Heft 08. Karfreitag
Inhaltsverzeichnis
01. Golgatha
02. Des Hauptmanns Erlebnis in der Nacht darauf
03. Geistige Vorgänge auf Golgatha
04. Judas vor dem Herrn
05. Der Herr im Tempel
06. Am Sonnabend vor Ostern
07. In der Herberge des Lazarus
08. Wie der Erlöser in einem ändern Tempel schon erwartet wurde
09. Jesus inmitten jüdischer Kaufleute
10. Warum musste Jesus sterben
Brausend und schaurig erklang es aus dem Volkshaufen: „Kreuzige — Kreuzige Ihn!“
—, und durch die aufgeregten Menschen schien eine Welle von Blut-Rausch zu
gehen. Den Verhandlungen mit Pontius Pilatus folgte aufmerksam ein Hauptmann
der in Jerusalem stationierten römischen Besatzung; eisern seine Ruhe! —, und
doch verfolgte er mit innerem Interesse das weitere traurige Geschehen. Als
Jesus — ein Bild tiefsten Jammers — zurückgeführt wurde, schien es, als wollte
dieser Hauptmann auf Jesus zueilen und in die Verhandlungen eingreifen. Da sah
ihn Jesus an mit Augen, die den Römer bis ins Innerste erschütterten. Dann ging
der Hauptmann hinaus; es war zuviel! —, er blieb im Vorraum und erwartete
weitere Befehle.
Noch einmal erfolgte Getöse von draussen, und dann war Toten-Stille! Das
Todes-Urteil wurde gesprochen und vom Volk bestätigt! Mit zusammengebissenen
Zähnen lauschte der Hauptmann und durchschritt dann aufgeregt die Halle; da
erschien ein Bote und beorderte ihn zum Landpfleger. Hier angekommen wurde ihm
der Befehl, „Die Kreuzigung auf Golgatha“ vorzunehmen! Schweigend übernahm der
Hauptmann den bitteren Auftrag; doch nach einer kurzen Pause sagte er zu
Pilatus: „Mein Bruder! Noch an keinem Verbrecher habe ich diese Würde, diese
Hoheit beobachten können wie an diesem Menschen! Wenn nun dieser Mann unschuldig
ist? Was dann? Wohl wuschest du die Schuld von deinen Händen — mit Wasser, wie
aber willst du die Schuld von deinem Gewissen abwaschen? Ich diene meinem
Kaiser, und du bist hier sein Stellvertreter! Also geschehe es nach deinem
Befehle! Dixi! --Doch, mein Bruder, höre: Sollte noch auf dem Wege dorthin oder
auf Golgatha ein Zeuge Seiner Unschuld auftreten, werde ich die Ausführung
verhindern!“ Mit diesen Worten trat der Hauptmann hinaus und erteilte seine
Befehle. Und so nahm die Kreuzigung ihren Anfang. Auf dem Wege nach der
Richtstätte befahl er drei Hauptleuten von der Tempel-Garde, nicht von seiner
Seite zu weichen. So erreichten sie dann mit einigen Störungen Golgatha!
Tausende von Menschen, Neugierige, Männer und Frauen, hatten sich angesammelt;
der Hauptmann aber liess bekanntmachen, dass sofort alle Kinder den Hügel zu
verlassen hätten. Dann erging die Aufforderung, sich mit keinem Laut, Wort oder
gar Tätlichkeiten an diesem Geschehen zu beteiligen! Und ein Trompetenstoss
ertönte! — Noch einen Aufruf erliess der Hauptmann, der also lautete: „Sehet
diesen Menschen! Auf Grund eurer Anklage wurde er zum Tode verurteilt! Doch
vermisse ich Zeugen, die das Gegenteil eurer Anklage behaupten! Denn Jesus
verteidigte sich nicht! Hat niemand den Mut dazu? Kraft meiner Amtsbefugnisse
frage ich .euch und gebe euch noch zehn Minuten Zeit. Du aber, zum Tode
Verurteilter, bereite dich vor! Nimm Abschied, so du Freunde hast!“
Erstaunt blickten die Tempeloffiziere auf den römischen Machthabenden, bleich
waren ihre Züge; und der Hauptmann sprach zu ihnen: „Höret, wenn hier ein Wunder
geschieht oder Zeugen für die Unschuld des Verurteilten auftreten, dann kommt
ihr drei ans Kreuz, und sollte alle Welt zugrunde gehen! Denn ein Schuldiger
sieht anders aus! Warten wir also ab!“ Nach einer Weile trat ein Unterführer
heran und meldete, dass die zehn Minuten vergangen seien. Da gab der Hauptmann
ein Zeichen, denn seine Pflicht gebot es ihm, und die Kreuzigung begann und
nahm, wie bekannt, ihren Verlauf.
Als Jesus die Worte ausrief: „Vater! — Vergib ihnen! — Denn sie wissen nicht,
was sie tun!“ —, da erfasste den Hauptmann ein Sehnen, dass er zum Kreuze hineilte
und schmerzenden Herzens noch einen Blick von Jesus suchte; und Jesus, ohne der
eigenen Schmerzen zu achten, schaute ihn lächelnd an! Da erlebte der Römer ein
Glücks-Gefühl in sich, das zu dieser Stätte des grössten Unrechts in seltsamem
Widerspruch stand. „Mir ist verziehen!“, dachte er befreit, trat zu den Templern
und sagte: „Sehet hin, welch reinem Menschen ihr den Tod bereitet! Wie wollt ihr
das verantworten? Habt ihr jemals erlebt, dass ein Verbrecher seinen Gott und
Vater um Vergebung bittet für die, die ihm das schlimmste Unrecht antun? Noch
nie ist so etwas geschehen! Anders als in Wut oder Verstocktheit oder Angst sah
ich keinen, der zu solch gewaltsamem Tode verurteilt ward.“
Und weiter nahm das Verhängnis seinen Lauf. Jesus ertrug mit Würde Seine
furchtbaren Schmerzen; und Maria, aus ihrer Ohnmacht erwachend, schaute hinauf
zu ihrem Sohn; ihre sanften
Mutterhände glitten suchend empor am Stamm des Kreuzes, kamen an die Füsse Jesu,
an die Nägel und ein Schrei ertönte, der alle, Volk und Soldaten, aufs tiefste
erschütterte. So fühlt nur eine Mutter für ihr Kind! Da ging eine grosse Bewegung
durch alles Volk, der Blut-Rausch war verflogen! Maria aber sah empor, stand auf
und umschlang die blutenden Füsse, und Jesus lächelte Seiner Mutter entgegen!
Marias Herz ward dadurch erfüllt vom Geiste der Kraft und der Hingabe in den
unerforschlichen göttlichen Willen! — Auch der Jünger Johannes kam nun näher und
erhielt seine besondere Weihe vom Kreuze herab! — Nach und nach verliessen viele
den schaurigen Ort und flüchteten nach der Stadt zurück; doch jetzt gebot der
Hauptmann: „Niemand verlässt den Platz, bis ich es gestatte! Es war euer Wunsch,
nun sehet zu, dass euch nichts Ärgeres widerfährt!“ Und sogleich gab er auch
seinen Soldaten den Befehl, das Verlassen der Richtstätte zu verhindern.
Von tiefem Mitleid erfüllt hörte der Hauptmann die weiteren Worte des sterbenden
Jesus mit an; dann trieb ihn sein Herz zu den drei Frauen, und er war überrascht
von der Erhabenheit ihres Seelenschmerzes. Grüssend trat er näher und bat
Johannes um Aufklärung über Jesus und Seine Lehre. Johannes erzählte ihm, dass
ihr Meister Jesus ein guter Freund der römischen Befehlshaber Cyrenius,
Cornelius und Julius war, dass aber Jesus Selbst ihnen allen schon angedeutet
habe, dass Er einen traurigen und entehrenden Tod einst sterben würde und dass
kein Mensch dies je verhindern könne, da es Gottes Heiliger Wille so sei! „Und
wenn auch heute dieses nun geschieht —, unser Meister, unser Herr, wird als
Erlöser auch den Tod siegreich überwinden!“ Erstaunt und bewegt hörte der
Hauptmann zu, reichte dem Johannes die Hand und sagte: „Gehört habe ich schon
öfter von dem Nazarener, aber begegnet bin ich Ihm noch nicht. Hätte ich Ihn
jedoch früher so erkannt wie heute, so hätte ich diese Kreuzigung nicht
ausgeführt!“ — Und zu den Templern gerichtet rief er mit drohender Stimme: „Ihr
Juden und Tempelgelichter, mit euch wird noch abgerechnet werden! „Nicht so“,
sprach Johannes milde, „siehe, unserem Meister wäre es ein Leichtes gewesen,
dieses alles zu verhindern! Denn alle Kräfte des Himmels und der Erde stehen Ihm
ja zur Verfügung! Sein gestriger Kampf im Garten Gethsemane war vielleicht ein
noch grösserer als heute! Da rang Er mit Sich, dass wir alle, Seine Jünger,
zaghaft wurden und Ihn nicht mehr verstanden! Doch Jesus sprach zu Seinem
Allmächtigen Vater: «Nicht Mein, — sondern Dein Wille geschehe!» Nun lasse mich
mit den Frauen allein, — uns alle blutet das Herz! Hab Dank für dein Mitgefühl,
der du doch ein Heide bist! Du erleichterst unserem Meister den Todes-Kampf;
darum komme nach Bethanien, zum Lazarus! Dort triffst du die Freunde unseres
Meisters!“ — Johannes stärkte nun die Frauen; vor allem litt Maria Magdalena,
die immer wieder das Kreuz umarmte. Noch einmal leuchtete Jesu Auge auf im
grössten Schmerz —. als danke Er für die erhaltenen Liebesbeweise.
Der Himmel umwölkte sich, und eine graue, trostlose Finsternis brach herein.
Jesus rief nach einem Trunk; der Haupt man u konnte nichts anderes als bitteres
Essig-Wasser in einem Schwamm Ihm reichen lassen. Finster und finsterer wurde es
auf Golgatha’ — Wie gerne wäre das Volk jetzt geflüchtet, doch die Furcht vor
den Körnern hielt alle davon ab. Der Hauptmann wandte sich zu den Templern und
sprach: „Was sagt nun ihr, die ihr dieses reinen Menschen Tod verlangt habt?
Sehet ihr nicht, dass dieser unschuldig ist?“. Die Templer aber schwiegen, und
der Hauptmann fuhr fort: „Nur, weil der Nazarener mir verziehen, unterlasse ich
alles Weitere! Aber sehet zu, dass euch nichts Ärgeres widerfährt! Denn aus
dieser eurer ungerechten Tat wird eine böse Saat entstehen, die euch allen den
Tod bringen muss!“ Ein furchtbarer Erdstoss erschütterte plötzlich den Boden,
dass
alle Anwesenden vor Angst und Furcht zitterten. — Wie Donner-Rollen drang Jesu
Ausruf „Es ist vollbracht!“ in ihre Ohren! Endlich hatte Jesus ausgelitten!
Erschüttert rief der Hauptmann: „0 — Du! — Gott! Den ich erst heute kennen
lerne! Habe Dank, dass Du dieses Leiden verkürztest! Von nun an diene ich Dir!
