnis für sein Handeln entgegenbringt, habe
ich die Verpflichtung übernommen, über sein Leben und Gut zu wachen und bringe
ihn an einen Ort, wo er vor allen Nachstellungen des Tempels bewahrt bleibt! Ein
Bevollmächtigter des Enos wird mit dem hohen Tempel-Rat alle Sachen in Ordnung
bringen!" — Dieses Schreiben erhielt der Bote des Tempels als Antwort.
Dann halfen alle, die Sachen in den Wagen laden; doch für die drei Personen
blieb kein Platz mehr. Ein zweiter Wagen musste besorgt werden, und als endlich
alles geregelt war, ordnete Ursus noch an, dass zwei Soldaten als Hüter des
Hauses mit der Magd zurück bleiben sollten. Endlich fuhr die glückliche Ruth mit
den Eltern und in römischer Begleitung ab und ohne jeden Zwischenfall erreichten
sie ihren Zufluchtsort, „Bethanien", die Stätte der Liebe!
III. In der neuen Heimat
Ursus hatte einen Reiter vorausgeschickt, welcher dem Lazarus die Ankunft der
Familie anmeldete; und diese unerwartete Botschaft bedeutete für Lazarus wieder
einen sichtbaren Sieg der ewigen Liebe über ein verhärtetes Templer-Herz! Als
die Sonne schon im Sinken war, fuhren die Wagen in den grossen Hof ein, wo die
Bewohner sehr erstaunten, dass ein jüdischer Priester in römischer Begleitung
nach Bethamen kam. Lazarus selbst aber reichte dem alten Enos die Hand, stützte
ihn beim Absteigen und sprach voll Freundlichkeit: „Dein Kommen, lieber Enos,
ist mir eine besondere Freude! Und dass du deinen Entschluss nie zu bereuen
brauchst, dazu gebe mir Jesus, der Herr, von Seiner Kraft; denn ich möchte dir
ein wahrer Bruder werden! So seid uns alle im Namen Jesu herzlich willkommen!"
Enos konnte nichts erwidern. Freudentränen standen in seinen Augen; so
schüttelte er in überquellender Dankbarkeit dem Lazarus stumm die Hände.
Inzwischen wurden auch die Frauen herzlich empfangen und die mitgebrachten
Sachen in die Kammer gepackt.
Die Mutter Maria führte Miriam und Ruth ins Wohnzimmer und sprach beim Eintritt:
„Gesegnet sei euer Einzug in Bethanien! Es soll euch hier an nichts fehlen, es
soll euch ganz Heimat werden! Betrachtet euch nicht als Fremde, sondern als zum
Hause gehörig; denn wir freuen uns mit dem Herrn Jesus, der in Seiner Liebe und
Erbarmung schon Wohnstätten schuf, wohin alle flüchten können in den kommenden
Zeiten schwerer Trübsal. Darum freuet euch! Dann erst könnet ihr so recht
dankbar sein dem grossen Geber alles Guten und Schönen!"
Zu Tränen gerührt sagte nun Miriam: „O ihr lieben, guten Menschen in Bethanien!
Der Umschwung unserer Verhältnisse ist ja so plötzlich, dass ich noch gar nicht
recht daran glauben kann. Immer waren wir Frauen zum Schweigen verurteilt, da
die Männer ja nach ihrer Einsicht und altem Recht handelten. Als aber bei meinem
Sohne eine Sinnesänderung eintrat, war kein Frieden mehr in unserem stillen
Hause; und hätte heute der Römer Ursus nicht selbst unsere Geschicke in seine
Hand genommen, wir wären völlig zugrunde gegangen! Aber wo ist mein Sohn? Noch
habe ich ihn nirgends gesehen —, mein Herz sehnt sich nach ihm."
„Habe Geduld, Schwester, auch ich habe ihn seit heute morgen noch nicht
gesehen", antwortete die Mutter Maria; „er ist mit dem Jünger Johannes zusammen,
um unser Bethanien kennen zu lernen."
Inzwischen sagte Lazarus: „Bruder Enos, dein Kommen zu uns macht dich zu meinem
Bruder! Lasse mit keinem Gedanken an das Vergangene unser zukünftiges Verhältnis
trüben! Dass du innerlich noch nicht so recht in Ordnung bist, fühle ich; aber
sei versichert, dass ich dich voll und ganz verstehe. Mit gutem Willen und dem
rechten Eifer wird es dir gelingen, alle Schranken zu beseitigen, die du in dir
in deiner Eigenliebe, im Trotz und verkehrten Selbstbewusstsein zwischen uns
aufgebaut hast. Siehe, wir alle in Bethanien bauen auf dem Fundament der
selbstlosen Liebe, die Jesus, der Auferstandene, in uns gelegt hat! Erwähle auch
du dir diesen Grund —, und auch du wirst durchdrungen von dem Strom Seiner
Gnade!"
„Lazarus! Du guter, lieber Mensch, nennst mich Bruder?", fragte Enos tief
bewegt. „Mir fiel es schwer, so ohne weiteres dem jungen Römer zu folgen; da ich
aber dem Bitten und Drängen meiner Tochter nicht mehr widerstehen konnte und
andererseits nicht noch grössere Schuld auf mich laden wollte, willigte ich ein,
bei dir Zuflucht zu suchen. Fast mein ganzes Vermögen habe ich mitgebracht; es
sei dein! — Verwalte es zu deinem Nutzen, und ich will mich bemühen, auch dir
ein Bruder nach deinem Sinne zu werden! Doch bitte ich dich, habe Geduld mit mir
—, es ist ja alles so neu! Aber wo ist mein Sohn, ich habe ihn ja noch nicht
gesehen."
Lazarus sprach gütig: „Bruder, sorge dich nicht! Er ist in bester Obhut. Bruder
Johannes ist sein Begleiter, und beim Nachtmahl sind wir alle wieder beisammen."
Ursus aber fühlte sich hier überflüssig, darum suchte er seinen Herrn Demetrius
oder Johannes und Theophil zu treffen, denn sein Herz drängte ihn, diese Freude
ihnen mitzuteilen. Von weitem kamen Johannes und Theophil, er eilte ihnen
entgegen; aber auch Theophil sehnte sich nach seinem Bericht und fragte
sogleich: „Bruder Ursus, wie war die Aufnahme? Und wie der Erfolg?"
„Kommt und sehet selbst!", sprach Ursus freudig, „was wir nicht erwarten
konnten, ist geschehen! Deine Eltern und Ruth, lieber Theophil, sind schon im
Hause bei Lazarus!"
„Da ist ein Wunder geschehen!", rief der ganz überraschte Theophil aus. „Mein
Vater, der Bethanien hasste und schon erregt war, so von Lazarus die Rede war?
Aber es konnte wohl auch ihm nicht möglich sein, zu widerstehen; denn Gott in
Seiner Liebe überwindet ja jeden Gegner!"
Dazu sprach Ursus mit Nachdenken: „Bruder Theophil! Ich wollte, es wäre, wie du
eben sagtest! Doch siehe, noch zwei Priester waren in eurem Hause zugegen, denen
mit der Liebe nicht beizukommen war! Nur aus Furcht vor uns Römern verliessen
sie endlich das Haus! Doch nachher werdet ihr alles Nähere erfahren!"
Sinnend sahen die drei nach Jerusalem zurück und gewahrten dabei eine Schar
Männer, die nach Bethanien ihre Schritte lenkten. „Es sind unsere Brüder", sagte
Johannes, „heute lernt ihr sie alle kennen; nur einer ist nicht mehr unter uns",
setzte er leise hinzu.
Die scheidende Sonne beleuchtete mit goldrotem Glanz das Firmament und küsste,
wie zum Abschied, nochmals diese Erde; da rief Ursus mit tiefem Empfinden aus:
„O Erde, wie bist du schön, bist uns Heimat und kannst uns doch den wahren
Frieden nicht geben! Voll Sehnsucht erfüllt mich immer solch ein
Sonnen-Untergang und lässt Erinnerungen lebendig werden über Vergangenes und
einst Erlebtes, wovon mir doch jede Gewissheit fehlt. Doch bald ist es Nacht,
und dann verschwinden wieder diese Bilder aus einer seligen Kinderzeit."
„Wollen wir den Brüdern entgegengehen?", fragte Johannes. „Das Zeichen zum
Nachtmahl ist noch nicht gegeben und im Hause sind wir nicht unbedingt nötig!"
So gingen die drei den Brüdern entgegen. Alle waren sie gekommen, aber der tiefe
Ernst in ihren Gesichtern machte Ursus stutzig; darum fragte er Johannes: „Haben
diese Brüder Enttäuschungen erlebt, da ich keine fröhliche Stimmung bemerke,
oder dürfen sie nicht froh und glücklich sein? — Ich möchte vor Glück die ganze
Erde umarmen, und diese sehen aus, als wenn ihnen alles genommen wäre!"
„Du irrst, Bruder Ursus!", sprach Johannes, „ihre Freude lebt in ihrem Innern!
Und ihr Stummsein ist uns das beredte Zeugnis, dass sie sich mit ihrem innersten
Leben beschäftigen, was wir alle fortgesetzt üben sollen! Ausserdem erkennen sie
sogleich durch ihren erwachten Geist eure innere Wesenheit, und ich glaube, du
wirst dich noch gerne an die Stunden erinnern, die wir heute mit ihnen verleben
werden! Doch höre, das Zeichen ruft zum gemeinsamen Mahl!"
Da fragte noch Theophil: „Bruder Johannes, die Brüder fragen ja garnicht, wer
wir sind? Ursus und ich sind ihnen doch Fremde!" „Nein, Bruder, Fremde nicht!",
antwortete Johannes; „denn wir wissen, dass alle Menschen unsere Freunde und
Brüder sind! Sie werden ja alle geliebt von unserem herrlichen Meister und wir
sollen in allen Dingen das Gleiche tun! Der Meister sah alles mit den Augen der
Liebe, und so du dasselbe tust, fragst du nicht mehr: ,Bist du mir ein Bruder
oder nicht?' — Siehe, eines Seiner letzten Worte lautete: ,Ein neu Gebot gebe
ich euch: Dass ihr euch liebet untereinander, wie Ich euch geliebt habe!' Nur in
diesem Sinne kannst auch du deine Aufgaben zu lösen suchen!"
IV. War Jesu sichtbarer
Abschied notwendig?
So erreichten die Männer das Haus und betraten das grosse, hellerleuchtete
Zimmer. Ein stiller Händedruck wurde mit Lazarus gewechselt, dann schweigend
Platz genommen. Theophil konnte auch seinen Vater nur mit einem vielsagenden
Händedruck begrüssen und Mutter und Schwester mit freudigem Aufleuchten in den
Augen, aber mit heissem Dank gegen Gott im Herzen!
Lazarus segnete die Anwesenden und dann die Speisen und sprach: „Im Namen Jesu —
seid alle herzlich willkommen! Es ist Sein heiliger Wille, dass wir uns in
diesen Abendstunden ganz mit Ihm verbunden fühlen! So wollen wir Ihm Dank sagen
mit freudigen Herzen und bekennen: Herr! Wie weise hast Du alles geführt und
geleitet! Du hast uns neue Brüder und Schwestern zugeführt und hörest nicht auf,
mit Deiner Liebe unsern Herzen neue Wonnen zu bereiten (denn ohne Empfinden
solcher Wonne sind wir nicht in der Sphäre der Liebe! Das Reich der Weisheit,
als herrliche Licht-Welt, kam uns wohl höchste Genüsse der Erkenntnis, aber
nicht diese Wonne des Herzens bereiten)! Darum Dir unser aller Dank und alle
Liebe! Dein heiliger Friede sei unser Teil! Amen!"
„Amen!" sprachen auch die anderen, und dann erquickten sie sich an Brot und
Honig, kaltem Fleisch und süssen Früchten und tranken dazu einen würzigen Wein.
Miriam sass bei der Mutter Maria, Ruth bei Maria Magdalena. Lazarus sass
zwischen Demetrius und Enos und freute sich, dass von dem alten Priester die
Scheu schon etwas gewichen war; auf seine Frage, wer die angekommenen Männer
seien, erklärte Lazarus: „Es sind die Jünger, die dem Herrn auf Schritt und
Tritt folgten und berufen sind, das Werk und die Lehre des Herrn weiterzutragen
in alle Fernen, wo nur Menschen leben."
„So habe ich auch an diesen viel gut zu machen! Denn manchen Fluch heftete ich
an ihre Fersen!", bekannte Enos aufrichtig.
Lazarus aber erwiderte ihm: „Sei deswegen unbesorgt! Euer Fluch zerschellte an
der Liebe und Geduld des Meisters, aber auf euch selbst prallte er zurück! —
Darum nicht an jenen, sondern an dir und den deinen hast du es gutzumachen, da
jeder Wunsch, jeder Segen, aber auch jeder Hass-Gedanke oder Fluch stets
rückwirkend noch seine Kraft und Geltung ausübt! Darum freue dich, dass sich
jetzt deine Liebe auswirken darf! Denn erst dann wirst du innewerden, was Gott
bereitet hat denen, die in Seinem Sinne tätig sind!"
Auch Demetrius interessierte sich für die neuen Brüder, doch ihr Ernst fiel auch
ihm auf, und so fragte er Lazarus: „Wie kommt es, dass diese zuletzt gekommenen
Brüder solchen Ernst zur Schau tragen? Wer nach Bethanien kommt, muss sich doch
freuen und alles Belastende verlieren!"
Lazarus belehrte ihn: „Ihre Freude ist tief innerlich! Siehe, Bruder: In den
drei Lehrjahren, als Seine Jünger, entwickelte sich das neue geistige Leben in
ihrem Innern durch die stete Fürsorge und Liebe des Meisters! Von nun an aber
sollen sie aus der Kraft Gottes leben und wirken, die sich als der Auferstandene
uns allen offenbarte! Darum ihre unaussprechlich innere Freude, von Ihm erwählt
zu sein! Aber auch ihr heiliger Ernst, für diese hohe Mission sich
vorzubereiten! Wir werden noch manches tiefe Wort von ihnen hören!"
