Die Bergpredigt
M a r i a   V a l t o r t a

Auszug aus dem Buch "Der Gottmensch" von Maria Valtorta. Kapitel 208 - 215. Von 714 Kapiteln.
Aus dem Italienischen übersetzt.

 

Carl Heinrich Bloch, ca. 1890

 

Der Mensch lebt von den Erinnerungen, und die stärksten sind die Erinnerungen an das eigene Ich. Man muss jedoch zwischen dem einen und dem anderen Ich unterscheiden. Da gibt es das geistige Ich der Seele, das sich an Gott und seinen Ursprung in Gott erinnert. Und es gibt das niedrige Ich des Fleisches, das für sich und seine Leidenschaft tausend Forderungen stellt. Dieses zweite Ich, das sich aus so vielen Stimmen zusammensetzt, dass sie einen ganzen Chor bilden, übertönt das erste, wenn die Stimme des Geistes, der sich auf seinen Adel als Kind Gottes besinnt, nicht stark genug ist. Daher muss man, um ein vollkommener Jünger zu sein, sich selbst vergessen – trotz aller Erinnerung, ängstlichen Überlegungen und Bedürfnisse des menschlichen Ichs. Dagegen muss man seiner Seele stets in heiliger Weise gedenken und dieses Bewusstsein immer mehr festigen und stark und lebendig erhalten.

 

 

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- 208 Die Bergpredigt - Ihr seid das Salz der Erde ( Hörbuch ) 27:14
- 209 Die Bergpredigt - Die Seligpreisungen (Erster Teil) ( Hörbuch ) 39:17
- 210 Die Bergpredigt - Die Seligpreisungen (Zweiter Teil) ( Hörbuch ) 22:58
- 211 Die Bergpredigt - Die Seligpreisungen (Dritter Teil) ( Hörbuch ) 37:57
- 212 Die Bergpredigt - Die Seligpreisungen (Vierter Teil) ( Hörbuch ) 27:54
- 213 Die Bergpredigt - Die Seligpreisungen (Fünfter Teil) ( Hörbuch ) 1:08:11
- 214 Heilung eines Aussätzigen am Fusse des Berges ( Hörbuch ) 15:03
- 215 Am Sabbat nach der Bergpredigt am Fusse des Berges ( Hörbuch ) 16:20

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208 Die Bergpredigt: »Ihr seid das Salz der Erde«