Denn wahrlich, dieser Jesu« muss Dein Sohn gewesen sein!“ Dann trat er zu den
gebeugten Frauen. Da erfolgten noch ärgere Erdstösse, die Erde bebte! Nun gab es
kein Halten mehr: die Menge durchbrach die Kette der furchtsam gewordenen
Soldaten und eilte, wie von Furien getrieben, der nahen Stadt zu, in der so
mancher stolze Bau diesem Erdbeben zum Opfer fiel.
Allmählich wich die Finsternis, und die untergehende Sonne beleuchtete noch
einmal die traurige Stätte. Der Hauptmann liess seine Leute sammeln und befahl
seinem Unterführer, Sänften herbeizuschaffen für die drei Frauen, damit sie
sicher heimkämen; denn zum Gehen waren sie zu schwach! Dann gebot er: „Bewachet
diesen Gekreuzigten! Ich eile zum Landpfleger“, bestieg sein Ross und stürmte in
die Stadt zu Pontius Pilatus. Ohne Anmeldung eilte er in dessen Wohnung,
erstattete ihm ausführlichen Bericht und bat um eine starke Bewachung des
Leichnams Jesu, da er dem Tempel nicht traue! Dann kam auch schon eine Abordnung
des Tempels zu Pilatus und erbat sich die Abnahme des Leichnams Jesu zur
Grablegung. Der Hauptmann aber setzte es durch, dass diese nur unter römischer
Bewachung geschehe! Da sagten Nikodemus und Joseph von Arimathia: „Fürchte
nichts! Wir selbst sind Freunde von Ihm! Willst du uns aber dienstlich
behilflich sein, so erntest du unseren Dank!“ Zweifelnd schaute der Hauptmann
die beiden an und sprach: „Ihr wollet Freunde des Nazareners sein? Wo seid ihr
denn gewesen, als ich Zeugen für Seine Unschuld forderte? Glaubet mir, wäre ich
Sein Freund gewesen, — eher wäre der Tempel zerstört worden, als Jesus
gekreuzigt!“ Pontius Pilatus bewilligte die Abnahme des Leichnams, da der
Hauptmann aufs neue versicherte: „Dieser Nazarener hat unschuldig den Tod
erlitten!“ Der Hauptmann eilte nach Golgatha zurück, doch konnte er nicht
verhindern, dass ein Soldat mit seinem Speer in die Seite des Gekreuzigten stiess.
Sofort verständigte er hier die Freunde von der Erlaubnis zur Abnahme und
Grablegung und liess Wasser, Salben und Wäsche dazu holen. — Mit heiliger Liebe
trugen seine Freunde den Körper ihres geliebten Meisters zum Felsen-Grabe; nach
der Bestattung liess der Hauptmann das Grab versiegeln und ordnete strenge
Bewachung an! Nachdem alles in Ordnung gebracht war, schloss er sich den Frauen
und Johannes au, welche sich in den Sänften auf Einladung des Nikodemus in
dessen Haus tragen liessen; und Nikodemus lud auch den Hauptmann ein, an dem
Nachtmahl bei ihm teilzunehmen. In seinem Hause angekommen blieben die Frauen
allein; denn jetzt fühlten sie doppelt, wie einsam sie waren! Die anderen aber
nahmen das Nachtmahl ein, und der römische Hauptmann liess sich noch manches vom
Gastgeber und von Johannes aus dem Leben und Wirken Jesu erzählen. Erst spät in
der Nacht trennte er sich von ihnen und eilte seinem Hause zu.
02. Des Hauptmanns Erlebnis in der Nacht darauf
In seiner Wohnung angekommen blieb der Hauptmann bis zum anbrechenden Morgen an
seinem Tisch sitzen und liess nochmals alle Vorgänge an sich vorüberziehen. Da
auf einmal wurde es ganz hell um ihn! Ein junger Mann in leuchtender Kleidung
stand vor ihm, verneigte sich und sprach: „Lieber Freund! — Die Liebe zu unserem
Gott und Schöpfer, der uns heute das Allergrösste miterleben liess, treibt mich zu
dir, um dir zu danken für das, was da im unbewussten Drang deines Herzens getan
hast! Siehe in Diesem Jesus, in Diesem Sohn der Menschen, keinen ändern als
unsern Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Es gab für Gott, den Schöpfer aller
Menschen und Wesen, keinen anderen Weg mehr, nachdem alles, alles versucht war,
um Seine Schöpfung und alle geschaffenen Wesen darin vor dem inneren Untergang
zu retten, als Selber ein Erden-Mensch zu werden! Hätte Jesus weltliche Hilfe
angerufen oder nach Zeugen verlangt, so hätte der Gegenpol Gottes, Lucifer,
triumphiert! Diese hohe Bedeutung von Jesu Leiden und Sterben für die ganze
Schöpfung kam auch zum entsprechenden Ausdruck, als die Sonne sich verfinsterte
und die Erde erbebte! Alle Geist-Wesen schauten nach Golgatha! Doch wir Bewohner
der Himmel waren hier machtlos, weil die ewige Gottes-Liebe es also wollte!
Darum erfasse dieses! — Und auch du wirst erkennen lernen die oft schmerzlichen
Wege, aber auch die hohen Ziele, die Gott zur Rettung der Menschen-Seelen jetzt
angebahnt hat!“
Betroffen und verwundert stand der Hauptmann auf, reichte dem Fremden die Hand
und sprach: „Lieber Freund! Ich frage dich nicht: „Wer bist du?“ oder „Wie
kommst du hier herein durch verschlossene Türen?“; denn zuviel des Wunderbaren
habe ich heute schon erlebt, und mein Inneres ist erregt wie nie! Doch fragen
möchte ich dich: „Wo ist Jesus jetzt?“ da Er, nach Seiner eigenen Aussage, trotz
Seines Sterbens am Kreuz als „Der Überwinder des Todes“ sich uns offenbaren
will! Wenn dies wahr ist, und Er nur gestorben ist, damit „nichts Sterbliches“
mehr in Zukunft an Ihm sei, so muss Er doch sicher irgendwo leben! Aber wie und
wo? — Diese Frage lässt mir keine Ruhe! Und, so du kannst, hilf mir, dass mir
Klarheit werde!“ „Mein lieber Freund und Bruder“, sprach der Engel, „werde
vorerst im Innern ganz ruhig, damit ich dir zeigen kann: Die Gnade unseres
Gottes — Seine Heilige Erbarmung! — und Seine erlösende Liebe! — Gehe in dich
hinein! Versenke dich in die liebenden Blicke, die unser Herr und Meister dir
zuteil werden liess, und habe acht auf alles, was du dann erlebst! Ich werde dich
durch die Kraft und Güte Gottes in einen geistigen Zustand versetzen, damit du
mir folgen kannst! Doch nur, wenn du mir freiwillig folgst, wird dieses mir
möglich sein; ohne deinen freien Willen aber darf ich solches nicht tun! Und so
du nun willst, dann befiehl deinen Dienern, dass sie dieses Zimmer jetzt nicht
betreten; denn dein Körper darf nicht berührt werden in der Zeit, in der dein
innerer Mensch mit mir ins Geistige Reich wandert.’“ Der Hauptmann tat, wie ihm
geheissen und sprach dann die Worte: „Ja! — Es ist mein Wille! — Führe mich,
damit Klarheit in mir werde — und Ruhe und Frieden!“ Der Engel berührte nun des
Römers Stirn und Herz, und dieser fiel in einen tiefen Schlaf! Es löste sich die
Seele als schöne Gestalt vom Leib des Ruhenden und eilte mit dem Engel in
Gedankenschnelle nach Golgatha!
03. Geistige Vorgänge auf Golgatha
An der Richtstätte erlebten sie einen unermesslichen Andrang grosser
Geister-Heere! In einem alles überstrahlenden Licht stand Jesus und zeigte den
in öder, grauer Finsternis weilenden Geistern Seine noch blutenden Hände und
Füsse. Wie auf lautlosen Befehl öffnete sich zwischen den Geistern eine kleine
Gasse für die beiden Ankommenden, und bald standen sie bei Ihm! Erwartungsvolle
Stille war um Jesus, als Er sprach: „Alles, was ihr von Mir gesehen und gehört,
war Liebe, heilige Liebe! Und Mein ganzes Tun geschah aus diesem Geiste der
Göttlichen Liebe! Jetzt aber will Ich euch allen einen neuen Beweis Meiner
erlösenden Liebe geben. Und so komme du, der du mit Mir gekreuzigt wurdest, und
dem Ich versprach: „Heute noch wirst du mit Mir im Paradiese sein“—, tritt
hervor ohne Zagen! Warst du Zeuge Meines Leidens, so sollst du jetzt Zeuge
Meines Sieges sein! Doch eine Bedingung knüpfe Ich an Meine Verheissung: dass du
verzeihen kannst denen, die dich erschlugen! Hier kniete der Schacher nieder,
stammelte Bitte um Bitte um Verzeihung ob seiner grossen Schuld—und versprach,
alles auszulöschen, was als Hass und Böses noch in ihm sei! Da hob Jesus ihn auf
und sprach: „So gehe und hole Meinen verlorenen Bruder, der in blinder
Leidenschaft und Verzweiflung seinem Leben selbst ein Ende setzte! Im Tempel
wirst du ihn finden!“ — Der Schacher bat: „O Du göttlicher Meister! Dein Wille
geschehe! Gib mir Mut und Kraft dazu um Deiner grossen Liebe willen!“ Und .Jesus
segnete und entliess ihn. Dann sprach Er zu den anderen: „Ihr alle, die ihr in
und an euren finsteren Gräbern weilet! Kehret euch zu Mir, ins Licht! Alle, die
ihr Mich heute höret, dürfet glauben, dass Ich Der bin, auf Den eure Väter
hofften! Ihr dürft nun heute schauen Den, Der euch die Tür öffnet, die bisher
verschlossen war!