Als das Mahl beendet und die Tische abgeräumt waren, bat Petrus den Lazarus, zu
allen sprechen zu dürfen, was ihm mit Freude gewährt wurde; er stand auf und
begann: „Die Gnade Gottes und der Friede unseres Herrn Jesus seien mit euch!
Liebe Brüder! Es war des Herrn Wille, dass wir gemeinsam nach Bethanien gehen
sollten, um im Geiste inniger Verbundenheit mit Ihm bei dir, Bruder Lazarus,
noch tiefer hineingeführt zu werden in das Werk Seiner grossen heiligen Liebe —
zur Erlösung der Menschheit aus Irrtum und Finsternis! Wir alle wissen, dass
diese letzen Wochen eine grosse, gewaltige Prüfung für uns waren — (bezüglich
der einsetzenden Christen-Verfolgungen), aber auch, dass wir die Weisheit und
Gnade Seiner Führungen immer herrlicher erleben durften, wodurch etwas Festes,
noch nie Geahntes über uns gekommen ist! Sehet, der Herr hat uns in Jerusalem
des Öftern besucht, sogar mit uns gegessen und zeigte uns immer klarer noch die
Geheimnisse all des Dunklen und Unbewussten in unserem Innenleben, aber auch das
kraftvolle Bewusstsein himmlischen Lebens in einer erwachten Menschen-Seele! Und
so wissen wir nun: Es ist nicht genug, ihr Brüder, dass wir uns untereinander
lieben, sondern dass Seine Liebe in uns lebendig wird! Denn, indem Seine Liebe
zu allem Erschaffenen immer lebendiger in uns sich regt, beschreiten wir schon
den Weg der inneren Entwicklung, den Er als Mensch, als unser Jesus, uns allen
voranging, damit wir Ihm nachfolgen auf diesem Wege bis hin zu den hohen Zielen
unserer inneren Vollendung und Gott-Ähnlichkeit!
Nun hat der Herr uns geboten, in aller Stille noch beieinander zu bleiben, bis
wir erfüllt würden mit der Kraft aus der Höhe! Denn ohne diese Seine Kraft
könnten wir Sein Werk des erwachenden inneren Lebens nicht fortsetzen, das Er
als der Lebens-Meister in uns angefangen hat, das wir aber nun selbständig in
uns vollenden sollen, um als von Ihm Erwählte diesen beseligenden Frieden Seiner
Lehre dann allen Mitmenschen übermitteln zu können!
Noch sucht Er nach unserer zum Leben erwachten Liebe für alle einst aus der
göttlichen Ordnung Gefallenen und ist im Herzen tiefst besorgt um dieses Sein
Werk in uns! Denn bald, sehr bald kommt die Stunde, wo Er aufhören wird, der
Sohn zu sein, um dann als unser Ewiger Vater Sich Seinen werdenden Kindern noch
mehr nähern zu können! Wenn aber diese Stunde kommt, wo wir, als Seine Söhne,
als Seine von Ihm berufenen Erben Sein angefangenes Werk der Erlösung aus
geistiger Nacht und Finsternis vor aller Welt übernehmen müssen, ja sogar vor
den Augen der Engels- und Geister-Welt, — dann, Brüder, gibt es für uns nur die
eine Sorge: wie wir klar und unerschrocken Seine Liebe allen Menschen verkünden,
auf dass die Welt ihren Erlöser erkenne! Und die eine Aufgabe: Seine Lehre rein
und unverfälscht ihren Herzen so zu übermitteln, dass alle den Weg Seiner
Nachfolge freudig betreten wollen, um auch göttliche Kinder zu werden! Wir
wissen: Er allein ist die Kraft und die Herrlichkeit und von Ihm erhalten wir
diese Kraft zur Überwindung alles Niederen in uns und um uns!
Ja, Er hat uns versprochen, jedem Bittenden davon zu geben, je nach dem Grade
seiner selbstlosen Liebe! Denn nur durch diese Seine Liebe und Seine Kraft
finden wir die Verbindung mit dem Göttlichen in uns und dürfen dadurch erst
Mithelfer werden, der Erde und ihren Bewohnern den einst verlorenen Frieden mit
Gott und des Gottes-Reiches leuchtende Herrlichkeiten wiederzubringen. Welch
grosse, heilige Lebens-Aufgabe! Aber, Brüder, noch ist der Meister uns immer der
Allernächste! Wenn Er aber Abschied von uns nehmen wird, um in Seine ewige
Heimat zurückzukehren, dann sollen wir in dem Weitestentfernten und
Tiefstgefallenen unsern Nächsten erkennen, den wir lieben sollen, dem wir helfen
müssen, dass auch er den Weg zum Frieden mit Gott in sich finden lerne! Wenn
sich bis jetzt alle unsere Gedanken und Empfindungen am liebsten zu unserm Herrn
und Meister hinwenden, dann soll es aber in Zukunft so sein, dass sich unsere
Gedanken und all unsere Liebe mit denen beschäftigen, die da verlorengegangen
sind oder noch in der Irre leben. Die Wunderkraft Seines Überwinder-Geistes, die
wir durch Seinen Tod und Seine Auferstehung erlebten, wird auch uns als innerste
Triebkraft zu eigen werden zu diesen heiligen Aufgaben an den verirrten Seelen,
sobald Seine lebendige Liebe in unsern Herzen eine bleibende Wohnstätte findet.
Mit Ihm werden wir erst das, wozu Seine Gnade uns berufen hat! Doch ohne Ihn,
ohne Seine Unterstützung, sind wir nichts! So bitten wir Dich, Herr und Meister,
aus geeintem Herzen: Segne uns und mache uns reif zur Arbeit in Deinem Weinberg!
— Amen!"
„Amen!", sagten auch die ändern, und stille wurde es in dem grossen Raum.
Enos war in sich zusammengesunken; bei solchen Worten fühlte er keinen Boden
mehr unter den Füssen. Hilfesuchend glitt sein Blick zu den Jüngern, seine
Gedanken eilten zurück in den Tempel und dann nach Golgatha und seine Schuld
stand riesengross vor ihm und nahm ihm jede Hoffnung und Aussicht! Er dachte an
seinen Sohn; als er aber in dessen leuchtende Augen sah, war es mit seiner Kraft
völlig zu Ende; sein Atem ging doppelt so schnell, und er sank um. —
Johannes ging zu ihm hin, legte seine rechte Hand auf sein ergrautes Haupt und
sprach sanft: „Mein lieber Bruder! Die Gnade des Herrn und Seine rettende Liebe
sind ja auch dir zuteilgeworden! Noch stehst du zwar mit deinem Bewusstsein auf
deinem alten, dir zu eigen gemachten, Boden; dieser aber entschwindet dir, da du
erkennen musst, dass dein Leben, all dein Wirken und Schaffen, dir keinen
beglückenden Inhalt, keinen inneren Frieden brachte! Aber noch ist es nicht zu
spät! Des göttlichen Meisters erbarmende Liebe ist ewig und gilt ja allen, allen
Wesen, auch dir! Was dir heute unmöglich erscheint, kann morgen schon leuchtende
Wahrheit sein! Beuge nicht nur dein Haupt, sondern auch deinen Sinn und lasse
dein tiefstes Empfinden von dem Strahl Seiner grossen Heilands-Liebe berühren;
dann wirst auch du mit Freuden die Hand ergreifen, die der Auferstandene dir
reichen will, und wirst das Wunder Seiner errettenden Macht erleben! Doch prüfe
ernst und übereile nichts! Und wir alle wollen helfend und betend dir zur Seite
stehen!"
Enos wollte danken für diese Worte voll verstehender Liebe, aber sein Mund blieb
stumm; in seinem Herzen wogte ein Kampf, den er nie zuvor gekannt; doch hätte er
seine Tochter angesehen, wie sie innerlich betend um Jesu Hilfe rang, er hätte
wohl das ihn erlösende Wort gefunden.
Ursus war aufmerksam den Reden der Jünger gefolgt und fragte jetzt: „Liebe
Brüder! Schon gestern sprachst du, Johannes, und heute du, Bruder Petrus, das
Wort aus, dass Jesus, der Auferstandene, für immer von uns gehen will, um in
Seine Ur-Heimat zurückzukehren und dass ihr Sein Erbe dann mit Seiner
Geisteskraft fortsetzen solltl Dies verstehe ich nicht! Oder ich erfasse es
nicht so, wie ihr es vielleicht meinet, denn sehet: Die Gnade, dem Herrn in
Seine liebevollsten Augen zu schauen, war mir nur einmal vergönnt; doch Seine
lichtvollen, überzeugenden Worte schufen in mir ein ganz neues, ungeahntes Leben
und damit eine lebendige Kraft, die Berge versetzen möchte! Es ist dies nicht
nur ein Glaube, sondern ein klarstes Bewusstsein von Kraft, welches in mir lebt!
Wie kommt es nun, dass ihr, liebe Brüder, noch ein sichtbares Fortgehen des
Meisters erwartet, um zu dem Leben aus Seiner Kraft zu gelangen, das mir durch
Sein Kommen wurde? Wenn ich im Geiste zurückschaue nach Cäsarea zu Markus, zu
den Fischern dort am Meeresstrande oder zu Lazarus, unserem lieben Herbergsvater
hier, dann sehe ich ja, wie das Erbe Jesu in guten und besten Händen ist! Doch
ihr, Seine treuen und von Ihm Selbst erwählten Jünger, harret noch der Stunde,
da euch Sein Erbe wird?"
„Mein lieber Ursus", sprach hierzu Johannes, „deine Rede ist klar wie ein Quell
und wahr wie das Licht, das die Sonne spendet. Aber du hast vergessen, einen
Unterschied zu machen zwischen dir und uns Jüngern! Siehe, wir waren zwölf! Wir
zwölf aber verkörperten nicht nur die zwölf Stämme Israels, sondern die ganze
Menschheit, welche zu allen Zeiten die Erde trägt. Jesu Lehren, alle Seine Taten
und Zeichen wurden somit durch uns Eigentum der gesamten Menschheit! Alles wurde
aufbewahrt in uns bis zum Letzten, und was der eine nicht behielt, trug der
andere in sich! Doch lebe dich hinein in unsere Auffassung und unsere Liebe zu
Ihm! Sein völlig Menschliches, Seine Einstellung zu all den Irrungen der
Menschen, Sein Fühlen mit allen Leidenden waren doch so recht geeignet, Ihn als
Mittler, als den Sohn Gottes anzusehen! —
Als Jesus einst uns fragte: ,Wer bin ich?' —, antwortete Petrus sogleich: ,Du
bist Christus! - - Des lebendigen Gottes Sohn!' Wir waren stete Zeugen Seiner
allgewaltigen Macht wie auch Seiner innersten Herrlichkeit! Aber gerade deshalb
wurde vieles in uns erschüttert, als wir Ihn so schwer leiden und ringen sahen!
Und so kam es, dass die volle Grösse Seiner Erlöser-Liebe zur Menschheit in
Seinem Sterben für uns nicht so recht offenbar werden konnte; und es uns schwer
wurde, unsern geliebten Meister darnach in Seiner vollen Göttlichkeit als unsern
Vater von Ewigkeit her zu erkennen!
Bei dir, mein Ursus, ist es ganz anders! Dein Erleben mit Jesus verdankst du Ihm
nicht als dem Menschen, sondern als dem Sieger über allen Tod! Und wie du Ihn
als den Herrn erkannt hast in Seiner unzerstörbaren geistigen Herrlichkeit, so
wirst du Ihn auch in Ewigkeit nicht anders erleben können! Und nun erkenne den
grossen Unterschied zwischen dir und uns: Unser vergangenes Erleben mit Jesus,
als dem Menschen, könnte bei dir nie gegenwärtiges Erleben mit Ihm werden! Wir
aber sollen jetzt lernen, diesen vertrauten Umgang mit Ihm als Gott immer
lebendiger und als gegenwärtig in unserer Innenwelt zu erleben und dann aus uns
heraus, als unser persönlich erworbenes geistiges Eigentum auch Anderen diesen
Weg des vertrauten Umganges mit Jesus als unserm Erlöser ihrer Innenwelt zu
übermitteln! In unsern Herzen lebte der Mensch Jesus, in dir aber und in allen
späteren Geschlechtern wird leben der Gott Jesus! Und darum muss für uns eben
noch kommen ein uns sichtbarer Abschluss Seiner irdischen Mission, damit in
unsern Begriffen und Vorstellungen alles Menschliche an Jesus völlig
hinweggeräumt werde und Seine geistig-göttliche Wesenheit als die lebendig
machende Kraft des Willens in uns und in allen Seinen Nachfolgern völlig zum
Durchbruch gelangen kann! Auch du wirst Zeuge werden dieses Gnaden-Vorganges
Seines sichtbaren Abscheidens von dieser Erde und wirst dann, gleich uns, in
Klarheit schauen, was dir und vielen jetzt noch so unklar ist! Darum bemühen wir
uns, dass Er als der Herr allein unsere Liebe werde! Und in Seiner Liebe wollen
wir allen unsern Mitmenschen dienen! Nicht nur heute, sondern bis in alle
Ewigkeit!" Nach diesen Worten trat ein tiefes Schweigen ein.
V. Jesu Belehrung über Sein Erbe
Nun bat Lazarus alle, sie möchten sich nach der Lust ihrer Liebe ungezwungen
unterhalten, da für die neuen Brüder leichtere Kost nötig sei. „Der Abend ist so
schön, gehen wir auf den Söller; die Frauen aber und diese, die früh morgens
tätig sind, mögen sich zur Ruhe begeben."