Jesus geht allein und eiligen Schrittes auf einer Hauptstrasse dahin. Er ist auf dem Weg zu einem Berg, der sich nahe der Hauptstrasse, die vom See nach Westen führt, erhebt. Erst steigt er langsam an bis zu einem Plateau, von dem aus man den ganzen See mit der Stadt Tiberias im Süden und einigen weniger prächtigen Ortschaften im Norden sehen kann. Dann geht er steil nach oben bis zu einem ersten Gipfel und fällt danach wieder ab, so dass sich eine Art Sattel ergibt, hinter dem sich ein zweiter, ähnlicher Gipfel erhebt.
    Jesus steigt auf einem gut gehaltenen Eselspfad zur Hochebene hinauf und gelangt zu einem Dörflein, dessen Bewohner Landarbeiter sind und diese Hochebene bestellen, auf der das Korn schon Ähren bildet. Jesus geht durch das Dorf und dann weiter durch die von Blumen und Kräutern übersäten Felder und Wiesen.
    Der Tag ist heiter, und die umliegende Natur zeigt sich in ihrer ganzen Schönheit. Hinter dem einsamen Berg, zu dem Jesus sich begibt, erhebt sich im Norden der grosse Hermon, dessen Gipfel einer riesigen Perle gleich auf einem Smaragdsockel ruht, so weiss ist der mit Schnee bedeckte Gipfel und so grün seine bewaldeten Hänge. Jenseits des Sees, zwischen diesem und dem Hermon, erstreckt sich die grüne Ebene des Sees von Meron, den man jedoch von hier aus nicht sehen kann, und mehrere nordwestlich gegen den See von Tiberias verlaufende Hügel. Weit dahinter noch andere Hügel, die durch die Entfernung sanfter erscheinen, und andere Ebenen. Im Süden, auf der anderen Seite der Hauptstrasse, verdecken die Hügel Nazaret. Je höher man hinaufsteigt, um so weiter wird der Ausblick. Ich kann nur nicht sehen, was im Westen ist, da mir der Berg die Sicht in diese Richtung nimmt.
    Jesus begegnet zuerst dem Apostel Philippus, der anscheinend als Wachtposten amtiert. »Oh, Meister, hier bist du? Wir haben dich auf der Strasse erwartet. Und ich warte hier auf meine Gefährten, die gerade Milch holen gegangen sind bei den Hirten, die ihre Schafe auf dieser Hochebene weiden. Unten, auf der Strasse, kommen Simon und Judas des Simon, und mit ihnen sind Isaak und . . . Oh, da kommen sie! Kommt! Kommt! Der Meister ist hier!«
    Die Apostel, die Flaschen und Behälter tragen, beginnen zu laufen, die Jüngeren kommen natürlich zuerst an. Ihre Freude, den Meister zu sehen, ist rührend. Endlich sind sie vereint, und während Jesus ihnen zulächelt, wollen alle gleichzeitig reden und erzählen . . .
    »Aber wir haben dich auf der Strasse erwartet!«
    »Wir hätten nicht gedacht, dass du schon heute kommst!«
    »Es sind viele Menschen da, weisst du?«
    »Oh, wir waren in grosser Verlegenheit, denn unter ihnen sind auch Schriftgelehrte und sogar Schüler des Gamaliël . . . «
    »Ach ja, Herr! Du hast uns gerade im richtigen Augenblick allein gelassen. Ich habe noch nie solche Angst wie damals ausgestanden. Tu mir so etwas, bitte, nie mehr an!«
    Petrus beschwert sich, Jesus lächelt und fragt: »Aber ist es euch denn so schlecht ergangen?«
    »O nein, im Gegenteil! Oh, mein Meister! Weisst du nicht, dass Johannes gesprochen hat? . . . Es war, als sprächest du aus ihm. Ich . . . wir alle waren verblüfft . . . Dieser Jüngling, der noch vor einem Jahre zu nichts anderem taugte als zum Netze auswerfen . . . Oh!« Petrus ist immer noch voller Bewunderung und schüttelt den lächelnden Johannes, der schweigt . . . »Scheint es euch möglich, dass dieser Junge mit diesem lachenden Munde solche Worte sagen konnte? Er glich wahrhaftig Salomon.«
    »Auch Simon hat gut gesprochen, mein Herr. Er war wirklich das Oberhaupt«, sagt Johannes.
    »Allerdings. Man hat mich einfach gepackt und hingestellt! Ach was . . . sie sagen, dass ich gut gesprochen habe. Kann sein. Ich weiss es nicht, denn in meinem Staunen über die Worte des Johannes und in meiner Angst, vor so vielen reden zu müssen und dich womöglich zu blamieren, war ich ganz verwirrt . . . «
    »Mich?« neckt Jesus. »Schliesslich hast ja du gesprochen und hättest dich selber blamiert, Simon.«
    »Oh, meinetwegen . . . Ich machte mir keine Sorge um mich selbst. Ich wollte nur nicht, dass sie dich als töricht verspotten, weil du einen Dummkopf als Apostel genommen hast.«
    Jesus strahlt vor Freude über die Demut und Liebe des Petrus. Aber er fragt nur: »Und die anderen?«
    »Auch der Zelote hat gut gesprochen. Aber bei ihm ist es verständlich . . . Johannes hingegen war eine echte Überraschung! Nun ja, seit wir uns im Gebet zurückgezogen hatten, scheint dieser Junge mit seiner Seele immer wie im Himmel zu sein.«
    »Das ist wahr! Das ist wahr!« Alle bestätigen die Worte des Petrus. Dann fahren sie fort zu erzählen.
    »Weisst du, unter den Zuhörern sind nun, wie Judas des Simon sagt, zwei sehr bedeutende Personen. Judas bemüht sich sehr um sie. Nun ja, er kennt viele von ihnen . . . von der Oberschicht, und weiss mit ihnen umzugehen, und er redet gerne. Er redet gut, doch das Volk hört lieber Simon, deine Brüder und besonders Johannes. Gestern hat ein Mann mir gesagt: „Dieser Jüngling spricht gut“ – er meinte damit Judas – „doch ich ziehe dich ihm vor.“ Oh, armer Kerl, mich vorziehen, der ich kaum vier Worte hintereinander sagen kann . . . Aber warum bist du hierher gekommen? Unser Treffpunkt war doch die Strasse, und wir sind dort gewesen.«
    »Weil ich wusste, dass ich euch hier finden würde. Nun hört. Geht hinunter und sagt den anderen, sie sollen kommen. Aber das Volk soll heute noch nicht kommen. Ich möchte zu euch allein sprechen.«
    »Dann ist es besser, bis zum Abend zu warten. Bei Einbruch der Dämmerung zerstreuen sich die Leute in den umliegenden Weilern und kommen erst am anderen Morgen wieder, um auf dich zu warten. Wenn sie jetzt erfahren, dass du hier bist, wer wird sie dann zurückhalten können?«
    »Gut. Macht es so. Ich werde dort auf dem Gipfel auf euch warten. Die Nächte sind nun mild, wir können auch im Freien schlafen.«
    »Wie du willst, Meister, wenn du nur bei uns bist!«
    Die Jünger entfernen sich, und Jesus geht auf dem Pfad weiter bis zum Gipfel. Es ist der gleiche, den ich schon im vorigen Jahr gegen Ende der Bergpredigt und bei der ersten Begegnung mit Magdalena gesehen habe. Der Rundblick wird noch weiter, und der Horizont leuchtet wie Feuer beim nun beginnenden Sonnenuntergang. Jesus setzt sich auf einen Felsblock und sammelt sich in Betrachtung. Er verweilt in dieser Haltung, bis Schritte auf dem Weg ankündigen, dass die Apostel angekommen sind. Der Abend bricht herein, doch auf der Anhöhe hat sich die Sonne noch nicht zurückgezogen und entlockt jedem Gras und jeder Blume Düfte. Die wilden Maiglöckchen duften besonders stark, und die hohen Stengel der Narzissen schütteln ihre Sterne und ihre Knospen, als wollten sie damit den Tau herbeilocken.
    Jesus steht auf und grüsst mit seinem: »Der Friede sei mit euch!« Viele Jünger kommen mit den Aposteln den Berg herauf. Isaak, mit seinem Lächeln und dem feinen Gesicht eines Asketen, führt sie an. Sie scharen sich alle um Jesus, der im besonderen Judas Iskariot und Simon den Zeloten begrüsst.
    »Ich habe euch alle zu mir gebeten, um einige Stunden mit euch allein sein zu können. Ich muss euch einiges sagen, um euch immer besser auf eure Mission vorzubereiten. Lasst uns zuvor etwas essen, dann wollen wir reden, und noch im Schlaf wird eure Seele fortfahren, sich an dieser Lehre zu erlaben.«
    Sie verzehren das karge Nachtmahl. Dann bilden die Apostel und die Jünger einen Kreis um Jesus, der sich auf einen grossen Stein gesetzt hat. Es sind ihrer ungefähr hundert Jünger und Apostel, vielleicht mehr: Ein Kranz von aufmerksamen Gesichtern, die von den Flammen zweier Feuer eigenartig erhellt werden. Jesus spricht langsam und unterstreicht seine Worte durch ruhige Gebärden. Sein Gesicht wirkt durch den Gegensatz zu seinem dunkelblauen Gewand noch blasser. Auch der Neumond trägt dazu bei, und gleich einer Sichel aus Licht berührt er sanft den Herrn über Himmel und Erde.
    »Ich wollte allein mit euch sein, denn ihr seid meine Freunde. Ich habe euch nach der ersten überstandenen Prüfung der Zwölf gerufen, um den Kreis meiner mitarbeitenden Jünger zu erweitern und auch, um von euch zu erfahren, was ihr empfindet, wenn ihr von denen geführt werdet, die ich euch als meine Nachfolger übergebe. Ich weiss, dass alles gut gegangen ist. Ich habe durch meine Gebete die Seelen der Apostel gestärkt, die mit neuer Kraft im Geiste und im Herzen aus der mehrtägigen Anbetung hervorgegangen sind. Es ist eine Kraft, die nicht durch menschliches Studium erworben wird, sondern nur in der vollkommenen Hingabe an Gott.
    Am meisten gegeben haben jene, die sich selbst am meisten vergessen haben. Sich selbst zu vergessen aber ist sehr schwierig.
    Der Mensch lebt von den Erinnerungen, und die stärksten sind die Erinnerungen an das eigene Ich. Man muss jedoch zwischen dem einen und dem anderen Ich unterscheiden. Da gibt es das geistige Ich der Seele, das sich an Gott und seinen Ursprung in Gott erinnert. Und es gibt das niedrige Ich des Fleisches, das für sich und seine Leidenschaft tausend Forderungen stellt. Dieses zweite Ich, das sich aus so vielen Stimmen zusammensetzt, dass sie einen ganzen Chor bilden, übertönt das erste, wenn die Stimme des Geistes, der sich auf seinen Adel als Kind Gottes besinnt, nicht stark genug ist. Daher muss man, um ein vollkommener Jünger zu sein, sich selbst vergessen – trotz aller Erinnerung, ängstlichen Überlegungen und Bedürfnisse des menschlichen Ichs. Dagegen muss man seiner Seele stets in heiliger Weise gedenken und dieses Bewusstsein immer mehr festigen und stark und lebendig erhalten.
    Bei dieser ersten Prüfung meiner zwölf Apostel haben jene mehr gegeben, die sich selbst mehr vergessen haben, also nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch die Grenzen ihrer Person; jene, die sich nicht mehr erinnert haben, was sie vorher waren und so sehr in Gott aufgegangen sind, dass sie nichts mehr befürchten: Nichts mehr! Warum die Zurückhaltung einiger Apostel? Weil sie von ihren üblichen Bedenken, ihren gewohnten Überlegungen und Vorurteilen nicht loskamen. Warum die Wortkargheit der anderen? Weil sie an ihre Unfähigkeit zu lehren dachten und fürchteten, sich selbst oder mich zu blamieren. Warum das offensichtliche Grosstun anderer? Weil sie sich ihres gewohnten Stolzes erinnerten, des Wunsches, beachtet zu werden, Beifall zu ernten, hervorzutreten und etwas zu gelten. Warum bei anderen schliesslich die überraschende Enthüllung einer lehrhaften, sicheren, überzeugenden, erfolgreichen und rabbinischen Redekunst? Weil sie, und sie allein, fähig waren, im rechten Augenblick die ihnen verliehene hohe Würde zu übernehmen, die sie zuvor aus Furcht, sich zu viel anzumassen, und in ihrer Bescheidenheit und ihrem Wunsch, unbeachtet zu bleiben, nie angenommen hätten. Sie allein haben es verstanden, sich an Gott zu erinnern. Die ersten drei Gruppen erinnerten sich nur ihres niedrigen Ichs. Die Apostel der vierten Gruppe aber besannen sich auf ihr höheres Ich und fürchteten nichts. Sie fühlten Gott mit ihnen und in ihnen und waren unbesorgt. Oh, heilige Inbrunst, die der Gottverbundenheit entspringt!