Höret: Nicht richtend will Ich unter euch treten, nein, erlösend! Darum gehet in
euch! Es ist die Gnaden-Zeit eures Seins! Wenn ihr heute „Mich“ erkennet und
„Mein Wort“ annehmet, dann dürft ihr alle, auch der Finsterste, mit Mir ziehen
zum Tempel und Zeugen sein, wie Ich auch dort Meine Mission vollende! Wer mit
Mir geht, tritt aus den Elementen des Todes ins „Freie, Ewige Leben“ ein! Doch
eines müsst ihr alle zurücklassen: Euren Hass — eure noch in euch wühlenden
Begierden und Leidenschaften! Denn sehet: Wie Ich in selbst-vergessener Liebe
wirkte und schaffte, so ist es in Zukunft nur denen möglich, mit Mir zu
verkehren, die auch in dieser selbstlosen Liebe handeln. Wollt ihr Mir folgen,
so söhnet euch in eurem Herzen mit allen aus, und die Folge wird euch den Beweis
erbringen, dass wir im vergebenden Liebe-Geist uns die Hände reichen. Darum kommt
alle zu Mir, die ihr mühselig und beladen seid und Den ersehnet, Der euch Hilfe
bringen kann in eurer Not! Der euch Brot des Lebens reicht! Der euch führen will
aus diesem kalten, finsteren Sein in ein Leben der Liebe und der Freude! Amen!“
Ruhe, heilige Ruhe folgte diesen Worten! Dann trat ein Greis, gebeugt von der
Last seiner Sünden, hervor, schritt auf Jesus zu. fiel auf seine Knie nieder und
stammelte: „O Du, der Du uns Licht und Leben bringen willst, wie freudig
begrüssen wir alle Dein Kommen! Wie ewig lang währte unsere Gefangenschaft! Wie
Himmels-Musik klingen Deine so verheissungsvollen Worte! O Du, der Du sagst,
dass
Du uns liebst, in Dir würden wir gern erschauen: Den Heiland! — Den Retter! —
Den Gesalbten! Doch nun wir Dir folgen wollen, da türmen sich in uns Schranken
auf Schranken auf! Wir können Dir ja nicht folgen, denn nur Du hast „Das Gesetz“
erfüllt! Wir aber fühlen uns schuldig, schuldbeladen! 0 Gott! — 0 Jehova! — Dein
Gesetz zermalmt uns! Und doch sahen wir als Geister all Dein Tun, sahen Dein
Leiden, Dein unschuldig Sterben! Wir erlebten: Du hast einem Mit-Gekreuzigten
Hilfe, Gnade und Vergebung gereicht! 0 zeige uns allen, wie auch uns Erlösung
kommen kann! Siehe, wir alle hier möchten gerne zu Dir kommen, doch die Schlange
der Eva ist die Fessel, die uns an das Niedere bindet! 0 Herr! — 0 Jesus! —
Hilf! — Hilf Du uns, wie Du anderen so gnädig geholfen hast!“ Tränen entstürzten
den Augen des Alten. Jesus trat an ihn heran, legte Seine durchbohrte Rechte auf
sein Haupt und sprach: „So fasse in deinem Herzen denn Mut und bekenne frei,
aber voll Reue, deine Schuld und wolle von nun an in das wahre Leben der
selbstlos dienenden Liebe eingehen! Dean nur darum komme Ich zu euch, die ihr
Zeugen wäret Meiner grössten Herablassung und in Mir konntet erschauen den Neuen
Geist der Gnade! Erfasse nun diesen Neuen Geist und kehre dich zu Mir! Denn in
Mir ersiehest du Gott und Jehova!“
04. Judas vor dem Herrn
Wiederum wurde lautlos eine Gasse gebildet unter den unzählbaren Geistern, — und
der Schacher Dismas kam Hand in Hand mit Judas! Zitternd trat Judas vor seinen
Meister. Jesus aber sah ihn an mit Augen herzlicher Liebe und sprach: „Judas!! —
Erkennest du jetzt nach all deinen Leiden, dass „Das wahre Leben“ nur in der
Liebe zu finden ist? Siehe, Tausenden habe Ich helfen können, und diesen
tausend mal Tausenden ist bald geholfen, indem sie das neue Gnaden-Leben schon
schauen und erfassen wollen! Du aber hast Meine Worte nicht geachtet! — Meine
Lehre, nach welcher unzählige Herzen sich sehnten, und die auch deinem Herzen
zum Heile dienen sollte! Darum zeige Ich dir jetzt Meine Wunden! Diese Wunden
werden allen denen, die da in der Irre gehen, zum Wegweiser zur alles
vergebenden Gnade. Zu allen diesen hier — konnte Ich sagen: 0 gehet mit Mir! Ich
zeige euch den Weg zum Leben! Dir aber sage Ich nun: Du musst den Weg zu Mir
allein finden! Denn du kennst Mein Wort, Meine Lehre und Mein Tun! Judas, dir
kann Ich weder raten noch helfen! Nur verzeihen kann ich dir!“ Judas stürzte vor
seinem Meister nieder und wollte Seine Füsse umklammern, da sprach Jesus erneut
zu ihm: „Judas, du Armer! Da wir noch Menschen waren, da hätte Ich dir helfen
können, da warst du ein noch Unwissender! Doch hier, im Reiche des Geistigen
Lebens, bestimmt nur der eigene, freie Wille! Du bist jetzt ein Wissender und
kannst den Weg zu Meinem Wesen nur finden durch deinen noch tiefer zu beugenden
Sinn! — Noch lebt Hass, Wut und gekränkte Eigenliebe in dir! Noch führt dein
weltliches Verstandes-Leben die Herrschaft! Doch darum vergab Ich dir, weil du
in blinder Weltsucht gehandelt hast! Jetzt aber erfasse es, dass Mein Reich ein
Geistiges Reich ist! Das Reich des Ewigen Lebens! Und so beherzige Meine Worte!“
—
Zu den anderen sprach Jesus: „Nun lasset uns nach dem Tempel ziehen! Wer da
will, der komme mit!“ Wieder bildete sich eine Gasse. Jesus ging mitten durch
die Heere der Geister, ein endlos langer Zug folgte Ihm und zog ein in den
Tempel. Es war, als ob die Mauern sich erweiterten: Alle fanden im Tempel Platz;
Jesus aber ging hinein bis ins Allerheiligste. Nur zwei blieben auf Golgatha
zurück: Judas und der Schacher vom Kreuz.
05. Der Herr — im Tempel
Im Tempel herrschte grösste Verwirrung, denn der kostbare Vorhang, der das
Allerheiligste verhüllen sollte, war zerrissen und konnte nicht wieder
zusammengenäht werden; so oft es auch versucht wurde, zerriss er aufs neue. Nun
kam Jesus mit dem grossen, Ihm folgenden Zuge der Geister in den Tempel und
betrat das Allerheiligste. Doch keiner der Priester, kein irdischer Mensch,
hatte eine Ahnung von dem gewaltigen geistigen Ereignis, welches sich nun hier
im Tempel abspielen sollte. Der Engel mit dem Römer-Hauptmann hatte wiederum in
der Nähe Jesu seinen Platz; und beide verfolgten mit höchstem Interesse alle
Reden und Handlungen. Engel mit Posaunen traten an den Herrn heran; und auf ein
Zeichen Rafaels, der die ändern führte, liessen sie ihre Posaunen eindringlich
ertönen! Da öffneten sich die Gräber, die Katakomben unter dem Tempel, und
überall erschienen Geist-Wesen in der Tracht der Priester und Hohenpriester.
Einer unter ihnen trat hervor und fragte mit lauter Stimme, was all dieses
bedeute? Und Rafael, der Gottes-Bote, gab ihm zur Antwort: „Das sind die
Posaunen des Jüngsten Gerichtes! Jetzt ist Der gekommen, Der all die Seelen in
Empfang nehmen will, die euch anvertraut waren! Der Herr nimmt nun die Pfunde
zurück, über die ihr gesetzet waret in eurem Amte! Freuet euch, wenn ihr als
gerecht befunden, sonst wird es euch nicht zum Besten ergehen!“
Ernsten Blickes und mit gesenktem Haupte ging nun der Hohepriester hin zu Jesus,
dessen Kleid leuchtete wie von der Sonne beschienener, frisch gefallener Schnee.
Als der Hohepriester aber die Wundmale sah, erschrak er und fiel wie tot zu den
Füssen des Herrn. Und die vielen Priester, die sahen, dass ihr Führer sich nicht
wieder erhob, fielen auch auf ihre Knie und harrten ängstlich der Dinge, die
sich ereignen sollten. Jesus wandte sich nach allen Seiten, hob die durchbohrten
Hände und neigte Sein Haupt. Totenstille war unter den Geister-Heeren; denn die
Stimmen der hier anwesenden, noch im Fleische lebenden Templer hörten sie nicht!
Nun ertönte eine feine zarte Musik, anschwellend bis zum Rauschen, zum stärksten
Rauschen, um dann wieder weicher und leiser zu verklingen.
Da erwachte der Hohepriester, und Jesus sprach zu ihm: „Stehe auf! Heute komme
Ich nun Selbst! Ich habe euch erweckt aus eurer Ruhe, eurem geistigen Schlafe!
Ich, Das Leben, habe durchbrochen die Schranken! Ich habe den Tod überwunden, um
allen den Weg zu zeigen zum wahren, ewigen Leben! Bis tief ins Geister-Reich
drang die Kunde von Meinem Sein auf Erden! Und viele konnten sich schon laben an
dem Quell des Lebens, belehrt durch Meine Engel! Aber ihr? Wo wäret ihr? Wie
kommt es, dass ihr Mich nicht kennet, und dass erst der Posaunen Ruf ertönen musste,
um eure dunklen Zellen zu öffnen?“
Da endlich ermannte sich der Priester und fragte: „Bist Du der Herr? — Gott! —
Zebaoth? oder von Ihm gesandt? Dein Auge blickt mild, doch tragen Deine Hände
und Füsse das Symbol eines Gekreuzigten! Wer bist Du? Als ich Dich vorhin im
Lichte sah, da überwältigte mich das Gefühl: Du — bist — Gott! Aber nun ich
Deine Wunden schaue, da kannst Du nicht — „Gott“ sein. Und nicht Der, auf Den
wir hoffen, Der da kommen soll uns zu erlösen und Der doch nur in Begleitung
hoher, heiliger Engel kommen wird! Ich sehe aber weiter nichts als Volk, viel
Volk um Dich! Dass Du in unsere Ruhestätten bist eingedrungen, beweist mir nicht,
— dass Du Der Allmächtige bist! Und Dein Gewand, so schön und rein, ist mir auch
kein Beweis! Denn mancher kam schon zu uns und wollte Gesandter von Gott sein!
Aber wir glaubten ihm nicht. Doch bin ich verantwortlich als Diener dieses
heiligen Tempels, und so muss ich schon von Dir verlangen, uns zu sagen, wer Du
bist! Die Posaunen, die da erklangen wie Posaunen des Gerichts, können auch
falsche sein, und die Musik, die schöne, herrliche, kann auch Zauber-Musik sein,
um uns aus dem Tempel zu locken! Darum rede nun Du! Denn ich, der Hohepriester,
habe hier das Recht, da wir uns im Allerheiligsten befinden! Vor langer Zeit
schon zerriss der Vorhang (im Geistigen scheint es ihnen so), darum weise ich
Dich auch nicht aus diesem Heiligtum, da Gott euch darin duldet!“
Jesus sprach: „Eljasib! Du Armer! Verblendeter! Wie lange willst du noch hier
verweilen? Kommt dir nicht zum Bewusstsein, dass dieser euer Tempel nur Schein
oder Erscheinlichkeit ist? Hast da noch nicht erkannt, dass dein Dienst hier in
eurem „Schein-Tempel“ völlig wertlos ist? Hast du nicht bemerkt, dass auf den
Altären immer ein und dasselbe Opfer benutzt wird? Ist dir noch nicht der
Gedanke gekommen, dass du mit deinen vielen Priestern nur das tust, was euch
gefällt? Sage, wann wollt ihr denn anfangen, den Willen Jehovas zu tun? Aber
hast du dich jemals bemüht, den Willen Gottes zu erforschen? Ja, als du gesalbt
wurdest, da hattest du die besten Vorsätze; und weil du im Herzen ehrlich
batest, Gott möge dir in deinem neuen Amte immer zur Seite stehen, darum komme
Ich nun gerade zu dir und erinnere dich daran! Nie habe Ich vergessen, was Ich
dir sagen und verheissen liess! Aber du hast bald deinen Herrn und Gott, deinen
Schöpfer vergessen und hast dich dennoch wohl gefühlt in deinem hohen Amte! Doch
sage Ich dir und euch allen: eure Stunden hier sind gezählt! Weil ihr keinen
Sinn für das Ewig Göttliche gehabt, konnte es geschehen, dass ihr schliefet und
euch ausruhtet auf den Polstern und Ruhebetten in eurem Schein-Tempel; und
konntet nie vernehmen die Kunde von den Grossen, Heiligen Vorgängen auf eurer
Erde! Du hast noch den Ausspruch Simeons gehört: «Herr! Nun lassest Du Deinen
Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben Den Heiland gesehen!» Wärest du
wach gewesen, hättest auch du sehen können „die Herrlichkeit“ im Sohne Gottes!