Enos bat Lazarus, sich zurückziehen zu dürfen, um mit seinem Sohn die Ruhestätte
aufzusuchen und sagte zum Schluss: „Meine Seele ist durchwühlt wie von einem
grossen Sturm; — mir ist, als ob ich sterben müsste, da ich immer mehr einsehe,
dass mein Leben völlig verkehrt war. Meine Schuld steigt riesengross vor mir
auf, weil ich mich nicht nur an dem reinen Gott-Gesandten, sondern auch an
meinem Volk versündigt habe! Wohl sehe ich eure grosse Liebe und empfinde euer
Verzeihen, aber ausgelöscht ist damit meine schwere Schmach nicht —."
„Bruder Enos", sprach Lazarus voll Teilnahme an dieser Seelenqual, „so kannst du
nicht zur Ruhe gehen, die Nacht würde dir keinen Schlaf bringen! Darum bleibe
noch mit uns wach! Wir wollen uns in Jesu Liebe noch inniger miteinander
verbinden, damit auch dir Erlösung werde!"
Und so geschah es; ohne viel zu reden, versammelten sich die Brüder auf dem
Söller, wo eine wunderbar stille Nacht ihrer wartete; kein Mond, aber Stern an
Stern funkelte in herrlicher Klarheit, und über die ganze Natur breitete sich
der segnende Gottes-Frieden! Lazarus bat die Brüder, in stiller Andacht zu
verweilen, bis sich der neue Bruder Theophil mit seinem Vater ausgesprochen
habe, „denn Beide brauchen dazu auch unsere Segens-Wünsche und Kräfte."
Theophil sagte: „Vater, meine Schuld ist dieselbe wie die deine, — und doch ist
mein Herz voll Hoffnung! Denn mit dem Ablegen meines alten Namens ist auch mein
Wille ein anderer! Ich will und werde nur noch Jesum dienen!"
„Wie kannst du das?", fragte Enos leise, „einem Toten, ja qualvoll Gekreuzigten
kann man doch nicht Gefolgschaft leisten? Und an Seine Auferstehung kann ich
nicht recht glauben!"
„Daran wirst auch du noch glauben, lieber Vater", antwortete Theophil mit
Bestimmtheit, „denn Gott will, dass auch wir nicht verlorengehen, sondern das
Heil für unsere Seele empfangen und dann auswirken! Halte dich nur an Lazarus!
Er ist der vom Herrn Berufene und Begnadete in Bethanien! Siehe, er war tot und
ist wieder ins Leben gerufen durch Jesum, den grossen Heiland aller Menschen!
Und wie Jesus den Lazarus vom leiblichen Tode errettete, so wird Er auch unsere
Seele erretten können von aller Qual des geistigen Todes! Dies ist jetzt mein
fester Glaube!"
„Ich wünschte es von Herzen", sprach Enos seufzend, „denn mit dieser Schuld
möchte ich nicht in die Grube fahren!" —
Lazarus, welcher sich nun neben Enos setzte, sagte voll Güte: „Lieber Enos! Wir
sind uns keine Fremden mehr, denn dein ganzes Seelenleben wurde mir schon
geoffenbart. Möchte nun auch mein Inneres dir offen sein, damit du schauest mit
eigenen Augen die Liebe, die für dich darin lebt! Denke nicht mehr an deine
Vergangenheit in dieser Stunde, sondern überlege dir dein künftiges Leben und
wisse: durch des Meisters Gnade, Kraft und Liebe dürfen wir nun selber Gestalter
unserer Zukunft sein! Was verkehrt und falsch war, werden wir jetzt richtiger
machen! Was wir in falscher Liebe, nach falschen Begriffen, taten, werden wir
vereint gutzumachen versuchen! Was wir aber in verbrecherischer Weise zerstört
haben, müssen wir sühnen, da der Herr und Schöpfer jedem Menschen den Warner ins
Herz legte! Um aber solches zu sühnen, d. h. um gutzumachen und auszulöschen
alles, was uns zu Schuldnern macht, brauchen wir die Gnade des Herrn! Denn ohne
Ihn sind wir alle nur schwache und törichte Kinder! — Ohne Ihn sind keine Kräfte
in unseren Worten und Taten! Ohne Ihn ist unser Herz, unser Gefühlsleben wie
tot! Darum suche nur nach Ihm, auch dir ist dies noch möglich! ,In einer jeden
Menschenbrust bin Ich zu finden!' ruft Er dir zu! Doch zuvor bringe Ihm Gedanken
der Liebe entgegen, und die Bitte, dir zu vergeben, wird nicht vergebens sein!"
Enos schwieg hierzu, aber die Worte des Lazarus hatten ihm wohlgetan, und zum
ersten Mal fand er keinen Zweifel daran. Immer eindringlicher aber hörte er wie
ein Echo die Worte im Innern: ,Ich bin für einen jeden zu finden! Wer da suchst,
der wird Mich finden! Ich bin Rettung, Erlösung und Vergebung!' „Wer spricht
denn diese Worte?", dachte Enos endlich, „die Versammelten hier reden ja kein
Wort! Ich sehe aber, wie ihre Augen vor Freude glänzen; was ist denn geschehen?
Hier ist einer, der die Hand auf meinen Kopf legt und sagt: ,Ich bin Rettung,
Erlösung und Vergebung!'" „Wer bist du?", dachte Enos weiter, „deine Hand ist so
lind, so wohltuend, deine Nähe so beglückend!" — „Ich bin Rettung, Erlösung und
Vergebung! Glaube es, dann ist Mein Friede auch dein Teil!", hörte er wiederum
sagen; da stand er auf, — wendete sich um und sah Jesum vor sich stehen! —
„Du lebst?", schrie er auf —, „Du bist es, — Jesus?" — und, auf die Knie
niedersinkend, bat er: „O schenke mir Deine Gnade und Vergebung!" Weinend
durchrieselte es seinen Körper, — auch Theophil stürzte hin, kniete neben seinem
Vater und bat: „Herr, wenn Du es noch vermagst, so lasse Gnade vor Recht
ergehen! Unsere Schuld ist riesengross, unser Vergehen so schwer, dass es
Vermessenheit wäre, Dich zu bitten: Vergib uns! Aber nicht für mich will ich
bitten, sondern für meinen Vater: Sei Du ihm gnädig und lasse in seinem Herzen
Deine Liebes-Sonne aufgehen, damit er in diesem Deinem Lichte Dich erkenne als
den einzigen Retter und Erlöser aus all unserer Nacht und Finsternis!" „Was aber
willst du tun?", fragte der Herr, ihn liebevoll ansehend, „so Ich deinen Vater
annehme, dich aber nicht? — So Ich ihm vergebe, dir aber nicht?"
Theophil antwortete: „Dann will ich arbeiten und ringen und kämpfen so lange,
bis ich sagen darf: Herr, siehe mein Werk an, es ist durchdrungen vom Geiste
Deiner Liebe! — Nimm es an als Sühne für das grosse Unrecht, welches ich Dir
zugefügt! Dass ich für Dich arbeiten darf, ist mir schon Lohn genug!"
Und wiederum fragte der Herr: „Wenn aber deine Kräfte nicht ausreichen, wenn du
vor der Zeit müde und matt wirst, wenn der grosse Lebens-Feind dir Schlingen und
Fallen legt und dein Hoffen zu Falle kommt, was dann? Ist es nicht besser, so
Ich auch dir vergebe und dir sage: Nur mit unbeschwertem Herzen und Gemüte
kannst du dein Lebenswerk vollbringen und deine hohen Aufgaben erfüllen!"
„Herr, nun ich es aus Deinem Munde vernehme, glaube ich es!", sprach Theophil
freudig bewegt. — „So soll aber nun auch mein ganzes Streben darauf gerichtet
sein, nur Dir zu dienen!"
„Wenn Ich aber nicht mehr zu dir komme, und du vor Sehnsucht fast vergehst",
fragte der Herr ihn weiter, „oder im Kampfe mit und in der Welt müde und matt
wirst — sage Mir, willst du auch da dieses Versprechen aufrecht erhalten? — Ich
habe nicht verlangt, dass du dich an Mich bindest!"
Da antwortete Theophil freudig: „O Herr! — Nacht war in mir, Nacht war um mich!
Wie ein Geschenk waren mir Dein Licht und Deine Gnade und machten mich nüchtern
und wach! Nun ich aber Deine Liebe erfahre, nun ich weiss, dass Du uns vergeben
hast, da, Herr, gibt es keine Bedenken! Dir gehöre ich für immer und alle Zeit."
Da sprach der Herr: „So nimm Meinen Segen, Mein Sohn, und nimm das Bewusstsein
mit, dass Ich nie und nimmer ein Kind verlassen werde, so es Mich wahrhaft liebt
und Mir seine Kräfte weihen will!" — „Und du, Enos!", fragte der Herr den ganz
zusammengesunkenen alten Priester, „ist es nicht besser, so auch du Meine Liebe
und Meinen Segen dir zu eigen machst, als noch länger fern zu stehen? Es gibt
nur ein Glück in dieser Welt und nur ein Streben, welches der Seele den
wertvollsten ewigen Inhalt geben kann, und das heisst: Mich erkennen und dann
Mir nachfolgen! Kannst du dies in innerer Freiheit, dann hast du alles und
kannst dich aus dem Füllhorn Meiner Liebe und Gnade bereichern, so viel du deine
ärmeren Brüder lieben kannst."
„Jesus! Du lebst — und richtest mich nicht?" sprach Enos endlich. „Welch
unbegreiflich Wesen bist Du! — Nur Böses habe ich Dir nachgeredet, habe Dein
Wirken und Deine Lehren verfolgt —, habe teil an Deinem Tode und teil am
Schmerze Deiner Lieben! O Herr! Warum liessest Du das alles geschehen und warum
hast Du uns nicht sogleich gestraft?"
Der Herr aber antwortete ihm gütig: „Weil Vergeben besser ist denn Richten! —
Weil Mein Tod der ewige Beweis Meiner alles vergebenden Liebe sein wird, und
weil Meine Auferstehung die Krönung Meiner Sendung ist! Siehe, alle — alle
müssen an Mir vorüber! Keiner, sei er auch noch so klug, kann es je einrichten,
durch das Tor in das innere Leben zu gehen, ohne Mich zu treffen! Ich aber bin
nicht zu euch gekommen, um zu richten, sondern um aufzurichten und zu erlösen!
Niemand könnte Mich hindern, an dir zu handeln, wie Du an mir gehandelt hast,
und niemand könnte sagen: Herr, Du hast Unrecht getan! Aber Ich bin ja gekommen,
um euch selig zu machen und die Verirrten heim zu führen in ihr ewiges
Vaterhaus! Siehe, dein Sohn bat für dich, darum ruht er nun im Geiste schon an
Meiner Brust und Wonne durchrieselt sein Inneres!"
Die Treppe herauf kam Maria mit Miriam und Ruth, dann kamen noch beide
Schwestern des Lazarus und Maria Magdalena. Erstaunt und dann beseligt eilten
sie hin zum Herrn! Auch Ruth kniete nieder, umklammerte des Herrn Füsse und
sprach: „Endlich! Endlich darf ich Dich sehen, endlich ist mein Wunsch erfüllt!
O Jesus! Du guter Heiland, dass ich Dich nur einmal umfassen kann!" rief sie
voll Inbrunst aus. „Weise mich fort von Dir, denn ich bin nicht würdig, Deine
Füsse zu umklammern, aber das Glück ist bei mir eingekehrt! Meine Augen haben
Dich geschaut und meine Arme Dich umfasst."
Liebreich sich niederbeugend sprach der Herr: „O Kind! Wer in solcher Liebe zu
Mir kommt, dem gebe Ich alles, was Ich in Mir trage! Und wer es schon als Glück
betrachtet, Mich anzusehen und anzurühren, sag, wie wird es dem dann sein, wenn
Ich im Geiste Meiner Liebe ganz bei ihm Wohnung nehme? Darum weise Ich dich
nicht ab, sondern bitte dich: Bleibe bei Mir, auch wenn Ich nicht mehr unter
euch sein werde, und behalte Mich mit deiner Liebe so im Herzen, wie du jetzt
Meine Füsse umklammert hältst!"
Nun sank auch Miriam auf ihre Knie; da sprach der Herr weiter: „Spät kommst du,
Tochter! Doch im Herzen warest du Mir schon nahe, darum nimm nun hin Meinen
Liebes-Segen!" — „Doch nun, ihr Meine Lieben, sammelt euch für die innere Ruhe,
damit eure Herzen aufnahmefähig werden für das Wort aus Meiner Liebe und für den
Geist aus Meinen Himmeln!"
Nach einer Pause sprach der Herr dann weiter: „Ihr, Meine Brüder, bleibet im
Geiste Meiner Liebe und Erbarmung still verbunden — bis der Ruf immer lauter und
lebendiger in euch wird! Denket und redet nicht so viel von Meinem Tod, sondern
von dem Heiligen Geiste, der Mir die Kraft der Überwindung gab, um aus dem Orte
des Grauens und Schreckens (Golgatha) ein Stück Himmel zu machen! Alles, was Ich
litt und duldete, geschah nicht um Meinetwegen, sondern um euret- und um der
ganzen Menschheit willen! Denn dadurch erst vollendete Ich die Mir selber
gestellte Aufgabe: euch die unüberwindliche, alles Böse umwandelnde Liebe-Kraft
vorzuleben, die erst in den Stunden bittersten Leidens zum Durchbruch kommen
kann! Ihr durftet erleben, wie alles Mir zugedachte Leid Mich nach oben zog,
statt Mich zu vernichten, und wie alles Leben in Mir nur noch lebendiger wurde,
statt zu sterben! Dieser heilige Überwinder-Geist nun ist Mein Erbe an euch,
welchen Ich euch zusenden will als den Tröster, wenn Ich nicht mehr sichtbar bei
euch bin. Sorget dann, dass dieser Heilige Geist Eigentum der ganzen Menschheit
werde! Ich will heimgehen in Mein Ur-Sein, aber durch diesen Meinen Geist will
Ich euch die Wege ebnen ins eigene Innere! Ebnet auch ihr euren Brüdern diese
Wege in ihr Inneres, damit sie Wohnungen für Mich bereit halten, und dass, wenn
Ich komme, Ich mit Freuden dort einziehen kann, um aufzurichten Mein Reich!"