    Darum hört gut zu, ihr alle, Apostel und Jünger. Ihr Apostel kennt diese Gedanken schon, nun aber werdet ihr alles noch tiefer erfassen. Ihr Jünger kennt sie noch nicht oder nur teilweise, und es ist notwendig, dass sie in eure Herzen eingemeisselt werden. Denn da die Herde Christi immer zahlreicher wird, will ich euch nun auch immer häufiger einsetzen. Die Welt wird mich und euch mehr und mehr bekämpfen, und die Zahl der Wölfe, die mich, den Hirten, und meine Herde angreifen, wird beständig wachsen. Darum will ich euch Waffen zur Verteidigung meiner Lehre und meiner Herde in die Hand geben. Was für die Herde genügt, genügt nicht für euch, kleine Hirten. Wenn es noch geduldet wird, dass die Schafe Fehler machen, indem sie Kräuter fressen, die ihr Blut verderben oder wilde Gelüste in ihnen wecken, so ist es doch nicht erlaubt, dass ihr die gleichen Fehler begeht und dadurch viele von der Herde ins Verderben stürzen. Ihr müsst bedenken, dass die Schafe eines Hirten, der einem falschen Ideal anhängt, durch Gift zugrunde gehen oder von den Wölfen getötet werden.
    Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt. Doch wenn ihr in eurer Mission versagt, werdet ihr zu einem schalen, unnützen Salz. Nichts mehr könnte euch dann den Geschmack zurückgeben, da Gott ihn euch nicht geben konnte. Denn ihr habt das Salz als ein Geschenk von ihm erhalten, es aber schal werden lassen, da ihr es mit den faden und schmutzigen Wassern der Menschlichkeit verwässert und mit der entarteten Süsse der Sinnlichkeit gesüsst habt. Ihr habt dem reinen Salz Gottes die Schlacken des Stolzes, des Geizes, der Unmässigkeit, der Unzucht, des Zornes und der Trägheit beigemischt, und das in solchem Masse, dass auf sieben Körner eines jeden Lasters nur ein Salzkorn kommt. Euer Salz ist also nichts mehr als ein Gemisch von Steinen, in dem sich das armselige Körnchen Salz verliert. Steine, die zwischen den Zähnen knirschen, im Mund einen Erdgeschmack hinterlassen und die Speise widerlich und abstossend machen. Nicht einmal mehr für mindere Zwecke ist es brauchbar, da ein mit sieben Lastern durchwirktes Wissen selbst menschlichen Aufgaben schaden würde. Also taugt das Salz nicht mehr, es wird weggeworfen und von den Menschen achtlos zertreten. Wie viele, o wie viele Menschen werden auf diese Weise die Männer Gottes mit Füssen treten können! Denn diese Berufenen selbst haben dem Volk erlaubt, sie so zu zertreten, da man zu ihnen nicht mehr seine Zuflucht nimmt, um den Wohlgeruch von etwas Erlesenem, Himmlischem zu kosten: sie sind doch nichts anderes als Schlacke.
    Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid wie dieser Berggipfel, auf den noch die letzten Strahlen der Sonne fallen und der sich als erster mit dem silbernen Schein des Mondes kleidet. Was in der Höhe ist, leuchtet und wird gesehen, denn selbst das Auge des gedankenlosen Menschen blickt manchmal nach oben. Ich würde sagen, das natürliche Auge, das man den Spiegel der Seele nennt, spiegelt die Sehnsucht der Seele wider: die Sehnsucht, die oft nicht wahrgenommen, doch stets lebendig ist, solange der Mensch kein Dämon geworden ist, die Sehnsucht nach dem Himmel, wo der Verstand instinktiv dem Allmächtigen seinen Platz zuweist und zu dem man, wenn man den Himmel sucht, wenigstens hin und wieder im Leben die Augen erhebt.
    Ich bitte euch, erinnert euch, was wir seit unserer Kindheit beim Betreten Jerusalems tun. Wohin eilen unsere Blicke? Zum Berg Morija, gekrönt im Triumph mit seinem Tempel aus Marmor und Gold. Was tun wir, wenn wir im Vorhof stehen? Die kostbaren Kuppeln betrachten wir, die in der Sonne glänzen. Wie schön ist das Innere der heiligen Einfriedungsmauer mit ihren Säulenhallen, Torbögen und prächtigen Höfen! Doch unser Auge blickt nach oben.
    Weiter bitte ich euch, erinnert euch auch an die Zeit unterwegs. Wohin richtet sich unser Auge, um die lange Wegstrecke, die Eintönigkeit, die Müdigkeit, die Hitze oder den Schmutz vergessen zu lassen? Zu den Gipfeln, auch wenn sie nicht so hoch und weit entfernt sind! Mit welcher Erleichterung sehen wir sie auftauchen, wenn wir uns im eintönigen Flachland befinden. Ist hier unten Schmutz? Dort ist Sauberkeit. Ist hier Schwüle und Hitze? Dort ist Frische. Ist die Sicht hier begrenzt? Dort ist die Weite. Schon allein das Betrachten lässt uns den Tag weniger heiss, den Staub weniger lästig, das Gehen weniger beschwerlich erscheinen, und wenn dann noch eine Stadt von der Höhe eines Berges grüsst, dann gibt es kein Auge, das sich nicht daran erfreuen würde. Man könnte sagen, dass auch ein unscheinbarer Ort schöner wirkt, wenn er auf dem Kamm eines Berges liegt. Aus diesem Grunde haben die wahren, wie auch die falschen Religionen, nach Möglichkeit ihre Tempel auf Anhöhen errichtet. Wenn es in der Gegend weder einen Hügel noch einen Berg gibt, dann stellt man in mühsamer Handarbeit einen Unterbau aus Stein, eine Erhöhung her, auf der man dann den Tempel errichtet. Warum tut man das? Weil man will, dass der Tempel gesehen wird, um durch seinen Anblick einen Gedanken an Gott zu wecken.
    Ebenso habe ich euch gesagt, dass ihr ein Licht seid. Wenn jemand am Abend in einem Haus eine Lampe anzündet, wohin stellt er sie? In das Loch unter dem Herd? In die Höhle, die ihm als Keller dient? In eine geschlossene Truhe? Oder verbirgt man ihr Leuchten, indem man sie unter den Scheffel stellt? Nein, denn dann wäre es sinnlos, das Licht anzuzünden. Vielmehr stellt man das Licht auf eine Konsole oder auf einen Leuchter, so dass es von der Höhe herab den ganzen Raum erhellt und alle Bewohner in sein Licht taucht. Doch gerade weil das, was hoch steht, die Aufgabe hat, zu leuchten und an Gott zu erinnern, muss es seiner Aufgabe gewachsen sein.
    Ihr habt die Aufgabe, an den wahren Gott zu erinnern. Handelt also so, dass in euch nicht das siebenfache Heidentum sei, sonst würdet ihr sein wie die Stätten der Götzendiener mit ihren Hainen, die diesem oder jenem Gott geweiht sind, und mit eurem Heidentum würdet ihr jene verführen, die in euch Tempel Gottes sehen. Ihr müsst das Licht Gottes in euch tragen. Ein schmutziger Docht, oder ein Docht ohne Öl, qualmt und gibt kein Licht, er stinkt und leuchtet nicht. Eine Flamme hinter einem schmutzigen Kristall verbreitet nicht die frohe Helligkeit, nicht das leuchtende Spiel des Lichtes, das aus einem klaren Glas erstrahlen kann. Sie flimmert nur schwach durch den schwarzen Rauchschleier, der den funkelnden Schutz trübt.
    Das Licht Gottes erstrahlt dort, wo man willig und eifrig darum bemüht ist, es von den Schlacken zu reinigen, die sich aus dem Wirken des Menschen ergeben: aus seinen Kontakten, Reaktionen und Enttäuschungen. Das Licht Gottes erstrahlt dort, wo der Docht in reichlich Öl des Gebetslebens und der Nächstenliebe getaucht ist. Das Licht Gottes leuchtet mit so unendlich vielen Strahlen, wie es Vollkommenheiten Gottes gibt, von denen jede einzelne im heiligmässigen Menschen eine heldenhaft ausgeübte Tugend erweckt, wenn der Diener Gottes den Kristall seiner Seele rein bewahrt und dem qualmenden Rauch der bösen Leidenschaften zu widerstehen vermag. Unanfechtbar soll der Kristall eurer Seele sein! Unanfechtbar! (Die donnernde Stimme Jesu widerhallt dröhnend in diesem natürlichen Amphitheater.) Nur Gott allein hat das Recht und die Macht, diesen Kristall zu ritzen und mit dem Diamanten seines Willens seinen heiligsten Namen darin einzugraben. Dann wird dieser Name zur Zierde und lässt ein Feuer übernatürlicher Schönheiten von unendlicher Vielfalt auf diesem reinsten Quarz erstrahlen.
    Aber, wenn der törichte Diener des Herrn die Selbstkontrolle und den Überblick über seine Aufgabe, die einzig und allein übernatürlicher Art ist, verliert und falsche Figuren einritzen lässt, Kratzer, die keine Gravierungen, sondern geheimnisvolle, dämonische Namenszüge von den feurigen Krallen Satans sind, dann scheint die wundersame Lampe nicht mehr schön und ungetrübt. Der Kristall zerspringt, und die Flamme erlischt unter den Scherben. Oder, wenn die Lampe nicht zerspringt, entsteht ein Gewirr unverständlicher Zeichen eindeutigen Ursprungs, in denen sich der Russ festsetzt und sie vollends unkenntlich macht.
    Wehe, dreimal wehe den Lehrmeistern, welche die Weisheit Gottes verleugnen, um sich mit einer Wissenschaft zu sättigen, die der Weisheit häufig widerspricht, aber immer dem Stolz schmeichelt und oftmals teuflischer Art ist, denn sie lässt sie an ihrer Menschlichkeit festhalten, während doch jeder Mensch dazu bestimmt ist, sich zu heiligen und ein Kind Gottes zu werden. Der Lehrer, der Priester sollte in noch vermehrtem Masse einzig und allein Kind Gottes sein, selbst wenn er vorher alle Züge der Diesseitigkeit an sich trug. Der Priester muss ein Geschöpf sein, ganz Seele und Vollkommenheit, um durch seine Ausstrahlung Jünger für Gott zu gewinnen. Fluch den Lehrern einer übernatürlichen Lehre, die zu Götzen menschlicher Gelehrtheit werden!
    Wehe, siebenmal wehe den Toten im Geiste unter meinen Priestern, die in ihrer Lauheit, in ihrer weichlichen, jeder Tatkraft entbehrenden Trägheit des Fleisches, in ihrer Schläfrigkeit trügerischen Traumbildern nachhängen, aber ihre Gedanken nicht auf den dreieinigen Gott richten; die voller Berechnung sind, sich aber nicht bemühen, dem höheren Ziel, nämlich den Reichtum der Herzen und den Schatz Gottes zu vermehren, gerecht zu werden. Erdgebunden, engherzig und abgestumpft leben sie dahin und ziehen auch jene in ihr totes Gewässer, die ihnen nachfolgen in der Meinung, dass sie das Leben besässen. Der Fluch Gottes komme über die Verführer meiner kleinen, geliebten Herde! Nicht jene, die durch eure Trägheit verloren gehen, ihr pflichtvergessenen Diener des Herrn, werde ich bestrafen, sondern von euch werde ich Rechenschaft fordern über jede Stunde, jeden Augenblick, jede eurer Nachlässigkeiten und ihre Folgen.
    Erinnert euch dieser Worte und geht nun! Ich werde nun auf den Gipfel steigen, und ihr, geht schlafen. Morgen wird der Hirte der Herde die Weiden der Wahrheit eröffnen.«