Schauet über euch! Viele Bekannte werdet ihr sehen, die schon Seligkeiten
geniessen, da sie erkannten die grosse Gnaden-Zeit, die für alle angebrochen ist,
die in Mir — Den erkennen und erschauen, von Dem die Schrift spricht, und Der
allen denen Freiheit und Leben bringt, die Ihn lieben, an Ihn glauben und Ihm
folgen wollen! Darum ergeht noch einmal an euch Mein Ruf: «Verlasset diese eure
verkehrte Einstellung!» Denn längst seid ihr im Geister-Reiche! Und Ich Selbst,
als Geist und Todes-Überwinder, komme jetzt zu euch, um euch zum wahren Leben zu
führen! Ich sage euch, dass ihr arm seid, ärmer als ihr denkt! Und nur durch
Mich, als euren Messias könnet ihr zu dem Bewusstsein kommen: «Gott hat euch auch
heute noch lieb!» Sehet her: Meine Hände und Füsse, durchbohrt am Kreuzesstamm!
Sie sind der sichtbare Beweis Meines Gehorsams gegen den Willen Gottes und
Meiner vergebenden Liebe zu euch allen. Der unsichtbare, bei weitem bessere
Beweis aber wird euch erst in eurem Herzen werden, so ihr empfindet, dass Ich
gesühnt all eure Schuld! Nur Glauben verlange ich von euch und, dass ihr Mir
folget dorthin, wo das wahre Leben eines Gottes-Dieners in der selbstlosen
Liebe-Betätigung euch erwartet! So frage Ich dich, Eljasib: Kannst du Mir
glauben?“ „Nein, ich glaube Dir nicht!“, entgegnete der Hohepriester scharf.
„Wärest Du der Messias, so hättest Du wissen müssen, dass dieser Raum das
Allerheiligste ist, obwohl der Vorhang dasselbe nicht mehr verhüllt! Und so sage
ich Dir kraft meines Amtes: Verlasse dieses Heiligtum mit deinen Heeren, damit
wenigstens wir uns wieder reinigen können!“ „Halt!, rede kein Wort weiter, du
blinder Tor!“ entgegnete Jesus ernst! „Was dir heute im Gnaden-Licht gereicht
werden sollte, wirst du noch schwer suchen müssen! Wie aber denkt ihr anderen
darüber? Wollt ihr hier weiterleben in eurem Schein — oder wollt ihr im Lichte
der Wahrheit in Mein Reich eingehen? Meine Zeit ist gemessen; denn noch anderen
will ich den Gnaden-Ruf bringen! Wie viele erwarten mit Sehnsucht die Zeit, da
Ich kommen werde, um die Gefängnisse ihres Irrtums zu offnen! Somit beenden wir
hier unsere Mission! Und du, Mein Rafael, sorge, dass, wenn alle, die eines guten
Willens sind, den Tempel verlassen haben, dieses Schein-Gemäuer in Trümmer
zusammenfällt!“ — Nun erhoben die Engel ihre Posaunen, und unter ihren Klängen
zog der Herr mit den Seinen nach dem Ölberge. Alle hier Gewonnenen liess Er von
den Engeln ihren neuen Bestimmungen zuführen; und so hatte der Herr wieder eine
Beute dem geistigen Tode abgerungen.
Als niemand mehr den Tempel verliess, stürzte unter Rauch und Feuer dieses
geistige Truggebäude in sich zusammen und begrub den Hohepriester Eljasib mit
seinen Anhängern. Mühsam und vor Qual und Schmerz sich krümmend richteten sie
sich dann aus den Trümmern wieder auf und wären jetzt gerne Ihm gefolgt, Der sie
so ernstlich darum bat; jedoch um sie war und blieb es finster!
Und so war auch dem Hauptmann diese Nacht vergangen, die geistige Nacht, in der
er bisher gelebt; und es war Licht geworden in seinem Bewusstsein über Göttliches
und Menschliches! Der Engel führte ihn in seine Wohnung, gab ihn der irdischen
Wirklichkeit zurück und sprach: „Glaube ja nicht, dass du geträumt hast oder noch
träumst! Glaube lebendig! — Liebe wahrhaftig! — Und diene Dem getreu, Den du als
wahr erkannt! Alsdann wirst du noch weiterhin schauen dürfen die Führungen
unseres herrlichen Gottes! Und so verlasse ich dich nun. Fürchte nichts! Von nun
an hast du die Gabe des Geistigen Schauens! Und wenn es der Wille unseres
Heiligen Gottes ist, so führe ich dich wieder! Und so walte Gottes Wille
weiterhin mit uns und in uns! Amen!“
06. Am Sonnabend vor Ostern
Der Hauptmann war allein, und der anbrechende Morgen mahnte ihn an seine
Pflichten. Er fühlte nicht die geringste Müdigkeit, nahm sein Morgenmahl und
machte sich in Begleitung einiger Soldaten auf, die Wächter des Grabes zu
kontrollieren. Von aussen fand er auch alles in bester Ordnung; die Soldaten aber
erzählten, in der Nacht wäre immer ein leises Singen, ein herrlich zartes, von
vielen Sängern dargebrachtes Lied zu hören gewesen, und keiner hätte an Schlaf
gedacht! Menschen aber seien nicht in ihre Nähe gekommen. Der Hauptmann glaubte
seinen Soldaten und sah dankbar auf zum Himmel! — Da erschaute er wiederum
herrliche Engel und Jesus mitten unter ihnen! Doch nun regte sich ein Zweifel in
ihm: was ist hier Wahrheit? Nachdenklich sah er auf das verschlossene Grab und
schaute jetzt mit geöffnetem Geistes-Auge: es war leer! Doch zwei Engel befanden
sich darin, die ihn freundlich anblickten. Nun erst war er überzeugt von der
Wahrheit seiner geistigen Erlebnisse! Nun wusste er: Jesus lebt! Und Freude und
Glück durchströmten sein Inneres. Anbetend schaute er auf in Jesus, Der im
strahlenden Licht-Kleide wie ein Herr unter den Seinen weilte. Freundlich winkte
Jesus dem Hauptmann zu, und nun kannte sein Glück keine Grenzen; er eilte so
schnell er konnte zu Nikodemus, der kaum vom Schlafe aufgestanden war, und
erzählte ihm seine geistigen Erlebnisse und, dass Jesus lebt! Nikodemus horchte
erstaunt auf, doch er glaubte seinem neuen Freunde; und dann begaben sich beide
zum Tempel. In der Nähe des Tempels schaute nun der Hauptmann wieder mit
geistigen Augen die Trümmer des Schein-Tempels und sah und hörte, wie der
ehemalige Hohepriester und einige Priester sich gegenseitig zuriefen, aber sich
nicht finden konnten wegen der Finsternis und dem grossen Trümmerhaufen. Der
Hauptmann erzählte nun dem Nikodemus auch diese im Tempel erlebten Vorgänge und
nannte den Namen Eljasib. Da erstaunte Nikodemus und sagte: „Ja, Eljasib war ein
Hohepriester, vor langer Zeit! Doch nun er den Herrn nicht erkennen wollte, wird
er wohl noch lange suchen müssen, ehe er zum Licht gelangt.“
Nun gingen sie in den Tempel. Viel Volk war da, und die Templer waren wegen des
zerrissenen Vorhanges in arger Verlegenheit. Mit bösen Blicken schauten sie auf
den römischen Hauptmann, dieser aber beachtete sie nicht, verabschiedete sich
vom Nikodemus und ging zum Pilatus. Pilatus kam mit ihm wiederum in ernste
Gespräche; und als der Hauptmann beteuerte: „Ich weiss, dass das Grab leer ist!
Jesus weilt als Lebender unter den Gestorbenen! Ich habe Ihn gesehen in der
Glorie Seiner Macht und Herrlichkeit!“ —, da gab Pilatus den Befehl: „öffnet
das Grab, damit wir uns überzeugen von der Wahrheit deiner Rede!“ Doch der
Hauptmann entgegnete: „Es ist nicht nötig, dies zu tun! Der Nazarener weiss um
die Stunde, wo Er das Grab selbst öffnen wird! Und es wird Sein Sieg offenbar
werden über die in Hochmut schwelgenden Templer! Ich gönne ihnen diese Lektion,
denn an Ansehen wird der Tempel gewaltig verlieren. Du solltest nur sehen, wie
verstört sie waren, als ich heute morgen im Tempel war! Auch der zerrissene
Vorhang macht ihnen allerhand Sorgen, denn sobald er zusammengeheftet wird,
reisst er von neuem entzwei.“ Nach diesen Worten verabschiedete er sich von
Pilatus und beurlaubte sich nach Bethanien. Im Hause wieder angekommen, liess er
sich von seinen Dienern das Pferd satteln und bestimmte, dass ein Diener ihn
begleiten solle. Und sie ritten nach Bethanien.
Unterwegs, unweit von Emmaus, sah der Hauptmann seinen geistigen Führer wiederum
auf sich zukommen. Und schon rief der Engel: „Steige herab von deinem Pferd, ich
habe dir von unserem Herrn und Meister Botschaft zu überbringen! Kehre um und
gehe erst nach dem Fest nach Bethanien! Lazarus ist jetzt in seiner Herberge bei
Jerusalem. Suche ihn dort auf!“ Und weiter: „Joseph von Arimathia, der sich um
den Leichnam Jesu bemühte und ihn in seinem eigenen Grundstück beisetzen liess,
ist von den Templern gefangen gesetzt! Von Pilatus ist keine Hilfe zu erwarten;
gehe und befreie du ihn kraft deiner Amtsbefugnisse; denn du bist es, der Jesu
Kreuzigung, Grablegung und die Versiegelung des Grabes leitete. Es ist ein neues
Verbrechen der Templer, weil sie den Gekreuzigten noch jetzt fürchten! Sorge
dich nicht! Denn Jesus, der Herr, wird dich leiten und dir in den Mund legen,
was du reden sollst. Fürchte dich nicht! Aufs neue sollst du Jesu Gnade fühlen!
Jesus mit dir!“ Verschwunden war der Gottesbote! Der Hauptmann kehrte um, und im
schnellen Ritt ging es zurück nach Jerusalem, ins Lager der Besatzung; er
kommandierte eine Abteilung Soldaten und zog mit ihnen in den Tempel. Dort
angekommen ging er zu dem Hohenpriester und forderte die Freilassung des
gefangenen Joseph von Arimathia. Der Hohepriester und seine Räte waren erstaunt,
zugleich aber innerlich erschreckt, und leugneten solche Tat.