„Seid wie ein Baum, der wohl die Kraft zum Wachstum aus dem Erdreich nimmt,
dessen Zweige sich aber dem Lichte entgegen ausbreiten und alles Irdische
überragen! Und erfüllet auch eure Brüder mit diesem Meinem Geiste, der euch über
alles Niedere erhebt! Dann erst wird Mein Leben euch klarer offenbar werden, das
die Kraft hat, alles Unvollkommene zu überwinden! Ihr alle, Meine Brüder, die
ihr Mich kennet, seid nun Meine Verwalter! In eure Hände, in eure Liebe lege ich
nun Mein seit Ewigkeiten begonnenes Erlösungs-Werk! Ich wüsste nicht, wem Ich
lieber dieses grosse, heilige Werk übertragen möchte als euch, obwohl Mir
unzählige Engel und Diener zur Verfügung stehen. Darum lasset in innerster Demut
und im liebenden Dienen in euch Meinen Geist reifen! Er wird euch erleuchten
meine alles Leben freimachende Wahrheit, sobald eure Aufgabe, Mein Werk
fortzusetzen, eures Lebens heiliges Ziel geworden ist!"
Wieder schwieg der Herr —, sinnend sah Er Seine Jünger an und sprach dann
weiter: „Euren inneren Wunsch, dass Ich für immer bei euch bleibe, wendet um! —
Und so sage Ich heute zu euch: Bleibet ihr alle bei Mir! Dann könnet ihr der
Erde und ihren Bewohnern geben, was allen zu ihrer Erlösung aus Nacht und Irrtum
dient! In zwei Wochen, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, ladet
alle Brüder hierher, damit Ich sichtbar euch noch einmal segnen kann! Ihr aber:
werdet nicht müde, immer wieder zum Dienen und zum Segnen bereit zu sein! Mein
Frieden und Meine Kraft sei euer Teil! — Amen!" Ohne die Andacht zu stören, ward
der Herr unsichtbar —, doch in allen verblieb die heiligste Liebe zu Ihm!
Nach einer längeren Stille sagte Lazarus leise: „Lasset uns zur Ruhe gehen! Denn
es ist fast zuviel des Guten und Herrlichen, was wir von Ihm empfangen durften.
Auch ist morgen noch ein Tag, wo wir diese heilige Andacht in unsern Herzen
fortsetzen können!"
VI. Vom Schweigen
Als am nächsten Morgen das Zeichen zum Frühmahl ertönte, versammelten sich wie
immer alle Brüder im grossen Speisezimmer; doch Enos fühlte sich sehr bedrückt
und unfrei, sodass Ursus fragte: „Bruder, reut es dich, nach Bethanien gekommen
zu sein? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch, dem sich der Höchste
liebevoll nahte, noch unter einem seelischen Druck stehen kann, der doch nur
durch falsches und verkehrtes Denken hervorgerufen wird."
„Mein lieber junger Freund — denn so muss ich dich nennen —, es ist so, wie du
sagst!", erwiderte Enos; „erst drückte mich meine Schuld, jetzt aber bedrückt
mich die Liebe, die ich hier erleben und geniessen durfte! Wie ein Sünder, der
zur Aburteilung geführt wird, fühle ich mich und bitte innerlich Gott, dass Er
mir gnädig und barmherzig sei! Es wäre schon eine Wohltat gewesen, wenn eine
Strafpredigt mich zusammengerüttelt hätte! Nun aber kommt die Liebe Selbst — und
häuft auf mein schuldbeladenes Gewissen neue Liebe, neue Wohltat! Ich möchte
heraus aus meinem Ich, ich möchte ein anderer sein! Aber ich bin so unsicher,
ich habe keine Kraft auf diesem neuen Wege zu Jesum, dem von uns Gekreuzigten,
zu gehen! Darum brachte die Nacht mir nicht die ersehnte Ruhe."
„Das ist Selbstqual", entgegnete Ursus lebhaft, „weil du Jesus, den Herrlichen,
noch nicht genug kennst! Schaue doch die Brüder an! Sie alle tragen das Zeichen
Seines Friedens als beseligende Ruhe in ihrem Herzen! In ihren Augen aber
leuchtet ein Glanz, der nicht von dieser Erde ist! — Und wodurch? Weil die
göttliche Liebe ihnen zu eigen geworden ist. Dir ist Vergebung, Frieden und
Erlösung vom Herrn zugesichert, und doch willst du noch in dir festhalten, was
dich unfrei macht?"
„Mein lieber Ursus", entgegnete Enos sanft, „der schnelle Wechsel unserer
Verhältnisse und die Erkenntnis, ein völlig verlorenes Leben hinter mir zu
haben, haben mich so elend gemacht. Doch lass mich nur kurze Zeit allein, damit
ich im Schweigen mit mir selber fertig werde! In der Stille meines Herzens erst
werde ich gesunden und neue Hoffnung kann in mich einziehen."
Da antwortete Ursus leuchtenden Auges: „Ja, Bruder Enos! Nur in der Stille des
Herzens kann Jesus dir Helfer und Heiland sein! Nur Ihm ist es möglich, dein
Inneres gesund und frei zu machen! Überlasse Ihm dein ganzes Gemüt in tiefstem
Schweigen; dein ganzes Denken sei nur auf Ihn gerichtet, dann wird auch in dir
das Verlangen wach, Ihm zu danken und Ihn zu lieben! Solange wir uns noch mit
uns selber beschäftigen, geht kostbare Zeit verloren! Beschäftigen wir uns aber
in tiefster Stille des Herzens nur mit Ihm, so wird uns erst der Wert unseres
Lebens bewusst - und die uns noch zustehende Zeit auf dieser Erde werden wir
nutzbringender anwenden wollen!"
Ehe Enos etwas erwidern konnte, betraten Miriam, Ruth und Maria, die Mutter
Jesu, das Zimmer. Schnell eilte Ruth, auf deren Gesicht der Widerschein reinen
Glücks leuchtete, auf ihren Vater zu und fragte ihn: „Vater, lieber Vater!
Fühlst du nicht das Glück in deiner Brust? Welche Freude, welche Wonne, endlich
zu wissen: Ich bin geborgen und darf in dem Schosse der ewigen Liebe ruhen! Nun
sehe ich meinen Weg klar vor mir und die Aufgabe deucht mir so schön, weil ich
erfahren und erlebt habe: ,Ich werde geliebt!' Geliebt von dem guten und
herrlichen Jesus, der aus Liebe zu allen irrenden Menschen Sein Leben in die
Wagschale legte! Aber Gott schenkte Ihm nicht nur Sein Leben neu, sondern auch
ein ganz neues Leben all den Menschen, die Ihn lieben!"
„Kind", sprach Enos, „freue dich deines Glückes! Ich kann es noch nicht, denn
Schuld und Liebe beengen meine Sinne und Gedanken, und zwischen mir und Jesus
steht das Kreuz von Golgatha!"
„Vater, zweifelst du an dem Auferstandenen? Sind Seine an dich gerichteten Worte
nicht in dein Herz eingedrungen und haben den alten Unrat hinausgekehrt?",
fragte die erschrockene Ruth. „Ich bin der Überzeugung: so du Vertrauen hättest,
würde das Wunder geschehen; du würdest aufgehen in Dankbarkeit für das dir
gebrachte Geschenk Seiner Liebe! Vater, ich sehe ja in mir schon das Wunder: Das
Kreuz von Golgatha ist nichts Richtendes, sondern das uns Erlösende! Im Kreuz
liegt unser Heil! Siehe, es ist von Licht umflossen! Ja, es spendet Licht, viel
Licht allen, die dahin ihre Blicke richten! Es offenbart uns die über alle
unsere Schwächen und Sünden mit Gott uns versöhnende Liebe Jesu! Mir ist, als
wenn dieses Licht aller Nacht verkünden will: Hier im Kreuze erst erleben wir
die Trennung von allem Weltlichen! Hier erhalten wir ein neues Leben und Frieden
und Vergeben!"
Alle, auch die Jünger, schauten erstaunt auf Ruth, die wie verklärt solche Worte
sprach; dazu sagte die Mutter Maria: „Ja, Kind! Dein Geist offenbarte dir diese
Wahrheit, die von vielen, vielen nicht anerkannt werden wird! Glaube du fest und
innig an diese Offenbarung Seines Kreuzes, und dein Leben wird sich noch sonnig
gestalten! Vergiss aber nie, dass es die grosse Erlöser-Liebe Jesu war, die dir
solches Schauen schenkte!"
Ehe Ruth oder Enos etwas erwidern konnten, bat Lazarus die Anwesenden, das Mahl
einzunehmen; er segnete ihre Herzen und die Speisen, und schweigend wurde das
Frühmahl beendet. Darnach bat Petrus den Hausherrn um den Segen, da sie nach
Jerusalem zurückkehren wollten, und sagte: „Unser Weg und unsere Arbeit ist in
Jerusalem! Dies ist der Wille des Herrn, er geschehe jetzt und allezeit!"
Lazarus segnete die Brüder mit den Worten: „Vollziehet denn des Herrn Willen,
ihr seid Seine Hoffnung! Seine Liebe ist euer Teil! So ausgerüstet, wird es euch
nimmer mangeln an Kraft und Ausdauer, um alles Schwere und Harte zu überwinden!
Vor uns allen leuchte das Kreuz! —, von nun an Symbol und Zeichen innersten
Friedens durch Schweigen vor Gott! Ziehet hin in Frieden! Amen!"
Schweigend verabschiedeten sich die Jünger; ein ernster Blick, ein stummer
Händedruck genügte, um alles zu sagen, was ihre Herzen bewegte. Auf Theophil und
Ursus aber machte dieser Abschied einen befremdenden Eindruck, und Ursus fragte
etwas vorschnell: „Was ist das doch für eine seltsame Sprache? Liegt es wirklich
im Plan des Meisters, sich so wortlos zu geben? Als Fremder muss man enttäuscht
sein über dieses Schweigen."
„Mein Bruder", antwortete Lazarus ernst, „dieses Schweigen ist die innerste
Sprache des Herzens, durch welche einer mit dem Anderen alles lebendig
empfindet. Wir verständigen uns durch den Blick, den Händedruck und durch unser
voll erwachtes Innenleben und bedürfen zwischen uns der äusseren Sprache nicht
mehr! Wisse, schon in Jesu steter Gegenwart mussten wir diese innere
Herzens-Sprache üben, indem wir, ohne ein äusseres Wort, Ihn jederzeit fragen
durften und stets eine klare innere Antwort von Ihm erhielten. Diese Jünger
stehen jetzt vor der herrlichen Gnaden-Stunde, wo alles mit Jesus Erlebte,
Geschaute und Gehörte in ihnen erst voll lebendig werden soll und dadurch sich
zu einer Feuer-Kraft gestalten wird, die dann nicht mehr zurückzuhalten ist!
Gleich Feuer-Garben aus einem sie durchfliessenden Licht-Strom wird dann ihr
lebendiges Zeugen von Jesum sein! Denn ihre erwachte Liebe will ja alles zuvor
von Ihm Erhaltene zurückgeben!"
Ursus ward still und fühlte sich plötzlich sehr klein; denn von solcher Sprache
hatte er noch nichts gewusst. „Bruder Lazarus", sprach er dann langsam, „ich
ahne Grosses! Ich selbst könnte ja aus Dankbarkeit zu einem Feuerbrand werden,
der aber nichts verbrennen, sondern überall nur anzünden möchte dieses Feuer der
heiligen Offenbarung über Jesu Liebes-Werk. Da ich nun diese Jünger in ihrem
Innern immer mehr erkenne und ihren Ernst und ihr Schweigen besser verstehe, da,
Bruder, komme ich mir selber so gering, so vorlaut vor, dass ich ganz im
Hintergrund verschwinden möchte!"
„O mein Ursus!", entgegnete Lazarus bewegt, „damit machst du meinem Herzen eine
grosse Freude! — Denn um die Führungen des Herrn zu verstehen und ganz in Seinen
Geist aufgehen zu können, ist es notwendig, dass mein Ich zur Ruhe, zur
schweigenden Hingebung gelangt! Wisse: in jedem Augenblick, wo mein eigen Ich
noch das Handelnde ist, tritt das wahre Gottes-Leben zurück, und die Wirkung
wird nicht voll befriedigend sein! Siehe, du trägst Sein Leben, Seine Liebe wohl
schon in dir, aber doch noch zuviel von deinem eigenen Ich-Leben! Angeregt durch
die herrlichen Gnaden-Zulassungen und Offenbarungen durch die Brüder, ja durch
Sein persönliches Erscheinen, bist du gehoben und getragen auf eine Höhe, die
aber in Wirklichkeit noch nicht dein eigener Standpunkt ist, sondern nur
Geschenktes! Du wirst deshalb noch ernst ringen müssen in dir, um diese hohen
Erkenntnisse als dein Eigentum zu besitzen!
Darum freut es mich, dass du dich, wie von selbst, dorthin stellen willst, wo du
nur Diener und Jünger bist. Solange du hier in Bethanien unter Gleichgesinnten
lebst, kommt dir das Hohe, Herrliche und Gnadenvolle dieses Liebe-Lebens gar
nicht so schwer vor, da du ja wie in einem Sonnenlande lebst und fast immer nur
der Nehmende bist! Erst, wenn du hinausgestellt wirst, wo Finsternis und Kälte,
wo Lug und Trug und Gewissenlosigkeit die Welt regieren, dann soll dieses
gnadenvolle Leben hier dir zu einer Triebkraft werden, die alle heben und
erleuchten will, so viel es irgend möglich ist! Dann erst wächst dein Innenleben
in das heilige Liebe-Leben des Meisters hinein, weil du dann der Gebende, der
Verwalter der hohen Güter sein kannst, die du im Kampfe mit dem Weltlichen als
dein eigen dir erringen wirst. Und dann erst kannst du die innere Herrlichkeit
erkennen und erleben, die Gott bereitet
hat allen denen, die Ihm in Seinem Geiste dienen wollen und aus diesem Geiste
alle Menschen-Brüder lieben!"