 

209 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Erster Teil)

Jesus spricht mit den Aposteln und weist jedem seinen Platz zu, damit sie die Leute, die seit den ersten Morgenstunden heraufkommen, anleiten und betreuen. Viele Kranke sind auf Armen oder Bahren herbeigetragen worden oder haben sich auf Krücken hergeschleppt. Unter den Vielen befinden sich auch Stephanus und Hermas.
    Die Luft ist klar und etwas frisch, doch die Sonne mildert die morgendliche Brise in den Bergen, ohne ihr die gesunde Reinheit zu nehmen. Die Menschen setzen sich auf Steine und Felsbrocken, die in der Senke zwischen den beiden Gipfeln liegen; andere warten ab, dass die Sonne das taunasse Gras trocknet, um sich dann auf dem Boden niederzulassen. Es ist schon eine grosse Menschenmenge da; sie stammen aus allen Gegenden Palästinas und aus allen Volksschichten. Die Apostel verlieren sich in dieser Menge, aber, wie Bienen, die zwischen den Wiesen und den Bienenstöcken hin- und herfliegen, kehren sie immer wieder zum Meister zurück, um ihm zu berichten und ihm Fragen zu stellen, aber auch, um von den Leuten als ihm Nahestehende beachtet zu werden.
    Jesus geht durch den Talgrund und steigt etwas höher die Wiese empor, lehnt sich an die Felswand und beginnt zu sprechen.
    »Viele haben mich während des Jahres, da ich gepredigt habe, gefragt: „Du, der du dich Sohn Gottes nennst, sage uns also, was der Himmel, was das Reich, was Gott ist, denn wir haben unklare Vorstellungen. Wir wissen, dass es einen Himmel mit Gott und den Engeln gibt; doch keiner ist je zu uns gekommen, um uns zu sagen, wie der Himmel ist, da er selbst den Gerechten verschlossen ist.“ Sie haben mich also gefragt, was das Reich und was Gott ist. Ich habe mich bemüht, es euch zu erklären: bemüht, nicht weil es schwierig für mich wäre, euch dies zu erklären, sondern weil es durch eine Reihe von Umständen schwierig ist, euch die anstössige Wahrheit über das wahre Reich erkennen zu lassen; denn dem steht ein jahrhundertealtes Gefüge menschlicher Vorstellungen über das Wesen Gottes – ungeachtet der Erhabenheit seiner göttlichen Natur – entgegen. 13
    Andere wiederum haben gefragt: „Gut, dies ist das Reich, und das ist Gott. Aber wie gelangt man zu Gott und zum Reich?“ Auch hier habe ich unermüdlich versucht, den wahren Kern des Gesetzes vom Sinai zu erklären. Wer sich diese Wahrheit zu eigen macht, macht sich den Himmel zu eigen. Aber um euch das Gesetz des Sinai zu erklären, ist es nötig, euch auch die Donnerstimme des Gesetzgebers und seines Propheten vernehmen zu lassen, die den Befolgern des Gesetzes Segen verheissen, den Ungehorsamen aber harte Strafen und den Fluch Gottes androhen. Die Erscheinung des Herrn am Sinai war schreckenerregend, und diese Schrecklichkeit spiegelt sich im ganzen Gesetz wider und gilt für alle Zeiten und alle Menschen.
    Doch Gott ist nicht nur Gesetzgeber, Gott ist Vater! Er ist ein unendlich gütiger Vater.
    Vielleicht, nein, sicher können sich eure geschwächten Seelen nicht mehr zu Gott erheben; denn sie sind geschwächt durch die Erbsünde, die Leidenschaften, die Sünden, die vielen Arten eurer Selbstsucht und auch durch den Egoismus anderer. Durch all das habt ihr eure Mitmenschen verärgert und verschliesst euch ihnen gegenüber. Ihr seid daher nicht fähig, die unendlichen Vollkommenheiten Gottes zu betrachten, und am wenigsten die Güte Gottes, weil sie die Tugend ist, die die Sterblichen, zusammen mit der Liebe, am wenigsten besitzen. Die Güte! Wie süss ist es, gut zu sein, ohne Hass, ohne Neid, ohne Hochmut! Augen zu haben, die nur liebevoll schauen, Hände zu haben, die in einer Gebärde der Liebe gereicht werden, Lippen, die nur Worte der Liebe sprechen, und ein Herz, vor allem ein Herz, in dem einzig und allein die Liebe wohnt und das Augen, Hände und Lippen zu Taten der Liebe drängt!
    Die Gelehrten unter euch wissen, welch reiche Gaben Gott Adam und seinen Nachkommen hat zuteil werden lassen. Auch die ungebildetsten unter den Kindern Israels wissen, dass in uns der Geist (die Seele), ist. Nur die armen Heiden kennen ihn nicht, diesen königlichen Gast, diesen Hauch des Lebens, dieses himmlische Licht, das unseren Leib heiligt und belebt. Aber die Gelehrten wissen, welche Gaben dem Menschen, dem Geist des Menschen, verliehen wurden.
    Gott hat diesen Geist nicht weniger freigebig bedacht als das Fleisch und Blut des von ihm mit etwas Staub und seinem Hauch erschaffenen Geschöpfes. Wie er Adam die natürlichen Gaben der Schönheit, der Unversehrtheit, der Intelligenz, des Willens und der Fähigkeit zu lieben und Liebe zu schenken gab, so verlieh er auch die moralischen Gaben: die Unterordnung des Fleisches unter die Vernunft, damit sein Geschenk der Freiheit, Selbstbeherrschung und des eigenen Willens nicht durch die Knechtschaft der Triebe und Leidenschaften beeinträchtigt werde. Frei war sein Lieben, frei sein Wollen und frei seine Freude in Gerechtigkeit; ohne das Gift, das Satan verspritzt, von dem er überfliesst und das euch zu Sklaven macht; das Gift, das euch vom reinen Flussbett über schlammige Felder in faulende Tümpel führt, wo die Fieber fleischlicher und geistiger Triebhaftigkeiten gären. Ihr wisst, dass auch die Begehrlichkeit im Denken zur Sinnlichkeit gehört. Die ersten Menschen hatten übernatürliche Gaben die heiligmachende Gnade, die Bestimmung zu Höherem, die Anschauung Gottes.
    Die heiligmachende Gnade: das Leben der Seele, dieses hochgeistige Etwas, das in unsere religiöse Seele gelegt wurde; die Gnade, die uns zu Kindern Gottes macht, weil sie uns vor dem Tod durch die Sünde bewahrt; denn wer tot ist, lebt nicht im Haus des Vaters, im Paradies, in meinem Reich: dem Himmel. Was ist diese heilige Gnade, die das Leben und den Himmel verleiht? Oh, macht nicht viele Worte. Die Gnade ist Liebe. Die Gnade ist daher Gott. Sie ist Gott! Gott, der sich selbst in seinem vollendet erschaffenen Geschöpf bewundert, liebt, betrachtet, sich selbst verschenkt, um diesen seinen Besitz zu vermehren, um sich an dieser Vermehrung zu beseligen und um sich in allen zu lieben, die sein eigenes Ich sind. 14
    O Kinder, beraubt Gott nicht dieses seines Rechtes! Beraubt Gott nicht seines Besitzes! Enttäuscht Gott nicht in diesem seinem Wunsch! Denkt daran, dass er aus Liebe wirkt. Auch wenn ihr nicht wäret, bliebe er doch immer der Unendliche, und seine Macht wäre dadurch nicht geringer. Doch obschon Gott in seiner unendlichen Grösse vollendet und unermesslich ist, will er seine Liebe nicht für sich und in sich vermehren, denn er könnte es ja gar nicht, da er schon der Unendliche ist, sondern er will es tun für sein Geschöpf, und er will diese Liebe in dem Masse vermehren, wie dieses Geschöpf selbst Liebe hat. Er gibt euch die Gnade, die Liebe, auf dass sie in euch zur Vollkommenheit der Heiligen wachse und ihr dann diesen Schatz, den ihr aus dem Schatz der Gnade Gottes geschöpft und durch alle heiligen Werke eures ganzen heldenhaften und heiligen Lebens vermehrt habt, in den unendlichen Ozean des Himmels, die Wohnung Gottes, zurückfliessen lasst.