Da trat der Hauptmann mit drohender Haltung und Stimme vor sie hin und rief:
„Wenn ihr nicht gutwillig und in kürzester Zeit den Gefangenen hierher bringt,
lasse ich durch meine Soldaten den Tempel vom tiefsten Grabgewölbe bis zur
höchsten Kuppel durchsuchen! Und so sie ihn gefunden, lasse ich an allen Seiten
Feuer anlegen und diesen ganzen Bau zerstören! Einen Gerechten habe ich, durch
eure teuflische Art, töten müssen! Aber die Nächsten seid ihr, so wahr ich ein
Römer bin! Einen Fehler übersehen wir gern und lassen die grösste Milde walten,
aber solche Verbrechen, wie ihr sie unter den Augen der Römer im Namen eure»
Jehova tut, werden geahndet mit der allergrössten Schärfe!“ Erschreckt gingen die
Priester auseinander; doch einer wandte sich an den erregten Römer und sprach:
„Hoher Herr! Lasse durch deine Soldaten den Tempel durchsuchen; ich versichere
dir, mir ist nichts bewusst von der Verhaftung des Joseph von Arimathia! Ist er
doch mein Freund, und so er verschwunden sein sollte, so wollen auch wir mit
euch nach ihm suchen.“ Da trat in der Kleidung der Römer der Engel zu dem
Hauptmann und sagte: „Ich werde den Gefangenen von seinen Fesseln erlösen und
hierher bringen! Doch schone den Tempel, der Herr will es!“ In kurzer Zeit
brachte der Gottes-Bote den erschöpften Joseph von Arimathia in zerrissenem
Gewand an, und dieser dankte mit Tränen in den Augen dem Hauptmann. Der Römer
sprach: „Mein teurer Freund! Danke Dem, Der uns geschaffen hat, und Der mit
Seinen scharfen Augen uns alle bewacht! Nur Ihm allein hast du zu danken!
Gedulde dich noch, bald, ja bald erleben wir das grösste Wunder!« Mittlerweile
kamen die anderen Priester wieder zusammen und waren erstaunt, den bekannten
Joseph von Arimathia in diesem Zustande zu sehen! Und der Engel bestätigte, dass
alle diese mit Ausnahme des Kaiphas nichts davon wussten. Da ging der Hauptmann
zu dem Hohenpriester und sagte ihm ins Gesicht: „Du bist es gewesen! Hüte dich,
das Mass deiner Schändlichkeit ist voll! Ein Glück für dich, dass ich ein Jünger
Jesu bin! Ohne zu Gericht zu sitzen, liesse ich dich jetzt ans Kreuz heften auf
Golgatha! Dass du heute nochmals frei bleibst, — verdankst du nur Jesus von
Nazareth!“ Dann nahm er Joseph von Arimathia in die Mitte, zog mit seinen
Soldaten aus dem Tempel und suchte dann die Herberge des Lazarus unweit des
Ölberges auf.
07. In der Herberge des Lazarus
Des Hauptmanns Soldaten lagerten sich im Hof und Garten; Lazarus und der Pächter
begrüssten den Hauptmann und waren sehr erstaunt, den reichen Joseph von Arimathia in solch elendem Zustand mitten unter den Römern anzutreffen. Lazarus
fragte, warum sie diesen Ehrenmann mitführten und sagte: „Lasset ihn frei, Herr,
ich bürge für ihn!“ Lächelnd dankte der Hauptmann dem Lazarus für die Liebe,
reichte ihm nochmals die Hände und sprach: „Frei ist er erst durch mich
geworden, das heisst: ich durfte das Werkzeug des grossen Nazareners sein; der
Hohepriester liess ihn heimlich gefangen nehmen! Heute war ich schon auf dem Wege
zu dir nach Bethanien, da erhielt ich Anweisung durch einen Gottes-Boten, ich
solle diesen Freund erst aus seiner Gefangenschaft befreien und dich dann hier
in deiner Herberge aufsuchen. Ich gehorchte, zog mit meinen Soldaten in den
Tempel und forderte die Freilassung unseres Freundes! Da kam mir der Gottesbote,
jetzt in der Tracht einer meiner Soldaten, zu Hilfe und holte ihn ans seinem
tiefen Gefängnis hervor. Es stellte sich dann heraus, dass der Hohepriester
allein dieses Unrecht vollbrachte, alle ändern Priester aber nichts davon wussten;
und darum, denke ich, muss ich nach dem Willen des Herrn wohl die Templer
schonen! Denn der Wille Gottes ist auch mir jetzt heilig!“ Lazarus war sehr
erstaunt und erfuhr dann die ganze traurige Begebenheit, die Joseph von
Arimathia erzählte:
„Frühmorgens war mein erster Weg nach dem Garten, nach dem Grabe; ins Gebet
versunken verweilte ich dort und ging dann durch eine Nebenpforte zum Bach, der
unterhalb meines Gartens liegt. Da kamen fünf Männer und unterhielten sich
scheinbar harmlos; beim Vorübergehen aber bekam ich einen Sack über den Kopf,
einen Augenblick später waren Hände und Füsse gebunden, und man trug mich fort.
Nach einer längeren Zeit gewahrte ich, dass es Treppen abwärts ging, und ich
hörte einen Riegel und einen Balken krachen; dann setzte man mich ab, löste
meine Fesseln und machte mein Gesicht frei; die Männer hatte ich noch nicht
gesehen; einer aber spottete: „So, nun kannst du nachdenken, wie auch der
Hohepriester nachdenken kann, wie du stumm gemacht wirst.“ Dann verliessen sie
den Raum und schlössen hinter sich zu. Oben an der Decke war ein Licht-Loch,
viel zu hoch, um hinauf zu können, und so blieb mir nichts anderes übrig als
abzuwarten; denn rufen und schreien war ja zwecklos. Aber ein Gedanke kam und
belebte mich: «Gott! — Der Herr Zebaoth! wird mich nicht fallen lassen!» — und
dabei ward ich wunderbar ruhig. Lange Zeit habe ich auf dem Boden gesessen, da
öffnete sich lautlos die Tür, ein römischer Soldat trat herein und zog mich an
der Hand hinaus. Ich sah noch, wie der Riegel wieder vorgelegt und verschlossen
wurde; und dann wurde ich zum Forum der Priester geführt; dieser Hauptmann aber
machte mich dann ganz frei, und so bin ich hier. Über eins aber muss ich noch
nachsinnen: Was wird der Hohepriester denken, da der Riegel noch vorgeschoben
ist!“
Dann erzählte der Römer auch diesen Freunden, dass in der Nacht ein Engel, ein
Bote Gottes, zu ihm gekommen sei und ihn in die Geistige Welt geführt habe, wo
Jesus als der Herr wirklich lebt und lehrt! Auch in das noch immer verschlossene
Grab habe er schon mit geistigen Augen schauen dürfen — Es sei leer!“ Lazarus,
von heiliger Freude erfüllt, rief: „0 wäre doch Maria hier!“ — und in diesem
Augenblick traten Maria und Magdalena mit Nikodemus herein; ruhig und gefasst
waren beide Frauen, und bei ihrem Anblick erfüllte den Hauptmann Bewunderung ob
der ernsten Schönheit solcher Seelengrösse! Fast zaghaft wandte er sich an Maria
und sagte: „Holde Frau und Mutter, ich würdige deinen Schmerz! Aber lass dir
sagen: bald wird die grösste Freude in dein Herz einziehen, denn: Gebrochen ist
die Macht des Todes! Jesus—lebt! Er Selbst liess mich diese Wahrheit schauen! —
Und eine Verheissung trage ich tief in meinem Herzen: dass Er immerdar uns
erfüllen wird mit Seinem Geiste und Seiner Kraft!“
08. Wie der Erlöser in einem ändern Tempel schon erwartet wurde
Und so war wieder Freude eingekehrt bei den Anwesenden. Auch Maria und Magdalena
fühlten sich gestärkt und waren voller Erwartung. Da bemerkten sie, wie der
Hauptmann mit starren Augen immer auf einen Punkt sah, und so wurden alle still.
Der Römer aber fing an zu reden: „0 liebe Freunde, lasst mich erzählen, was ich
jetzt erlebe! Ich sehe einen riesengrossen Tempel; der Eingang wird durch zwei
Löwen dargestellt, die an zwei Säulen ruhen, und der Bogen darüber ist mit
leuchtenden Edelsteinen in verschiedenen Farben geschmückt. Das Innere ist ein
majestätischer Bau, herrlich ausgeschmückt. Im Hintergrund sehe ich einen Altar,
auf dem ein sehr helles, strahlendes Licht brennt. An jeder Seite des Altares
steht ein Engel, in der einen Hand das zu Boden zeigende Schwert, in der anderen
erhobenen Hand eine Krone mit funkelnden Diamanten haltend. Und vor dem Altar
steht Jesus, wiederum seine Wundmale zeigend; und jetzt sehe ich den Tempel
angefüllt mit unzähligen Menschen, aber alle sind wie durchsichtig, also
Geist-Wesen. Wie dort im Tempel zu Jerusalem so kommt auch hier ein Priester;
sein Gewand ist verziert mit goldenen Schnüren und Bändern und auf der Brust
trägt er einen goldenen Schmuck. Er verneigt sich bis auf den Boden, tritt vor
Jesus hin und sagt: „Herr, endlich ist die Zeit erfüllt! Endlich schlägt auch
uns die Stande, wo wir frei werden, wo die Zeit vorüber ist, da wir unter dem
Zwang standen, immer nur das zu tun, was uns im Erdenleben gross und mächtig
machte. O Herr! Alle, die Du mir anvertraut, bringe ich Dir hier, und so lege
ich vertrauend und dankend mein Amt als Seelen-Hirte in Deine Hände zurück. O
Dank, tausend Dank, dass wir Dich hier erschauen dürfen! Wie waren wir beglückt,
als Deine Engel uns kündeten, dass Du die Wege bereitetest, auf denen wir wandeln
können, um im Lichte Deiner Weisheit von Klarheit zu Klarheit geführt zu werden!
0 Dank Dir! Du Ewig Grosser Gott! Du hast wahrgemacht Deine Verheissung, Du wollest
einst öffnen die Pforten des Todes und der Nacht! Und Du, herrlicher
Gottes-Sohn! Du Märtyrer Deiner Liebes-Wahrheit! Auch zu uns komme Dein Reich
der Liebe! und der Gerechtigkeit! Verkünde weiter Deinen Willen! Was sollen wir
tun, damit wir würdig werden, Dir zu folgen?“ Liebevoll spricht Jesus: „Meine
Freunde und auch Meine Kinder! Erkennen sollt ihr Mich als Den, Der da kommen
sollte, zu erlösen alle Gefangenen, freizumachen alle Gebundenen! Und ihr sollet
ändern euern Sinn! Denn da ihr längst nicht mehr Menschen seid, so leget alles
Menschliche ab und scheuet euch nicht, frei und freudig zu bekennen, dass ihr
alle Sünder seid und Mich braucht als Heiland und Erlöser! Alles weitere hängt
nur von euch ab.“ Der Priester nimmt seine Insignien ab; er trennt die Bänder
von seinem Gewand und will alles Jesus zu Füssen legen; Da schüttelt Jesus das
Haupt, und so hängt der Priester einem wachehaltenden Engel den Schmuck um,
kniet vor Jesus nieder und sagt: „Herr und Heiland, hier bin ich, und ich
spreche im Namen aller Anwesenden! — (nun knien alle mit ihm nieder) Wir sind
bereit, alles dieses zu tun! Wir glauben an Dich und an Deine Sendung!