„Habe Dank, Bruder!", sprach Ursus aufatmend. „In deinen wenigen Worten liegen
so tiefe Wahrheiten, dass es eine ganze Zeit dauern wird, ehe sie mein Eigentum
geworden sind! Auch sehe ich nun ein: um diese ewigen Wahrheiten vor Anderen
vertreten zu können, muss zuvor alles Wahrheit in mir selber geworden sein! Möge
der Herr mir in Seiner Gnade helfen; ich habe bestimmt den Willen dazu."
„Dann wollen wir auch nicht weiter darüber reden!", entgegnete Lazarus, „denn
erst im Handeln und Tun verwirklichen wir unsern Willen (aber durch das Reden
darüber verflüchtigt sich der Wille schon!) ! Aber um einen wichtigen Dienst
bitte ich dich noch; es wird nötig sein, noch heute die Sache mit Enos und dem
Tempel in Ordnung zu bringen, und du wärest der rechte Mann dazu; der Tempel
wird in seiner Art schnell zu handeln versuchen! Darum richte es so ein, dass du
in zwei Stunden nach Jerusalem reiten kannst, dann wird Enos mit seinem
Schreiben an den hohen Rat fertig sein. Sprich zuerst mit Pilatus, er ist unser
Freund; zu deiner Sicherheit nimm jedoch noch einige Soldaten mit, dann kann dir
nichts geschehen!" —
Es wurde Abend; im Hause des Lazarus waren die Bewohner wiederum zum
gemeinschaftlichen Mahl vereint; doch Ursus war noch nicht zurück; die Unruhe
wuchs bei Enos und Theophil, während Miriam und Ruth voll Vertrauen waren. Da
kam ein Bote von Ursus, der ihnen sagen liess, dass er zu Pilatus geladen wäre
und noch in Jerusalem verbleibe; die Sache mit Enos aber wäre zu voller
Zufriedenheit geregelt, der Herr habe sichtbar geholfen! Bei diesen Worten war
Enos wie erlöst! Noch einmal fragte er den Boten, dieser aber konnte keine
weitere Auskunft geben.
Lazarus dankte und sprach zu Enos: „Bruder! Dies war Liebe vom Ursus! Durch
diesen kurzen Bericht hat er dich und auch uns grosser Sorge enthoben! Ich
wusste es schon, da der Herr in meinem Herzen zu mir sprach: ,Bruder, die Liebe
hat wieder den Sieg davon getragen! Denn Ursus konnte ganz in Meinem Geiste
handeln und den Boden derart zubereiten, dass sogar mancher im Tempel in seinem
Starrsinn wankend geworden ist!'"
„Wie ist dies nur möglich?", fragte der erstaunte Enos, „die Priester nebst
ihren Dienern sind doch, wie ich weiss, ausgesprochene Feinde Jesu! Da ist
wiederum ein Wunder geschehen!"
„Bruder Enos", antwortete Lazarus, „was du noch Wunder nennst, sind für mich
sichtbare Wirkungen der Liebe-Kräfte Gottes! Glaube und liebe noch mehr, dann
erlebst du die Wahrheit dieser meiner Worte! Doch morgen werden wir ja alles
ausführlicher erfahren!"
VII. Ursus im Tempel und auf
Golgatha
Am Anderen Tage gegen Mittag kamen endlich die Ersehnten zurück; die Freude war
nicht zu beschreiben, als Ursus dem Enos das Schreiben des Hohenpriesters
übergab, worin Enos und Theophil ihres Amtes und ihres Eides entbunden waren! —
Beide fühlten sich nun erst glücklich und frei! Beim Mittagsmahl bat Enos den
Ursus, doch vor allen Anwesenden seine Erlebnisse in Jerusalem zu erzählen.
Ursus aber sah erst Lazarus fragend an; als dieser bejahte, begann Ursus: „Als
ich gestern morgen den Auftrag erhielt, für unsere Brüder Enos und Theophil die
Freiheit und Entbindung von ihrem Eid beim Tempel zu veranlassen, wurde ich doch
etwas bedrückt, da deine Worte, Bruder Lazarus, vom eigenen Ichleben und der oft
nicht befriedigenden Wirkung unserer Worte in mir noch sehr nachwirkten. So ritt
ich mit meiner Begleitung nach Jerusalem, war aber noch immer nicht im Klaren,
wie ich dem Hohenpriester begegnen solle. Wir erfragten die Kommandantur, dort
meldete ich mich beim Hauptmann der Stadtwache und war erfreut, einen alten
Bekannten zu treffen, erzählte ihm mein Anliegen und meine Mission beim Tempel
und erbat mir Hilfe, so sie nötig sei. Dann wurden wir nach dem Hause des
Pontius Pilatus geführt, wo mir als Römer eine überaus herzliche Aufnahme zuteil
wurde. Als ich nun mein Anliegen schilderte und die Beglaubigungsschreiben und
Vollmachten vorlegte, hatte ich in unserem Bruder Pilatus schon einen wertvollen
Helfer und erfuhr das Herrliche der Bruderliebe, denn Pilatus wollte meine Sache
selbst in die Hand nehmen! Nach einem kleinen Imbiss fuhren wir gemeinsam nach
der Kommandantur, wo Pilatus einige Anordnungen gab, und dann nach dem Tempel.
Ich will die Eindrücke nicht schildern, die ich hatte, als ich den Tempel
betrat; — bereitwillig führte man uns nach dem Gemach des Hohenpriesters, dem
das Kommen des Landpflegers von der Stadtwache schon gemeldet war.
Nun aber vollzog sich in mir eine auffallende Wandlung: mein Ich, meine Gedanken
zogen sich wie von selbst zurück, vor meinen Augen stand das grosse Leid unseres
Bruders Enos, und ich erlebte seine Schuld und seine Sehnsucht, frei zu werden
von diesem unwürdigen Druck! Dann zog noch einmal die Szene von vorgestern an
meinen Augen vorüber, wo Jesus Selbst zu Enos sprach: ,Ich bin Erlösung und
Vergebung!' Dabei wurde ich wunderbar ruhig und innerlich gestärkt, denn ich
fühlte Jesu Gegenwart! Dem Hohenpriester Kaiphas legte ich die beiden Schreiben,
sowie die Vollmachten vor - er aber wollte nichts davon wissen! ,Dazu muss ich
den Hohen Rat zusammenrufen', sprach Kaiphas streng, ,denn Beide sind Priester
und jetzt Eidbrüchige!' Die entsprechenden Befehle wurden erteilt; inzwischen
lud Kaiphas seinen Freund Pilatus und mich in ein Nebengemach. Pilatus aber
drängte auf Erledigung, da ich als sein Gast schon von seinem Weibe erwartet
würde. Die Gedanken des Hohenpriesters durchschaute ich klar und wusste, dass
vor seiner Schlauheit die grösste Zurückhaltung geboten sei!
Nach kurzer Zeit meldete ein Bote, der Hohe Rat sei bereit, in Verhandlungen
einzutreten. Mit der innigen Bitte: ‚Herr Jesus, jetzt brauche ich Dich!' trat
ich unter die Versammelten; dem Bruder Pilatus bot man einen Sessel an, ich aber
musste meine Sache stehend vortragen. Brüder, ich danke dem Herrn, dass ich kein
Templer bin! Wie verschlagen, wie unehrlich diese Männer ihre Gesinnung
bekundeten! Es trieb mir die Schamröte ins Gesicht. Das Gesuch wurde abgelehnt
und die beiden Priester sollten in den Anklagezustand versetzt werden! ,Ist das
eure Antwort auf diese Bitten?', fragte ich den Hohenpriester; dieser bejahte!
Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten; ich trat einige Schritte vor und
sagte kühn: ,Diese Antwort nehme ich nicht mit nach Bethanien! Es liegt kein
Vergehen der beiden vor! Nur ihr Gewissen lässt es nicht mehr zu, unter euch und
in eurer Gemeinschaft zu bleiben! Deshalb wollen sie dieses Verhältnis
ordnungsgemäss lösen. Ihr aber wollt beide in den Anklagezustand versetzen? Gut,
tut es immerhin, aber bedenket, dass sie unter römischem Schutz stehen! Und das,
was ihr an den beiden tun wollt, würde ich an euch tun! Kraft meiner Berufung
als kaiserlicher Vertreter würde ich euch unter Anklage stellen: Erstens des
bewussten Mordes an einem Unschuldigen, und dann als Verbreiter falscher,
lügenhafter Darstellungen über die Auferstehung des von euch Gekreuzigten! Denn
Jesus ist mein Freund! Seine Ehre ist die meine! Niemand kann mich hindern, für
die Herstellung der Ehre meines erhabenen Freundes Jesus einzutreten! Wenn ihr
bei eurem Vorhaben beharret und eure Lieblosigkeit mit dem Werke teuflischen
Hasses krönen wollt, rufe ich ganz Jerusalem auf, sich morgen von der
Wahrhaftigkeit und Realität des Auferstandenen zu überzeugen! Ihr wisset ganz
genau, dass Jesus schon vielen erschienen ist! Trotzdem bleibet ihr die Alten?!
— Ihr seid besser unterrichtet als mancher Anhänger Seiner Lehre, aber euer Hass
und eure Herrschsucht lassen es nicht zu, die Wahrheit über Ihn anzuerkennen!'
Da antwortete der Hohepriester kühl: ,Wir fürchteten den Nazarener nicht,
folglich fürchten wir auch dich nicht! Und mit welchem Recht willst du uns unter
Anklage stellen? Ich möchte das Gericht sehen, welches über uns zu Gerichte
sitzen wird!' Da sagte ich ganz ruhigen Tones: ,Mit dem Recht, welches meine
Liebe zu Jesu mich finden lässt! Vor das Forum aber, welches Jesu Opfer-Tod
verlangte, vor dasselbe Forum lasse ich euch stellen und genau in dem Zustande,
in dem ihr Jesus vor das Volk gestellt habt! Dies ist meine Antwort! Ein Römer
verlangt, was Recht und Gerechtigkeit ist, aber bitten wird er nicht! Der
Landpfleger Pilatus billigt meinen Entschluss, da ihr selbst uns Römern die
Handhabe dazu bietet'. Der Hohepriester lachte hell auf, aber in diesem
Augenblick meldete ein Diener: ,Herr, im Vorhof und um die Tempelplätze
versammelten sich römische Soldaten, was sollen wir tun?' Da fuhr der
Hohepriester ganz erregt auf und sprach zu Pilatus: ,Was hat das zu bedeuten?
Das ist ein Eingriff in unser Recht!' Pilatus aber (durch die Gegenwart des
jungen Römers den gefährlichen Templern gegenüber ermutigt), antwortete
lächelnd: ,Mein Freund, beruhige dich! — Es ist das Recht der Selbsterhaltung
und geschieht zur Wahrung berechtigter römischer Interessen! Entweder bringt ihr
das geringe Opfer und gebt beiden bittenden Priestern die Freiheit und allen
Anhängern des Heilands Jesus von Nazareth die Gewähr, sich ohne Schaden an ihrer
Freiheit versammeln zu können, oder wir tun an euch dasselbe, was ihr an Jesus
und nachweislich an vielen anderen getan habt! Etwas anderes gibt es nicht! Denn
auch ich habe mich überzeugt von der Wahrhaftigkeit des Auferstandenen!'
Ein düsteres Schweigen lag auf der Versammlung; da kam der Priester Joab, ein
Freund unseres Enos, zu mir und sagte: ‚Herr! Deine Schärfe habe ich bereits
kennen gelernt! Aber ich kann nicht umhin, dich zu fragen: Warum hat dieser
Jesus damals kein Wort zu seiner Entlastung gesagt? Sein Schweigen war für uns
Anerkennung seiner Schuld! Du nennst uns seine Mörder? — Wir waren nur
Handlanger und Ausführer unseres Gesetzes!' Da sagte ich zu dem Priester: ,Ich
durchschaue dich, dein Einwurf will nur unseren Willen abschwächen! Aber dir und
euch sei es hier gesagt: Eben um euch zu schonen und euch die Möglichkeit zu
lassen, doch noch zur Anerkennung des gesalbten Gottes zu kommen, liess Er dies
alles an Sich geschehen! Doch ich habe kein Gebot, euch zu schonen, da euer
gewissenloses Handeln mir ja eine Handhabe bietet! Also, besinnet euch! Es
geschehe, wie wir es euch bekundeten!'
Da kam noch einmal der Hohepriester zu Pilatus und wollte Einwendungen machen,
aber da wurde Pilatus erregt und sagte laut: ,Nein, kein Wort weiter! Entweder
ihr tut freiwillig, was wir verlangen, oder ihr werdet die Macht des Kaisers
fühlen! Lange genug trug ich die Schuld, mit beigetragen zu haben zum Tode Jesu,
als Last in meinem Herzen! Es ist mir grösstes Bedürfnis, wieder gutzumachen und
dem Entrechteten zu Seiner Ehre zu verhelfen! Ich wollte, ich könnte alle Tränen
trocknen und allen Schmerz lindern, den eure verruchte Tat an dem wahrhaft
Unschuldigen auslöste! Ich habe mir vorgenommen und dem Auferstandenen
versprochen, über euch zu wachen und euch zu hindern, euer Werk der Rache an den
Nachfolgern Jesu fortzusetzen! Es liegt nun an euch; entweder werden wir Freunde
oder bleiben Feinde! Gebt uns in einer Stunde die schriftliche Antwort! Wir
bleiben im Vorhof bei dem Kommando, zurück kommen wir nicht mehr!'