    Göttliche, göttliche, göttliche Zisternen der Liebe! Ihr lebt und seid nicht bestimmt zu sterben, weil ihr unsterblich seid wie Gott, indem ihr in Gott seid. Ihr werdet leben, und euer Leben wird nicht enden, weil ihr unsterblich seid wie die heiligen Geister, die euch im Überfluss ernährt haben und reich an eigenen Verdiensten zu euch zurückkommen. Ihr lebt und nährt euch, ihr lebt und bereichert euch, ihr lebt und bildet diese heiligste Gemeinschaft der Geister, die alle umfasst, von Gott, dem vollkommensten Geist, bis zum neugeborenen Kinde, das zum erstenmal an der mütterlichen Brust saugt.
    Kritisiert mich nicht in euren Herzen, ihr Gelehrten! Sagt nicht: „Dieser da ist ein Narr, ein Lügner; denn nur ein Narr kann behaupten, dass die Gnade in uns wäre, da wir sie doch durch die Erbsünde verloren haben. Er lügt, wenn er uns schon eins mit Gott nennt.“ Ja, die Schuld besteht! Ja, die Trennung ist da! Doch vor der Macht des Erlösers wird die Schuld, die grausame Trennung des Vaters von den Kindern, wie eine Wand zusammenstürzen, erschüttert vom neuen Simson. Schon habe ich sie erfasst und rüttle an ihr. Sie wankt, und Satan zittert vor Zorn und Ohnmacht, da er gegen meine Macht nichts vermag und ahnt, dass ihm eine grosse Beute entgeht und dass es für ihn schwierig wird, den Menschen zur Sünde zu verleiten. Denn, wenn ich euch durch mich zum Vater gebracht habe und ihr durch mein Blut und mein Leiden rein und stark geworden seid, dann wird auch die Gnade in euch wieder lebendig, rege und mächtig werden, und ihr werdet siegen, wenn ihr es wollt.
    Gott zwingt euch nicht zu entsprechenden Gedanken und auch nicht zu eurer Heiligung. Ihr seid frei. Aber er gibt euch die Kraft zurück. Er gibt euch wiederum die Freiheit von der Herrschaft Satans. Euch ist es überlassen, das höllische Joch wieder aufzuladen oder eurer Seele Engelsflügel zu verleihen. Alles ist euch überlassen, mich als euren Bruder, der euch führt und mit unvergänglicher Speise nährt, anzunehmen.
    „Wie gewinnt man Gott und sein Reich auf einem leichteren Weg als dem mühsamen Pfad des Sinai?“ fragt ihr. Es gibt keinen anderen Weg. Nur dieser ist es. Doch lasst ihn uns betrachten, nicht in der Farbe der Drohung, sondern in jener der Liebe. Sagen wir nicht: „Wehe, wenn ich das nicht tue!“ während man aus Angst, der Sünde nicht widerstehen zu können, furchtsam erzittert. Sagen wir: „Selig, wenn ich dies tue“; und schwingen wir uns mit übernatürlicher Freude jubelnd empor, um diese Seligkeiten zu erreichen, die der Befolgung der Gesetzes entspringen, und wie Rosenblüten aus einem Dornenstrauch hervorwachsen.
    „Selig, wenn ich arm im Geiste bin, denn mein ist das Himmelreich!
    Selig, wenn ich sanftmütig bin, denn ich werde das Land erben!
    Selig, wenn ich mich nicht gegen den Schmerz auflehne, denn ich werde getröstet werden!
    Selig, wenn ich mehr hungere und dürste nach Gerechtigkeit als nach Brot und Wein, um mein Fleisch zu sättigen, denn die Gerechtigkeit wird mich sättigen!
    Selig, wenn ich Barmherzigkeit übe, denn ich werde göttliche Barmherzigkeit erfahren!
    Selig, wenn ich reinen Herzens bin, denn Gott wird sich über mein reines Herz neigen, und ich werde Gott schauen!
    Selig, wenn ich den Geist des Friedens in mir habe, denn ich werde Kind Gottes genannt werden; denn im Frieden ist Liebe, und Gott ist Liebe, und er liebt jene, die ihm ähnlich sind.
    Selig, wenn ich um der Gerechtigkeit willen verfolgt werde, denn Gott, mein Vater, wird mir als Belohnung für die irdischen Verfolgungen das Himmelreich geben.
    Selig, wenn ich geschmäht und verleumdet werde, weil ich dein Kind bin, o Gott! Nicht Trostlosigkeit, sondern Freude wird mir daraus erwachsen, denn so werde ich deinen besten Dienern, den Propheten, gleich, die aus demselben Grund verfolgt wurden. Ich glaube beharrlich, dass ich mit ihnen einst an der erhabenen, ewigen Belohnung teilhaben werde: am Himmel, der mein sein wird.“
    Betrachten wir den Weg des Heiles mit der Freude der Heiligen.
    „Selig, wenn ich arm im Geiste bin.“
    O Reichtümer, die ihr den brennenden Durst Satans, Wahn und Rausch im Menschen hervorruft, im Reichen wie im Armen! Im Reichen, der für sein Gold, dem Abgott seiner verderbten Seele, lebt. Im Armen, der vom Neid auf den Reichen lebt, weil dieser im Reichtum des Goldes schwelgt, und wenn er auch keinen wirklichen Mord begeht, so schleudert er dennoch seine Flüche gegen die Reichen und wünscht ihnen allerhand Schlechtes. Es genügt nicht, das Böse nicht zu tun, man darf auch nicht wünschen, jemandem etwas Böses anzutun. Wer seinen Mitmenschen verflucht und ihm Tod und Unglück wünscht, ist dem wirklichen Mörder nicht unähnlich, denn in ihm lodert derWunsch, den Gehassten zugrunde gehen zu sehen. Wahrlich, ich sage euch, dass der Wunsch nichts anderes ist als eine zurückgehaltene Tat, eine schon gebildete, aber noch nicht geborene Leibesfrucht. Die Verwünschung vergiftet und verdirbt, denn sie dauert länger als die gewaltsame Tat und ihre Wirkung ist eine tiefgreifendere.
    Der Arme im Geiste, obwohl reich an materiellen Gütern, sündigt nicht seines Goldes wegen, sondern er bedient sich des Goldes zu seiner Heiligung und wandelt es in Liebe. Geliebt und gepriesen, gleicht er den rettenden Quellen in der Wüste, die sich ohne Geiz, glücklich, sich zu verschenken, für alle ergiessen, um ihnen in ihrer Verzweiflung Linderung zu verschaffen. Ist der Arme im Geiste arm an materiellen Gütern, ist er doch glücklich in seiner Armut, und das Brot, das er in der Heiligkeit seiner vom Fieber nach Gold unbelasteten Seele isst, mundet köstlich. Sein Schlaf, frei von Alpträumen, lässt ihn ausgeruht und heiter an sein Tagwerk gehen, das ihm stets leicht erscheint, da er es ohne Habsucht und Neid verrichtet.
    Dinge, welche den Menschen reich machen, sind sowohl materielle: das Gold, als auch moralische: die Zuneigungen. Mit Gold sind nicht nur die Münzen gemeint, sondern auch die Häuser, die Felder, die Schmuckstücke, die Möbel, die Herden und alles, was das Leben materiell bereichert. Zuneigungen sind die Bande des Blutes oder der Ehe, die Freundschaften, die intellektuellen Bereicherungen, die öffentlichen Ämter. Wenn nun der Arme, wie ihr seht, hinsichtlich der ersten Art sagen kann: „Oh! meinetwegen, wenn ich nur nicht die Reichen beneide, weil ich arm bin, dann ist für mich alles in Ordnung“, so muss sich doch auch der Arme hinsichtlich der zweiten Art in acht nehmen, da selbst der elendste unter den Menschen in sündhafter Weise reich im Geist werden kann, denn wer einer Sache übermässig ergeben ist, sündigt.
    Ihr werdet sagen: „Wir sollen also das Gute, das Gott uns gewährt, hassen. Warum gebietet er dann, Vater und Mutter, Gattin und Kinder zu lieben, und sagt: ‚Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst‘?“ Ihr müsst unterscheiden. Wir müssen den Vater, die Mutter, die Ehefrau und den Nächsten lieben, aber in dem Masse, wie es uns von Gott befohlen wurde: wie uns selbst. Gott hingegen müssen wir über alles lieben und mit unserem ganzen Sein. Gott soll nicht in der Weise geliebt werden, wie wir die unter unseren Mitmenschen lieben, die uns am nächsten stehen: die eine, weil sie uns gestillt hat, die andere, weil sie an unserer Brust schläft und uns ein Kind gebiert; nein, Gott soll mit unserem ganzen Sein geliebt werden, was heissen will, mit der ganzen Liebesfähigkeit des Menschen: mit der Liebe des Kindes, des Gatten, des Freundes, und – oh! empört euch nicht! – des Vaters. Ja, der Sache Gottes müssen wir die Sorge eines Vaters für seine Kinder angedeihen lassen. Mit Liebe sichert und mehrt er ihren Besitz, sorgt sich um ihr körperliches Gedeihen, lässt sie ausbilden und bemüht sich um ihr Zurechtkommen im Leben.