O vergib uns, was wir im falschen Wahn getan! Und so Du strafen willst, Herr, so
strafe nur mich und lasse alle anderen frei! — Lasse mich büssen, was da gefehlt
und gesündigt wurde; denn sie taten nur, was ich allen anriet.“ Da tritt Jesus
zu dem Priester, schaut ihn an, zieht ihn empor und spricht: „Der Friede sei mit
euch! Nicht komme Ich, um Rechenschaft zu fordern! 0 nein! Ich komme, um euch zu
helfen, um euch zu zeigen das Leben in seiner grössten Herrlichkeit! Doch was
euch noch fehlt, ist die vergebende, erlösende Liebe! Ihr glaubtet bis jetzt,
mit euren Gottesdiensten alles getan zu haben, was euch vor Gott gerecht macht!
Ihr irrtet! Liebe geben! Liebe üben! Liebend ausgleichen! Und nur einem einzigen Ziele nachstreben: Glücklich zu machen den Armen und Bedrückten! Dies
fehlt euch noch! Und dieses lernet nun von Mir! Denn Ich bin Liebe und Sanftmut,
Geduld und Barmherzigkeit! Alle Liebe gehet aus vom Vater! Der Vater aber ist
Mein Innen-Leben! Und dieses Mein innerstes Liebe-Leben gebe Ich euch, wenn ihr
Mir aus freiestem Wollen das eure gebt! Sehet: Meine durchbohrten Hände! Sehet:
Meine durchbohrten Füsse! Diese sind und bleiben für Ewigkeiten der äussere Beweis
Meiner Liebe und Geduld mit allen Gefallenen! Den inneren Beweis Meiner Liebe
aber erlebt ihr erst in euch, so ihr tut nach Meinen sanften Worten: Liebet
euch! — Und nähret diese Liebe in euch durch Dienen, durch heiligen Eifer, nur
Mir zu gefallen und zu opfern eure Eigen-Liebe! Wollet ihr dieses, so erhebet
euch alle und stärket euch; Meine Engel werden euch reichen Brot und Wasser des
Lebens. Und so erscheinen jetzt Engel-Scharen mit Krügen und Brot in der Hand,
um alle zu erquicken. Da tritt einer der Priester vor Jesus hin, verneigt sich
tief, reicht Ihm sein Brot und seinen Kelch hin und spricht: „Herr, so es nicht
Vermessenheit ist, da möchte ich Dir den Trunk reichen! Trinke Du den mir
zugedachten Teil, ich wäre glücklich darüber!“ Freundlich antwortet Jesus ihm:
„Mein Bruder, siehe, wie allen die Kost mundet, es ist das erste Mahl der Liebe,
welches sie geniessen! Nun komme auch du und geniesse mit Mir davon und gedenke
nicht mehr deiner Sünden! Denn hast du genossen mit Mir Brot und Wein, wird auch
alles Vergangene gesühnt sein! Denn Ich bin Leben und Licht, bin Brot und Wein!
Geniesse davon ohne Scheu, damit wir den Brüdern helfen können.“ Jetzt kommen die
Engel und scharen sich um Jesus; Er aber spricht zu allen: „Meine Kinder! Folget
Meinen getreuen Dienern in die Wohnungen, die die Liebe euch bereitet hat! Du
aber, Mein Bruder, bleibe bei Mir! Du sollst noch mehr Meiner Erbarmungen
sehen!“ —
Hier schwand dem Hauptmann das geistige Bild, und alle waren tief ergriffen,
hatten sie doch etwas von ihrem Jesus gehört! Auch der Hauptmann war still. Ein
Blick aus den fragenden Augen der Magdalena offenbarte ihm ihre grosse Liebe zum
Herrn, und es währte auch nicht lange, da wandte sie sich direkt an den
Hauptmann: „Ist es zuviel, wenn ich frage: Wie sah Jesus aus? Trug Er noch
Spuren von Seinen Leiden?“ Und ihre Augen hingen an dem Mund des Römers. Dieser
sagte: „Holde Tochter Zions! Jesus sah aus wie ein Verklärter! Seine Augen
leuchteten wie Tautropfen, die die Sonne bescheint; und um Seine Wunden lag ein
dunkler Kranz. Jesus muss einzig glücklich sein! Seine Stimme war sanft und glich
dem Ton einer Äolsharfe! Sein ganzes Auftreten ist königlich. Und also ist Er
der Grosse Sieger! Alle anderen aber sind Besiegte!“ Magdalena dankte freundlich,
und Maria reichte ihm die Hand, die der Hauptmann innig küsste. Dann trat Stille
ein, denn alle waren innerlich mit Jesus beschäftigt. Später bat Lazarus seine
Gäste, in den Garten zu gehen und sich an den Bäumen und Blumen zu erfreuen,
„denn unser Herz war voll Trauer“, sprach er, „doch jetzt ist alles in Erwartung
verwandelt! Es wird mir zu eng in der Brust! O wüssten dies doch alle Jünger und
Freunde! So aber müssen wir noch schweigen nach des Herrn Willen; denn für uns
ist Er noch nicht auferstanden! Was unser Hauptmann sah, erlebte er ja nur in
seinem Geiste; doch hat Jesus versprochen, zu uns zu kommen! Also warten wir
Seiner!“ Und so verliessen alle das Haus. —
Der Hauptmann aber blieb zurück, denn er wollte allein sein. Es war zuviel des
Erlebten in den wenigen Stunden! Einige Minuten verblieb noch Lazarus bei ihm
und dankte nochmals für die erhaltenen Liebes-Beweise.
09. Jesus inmitten jüdischer Kaufleute
Die Geschäfte riefen Lazarus hinaus, und so hatte unser Hauptmann Gelegenheit,
alles noch einmal in Ruhe zu überdenken. Dabei wurde er wiederum im Geiste zu
Jesus hingeführt, den er nun in einem grossen Garten erschaute! Viel Volk, vor
allem Kaufleute mit ihren Karawanen, hatten sich rings um den Garten gelagert;
aber alle die Tausenden von Menschen wussten nicht einmal, dass sie gestorben
waren, und ihr Handel war noch ihr ganzes Streben. Unter diese trat nun Jesus,
und eine grosse Schar Erlöster war in Seinem Gefolge. Jesus, in Seiner
erbarmenden Liebe, schaute alle die Verirrten an, und ein heisses Weh regte sich
in Seinem Herzen, hatten doch die allermeisten von diesen Geistern mit ansehen
dürfen Seine Taten, Sein Leiden und Sein Sterben! Aber es war nur ein Schauspiel
für sie, und alle diese Zeichen konnten nichts erschüttern an ihrer falschen,
verkehrten Liebe zum Weltlichen! — „Höret alle“, rief nun Jesus, „was Ich euch
sage! Kennet ihr Mich nicht? — Habt ihr doch alle Meine Leiden und Qualen
gesehen. Ist denn schon alles wieder ausgelöscht in euch? Bedenket doch, dass ihr
keine irdischen Menschen mehr seid! — Ihr seid Geister, die da im Wahn leben,
immer noch auf Erden zu weilen! Habt ihr schon darüber nachgedacht, was werden
wird, wenn alle eure Waren und Vermögen einmal verschwinden? Und so komme Ich zu
euch, um euch zu künden, dass auch für euch die Erlösungs-Stunde angebrochen
ist, wo ihr inne werden sollet, dass euer Heil und ewiges Sein nur in Meiner
Liebe zu euch allen zu finden ist! Nur diese Meine Liebe zu den irrenden
Menschen gab Mir die Kraft, alles von ihnen zu erleiden, alles zu dulden, damit
der Weg bereitet wird, auf dem ihr zu Mir und Ich zu euch kommen kann! Fraget
alle, die da sahen die Wunder Meiner Liebe, doch Mich noch nicht kannten; sie
müssen zugeben, dass Ich nicht wie ein Mensch unter Menschen, sondern wie ein
Gott unter den Menschen lebte! Und so Ich nun am Kreuze endete, so bezeugte Ich
damit nur, dass Mir für euch wie für alle Erdenkinder kein Ziel zu weit, ‚keine
Last zu schwer und keine Arbeit zu viel war! Und so schuf Ich durch Mein Sterben
euch einen Zugangs-Weg zum ewig-liebenden Gottes-Herzen! Fraget alle Meine
Engel! Was sie bei Meiner Geburt sangen ist wenig im Vergleich zu dem, was sie
heute erleben! Fraget diese Zeugen hier, und ihr müsset inne werden, dass auch
euch heute das grösste Gnaden-Leben ergreifen will! Und so frage Ich euch: Könnt
ihr Meinen Worten glauben?“
Ein alter Jude trat heran und sprach: „Ja, Du bist es! Jesus, des Zimmermanns
Joseph Sohn! Wie kommt es aber, dass Du gerade uns aufsuchst? Wir haben geglaubt,
Du seiest bei denen im Tempel! Wir aber haben keine Gemeinschaft mehr mit ihnen!
Denn ihre Gewinnsucht und ihre Strenge haben uns zur besseren Einsicht gebracht.
Aber was willst Du denn bei uns wirken? Lasse uns unseren Frieden, wir wollen
Dir den Deinen auch nicht rauben. Es tut uns leid, dass Du leiden musstest! Doch
Deine Ohnmacht am Kreuze besagt ja deutlich, dass Du selber der Hilfe bedarfst!
Wenn wir hier noch weilen, so tun wir das nur, weil uns etwas Geheimnisvolles
hält, sonst wären wir längst weitergezogen. Oder brauchst Du uns? — Sage, ob wir
Dir helfen können?“ „Sehet Meine Hände! Sehet Meine Seite und Meine Füsse!“ rief
Jesus. „Hier sind die Signaturen! und wer die anerkennt, findet auch
Verständnis für Meine Worte! Diese Meine fünf Wunden zeigen allen, dass ein
bestimmter Zweck Mich auf die Erde gehen hiess! Darum lautete Mein letztes Wort:
„Es ist vollbracht!“ Findet ihr darin wirklich nichts zum Nachdenken? Seid euch
doch endlich soweit klar, dass dieses „euer Sein“ nicht länger bestehen kann! Und
nun gebet acht: Alle eure Wagen und Waren werden verschwinden, damit ihr
erkennet in Mir — Die Macht, aber auch Den, Der „in Mir“ zu euch gekommen ist!