Wir sahen noch einmal alle fest und ernst an, dann verliessen wir ruhigen
Schrittes das Gemach und begaben uns zu dem Hauptmann, der uns schon erwartete.
Seine Meldung, alles in unserem Sinne gemacht zu haben, nahmen wir entgegen, und
während wir uns noch unterhielten, brachte schon ein Tempeldiener die Schreiben,
in denen Enos und Theophil die Freiheit bestätigt wurde, und ein weiteres
Schreiben mit der Bitte, die Ehre und das Ansehen des Tempels zu wahren und den
Frieden der heiligen Hallen nicht zu stören! ,Es ist genug erreicht!', sagte
Pilatus befriedigt, ,das andere wird später noch erreicht werden!' Dann gab er
den Befehl, die Soldaten wieder in ihr Quartier ziehen zu lassen.
Wir aber blieben noch den Abend zusammen unter anregenden Gesprächen über Jesus
und über unser zeitliches und ewiges Heil. Zuletzt äusserte ich noch den Wunsch,
morgen in der Frühe nach Golgatha zu gehen, und sogleich erbot sich Pilatus,
mich zu begleiten. Frühzeitig fuhren wir mit geringer Begleitung nach der
heiligen Stätte; aber wie erstaunte ich: Es waren drei Kreuze aufgerichtet, zwei
kleinere und ein grösseres in der Mitte. Ich fragte: ,Wer hat dieses wohl
getan?', da wurde mir zur Antwort: ,Ich habe sie aufrichten lassen zum Schrecken
der Templer! Auch gab ich das Verbot, hier je noch eine Hinrichtung vornehmen zu
lassen, da das letzte Wort des Heilandes: ,Es ist vollbracht' keine Entweihung
erfahren sollte! So ehre ich Jesum, indem ich das Wahrzeichen Seiner Liebe und
Seiner Ergebung als achtunggebietendes Symbol weithin sichtbar aufstellen
liess!'
Tief erschüttert stand ich vor dem grossen Kreuze! Wenn es auch nicht dasselbe
war, an dem der Herr und Heiland Jesus starb, so entrollte sich doch vor meinen
inneren Augen das hier Geschehene! Dann rief ich, von innen getrieben, aus: ,O
Herr und Heiland Jesus! Du Selbst hast mich Deine Liebe erleben lassen und hast
mir Deine wahre und heilige Lehre offenbart! Was ich aber hier empfinde an der
Stelle Deines Leidens und Sterbens, ist Deine wahre Jesus-Herrlichkeit, die für
das Tiefste und Niedrigste noch sorgen will und Gewähr bietet, dass in alle
Zukunft keiner, sei es, wer es auch sei, je eine Fehlbitte um Vergebung bei Dir
tun wird! O Herr Jesus, lass diesen Deinen Geist mein Eigentum werden, damit ich
ganz in Deinem Sinne nur Dir und Deiner Liebe diene! Amen!' Tief erschüttert,
doch aber auch hochbeglückt, wandten wir uns von der Schmerzens-Stätte; und doch
muss ich sagen: mir war, als verliesse ich den Himmel!" —
VIII. Beim Festmahl aus den
Himmeln
Demetrius hatte mit Lazarus und Ursus besprochen, dass sie samt ihrer Begleitung
bis zu dem von Jesus bestimmten Tage noch Gast in Bethanien sein würden, was
Lazarus mit Freude erfüllte; und so vergingen diese Tage im gegenseitigen
Liebe-Dienen, wie es nötig war, um in Enos und Theophil eine Neugeburt im Geiste
des Auferstandenen zu bewirken. Ursus und Theophil, sowie Demetrius und Enos,
waren unzertrennlich; Ursus diente dem Theophil, um ihn so lebendig und voll
Feuer zu machen, wie er selber war, während Theophil dem Ursus aus der
Geschichte des Volkes Israel manche Aufklärung gab. Ebenso gelang es aber auch
dem Demetrius, dem alten Priester Enos den letzten Rest jüdischen Templertums zu
nehmen und ihn zu einem bittenden und verlangenden Kinde Gottes zu machen. Sein
Ausspruch: „Enos, ich habe es nicht mehr mit Sünde und Schuld zu tun, sondern
mit dem lebendigen Gott der Liebe, der Verzeihung und Vergebung ist!", löste die
letzte Schranke, und nun war endlich aller Zweifel in Enos überwunden! Die
Gedanken an seine Vergangenheit befestigten nur noch den Wunsch: „Nur Ihm will
ich noch leben, in Demut und Dankbarkeit!"
Eines Abends sagte Lazarus nach dem gemeinsamen Mahl: „Morgen erwartet uns alle
viel Arbeit, denn liebe Brüder kommen zu uns, um den vom Meister bestimmten
Festtag bei uns zu verleben! Darum suchen wir für diese Nacht rechte Ruhe, damit
wir allen Anforderungen gerecht werden!"
Am anderen Morgen wurde mit grosser Freude Alles zum Empfang der Gäste
vorbereitet, und gegen Mittag kamen schon die ersten Besucher. In den Gärten
wurde die Arbeit niedergelegt, und alle Bewohner und Arbeiter erschienen im
Festgewand; galt es doch wieder einmal, allen Besuchern und allen zu Bethanien
Gehörigen zu beweisen, dass Bethanien die Pflegestätte der Liebe sei!
Der Tempel hatte auch heute seine Kundschafter ausgesandt, und diese staunten
nicht wenig, als immer mehr Menschen nach Bethanien zogen. Auch Kisjonah kam,
und herzlich war die Begrüssung. „Der Herr will es, dass ich heute und morgen
dein Gast sei", sprach er zu Lazarus, „und auch mein Herz trieb mich mächtig
nach hier."
„Auch ich freue mich, dich hier zu haben", erwiderte Lazarus, „der Meister hat
alle Brüder hierher geladen. Er wird wohl Seine Mission beschliessen wollen, um
den Jüngern Sein Werk persönlich zu übergeben!"
Auch Pilatus war mit seiner Frau gekommen, sie aber blieb bei den Frauen. Der
grosse Saal war festlich geschmückt und ein reiches Mahl wurde bereitet. Alles
Jesu zu Ehren und um Ihm zu danken für Seine Liebe und alle Seine Wohltaten! Die
Gäste hatten sich in den Anlagen und Gärten zerstreut und unterhielten sich in
anregenden Gesprächen, aber noch fehlten die Jünger aus Jerusalem. Lazarus war
mit Pilatus, Kisjonah und Demetrius zusammen, wobei nochmals die Gründe
besprochen wurden, warum der Herr alle Seine Getreuen hier vereinen wollte!
Kisjonah sprach: „Nie ging der Herr von mir und den Meinen! Mir ist, als sei Er
immer um uns und leite uns alle mit Seinen Augen; nicht der geringste Schmerz,
den Sein Tod hervorgerufen hatte, belastet uns mehr!"
Pilatus entgegnete: „Glücklich seid ihr zu preisen, da eure Liebe ja dem gehört,
der ganz gewiss nur Liebe ist! Doch mir ist nicht so wohl, da immer noch der Tod
Jesu als etwas in meinem Leben steht, was mich an eine grosse Schuld mahnt! Mag
Seine Liebe noch so gross, noch so verzeihend sein, ungeschehen macht sie diese
Tat nicht!" —
Da sprach Lazarus: „Bruder, vor kurzer Zeit sprach eine junge Schwester zu ihrem
Vater, dem diese Kreuzigung auch eine schwere Herzenslast war: ,Ich sehe das
Kreuz von himmlischem Licht umflossen! Es ist nichts Richtendes, sondern es
bezeugt uns die versöhnende Liebe des Heilandes, um der irrenden Menschheit den
Weg zu Gott frei zu machen! Es ist das Wunder von Golgatha!' So wirst auch du
noch das Grosse und Gewaltige darin erleben, denn das Kreuz von Golgatha ist der
Mahnruf zum Stille-Sein, um uns dem Willen Gottes freiwillig zu unterstellen! Es
ist der Lockruf nach der ewigen Heimat als der Stätte himmlischen Friedens!"
Die Schwestern Maria und Martha kamen und verständigten ihren Bruder, dass die
Jünger inzwischen angekommen seien und er das Zeichen zum gemeinsamen Mahl geben
möge, es sei alles bereit. Als alle Platz gefunden hatten, begann das Festmahl
mit einem Lobgesang und Dankgebet, und alle Herzen waren froh gestimmt.
Nach dem Mahl stand Ursus, wie auf inneren Antrieb, auf und sprach mit seiner
klangvollen Stimme: „Wir alle, die wir hier versammelt sind, erleben aufs neue
die Seligkeit, die in der wahren Nächsten-Liebe liegt! Dadurch sind unsere
Herzen Dem geöffnet, der uns alle so innig liebt! Er gab uns nicht nur Seine
Liebe, sondern auch Sein Leben gab Er für uns dahin, damit wir erlöst würden aus
der Kälte der Lieblosigkeit und dem Irrtum der Welt. Darum dürfen wir glauben:
Wir sind Sein Eigentum, sind Sein durch Schmerz und Tod errungenes Glück! O
meine Brüder! Wer wie ich in der Welt schon durch Krieg und Verheerung, durch
Krankheit und Seuchen gegangen ist, erkennt den grossen Wert der Liebe, die
Jesus allen Menschen brachte! Darum bekenne ich laut: Es gibt kein grösseres
Glück, als zu wissen: Jesus, der Herr und Heiland, hat auch mich in Seine Liebe
aufgenommen und hat mir damit das Tor geöffnet, um Seine ganze Herrlichkeit zu
empfinden!" —
Und vom Geist belebt, stand Ursus nochmals auf und sprach: „So, wie sich jetzt
dem Herrn diese Tür von selber öffnen wird, damit Er eintreten kann zu uns in
unsere Mitte, so sind auch uns jederzeit Tür und Tor geöffnet, Einkehr zu halten
in dem Hause, wo Er uns erwarten will! Das ist in dem Heiligtum des Tempels, den
wir selber Ihm erbauen sollen in unserer Innen-Welt!"
Alle waren bewegt von den glühenden Worten des Ursus, — ihre Blicke richteten
sich auf die Tür, die sich nun leise öffnete, — und feierlich schritt der Herr
herein! Er kam bis an die Tische, und mit ausgebreiteten Armen segnete Er die
Anwesenden: „Friede! — Heiliger Friede sei mit euch allen! Dieser Friede
durchdringe euer ganzes Sein, dass ihr euch hinaufgetragen fühlt wie von starken
Armen über alles Weltliche hinweg und euch gebettet fühlt an Meiner Brust, auf
dass Mein Geist und Mein Innenleben euch voll offenbar werde! Dir aber, Bruder
Lazarus, danke Ich, dass du ganz in Meinem Sinne diesen Tag zu einem besonderen
Festtag gestaltet hast! Heute will Ich noch einmal unter euch sein wie in
vergangenen Tagen und will dann Meine Mission unter euch beschliessen! Keiner
fühle sich bedrückt durch Meine Gegenwart, denn Ich bin ja derselbe noch, der
Ich als Mensch unter euch weilte!"
Als der Herr schwieg, erhoben sich alle und wollten dankend Seine heiligen Hände
umfassen. Er aber sprach liebevoll: „Kindlein! Eure Freude ist Mir Dank genug! —
Sehet, Ich setze Mich unter euch und bleibe bis morgen bei euch! Darum fühlet
euch froh und frei wie früher!" Und Er setzte sich zwischen Ursus und Theophil.
Aus der Küche kamen einige Frauen zu Lazarus mit der Nachricht: „Der Herr liess
uns sagen, unsere Dienste benötige Er heute nicht, durch Seine Diener würde die
weitere Arbeit verrichtet!"
Da sagte Lazarus tief bewegt zum Herrn: „O Herr und Vater! — So reich hast Du
uns schon mit Deiner Liebe gesegnet, und doch willst Du auch heute wieder der
grosse Gastgeber sein? Wohl ist alles aus Dir und von Dir; doch heute wollte ich
Dich beglücken, wie es mein liebend Herz verlangt." Da sprach der Herr: „Mein
lieber Bruder Lazarus! Ich wusste wohl um diese deine Sehnsucht und Liebe, aber
die Meine ist grösser und stärker! — Darum habe nur Geduld, deine Liebe wird
noch oft genug in Anspruch genommen werden, während Ich dann nur je nach eurem
Verlangen euch geben kann! Eine neue Zeit bricht für euch an, eine Zeit der
Arbeit und des Schaffens für Mein Werk! Eine Zeit, wo ihr nicht mehr müde werden
dürft, wo euch das Bewusstsein erfüllen soll: Die Liebe zu Mir gibt euch die
innere Kraft, und der Glaube an Mich macht euren Standpunkt unerschütterlich!
Ihr habt erlebt die Herrlichkeit, die da ausgehet vom Vater! Diese möchte Ich
jetzt noch einmal vor euren Augen sichtbar werden lassen, damit auch diese neuen
Brüder in Wahrheit erleben des Gottes-Reiches ungeahnte Herrlichkeiten! Damit
sie ihre hohen Aufgaben erkennen und wissen, für welche Vollendung der
Menschen-Seele sie ringen und kämpfen sollen!"
Weissgekleidete Diener kamen herein, räumten geräuschlos alle Tische ab und
trugen ein neues Mahl auf, das in gebratenem Lamm und frischgebackenem Brot
bestand. In Kristallschalen perlte goldgelber Wein und in grösseren Schalen aus
rosafarbenem Glas lagen Birnen, Trauben und Feigen. Der alte Enos und Demetrius
erstaunten nicht wenig, wie dies alles so lautlos und mit einer ungeahnten
Schnelligkeit vor sich ging, wo doch kaum eine Stunde vergangen war, dass sich
alle gesättigt hatten.