    Die Liebe ist nichts Schlechtes und soll es nicht werden. Die Gnaden, die Gott gewährt, sind nichts Schlechtes und dürfen es nicht werden. Sie sind Liebe. Aus Liebe werden sie uns geschenkt. Darum soll man sich dieser Reichtümer, die uns Gott aus Liebe und Güte gewährt, in Liebe bedienen, und nur, wer sie nicht zu Abgöttern macht, sondern zum Mittel, um Gott in Heiligkeit zu dienen, beweist, dass er keine sündhafte Anhänglichkeit an sie hat. Er übt die heilige Armut im Geist und entäussert sich von allem, um frei zu sein und Gott, den höchsten Reichtum, und mit ihm das Himmelreich zu erwerben.
    „Selig, wenn ich sanftmütig bin.“
    Diese Aussage steht anscheinend im Widerspruch zu den Beispielen des täglichen Lebens, denn nicht die Sanftmütigen scheinen in den Familien, in den Städten und in den Nationen zu triumphieren. Aber ist es ein wahrer Triumph? Nein! Es ist nur die Angst, welche die vom Despoten Unterdrückten scheinbar gefügig macht; in Wirklichkeit ist sie der Deckmantel für eine überbordende Auflehnung gegen den Tyrannen. Die Jähzornigen und Herrschsüchtigen besitzen die Herzen der Familienangehörigen, der Mitbürger und der Untertanen nicht. Sie vermögen nicht, Verstand und Geist ihren Lehren zu unterwerfen, diese Meister des: „Ich habe es gesagt.“ Sie schaffen nur Autodidakten, Suchende nach einem geeigneten Schlüssel, um die verschlossenen Tore einer Weisheit oder einer Wissenschaft aufzuschliessen, deren Existenz sie ahnen, die aber im Widerspruch zu der ihnen aufgezwungenen steht.
    Jene Priester, die nicht mit geduldiger, demütiger und liebevoller Sanftmut Seelen zu gewinnen suchen, sondern bewaffneten Kriegern gleich, überfallartig, anmassend und keinen Widerspruch duldend auf ihr Ziel losgehen, führen die Seelen nicht zu Gott . . . Oh, arme Seelen! Wären sie heilig, hätten sie euch, ihr Priester, nicht nötig, um zum Lichte zu gelangen! Sie hätten das Licht bereits in sich. Wären sie gerecht, hätten sie euch, Richter, nicht nötig, um am Zügel der Gerechtigkeit gehalten zu werden, sie hätten die Gerechtigkeit schon in sich. Wären sie gesund, hätten sie eure Fürsorge nicht nötig. Seid daher sanftmütig! Treibt die Seelen nicht in die Flucht! Zieht sie mit Liebe an, denn die Sanftmut ist Liebe, so wie es die Armut im Geiste ist.
    Wenn ihr sanftmütig seid, werdet ihr das Land erben und diesen Boden für Gott gewinnen, noch bevor Satan von ihm Besitz ergreift, denn eure Sanftmut, die ausser Liebe auch Demut ist, wird den Hass und den Stolz besiegen und den schändlichen König des Stolzes und des Hasses aus den Herzen verbannen. So wird die Welt euch, also Gott, gehören; denn ihr seid dann gerecht, wenn ihr Gott als den absoluten Herrn der Schöpfung anerkennt, dem Ehre und Lobpreis gebührt und dem sein Eigentum zurückgegeben wird.
    „Selig, wenn ich mich im Leid nicht auflehne.“
    Der Schmerz ist auf Erden, und der Schmerz lässt den Menschen Tränen vergiessen. Den Schmerz gab es nicht, doch der Mensch brachte ihn in die Welt und bemüht sich wegen der Entartung seines Geistes mit allen Mitteln ständig darum, ihn zu vermehren. Ausser Krankheiten und dem Unheil, das Blitzschlag, Unwetter, Lawinen, Erdbeben nach sich ziehen, sucht der Mensch, um zu leiden und besonders, um andere leiden zu lassen, immer schrecklichere tödliche Waffen und immer grausamere moralische Härten, und mit raffinierten Mitteln versucht er, anderen den Schmerz zu bereiten, von dem er selbst jedoch frei sein möchte. Wieviel Tränen verursacht der Mensch dem Mitmenschen durch die Anstiftung seines geheimen Königs, Satan! Trotzdem sage ich euch in Wahrheit, dass alle deshalb vergossenen Tränen für die Menschen nicht eine Erniedrigung, sondern eine Vervollkommnung bedeuten.
    Der Mensch ist ein gedankenloses Kind, ein unbeschwertes, sorgloses, ein geistig zurückgebliebenes Wesen, bis ihn das Leid reif, besinnlich und verständig werden lässt. Nur jene, die ein Leid zu tragen hatten, sind imstande zu lieben, zu verstehen und den wie sie leidenden Brüdern Liebe zu schenken, sie in ihren Schmerzen zu begreifen und ihnen gütig beizustehen, da sie aus eigener Erfahrung wissen, wie weh es tut, im Leid allein zu sein. Auch vermögen sie Gott zu lieben, weil sie erkannt haben, dass ausser Gott alles Leid ist; weil sie begriffen haben, dass der Schmerz, wenn wir ihn am Herzen Gottes ausweinen, nachlässt; weil sie begriffen haben, dass das ergeben getragene Leid, das den Glauben nicht ins Wanken, das Gebet nicht zum Versiegen bringt und frei von Auflehnung ist, dessen Wesen ändert und den Schmerz zur Tröstung werden lässt. Ja, die weinen und Gott lieben, werden getröstet werden!
    „Selig, wenn ich hungere und dürste nach der Gerechtigkeit.“
    Von der Geburt bis zum Tode verlangt der Mensch gierig nach Nahrung. Er öffnet nach der Geburt den Mund, um die Brust der Mutter zu ergreifen. Er öffnet im Sterben die Lippen, um in der Beklemmung des Todeskampfes Labung zu suchen. Er arbeitet, um sich zu ernähren. Er macht aus der Erde ein riesiges Euter, an dem er unersättlich saugt und saugt von dem, was vergänglich ist. Aber was ist der Mensch? Ein Tier? Nein, er ist ein Kind Gottes, das sich für wenige oder viele Jahre im Exil befindet. Aber sein Leben endet nicht mit dem Wechsel seines Aufenthaltes.
    Es gibt ein Leben im Leben, so wie in einer Nussschale der Kern enthalten ist. Nicht die Schale ist die Nuss, sondern der innere Kern. Wenn ihr eine Nussschale pflanzt, dann wächst nichts, wenn ihr aber die Schale mit dem Kern pflanzt, dann wächst ein grosser Baum. So ist es auch beim Menschen. Nicht der Körper ist unsterblich, sondern die Seele, und sie muss genährt werden, um ihre Unsterblichkeit zu sichern, zu der sie dann aus Liebe den Körper bei der seligen Auferstehung führen wird. Die Nahrung der Seele sind Weisheit und Gerechtigkeit. Wie Speise und Trank werden sie aufgenommen und stärken, und je mehr man davon kostet, um so mehr wächst das heilige Verlangen nach dem Besitz der Weisheit und dem Erkennen der Gerechtigkeit. Aber es wird auch ein Tag kommen, da dieser unersättliche heilige Hunger der Seele gestillt sein wird. Er wird kommen. Gott wird sich seinem Geschöpfe hingeben und es direkt an seine Brust legen, und der für das Paradies Geborene wird sich sättigen an der bewunderungswürdigen Mutter, die Gott selber ist. Nie mehr wird er Hunger leiden, sondern glücklich an der göttlichen Brust ruhen. Keine menschliche Wissenschaft kommt dieser göttlichen gleich. Die Wissbegier des Geistes kann durch die menschliche Wissenschaft gestillt werden, das Bedürfnis der Seele aber nicht. In der Verschiedenheit des Geschmackes empfindet die Seele eher Ekel, und sie wendet den Mund ab von dieser bitteren Nahrung und zieht es vor, Hunger zu leiden, anstatt sich mit einer Speise zu sättigen, die nicht von Gott kommt.
    Habt keine Angst, ihr, die ihr nach Gott dürstet und hungert! Bleibt treu, und ihr werdet von dem gesättigt werden, der euch liebt.