Wohl bin Ich der euch bekannte Jesus von Nazareth, aber dieses sagte ich nur von
Meinem Leib! Mein Innerstes ist der ewige Gottes-Geist! Durch Meinen Tod am
Kreuz ist all Mein Vergängliches an Mir vom Ewigen Gottesgeist durchdrungen
worden, so dass nichts Vergängliches mehr an Mir ist! Und nun Ich vollbracht habe
und gekommen bin, euch zu helfen, da wäre es doch von euch das Richtige, euch
und Mich zu prüfen! Ich habe die Macht und könnte es euch beweisen! Doch nie
werde Ich zwingend an ein Wesen herantreten! Nur wer freiwillig kommt, wird
angenommen! Heute ist für euch eine Gnadenzeit! Nutzet sie, damit ihr euren
Eigensinn nicht bereuet! Denn all euer Besitz ist von nun an nur der, der ans
eurer Liebe euch geworden! Meine Liebe gilt allen Wesen, auch euch! Und alles
soll vergessen sein, wenn ihr vergesset euren doch so vergänglichen Besitz und
suchet Meine Ziele! Tretet ein in die Gemeinschaft mit Meinen Engeln und
verbindet euch im reinen Liebe-Geiste untereinander! Dann werdet ihr in Mir —
Den erschauen, Der Moses und Elias Gottes Herrlichkeiten erleben liess!“
Staunend hörten alle diese Botschaft! Doch Enttäuschung und Angst zeigte sich
auf ihren Gesichtern, als ihre Karawanen verschwunden waren und keiner wusste, wo
dies alles hingekommen sei. Da fragte der alte Jude den Herrn: „Sage uns, wo
sind denn unsere Waren geblieben? Deine ganze Rede geht dahin, wir sollen Dir
folgen! Ja, wohin denn? Wir wissen nicht, wohin Du uns führen willst, und so
bitten wir Dich um Antwort!“ „Höret, ihr Armen alle!“, sprach Jesus. „Eure Wagen
und euer Gut sind nicht spurlos verschwunden, sondern in Wirklichkeit existierte
dies alles gar nicht, weil eure ganze Liebe diese Karawanen nur in euren
Gedanken schuf! Diese Schemen konnten jetzt nicht mehr bestehen, da das wahre
Leben in Mir alles wie tot Daseiende in neue Formen drängt und neues Leben, neue
Wirkungen zeitigt! Wie der Schnee vergeht, so die Sonne immer heisser scheint, so
vergehen auch alle Schein-Wahrheiten in ein Nichts vor Mir! Erkennet nun, was
und wer ihr seid! Euer irdisches Sein ist schon seit vielen Jahren vergangen!
Aber als Bewohner eurer eigenen Welt wusstet ihr bisher noch nicht, dass ihr
gestorben seid, und konntet noch alle Vorgänge auf der Erde um euch beachten.
Gerade du hast Beweise Meiner Liebe zu dir; gerade ihr, die ihr aus dem Stamme
Davids seid, seid euch bewusst, dass auch Ich aus Davids Stamm bin! Und so ihr Mir
nun folgen wollt, so führe ich euch dort hin, wo Abraham und David weilen! Viele
Stammesgenossen werdet ihr dort treffen, und dann wird euch erst zum Bewusstsein
kommen, was ihr verloren hattet, und werdet dann Mir danken, weil Ich das
Verlorene euch wiedergebracht habe. Darum gebet nun euren Willen kund!“ Ruhig,
ganz ruhig wurde es um den Herrn! Da kniete der alte Jude nieder und bat
herzlich, unter Tränen, um Verzeihung, dass er Ihn nicht gleich erkannt habe!
Aber nun er wisse, dass Seine Liebe ehrlich, Seine Worte wahr seien; nun folge er
gern und wolle auch die anderen bitten, mitzugehen, — wohin der Herr sie führen
werde. Jesus legte dem Alten die Hand auf das Haupt und sagte: „Stehe du auf! Da
du nun Mich erkennest, ist es nicht nötig, noch Vor Mir zu knien! Beuge deinen
Sinn! Und dein Herz möge erwachen, damit es den leisen Liebes-Zug erfahre, der
nötig ist, um Mir zu folgen!“ Sogleich stand der Alte auf und rief laut:
„Brüder, alle, höret auf mich! Jedes Wort aus Jesu Mund erschüttert mich! Seine
Worte sind Wahrheit! Und wenn einer uns Hilfe bringen kann, so ist es nur Jesus
von Nazareth! Verlassen wir diese Stätte, wo uns unser Besitz verlassen hat! Ich
glaube, in Jesus finden wir alles! Hat Er so vielen gegeben, so vielen geholfen,
so wird Er auch uns helfen! Sein Tod ist uns zum Leben geworden, und Sein Leiden
der Freispruch unserer Sünden. Er erbot Sich Selbst, uns dorthin zu führen, wo
unsere Väter sind; und so frage ich euch: Wollet ihr mitkommen?“ Einstimmig
ertönte da „Ja!“ —, und so rief Jesus: „So kommet und lernet die Liebe kennen
und die Kräfte, die sie dauernd erneuern! Amen!“ Der Hauptmann sah und hörte
jedes Wort, doch dann war das Gesicht verschwunden! Als alle ans dem Garten
zurückkamen, merkte Lazarus es dem Hauptmann an, dass dieser wieder etwas
Inneres erlebt haben musste; er ging aber hin, legte die rechte Hand auf seine
Schulter und sprach: „Bruder, behalte es für dich, damit unsere Herzen ruhig
bleiben und auch wir dann erleben dürfen diese Gemeinschaft mit Jesus!“
Frisch und erholt sahen die Frauen ans; und nun besprachen sie, früh am nächsten
Morgen nach dem Grabe zu gehen, um den Leib Jesu nochmals zu schmücken und zu
ehren. Dann sprachen sie noch von so manchem Schönen, was sie erlebt mit ihrem
geliebten Meister. Maria Magdalena konnte nicht genug erzählen und betonte immer
wieder, dass sie nie aufhören könne, Ihn zu lieben, weil alles, was sie
empfangen, nur von Ihm sei, und dass sie noch einmal Seine Füsse umklammern
möchte! »Nur einmal möchte ich an Seiner Brust liegen, dann möchte auch ich
sterben!“ Maria aber sprach: „Liebe, höre doch auf, so zu reden! Zerreisse den
Faden nicht! Lass nicht zerrinnen das Bewusstsein: Es ist der Herr! Er bleibt
nicht immer im Grabe! Doch nur im Geiste dürfen wir Ihn lieben, .da Er uns doch
Selbst so heiss geliebt hat! — Jetzt wird mir erst klar, was Er errungen und
vollbracht hat! Seine Liebe soll unser Innen-Leben werden! In Seiner Liebe weilt
Er ja unsichtbar unter uns! Und so erfüllt Er uns mit Kraft aus Seiner Kraft,
mit Licht aus Seinem Licht und wirket Frieden und Ruhe für unser Herz!“ Lieblich
klangen die Worte der Mutter Maria, und es war allen, als wenn ein Echo ertönte,
zart und fein, und so wurde Ruhe um die Anwesenden. Es ward Abend. — Der
Hauptmann wollte mit Nikodemus nach der Stadt zurück, aber Lazarus wies auf den
Sabbath hin und, dass es bei Nacht doch nicht ratsam wäre. „Gehet früh, wenn die
Frauen gehen, so wird es das Richtige sein!“ Und so blieben alle in dieser Nacht
in der Herberge des Lazarus.
10. Warum musste Jesus sterben?
Als sich nun alle zur Ruhe begeben wollten, bat der Hauptmann den Lazarus, noch
eine Weile bei ihm zu bleiben, da er in all diesem Geschehen noch nicht die
rechte Klarheit finde. Lazarus gab freudig seine Zustimmung und forderte auch
die anderen Brüder auf, ein Stündlein noch dem Hauptmann zu schenken. Die Frauen
waren zur Ruhe gegangen, und so blieben die Männer allein. Lazarus ging auf den
Hauptmann zu, legte beide Hände auf seine Schultern und sprach: „Mein lieber
Hauptmann! Es ist recht von dir, dass du uns offen um Aufklärung bittest, wenn
noch manches in dir dunkel ist. Sei überzeugt, dass nach dem Willen des Herrn
auch dir volles Licht und Verständnis darüber wird! Und so enthülle uns, was dir
noch unklar ist!" Der Hauptmann sah die Brüder an, gewahrte auf allen Gesichtern
heiligen Ernst und sprach: »Brüder und Freund Lazarus! Die hier bei euch erlebte
Liebe und der Geist unter euch, den man hier so wohltuend empfindet, berechtigen
mich, auch euch Brüder und Freund zu nennen! Und so bitte ich euch, meine
Offenheit in diesem Geiste zu betrachten, und frage: Warum musste Jesus von
Nazareth, der ein Jude war, gerade diesen heidnischen Tod sterben? — Gab es
keine andere Möglichkeit als die der grössten Schande? Und: Welchen hohen Zweck
verfolgte denn Jesus dabei? Und dann: Wie soll mir, dem Heiden, Jesu Leiden und
Sterben ein Akt des Heils und der grössten Gnade Gottes sein? Sehet, dieses sind
Punkte, die bei mir noch arg im Dunkeln liegen." Lazarus reichte dem Hauptmann
die Hand und sprach: „Teurer Freund und Bruder im Herrn, nenne dich nicht mehr
einen Heiden! Du tatest zwar deine Pflicht, — da du nicht anders konntest! Als
aber dein Auge dabei suchend umherschweifte, gewahrte der Meister in dir die
Herzens-Bitte um Vergebung! Er schaute dich an mit den Augen Seiner Liebe, und
Sein Blick kündete dir volle Entsühnung! Dadurch wurde es in deinem Geiste rege
und lebendig! Du schmecktest Heimat-Luft und wurdest einen Augenblick erfüllt
von der Wonne aus den Ewigen Regionen! Du vertieftest diese Eindrücke in der
Stille der Nacht, und Gott Selbst, in Seiner Ewigen Liebe und Erbarmung, sandte
dir einen Boten und offenbarte dir im Geiste, was Millionen nicht erfahren! All
dein Erschautes konntest du nicht zurückweisen und musstest erkennen, dass der
getötete Heiland und Meister Jesus lebt, aber ein Leben, welches nicht mit
unseren fünf Sinnen wahrnehmbar ist! Dein Verstand wehrt sich noch und muss sich
wehren, und berechtigt ist die Frage: „Wenn Jesus doch nicht zu töten ist, warum
dann diese Qualen, Leiden und diese Schande?" Siehe, mein teurer Bruder! Was du
auf Golgatha geistig erlebtest, war die Enthüllung Seines innersten Göttlichen
Seins! Und allen Wesen, aller Menschheit, ja der ganzen Unendlichkeit wurde hier
gezeigt, dass der Ur-Grund alles Innen-Lebens in der Göttlichen Liebe zu uns
Menschen liegt und in Ihrer Erbarmung mit unserm Gott-fernen Wandel! Du wirst
verstehen, was ich dir jetzt aus dem Geiste des Herrn sagen muss! Denn Er will
auch dir zeigen dieses grosse Warum? — und seine Lösung. Durch Luzifer, den
ersten grossen, aber von Gott abgefallenen Engel, wurden Legionen Engel, dann
Menschen, auf eine Bahn gedrängt die allen die Zugehörigkeit zur ewigen
Licht-Heimat raubte! Und so ward Luzifer zum Feind alles Lebens aus Gott! Gott
aber ist nicht nur Schöpfer, sondern will auch Vater sein und ist besorgt um
Seine in der Irre lebenden Kinder! Es galt nun, einen Weg zurückzufinden, der
auch dem Gott-Entferntesten gangbar gemacht werden konnte! Und nach langen
Zeitläufen endlich konnte Gott Selbst als Mensch .und im Menschen dieses
ermöglichen! Es führte zu weit, wollte ich dir alles erzählen, was ich darüber
schon weiss; aber lass dir genügen an dem, was ich dir nun noch sage: In dem
Menschen Jesus regte sich frühzeitig schon das Innere Leben aus Seinem Ewigen
Gottes-Geiste! Im Kindesalter wusste Er schon um Seine hohe Berufung und Sendung,
und mit zwölf Jahren war Er den Templern weit überlegen in der Auslegung unserer
Heiligen Schriften; denn in Ihm war „Leben aus Gott!" und Gott Selbst war Sein
Leben! Kämpfe, äussere und innere, und immer schwerere Kämpfe machten Ihn
innerlich immer reifer und freier! Denn Gott konnte nur soweit „Leben" in Ihm
gewinnen, als Jesus alles Menschliche an sich freiwillig verleugnen und
überwinden lernte. Das klare Bewusstsein: „Gott Selbst lebt in Mir!", schuf Licht
und Kraft in Seiner Innen-Welt! Dazu gesellte sich die Liebe zu Seiner hohen
Berufung, und so kannte Jesus nur noch den einen Wunsch: Gott in allem zu dienen
und nur nach Seinem Heiligen Willen zu handeln! Immer neue Gottes-Kräfte
belebten Seine Liebe! Seine Liebe aber drängte nach Erfüllung Seiner Aufgabe und
kannte nur ein Sehnen: Diesen Geist der Liebe, diese Quelle aller Freuden, diese
Fundgrube ewigen Glückes, — nun auch allen denen zu schenken, die Verlangen
danach haben! Wie aber konnte Jesus diesen Gottes-Geist in Seinem Innern Seinen
Mitmenschen beweisen, ja, ihnen schenken? Wohl tat und wirkte Er Wunder und
gewaltige Zeichen! Wohl sprach Sein Mund heilige und wunderbare Worte, aber
daran konnte die Welt sich nur berauschen! Es galt, ein Opfer zu bringen, das
all Sein bisheriges Wirken in den Schatten stellte! Ein Opfer, an dem der Feind
zugrunde gehen musste, so er diese Liebe und dieses Geistige Leben aus Gott
antastete! Was Jesus litt, kann nur ermessen, wer Ihn kennt! Was Jesus trug,
kann nur fühlen, wer Ihn liebt! Und so ich mich in Sein Leiden und Dulden hinein
versetze, fühle ich mich versetzt an Seine Seite! Sein Sterben aber wird für
mich eine Beruhigung meines innersten Seins, da ich Seine unendliche Liebe zur
uns Menschen nun erst wahrhaft fühle und empfinde und verstehen lerne!