Da stand der Herr auf, segnete mit Seinen Händen dieses Mahl und sprach:
„Kindlein! Esset und trinket! Mein Herz ist voll Freude, dass Ich noch einmal
sichtbar euch dienen kann mit diesen Gaben des Himmels! Esset und trinket
fröhlich davon und empfanget Meinen Segen! Er bleibe für immer euer Teil!" Und
nun zu Ursus sich wendend, sprach der Herr: „Du, Mein Ursus, kennst Mich nun,
Mein Leben schuf in dir ein neues Leben! In diesem erwachten Innen-Leben wurde
dir vieles offenbar, aber das Herrlichste von allem kann dir erst werden, wenn
du, wie entfernt von Meiner Hilfe, im harten Kampf mit dem Weltlichen wie aus
dir selber wirken und schaffen musst! Wenn sich auch nicht alles in glatte
Bahnen lenken lässt, so muss dein erwachter Geist dir doch allen Halt, alle
Festigkeit geben! Denn wirken kann und darf Ich nur noch insoweit, als Mein Ich
Raum in euch erhalten wird je nach eurer freien Kindes-Liebe und als euer
kleines Ich sich schon zurückziehen kann! Dir aber, Mein Theophil, sage Ich:
Schaue nicht rückwärts, sondern nur auf Mich! Meine fürsorgende Liebe hast du
erfahren, aber noch bist du nicht ganz frei von den alten Vorstellungen über
Mich, um Meiner Lehre wahrhaft dienen zu können! Darum sollst du in dieser Nacht
erleben, wie Ich für alle gesorgt habe, die einst den Wunsch hatten, Mich in
ihrem Herzen zu tragen!"
Dann richtete Sich der Herr an alle und sprach: „Meine grosse Liebe gehöret euch
allen immer! Aber nur, wer in seiner ganzen Liebe Mich erfassen wird, der ist
bei Mir, und zu dem kann Ich kommen, bei ihm wohnen und Mich durch ihn
offenbaren! Sehet, Ich bin euer Vater, Ihr aber seid Meine lieben, Mir teuren
Kinder! Alle Himmel will Ich verlassen, alle seine Herrlichkeiten sollen
verblassen vor Meinen Augen, so eines Meiner Kindlein hier auf Erden mit
liebendem und sehnendem Herzen nach Mir verlangt! Schneller als ein Blitz werde
Ich sein Verlangen stillen und Mich freuen und sonnen in der erwachenden und
wachsenden Liebe solcher Kindlein."
Mit heiligen Blicken schaute Er in die Augen Seiner um Ihn versammelten Lieben;
dann sprach Er weiter: „O Meine Brüder! Noch einmal ist Mein Platz unter euch,
von morgen an nur noch in euch! Heute will Ich Mich freuen mit euch und will
euch stärken, dass nie und nimmer mehr Traurigkeit in euren Herzen erstehe
darüber, dass Ich nun sichtbar von euch gehen will! Und dass ihr erkennet, dass
mit Meinem äusseren Scheiden erst unsere innere Verbindung für ewig sich
vollziehen wird! Ich gehe nun in Meine Ur-Heimat zurück, in Mein Ur-Sein! — Doch
euch lasse Ich noch in dieser Aussenwelt, damit ihr Mein angefangenes Werk
fortsetzet! — Ich kann zu keinem mehr sagen: Folge Mir dorthin nach, wo Ich
jetzt hingehe! Ich muss die weitere Entwicklung eures Innen-Lebens, eures
Glückes und eurer Seligkeiten nun euch selbst überlassen! Doch nun seid
fröhlich! Noch einmal geniessen wir zusammen, was Meine Liebe für euch alle in
Bereitschaft hält, dann gehen wir nach dem Ölberg, damit Ich Meine Mission
beende!"
Dieses Abendmahl machte alle Herzen wunderbar froh gestimmt, und niemand dachte
an den kommenden Abschied des Herrn! Jesus aber blieb ruhig und ernst. Manches
Wort ward noch hin und her gewechselt, und so wurde es Mitternacht. Da lud der
Herr Alle ein, Ihm zu folgen, — und sie verliessen das Haus und gingen langsamen
Schrittes nach dem Ölberg, der auf dieser Seite auch zum Besitz des Lazarus
gehörte.
IX. Jesu Himmelfahrt
So voll Leben sie alle im Hause gewesen waren, so voll Ruhe waren sie jetzt. Der
Herr hatte Seine Jünger um Sich verlangt und ging dem Zuge voran; und auf einem
freien Platz, wo schon Decken und Teppiche in grosser Menge, wie von Engeln
ausgebreitet waren, lagerten sie sich. Die Nacht war schön! Stern um Stern
wetteiferten im Funkeln und Leuchten, und schweigend genossen alle diese Pracht
des sichtbaren Himmels. Dabei wurden Ursus und Theophil in einen geistigen
Schlaf versetzt und ihre Seelen wurden vom Engel Rafael in ihre frühere Heimat
geführt, wo sie die Wunder der grossen Vater-Liebe Gottes bewusst erleben
durften. Noch immer schwieg der Herr, doch Seine Jünger wurden voll Leben und
enthüllten den Versammelten noch einmal den grossen Liebes- und Erlösungsplan
Gottes mit den in die Finsternis verirrten Menschen-Seelen! Und so verging die
Nacht; die Sterne verblassten und das Morgenrot verkündete den neuen Tag! Ursus
und Theophil waren wieder in ihren natürlichen Zustand zurückgeführt und
glaubten, geschlafen und sehr lebhaft geträumt zu haben; doch fanden sie keine
Gelegenheit, ihre seltsamen Erlebnisse zu erzählen!
Als die Sonne sich über den Horizont erhob, ging der Herr zu einem jeden, legte
ihm segnend und betend Seine Hände für Augenblicke auf das Haupt und nannte ihn
bei seinem Namen, an den einen noch eine Bitte richtend, dem Anderen eine
Verheissung gebend! Als Er zu Ursus kam, legte Er gleichzeitig dem Theophil die
Hand auf den Scheitel und sprach zu beiden: „Kinder! Mein Wille machte euch heut
zu Besitzern grosser Geheimnisse! Da ihr noch vor grossen Aufgaben steht,
musstet ihr erfahren, dass ihr zusammengehört für Zeit und Ewigkeit! Du, Mein
Ursus, hast gesehen, wie Mein Opfer gewertet wird in einer Welt, die die deine
war, ehe du hier Mensch wurdest! Und du, Ruben-Theophil, kannst ohne Scheu dich
eins fühlen mit Mir, weil du nun gesehen, was Liebe vermag!"
Zu Enos sich wendend, sprach der Herr, indem Seine Hand auf seinem Haupte lag:
„Dir aber, Mein Sohn, sage Ich: Zweifle nicht mehr an diesem Erleben mit Mir! So
du aber fühlst, dass Ich dich nicht mehr mit Meinem Geiste erfülle, so lass Mein
Kreuz das Vermittelnde zwischen uns sein! Denn jeder, der sich eins fühlen will
mit Mir, muss auch Mein Kreuz lieben!“ So erhielten alle ihren Liebes-Anteil! —
Die Jünger aber waren darnach eng um Ihn versammelt und erhielten noch besondere
Worte, die aber die Anderen nicht verstehen konnten.
Dann wandte sich der Herr abermals an alle und sprach: „Kinder! Und ihr, Meine
Brüder! — Aus allen Welten sind Zeugen an dieser Stätte, und alle eure Ahnen und
Vor-Ahnen segnen diese Stunde, in der ihr geheimer Wunsch in Erfüllung geht —
(Wie Boten von Gott schon seit Bestehen dieser Menschheit auf den Erlöser
hinwiesen, so sind auch auf andere Welten Gottes-Boten gesandt, die auf Den
hinwiesen, der allen Geist-Wesen das Grösste und Herrlichste einst bringen würde
die Kindschaft Gottes und damit die Freiwerdung aus aller Knechtschaft der so
vergänglichen Materie! Als nun Gott Selbst Mensch wurde, erhielten auch die
Bewohner anderer Welten Kunde davon und mit Sehnsucht und heiligem Interesse
verfolgten sie alle weiteren Botschaften von Seinem grossen Erlösungs-Werk. Ihre
Bitten wurden immer dringlicher, auch Zeuge zu werden von diesen Vorgängen auf
der kleinen Erde, die nicht nur ihren Bewohnern sondern auch allen anderen
Welten den Beweis der allergrössten Gottes-Liebe bringen sollten. So waren
Karfreitag und Ostern bis Himmelfahrt ihnen ein immer tieferes Eindringen in die
Wesenheit Gottes und mit nie gekannter Freude standen sie nun vor der Erfüllung
ihrer Sehnsucht ihres höchsten Wunsches, Gott als Den kennen zu lernen, der Er
in Wirklichkeit ist, indem sie miterlebten, wie der Herr, der grosse Schöpfer,
die Auswirkung Seines heiligen Erlösungs-Werkes als Erbe in die Hände Seiner
Kinder und Brüder legt und durch dieses Vertrauen der ganzen Schöpfung die Kunde
gibt: „Meine Kinder stelle ich hiermit Mir gleich!“)
„Denn höret:
Diese Stunde ist und war schon vorgesehen in dem grossen Plan Meiner
Mensch-Werdung! Von nun an seid euch alle bewusst: In allem euren Tun und Lassen
müsset ihr selbständig werden, denn Ich hinterlasse euch nur Mein lebendig Wort!
Wenn ihr mit euren Augen Mich nun entschwinden sehet, so gehe dieser Mein
letzter Wunsch eures Selbständig-Werdens in Erfüllung! Mit Meiner sichtbaren
Gegenwart will ich eure freie innere Entwicklung und die Entfaltung eurer Liebe
zur Tätigkeit darnach nicht mehr hindern! Und so lege Ich Mein noch zu
vollendendes Werk vertrauensvoll als Erbe in eure Hände! Bewahret es als euer
höchstes Heiligtum und bewachet es mit eurer ganzen Liebe, damit der Feind alles
Lebens dieses - nun euer - Werk nicht zerstöre! Wohl kehre Ich heim! Denn die
Heimat aller Heimat wartet! Aber trotzdem bleibe Ich, unsichtbar, bei euch und
bei allen, die Mich lieben und Mir dienen wollen auf dieser eurer Erde! Darum:
suchet, so werdet ihr Mich finden! Doch kein Wesen wird Mich je finden, so Ich
nicht auf dieser Erde von ihm gefunden wurde! Und darum wird Meines Bleibens auf
dieser Erde so lange sein, bis alles Verlorene heimgebracht ist!"
Der Herr schaute still in die Morgensonne, wie in weite Zeitläufe hinein, dann
sprach Er weiter: „Ich lasse euch nun allein! — Aber dieses sei euer Trost und
eure Kraft: Ich habe die Welt überwunden und werde diesen Meinen
Überwinder-Geist zu euch senden! Mit diesem Geiste ausgerüstet, gehet dann
hinaus in alle Welt, und traget Mein Wort und Meine Lehre überall dort hin,
wohin der Geist euch treiben wird! Und pflanzet Mein Liebe-Leben an Meiner statt
tief in die Herzen aller Menschen! Und was ihr als Zeugen bei Mir erlebt habt,
sollen nun alle die an euch erleben, die euch folgen werden! Ich sehe die Frage
in euren Herzen, wann Ich wiederkommen werde, um aufzurichten hier Mein Reich
bei allen, die Mich mit Sehnsucht erwarten? Dazu sage Ich: Es gebühret euch
nicht, zu wissen die Zeit und die Stunde! Dies bleibet dem Vater vorbehalten!
Ihr aber werdet bald die Macht und Kraft Meines Geistes in euch erfahren, der
euch treiben wird, Mein Wort allen Völkern zu verkünden!" Und Seine segnenden
Hände weit ausbreitend, rief Jesus, schon ganz verklärt: „So empfanget Meinen
Segen! — Meine Liebe und Mein Frieden seien für immer euer Teil!"
Vor aller Augen senkte sich eine lichte Wolke hernieder, in die der Herr und
Meister wie eingehüllet ward, — und so, gen Himmel auffahrend — — entschwand Er
ihren Blicken! (Lukas 24, V. 50—51.) Anbetend schauten alle dem geliebten
Meister nach. — Da aber standen zwei himmlische Zeugen bei ihnen, welche ihnen
die Verheissung überbrachten: „So wie wir Ihn, verhüllt, nach oben haben
entschwinden sehen, ebenso verhüllt wird Er dereinst wiederkommen! Damit
Kindes-Liebe und Kindes-Treue erst voll enthüllen sollen die Liebe und die
Erbarmung des Gottes-Sohnes!"
X. Ausklang!
An diesem Tage blieben alle noch im Hause des Lazarus; aus aller Augen leuchtete
eine heilige Freudigkeit und Dankbarkeit, und in ihren Herzen sang und klang es:
„Wir sind erkoren, mitzuarbeiten am heiligen Werke des Herrn und zu verkünden
Sein Wort allen, an die uns Seine Liebe weist!"
Besonders die sonst so ernsten Jünger strahlten eine Freude aus, dass Ursus dem
Lazarus zuflüsterte: „Warum wohl ist in den Herzen derer, die den Herrn so sehr
liebten, jetzt sichtlich eine so innere Freudigkeit (Lukas 24, V. 52), wo sie
doch wissen: Nun ist es nicht mehr möglich, mit unsern Augen Ihn zu schauen, mit
unsern Ohren Seine liebe Stimme zu vernehmen! Denn Er ist in Seine Ur-Heimat
zurückgekehrt und liess uns allen nur Sein Wort voll Leben und die Verheissung
Seines einstigen Wiederkommens zurück. Der Herr muss ihnen wohl noch etwas ganz
Besonderes gesagt haben!"