    „Selig, wenn ich Barmherzigkeit übe.“
    Wer unter den Menschen kann sagen: „Ich brauche keine Barmherzigkeit?“ Niemand! Wenn auch im Alten Gesetz geschrieben steht: „Auge um Auge und Zahn um Zahn“, warum sollte es dann im Neuen Gesetz nicht heissen: „Wer Barmherzigkeit übt, dem wird Barmherzigkeit zuteil werden“? Alle bedürfen der Verzeihung.
    Nun, nicht die Worte und die äussere Form eines Ritus, nicht die Symbole, die dem Menschen in der Trübheit seines Geistes zugebilligt wurden, bewirken die Vergebung, sondern der innere Akt der Liebe, oder, wiederum der Barmherzigkeit. Wenn das Opfer einer Ziege oder eines Lammes und die Gabe einiger Münzen auferlegt wurden, dann geschah dies, weil jedes Übel letztlich zwei Wurzeln hat: die Habsucht und den Stolz. Die Habsucht wird mit der Ausgabe für die Beschaffung des Opfers bestraft, der Stolz mit dem offenkundigen rituellen Bekenntnis, indem man gesteht: „Ich bringe diese Opfer dar, weil ich gesündigt habe.“ Es geschah auch, um damit die Zeit und das Zeichen der Zeit vorwegzunehmen, denn das dabei vergossene Blut symbolisiert das göttliche Blut, das vergossen werden wird, um die Sünden der Menschheit zu tilgen.
    Daher selig, wer Barmherzigkeit übt an Hungernden, Nackten und Obdachlosen, aber auch an den noch Elenderen, die durch ihren schlechten Charakter ihrer Umgebung und ihren Mitmenschen Leid zufügen. Habt Erbarmen, verzeiht, seid nachsichtig, hilfsbereit, belehrt und stärkt sie. Schliesst euch nicht in einen Kristallturm ein und sagt: „Ich bin rein und mische mich nicht unter die Sünder.“ Sagt nicht: „Ich bin reich und glücklich und will nichts vom Elend hören.“ Gebt acht, denn noch schneller als der Rauch, den der Wind verweht, kann euer Reichtum, eure Gesundheit und euer häusliches Glück entschwinden. Denkt daran, dass der Kristall wie ein Vergrösserungsglas wirkt, denn hättet ihr euch unter die Menschen begeben, wäret ihr unbemerkt geblieben; in einem Kristallturm eingeschlossen aber, allein, abgeschieden und allen Blicken ausgesetzt, bleibt ihr nicht mehr verborgen.
    Übt Barmherzigkeit, um damit ein geheimes, ununterbrochenes, heiliges Opfer der Sühne zu vollbringen und selbst Barmherzigkeit zu erlangen.
    „Selig bin ich, wenn ich reinen Herzens bin.“
    Gott ist die Reinheit! Das Paradies ist das Reich der Reinheit. Nichts Unreines kann in den Himmel eingehen, wo Gott ist. Wenn ihr also unrein seid, werdet ihr nicht in den Himmel, in das Reich Gottes, eingehen. Aber, o Freude! Vorfreude, die der Vater seinen Kindern schenkt! Wer rein ist, hat schon auf Erden eine Vorahnung des Himmels, denn Gott neigt sich über den Reinen, und der Mensch schaut schon auf dieser Erde seinen Gott 15; Der Reine kennt nicht die Freude der menschlichen Liebe, aber er kennt die Wonne der göttlichen Liebe bis zur Verzückung und kann sagen: „Ich bin bei dir und du in mir, und daher besitze und kenne ich dich als liebenswürdigsten Bräutigam meiner Seele.“ Glaubt mir, wer Gott besitzt, erfährt unerklärliche, grundlegende Veränderungen, die ihn heilig, weise und stark werden lassen; auf seinen Lippen erblühen Worte und seine Handlungen sind von einer Macht getragen, die ihren Ursprung nicht in ihm selbst hat, sondern in Gott, der in ihm lebt.
    Was ist das Leben des Menschen, der Gott schaut? Seligkeit. Möchtet ihr euch wegen niedriger Unreinheit einer solchen Gabe berauben?
    „Selig, wenn ich den Geist des Friedens besitze.“
    Der Friede ist eine der Eigenschaften Gottes. Gott ist im Frieden, denn der Friede ist Liebe, der Krieg aber Hass. Der Teufel ist Hass. Gott ist Friede. Ein jähzorniger Mensch, jederzeit zu wüten und zu toben bereit, kann sich nicht Kind Gottes nennen, und Gott kann ihn nicht sein Kind nennen.
    Doch auch der kann sich nicht Kind Gottes nennen, der sich nicht bemüht, einen Streit, selbst wenn er ihn nicht ausgelöst hat, durch seine Ruhe und seinen inneren Frieden zu besänftigen. Ein friedfertiger Mensch verbreitet, auch ohne zu sprechen, Friede. 16
    Als Herr seiner selbst, und ich wage es zu sagen, als Gebieter über Gott, trägt er ihn in sich, gleich wie eine Lampe das Licht, wie ein Weihrauchfass den Wohlgeruch des Weihrauchs und wie ein Schlauch die Flüssigkeit. Es wird Licht inmitten von rauchigen Nebeln des Grolls, die Luft wird rein vom Gifthauch der Missgunst, und die tobenden Wogen der Streitigkeiten beruhigen sich unter dem Einfluss des milden Öls des Geistes des Friedens, den die Kinder Gottes ausströmen.
    Handelt so, dass Gott und die Menschen euch friedfertig nennen können.
    „Selig, wenn ich um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leide.“
    Der Mensch ist so sehr von Satan beherrscht, dass er das Gute hasst, wo immer er es antrifft. Er hasst den Guten, als ob jeder gute Mensch ihn anklagen und ihm Vorwürfe machen wollte, auch wenn dieser schweigt. Tatsächlich lässt die Güte eines Menschen die Bosheit des Bösen noch deutlicher zutage treten. Der Glaube des wahrhaft Glaubenden lässt die Scheinheiligkeit des falschen Gläubigen noch offenkundiger hervortreten. Und so kann es nicht anders sein, als dass der Ungerechte den hasst, der durch seinen Lebenswandel ein stetes Zeugnis für die Gerechtigkeit ablegt. Daher gerät man in Wut über die Menschen, die die Gerechtigkeit lieben.
    Auch hier ist es wie bei den Kriegen. Der Mensch macht in der satanischen Kunst der Verfolgung mehr Fortschritte als in der heiligen Kunst der Liebe. Aber er kann nur verfolgen, was ein kurzes Leben hat. Das Ewige im Menschen entgeht seinen Nachstellungen und erwirbt durch die Verfolgung noch mehr Lebenskraft. Das Leben entschwindet durch die Wunden der geöffneten Adern oder durch sonstige Leiden, die den Verfolgten erliegen lassen. Doch das Blut wird zum Purpur des künftigen Königs, und die Leiden wandeln sich in ebensoviele Stufen, die ihn hinauf zum Throne führen, den der Vater seinen Märtyrern, denen die königlichen Sitze des Himmelreiches vorbehalten sind, bereitet hat.
    „Selig, wenn ich geschmäht und verleugnet werde.“
    Seht zu, dass euer Name in den himmlischen Büchern eingetragen sei, in denen nicht die Namen entsprechend den menschlichen Lügen aufgezeichnet sind und jene gelobt werden, die eine Auszeichnung am wenigsten verdienen, sondern wo die Werke der Guten in Gerechtigkeit und Liebe geschrieben stehen, um ihnen die den Gesegneten Gottes verheissene Belohnung zuteil werden zu lassen.
    In der Vergangenheit waren es die Propheten, die verleumdet und geschmäht wurden. Aber wenn sich die Pforten des Himmels öffnen, werden sie wie mächtige Könige in die Stadt Gottes einziehen, und die Engel werden sich vor ihnen verneigen und freudig singen. Auch ihr, auch ihr, die ihr verleumdet und geschmäht werdet, weil ihr Gott angehört, werdet den himmlischen Triumph feiern. Und wenn die Zeit erfüllt und das Paradies vollendet ist, dann werdet ihr den Wert jeder Träne erkennen, denn ihretwegen habt ihr diese ewige Herrlichkeit erworben, die ich euch im Namen des Vaters verheisse.
    Gehet hin! Morgen werde ich wieder zu euch sprechen. Nur die Kranken sollen noch hier bleiben, damit ich ihnen in ihren Leiden helfen kann. Der Friede sei mit euch, und die Betrachtung über das Heil durch die Liebe führe euch auf den Weg zum Himmel.«