Ja, ich ersehe jetzt in meinem Geiste, was diese ganze Opferung auf Golgatha
auslöste und in alle Zukunft noch auslösen wird! Das Kreuz, das Symbol der
Schande, ward von Jesus Selbst erwählt zum Zeichen des Sieges über die Sünde,
die ihren Stempel darauf gedrückt hat. Im Zeichen dieses Kreuzes und im Geiste
von Golgatha verschwindet alle Schuld und alle Sünde! (vor Gott!) Im Zeichen des
Kreuzes und im Geiste von Golgatha öffnen sich erst 'unsere inneren Quellen und
ergiessen sich in dem einen Gefühl: „Mir ist geholfen durch den gekreuzigten
Heiland und Erlöser!“ Denn ein ganz neues Leben fängt an, in mir zu pulsieren,
und macht mich zum neuen und anderen Menschen! In diesem neuen Geiste meines
Inneren Lebens gibt es keine Leiden mehr, nur noch Schulen, da Jesus Selbst ja
alles mit mir trägt und mein Helfer ist. Siehe, du brauchst nicht einmal
Bekenner mit dem Munde zu sein! So du aber diesen neuen Geist, der allen zum
Heile, zum wahren Glück verhilft, erfassest und das tuest, wozu dieser Geist
dich drängt, dann wirst du inne werden: Nicht ich, sondern Jesus wirkt dieses
neue Leben in mir! Kannst du nun dieses recht erfassen und verstehen?" „Bruder
und Freund Lazarus!" antwortete der Hauptmann, „erfassen wohl, doch am Verstehen
mangelt es noch! Denn bedenke, du und ihr anderen wäret Freunde Jesu und wäret
eingeweiht in Seine Lehre und in Sein Vorhaben! — So nun Sein Tod, Seine
qualvollen Leiden in mir dieses noch schlafende Gottes-Leben wecken sollen, so
steigt doch noch die Frage auf: Hatte Gott nicht andere Mittel, um die
Menschheit wieder an Sich zu ziehen, und gab es wirklich keinen anderen Ausweg?
Es muss doch etwas sehr Schreckliches sein, so ein Mensch, der jahrelang nichts
als nur Gutes tat, auf einmal als der grösste Sünder für alle büssen soll! Ich
gehe jetzt weniger von Jesus aus, aber von euch aus, von allen, die da an Ihm
hingen und Ihm glaubten, muss doch dieses sehr schmerzvoll sein."
Lazarus antwortete: „Lieber Hauptmann, auch hier kann ich dir nur sagen, dass der
Herr auch dieses wusste; denn Sein Mund sprach die verheissungsvollen Worte: „So
Ich nicht zum Vater gehe, kann zu euch nicht der Tröster kommen, der euch in
alle Wahrheit leiten wird!" Es ist wahr, wie du sagst: Es ist schrecklich, so
einer die Schuld für alle tragen muss, dazu noch unschuldig!
Aber Gott Selbst wollte es so, damit ein Weg gebahnt werde für alle Ewigkeit,
auf dem alle Leiden ein Ende finden sollen! Jesus litt und trug in Seinem
Fleische allen Fluch und alle Sünde unseres Fleisches an das Marterholz! Und
eben dieser Sein grösster Liebes-Dienst, dieser Geist aus innerster
Gott-Verbundenheit, schuf die von Gott ersehnten Möglichkeiten: unseres
Zurückkehrens zu Seinem Wegen! Jesu Sterben ging auch uns ans Leben, und in uns
wurde es Nacht! Aber um so leuchtender wird es einst in uns werden, da wir die
Offenbarung erhielten: „Ich lebe, und auch ihr werdet leben!" Dieses Leiden und
Sterben bedeutet in der grossen Geschichte der Menschheit einen Abschluss! Erstens
kann von dieser Stunde an niemand mehr sagen: „Das Herrlichste von allem
Herrlichen unsere Gott-Ähnlichkeit wurde uns Menschen vorenthalten, da wir
Sünder sind!" Denn Gott in Jesus hat auf alle Seine Herrlichkeiten verzichtet
und durch diesen Geist stiller hingebender Erlöser-Liebe jedem Menschen den
Schlüssel gereicht zu allen Seinen Herrlichkeiten. Zweitens: Durch Jesu Leiden
und Sterben ist erst Sein wahres vorbildliches Himmlisches Dienen uns und allen
Menschen so recht zum Bewusstsein gekommen! Denn nur in diesem Geiste des Dienens
in der Liebe werden die Menschen wieder zu Brüdern! Denn in diesem Geiste leidet
ein jeder für die anderen und mit den anderen; und so werden Schmerzen und
Leiden, Trübsale und Not überwunden und zu Quellen gegenseitiger Freude und
Dankbarkeit! Und drittens, lieber Bruder: Endlich hat das Leben der Menschen
wieder einen heiligen Zweck! Diese Erde als unser Prüfungs-Feld ist wieder
geheiligt durch den Herrn! Auf dieser Erde soll wieder zurückgeführt werden in
die Arme unseres himmlischen Vaters alles, was in der Irre lebt oder noch
wandelt! Hier, wo sich auf Golgatha der Himmel aller Gottes-Liebe bekundete, wo
Gott und Mensch einen neuen Bund geschlossen haben, ist der Leuchtturm gebaut,
an dem sich leuchtende Feuer und Lichtstrahlen als Weg-Weiser zeigen und uns
fort und fort bekunden: Von hier aus erfahret ihr erst das wahre und rechte
„Leben" in eurem Innern! Siehe, in diesen Aufschlüssen wirst du deine Fragen
beantwortet finden! Und was du als traurig und schrecklich in Jesu Sterben
erstehest, soll für uns alle zur befreienden Gewissheit werden: Nun sind wir Sein
Eigentum! Denn für uns opferte Er Sich! Und für alle Ewigkeiten wird derjenige,
der in dem Leiden und Sterben Jesu die Sühne sieht für das, was gesühnt werden
muss, erst wahrhaft froh und glücklich werden können!" Der Hauptmann war
überwältigt von. dieser Grösse der Jesus-Liebe, von der Lazarus so einfach
sprechen konnte und sagte: „Bruder! Nun ist es Licht in mir, und eines weiteren
bedarf es nicht mehr! Denn was der Glaube und die Erkenntnis in mir noch reifen
lassen, sind dann auch Grund-Pfeiler, die so leicht keine Sturmflut hinwegraffen
kann! Aber dieses Eine bekunde ich doch: Es wird lange, lange dauern, ehe das
heute Gehörte Eigentum der Menschheit wird! Und noch mancher wird ins Grab
sinken und sich verlassen und verstossen fühlen, da nur dieser Glaube an Jesu
Liebe zu uns die allerengste Verbundenheit mit Ihm vollbringen kann! 0 Jesus, Du
Meister der Liebe, wie wenige werden Dich in Deinem Ur-Geiste, in dieser Deiner
Ur-Liebe erfassen! Und doch wirst Du wartend zur Seite stehen — und hoffen! O
lasse mich Dich ganz erfassen! Lasse mich, den Fremdling, auch eindringen in den
Geist Deiner Liebe! Erfülle Du mein Sein mit Deinem Geiste! Und ich will Dir
danken mit Wort und Tat!" „So ist es recht mein Bruder", sprach Lazarus, „bleibe
bittend! Dann hast du schon erfasst das neue Leben, das dich zum Gottes-Kind
macht! Und du dringst ein in das auch für dich offenstehende Gottes-Herz! Dann
erst kannst du schöpfen; wenn du in dir das allergrösste Glück gefunden hast:
„Jesus ist in dir!“ Er hat dein Herz erwählt zur Wohnung für Sich. Dann ist in
dir alles „Leben" geworden! Dann dient ein jedes Glied nur „Diesem Leben",
welches lodert auf dem Altar reiner Kindesliebe! Glaube fest: Jesus, im grössten
Schmerz, war dennoch glücklich! Denn in Seinem Geistes sah Er schon, wie Seine
Saat, Seine Mühe und Sein Ringen so erfolgsverheissend ist! Darum, liebe, liebe
Brüder, lassen wir es für heute genug sein und wollen wir zur Ruhe gehen! Auch
wir wollen in diesem Glauben weiter leben, dass nur der uns so herrlich
geoffenbarte Geist von Golgatha alle Kraft zum Überwinden uns geben kann! Der
Herr hat überwunden und mit Ihm werden auch wir „Überwinder!" Du aber, Da treuer
Meister, lass uns Deiner nie und nimmer vergessen! Denn Do hast den Sieg errungen
für uns alle — auf Golgatha! Amen."
Und dann stieg am Horizont schon strahlend die Oster-Sonne empor.