Bei dieser Frage fühlte Lazarus ein Drängen in seiner Brust, den Jüngern, die
sich anschickten, nach Jerusalem zurückzukehren, noch eine Bitte ans Herz zu
legen; und so sagte er: „Liebe Brüder, es trägt wohl mancher die stille
Sehnsucht in sich, von jenen hohen Worten etwas zu erfahren, die der Herr
zuletzt noch zu euch, Seinen Jüngern, sprach, von denen wir Anderen aber nichts
vernehmen konnten."
„Du tust wohl daran", sprach Petrus, „dass du darum fragst, damit keiner denke,
der Herr hätte auch lauter sprechen können, damit jeder es höre! Sehet, wir alle
waren heute Zeugen von einem Geschehen, welches wohl keiner von uns zuvor
erwartete! Ein jeder erhielt noch besondere Segens-Worte von Ihm, doch Seine
letzten Worte galten nur uns als Seinem engsten Jünger-Kreis. Jedoch, wir haben
kein Gebot, diese Worte euch vorzuenthalten, — und so höret alle, was der
Meister zu unsern Herzen sprach: ‚Brüder! — Ich stehe heute vor dem Abschluss
Meiner Sendung! Ich möchte euch nicht noch einmal wiederholen, was alles ihr tun
oder lassen sollt, sondern nur ganz kurz begründen, warum Ich nun so sichtbar
scheiden will von euch und von allen, die hier versammelt sind! Brüder, ihr
wisset, nichts Menschliches, nichts Seelisches konnte Meinen Sieges-Lauf
aufhalten! Unentwegt erstrebte Ich das innere hohe Ziel, welches die Gottheit in
Mir vor Mich hinstellte! Und ihr wisset: Es ist vollbracht! Wenn Ich von dieser
Stätte Meines Wirkens und Schaffens als Menschen-Sohn nun sichtbar scheide, so
will Ich der Erde und allen ihren Bewohnern doch dieses Mein Zeugnis
zurücklassen: Ich gehe als Verklärter, als der Überwinder und Sieger über den
Tod zurück in Mein Ur-Sein, um von dort aus allen, die im ernsten Kampf um die
ewigen Geistes-Güter stehen, Meinen göttlichen Beistand zu senden, ohne den kein
Gelingen und Vollbringen für euch möglich ist!
Aber, Meine Brüder, wie könnte Ich Mein heiliges Werk in euch und durch euch
fortsetzen, wenn in euch noch menschliche Begriffe oder Vorstellungen von Mir
bestehen, die euer Inneres je in Unruhe oder gar Zweifel versetzen könnten? —
Ihr wisset: Ich gab der Erde durch Meine freien Opfer zurück, was Ich als Mensch
ihr schuldete. Ich bin durch dieses Mein Gelingen und Vollbringen nun Geist! Ich
habe diese Erde dadurch in einen Zustand versetzt, dass, wer sich hier aus
Meinem ewigklaren Sieger-Geiste den Willen und die Kraft aneignen will zur
ähnlichen Überwindung alles Weltlichen in sich, dass der dann, gleich Mir, sich
unabhängig von allem Irdischen machen kann! Ja, mehr noch: Gleich wie Mir alles
Irdische dienen musste und Mir untertan ward, so soll auch diesen Überwindern
sich alles dienend unterordnen, was diese Erde noch als ihr Eigentum besitzt!
Meine Brüder! Was Ich euch in dieser Stunde hiermit gebe, ist mehr, als was der
Himmel geben, ist mehr, als je ein Mensch begreifen kann! Nur euch und allen
denen, die ganz Kind und doch in sich ganz Vollendete sein werden, soll offenbar
werden, welch ein Geschenk Ich euch bei Meinem Scheiden und durch euch der Erde
hinterlasse, ja, sogar allen Welten im unendlichen Raum! Doch verharret noch in
tiefster Stille beieinander, bis ihr fühlt, dass dieses Mein in letzter Stunde
an euch gerichtetes Wort sein eigenes Leben in euch bezeugt, und dass eure
lebendige Liebe zu Mir dann auch das letzte Fünkchen vom Menschen-Sohn zum
Gottes-Sohn umgewandelt hat! Dann, — dann ist die Stunde da, wo, gleich wie ein
Blitz, Mein Wort durch euch die Nacht (Die Nacht entspricht der allgemeinen
Unwissenheit über die geistigen Vorgänge in den Menschenseelen) erhellt, und wo
aller Finsternis (die Finsternis aber entspricht den egoistischen, bösen
Absichten) die weithin leuchtende Mitteilung wird: Ich lebe als die ewige
Wahrheit! Doch nicht mehr ein Leben aus Mir, sondern ein Leben in euch und aus
euch! Was aber dieses Mein Leben in euch bedeuten wird, soll alle Welt bald
erfahren! Und wenn sich alle Gewalten der Finsternis auflehnen und alle ihre
Kräfte vereinen, um euch zum Schweigen zu bringen (durch all die grauenhaften
Szenen der Christen-Verfolgungen), soll euch ein heilig Wehen, ein heilig Feuer,
durchglühen, dass ihr, gleich wie eine Sonne, eine Licht-Fülle ewiger Wahrheiten
ausströmen lassen könnet, die alle Widersacher mit Leichtigkeit überzeugen muss,
dass Ich es bin, der da in euch lebet, wirket und schaffet!
Schauet nach Jerusalem, der Stätte Meines Leidens und Meines grossen Sieges! Für
alle Zukunft ist hier nun der Grundstein gelegt, dass jeder Mensch auch ein
Sieger über seinen Tod (über seinen inneren geistigen Schlaf oder Tod) — und ein
Auferstandener zu einem neuen Leben werden kann! Denn nicht zum Sterben für Mich
habe Ich euch gedungen, sondern zu einem himmlischen Leben! Leben sollt ihr für
Mich! Leben aus Meiner reichen Gnaden-Fülle, damit Mein heiliggrosses
Lebens-Werk in euch seine Fortsetzung finde! Bleibet noch in aller Stille
verbunden mit Meinem Geiste, bis der euch verheissene Beistand — der Heilige
Geist — als die Feuer-Kraft zu allem Guten und Edlen euch zuteilwerde! So segne
Ich euch noch besonders! Und Meine grosse Liebe zu aller Menschheit werde euch
immer bewusster, damit ihr ein Segen für alle werdet! — Amen!'
So sprach der Meister zu unserm innersten Leben!", schloss Petrus bewegt, — und
Aller bemächtigte sich ein feierliches Schweigen ob der grossen Enthüllungen der
göttlichen Liebe in diesen Abschieds-Worten.
Dann setzte Petrus noch hinzu: „In meinem Herzen fühle ich immer mehr das Glück
und die Freude, erwählt zu sein von Ihm, um auch ein Retter für unsere
Mitmenschen zu werden, wie Er Selber unser Erretter und Erlöser war!", — und
kehrte sich dann ganz in seine Innen-Welt. — „Doch höret, ihr Brüder, was ich
nun in mir erkenne und empfinde", begann er nach einer Weile wieder, und seine
Augen leuchteten in seltenem Glanz: „Ich sehe ein: Der Meister konnte uns ja
nichts weiter sagen von all den Herrlichkeiten eines erwachten Innenlebens, da
Er doch unserm Unglauben Rechnung tragen musste — und unsern engen und
kurzsichtigen Begriffen vom Göttlichen! Aber nun schaue ich in die ewige
Herrlichkeit unseres göttlichen Vaters, die mich in einen so himmlischen Zustand
versetzt, dass ich in mir alles das finden darf, was Sein Mund vor uns noch
verschweigen musste!" — Und immer mehr noch von innen erglühend, wendete Petrus
sein Angesicht gen Himmel und rief aus: „O Du herrlicher Jesus! Endlich bist
auch Du befreit und erlöst in mir von dem Druck, den das Gesetz auf Dich ausübte
(Das Gesetz der göttlichen Ordnung, dass der Mensch, von aussen her, nicht mehr
Erkenntnis-Licht empfangen darf, als er in sich aufnehmen kann, damit das freie
innere Wachstum nicht Schaden leide! Aber von innen her dürfen wir uns in dem
vollen Liebte Seiner Wahrheiten sonnen!) ! Nun erst darfst Du leben und wirken
in uns durch die von aller Aussenwelt erlöste Liebe Deiner Kinder, die ihr Herz
gemacht haben zu einem Jerusalem und ihre Liebe zu einem Tempel, darin Du wohnen
kannst, und zu einem Altar, da Du geniessen willst die Liebes-Opfer Deiner
Kinder!"
Dann wendete er sich langsam wieder den Brüdern zu und rief: „Höret ihr alle es:
Nicht Er ist gen Himmel gefahren, sondern der Himmel senkte sich zu uns herab
und nahm in seine Ur-Mitte wieder auf der Liebe heiligstes und geheiligtes Sein!
In allen Himmeln wird die Sehnsucht wachsen, den ewigen, heiligen Gott auch als
Vater zu erleben! Aber nur von dieser Erde aus wird die Erfüllung solcher
Sehnsucht geschehen können! Denn Du, Du unser Jesus, Du unser Gott und unser
Vater kannst ja nicht völlig heimkehren in Deine Ur-Heimat, da Dich die Liebe
noch bindet an all die Verirrten, denen diese Heimat noch verschlossen ist!
Darum also Deine Bitte an uns: ‚Lasset Mich leben in euch, und setzet fort Mein
Werk in Meinem ewigen Liebe-Geiste!'"
Petrus schwieg, tief nach Innen gekehrt, sein Antlitz aber leuchtete im Abglanz
wunderbar verklärten Friedens! Mit tiefer Andacht sahen ihn alle an, — so hatte
noch keiner den Petrus je gehört, noch gesehen! Ursus ward bei diesen
Enthüllungen aus dem innersten Herzens-Leben des Petrus entzündet vom Geist der
Tatkraft, ging zu Petrus hin und sagte: „Ja Bruder, jetzt begreife ich eure
Freude! Deine Worte drangen mir tief ins Herz und weckten etwas, was ich nie
auszusprechen gewagt hätte, und zwar: Diese Himmelfahrt Jesu hat uns zwar die
Aussicht genommen, jemals noch mit dem Herrn in persönliche Berührung zu kommen;
dafür aber offenbart uns der Herr und Meister, dass Er jetzt keine andere
Sehnsucht kennt, als zu wohnen in den Himmeln, die Seine Kinder hier im
Erdenleben für Ihn errichten werden, das ist: in ihrer eigenen Menschenbrust!
Oder, mit anderen Worten gesagt: Diese Seine Himmelfahrt bedeutet für mich die
Einzeugung Seiner Geist-Persönlichkeit in mein Herz!"
Nach einer Pause sprach Ursus weiter: „Auch empfinde ich es in mir wie im
klarsten Lichte: Damit nun der Mensch sich nicht verliere in Sehnsucht nach dem
Meister und allerlei Wünschen nachhänge, die ihm nicht nützen können zu seiner
geistigen Vollendung, darum trennt Er sich so sichtbar und endgültig von uns! Er
will von uns gesucht — und dann gefunden werden — in der eigenen Innen-Welt! O
Du herrlicher Gott und Vater! Stärke Du meine Liebe! — Weite meine noch
irdischen Begriffe, damit ich das Gewaltige und das Heilige Deiner Liebe zu uns
kleinen Menschenkindern so recht erfassen lerne! Lass mich ganz Liebe werden,
damit Du auch in mir etwas von den Wonnen empfindest, wie Du mir Wonnen Deiner
Liebe bereitet hast!" — und mit einem tiefen Atemzug setzte er noch hinzu:
„Amen!"
Da stand Bruder Johannes auf und sagte zu allen: „Selten nur hat ein Mensch den
Herrn so erfasst wie du, Bruder Ursus; und wenigen nur wurde die Gnade zuteil,
so tief in diese neuen Himmel hinein schauen zu dürfen, die Seine unermessliche
Liebe für uns alle in unsern Herzen längst schon in Bereitschaft hält! Grösser
aber noch als diese Gnaden-Gabe ist es, wenn du dieses dein Innen-Leben aus dem
Geiste Seiner Erlöser-Liebe nach aussen stellen lernst und im rechten
Bruder-Geiste alle Menschen damit umschliessen kannst! Es ist deshalb grösser,
weil solche hingebende und dienende Liebe allen Menschen etwas von dem ersetzen
möchte, was heute wir gen Himmel entweichen sahen! Der Meister, der uns Sein
Vertrauen und Seine Hilfe nie entziehen will, wird uns bei solchen Aufgaben
sicher führen und leiten. Seine Worte seien nun unser Sein, unser Leben! Seine
Worte unser aller Anker und Lebens-Grund! Dann eint sich Sein Wort mit unserm
Leben! Und Seine Worte werden bezeugen ihr Leben in uns! Und in dieser Einung
erst erleben wir die Herrlichkeit unseres Vaters und dürfen von Seiner
Licht-Fülle in uns aufnehmen, so viel unsere Liebe schon erfassen kann! Dann
werden auch unsere Worte lebenzündend wirken und Anderen Halt und Vertrauen
geben! Er Selbst ist dann der Mittelpunkt meines Himmels und ist der Herr
geworden in meiner Innen-Welt!"
Nach einer Pause sprach Johannes weiter: „Sehet, bald müssen wir uns trennen!
Ein jeder kehre fröhlich in seinen ihm anvertrauten Wirkungs-Kreis zurück! Aber
verbunden bleiben werden wir für alle Zeiten, da der Meister mit Seinem Scheiden
von uns nun allen die herrlichsten Gnaden-Mittel reicht, damit wir leben dürfen
in Ihm! Solange Seine Liebe uns nur Vorbild ist, jagen wir dem seligen
Innen-Leben wohl nach! Ist aber Seine Liebe in uns zum Leben erwacht, dann lebt
Er in uns und wir leben aus Ihm! O Menschheit! — Begreife dieses Wunder!
Amen!"