 

210 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Zweiter Teil)

Ort und Stunde sind immer die gleichen. Die Menschenmenge hat noch zugenommen. In einer Ecke, an einer Wegbiegung, so als wolle er zuhören ohne den Widerwillen der Leute zu erregen, steht ein Römer. Ich erkenne ihn an seinem kurzen Gewand und dem andersartigen Mantel als Römer. Auch Stephanus und Hermas sind immer noch da. Jesus geht langsam zu seinem Platz und fährt mit seiner Predigt fort.
    »Aus dem, was ich euch gestern gesagt habe, dürft ihr nicht schliessen, ich sei gekommen, um das Gesetz aufzuheben. Nein. Doch als Menschensohn verstehe ich die Schwächen des Menschen und ich möchte euch nur ermutigen, es zu befolgen und euer geistiges Auge nicht auf den dunklen Abgrund, sondern auf den Abgrund des Lichtes zu lenken. Denn, wenn die Angst vor der Strafe die Menschen in drei von zehn Malen von der Sünde abhalten kann, so verleiht ihm die Gewissheit einer Belohnung in sieben von zehn Malen Auftrieb. Die Zuversicht vermag also mehr als die Angst, und ich will, dass sie in euch vollkommen und fest verankert sei, damit ihr nicht in sieben von zehn Teilen, sondern in zehn von zehn Teilen gut handelt, um so die heiligste Belohnung des Himmels zu erwerben.
    Ich ändere kein Jota des Gesetzes. Denn wer hat es unter den Blitzen des Sinai gegeben? Der Allerhöchste.
    Wer ist der Allerhöchste? Der eine und dreieinige Gott.
    Woher hat er das Gesetz genommen? Aus seinen Gedanken.
    Wie hat er es gegeben? Durch sein Wort.
    Warum hat er es gegeben? Aus Liebe.
    Ihr seht also, dass die Dreifaltigkeit zugegen war. Das dem Gedanken und der Liebe stets gehorsame Wort sprach im Namen des Gedankens und der Liebe.
    Könnte ich mir selbst widersprechen? Ich könnte es nicht. Aber ich kann, da ich alles vermag, das Gesetz vervollständigen, es göttlich vervollständigen. Nicht wie es die Menschen im Laufe der Jahrhunderte getan haben, die es nur immer schwieriger zu verstehen und einzuhalten werden liessen durch Gesetze und Vorschriften und Vorschriften und Gesetze, die sie zu ihrem eigenen Nutzen erdacht haben. Mit diesen Trümmern haben sie das heiligste Gesetz, das uns von Gott gegeben wurde, gesteinigt und erstickt, verschüttet und unfruchtbar gemacht Kann eine Pflanze überleben, wenn Lawinen und Geröll sie für immer unter sich begraben und Überschwemmungen sie überfluten? Nein, die Pflanze stirbt. Das Gesetz ist in vielen Herzen tot, weil es durch zu viel Überflüssiges erstickt wurde. Dies wegzuräumen bin ich gekommen, und wenn das Gesetz einmal freigelegt und auferstanden sein wird, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern König sein.
    Die Könige erlassen die Gesetze. Gesetze sind das Werk der Könige, aber sie sind nicht mehr wie Könige. Ich hingegen mache aus dem Gesetz einen König: Ich vervollständige es und setze ihm mit den evangelischen Räten die Krone auf, mit den Ratschlägen zur Übung der Tugenden. Zuerst gab es den Befehl, jetzt gibt es mehr als den Befehl. Zuerst gab es das Notwendige, jetzt gibt es mehr als das Notwendige, jetzt gibt es das Vollkommene. Wer es annimmt, wie ich es euch schenke, ist sogleich ein König, weil er das ‚Vollkommene‘ erreicht hat, weil er nicht nur gehorsam, sondern heldenhaft, also heilig war. Denn die Heiligkeit ist die Summe aller Tugenden, die höchste von einem Geschöpf erreichbare Stufe, wenn es in heldenhafter Weise und in vollkommener Loslösung von allem, was menschliche Begierde und Überlegung ist, gelebt und gedient hat. Ich könnte sagen, den Heiligen hindern Liebe und Sehnsucht, sein Auge auf irgend etwas anderes zu lenken, als auf Gott. Nicht durch niedrige Dinge abgelenkt, sind die Augen seines Herzens inständig auf die Herrlichkeit der höchsten Heiligkeit Gottes gerichtet. Im Lichte Gottes sieht er die Brüder in Bedrängnis, die flehend ihre Hände ausstrecken. Ohne seinen Blick von Gott abzuwenden, begibt sich der Heilige helfend zu seinen bittenden Brüdern. Wider das Fleisch, wider die Reichtümer und die Bequemlichkeit verwirklicht er sein Ideal: zu dienen. Ist der Heilige deshalb ein Armer, ein Herabgesetzter? Nein. Er hat die wahre Weisheit und den wahren Reichtum erlangt, und darum besitzt er alles. Er verspürt auch keine Müdigkeit, denn da er ständig arbeitet, hat er stets genug, um sich zu ernähren, und da er das Leid der Welt erkennt, weidet er sich an der Seligkeit des Himmels. Er nährt sich von Gott und erfreut sich in Gott. Er ist das Geschöpf, das den Sinn des Lebens erkannt hat.
    Wie ihr seht, verändere und verunstalte ich das Gesetz nicht. Ich verfälsche es auch nicht mit dem Beiwerk gärender menschlicher Theorie, sondern ich vervollständige es. Das Gesetz bleibt, was es sein muss, und als solches wird es bis zum letzten Tag fortbestehen, ohne dass ein Wort verändert oder eine Vorschrift aufgehoben würde; aber es wird mit Vollkommenheit gekrönt. Um das Heil zu erlangen genügt es, das Gesetz anzunehmen, wie es gegeben wurde. Um die unmittelbare Einheit mit Gott zu erreichen, muss es so gelebt werden, wie ich es euch sage. Da jedoch die Helden eine Ausnahme bilden, wende ich mich an die gewöhnlichen Menschen, an die Masse der Seelen, damit man nicht sagen kann, ich wäre um der Vollkommenheit willen am Notwendigsten vorbeigegangen. Von dem, was ich euch sage, behaltet vor allem folgendes: wer sich erlaubt, eines der geringsten dieser Gebote zu übertreten, wird im Himmelreich gering geschätzt werden, und wer andere dazu verleitet, sie zu übertreten, wird gering geachtet werden; und nicht nur er selbst, sondern auch der, den er zur Übertretung verleitet hat. Wer aber durch seine Lebensweise und seine Werke andere zum Gehorsam geführt hat, wird gross sein im Himmelreich, und seine Grösse wird zunehmen mit jedem, den er zum Gehorsam und zur Selbstheiligung angespornt hat. Ich weiss, dass meine Worte für viele einen bitteren Geschmack haben; aber ich kann nicht lügen, auch wenn die Wahrheit, die ich euch verkünde, mir Feinde schaffen wird.
    In Wahrheit sage ich euch, wenn eure Gerechtigkeit sich nicht erneuert, wenn sie sich nicht vollkommen lossagt von der erbärmlichen und fälschlich so bezeichneten „Gerechtigkeit“, die euch von Schriftgelehrten und Pharisäern gelehrt wurde; wenn ihr nicht viel mehr seid als Gerechte im Sinne der Pharisäer und Schriftgelehrten, die glauben es zu sein, wenn sie die Formeln mehren, ohne jedoch die Seelen grundlegend zu ändern, dann werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen.
    Hütet euch vor falschen Propheten und vor in die Irre gegangenen Gelehrten. Sie kommen zu euch in Schafskleidern, sind aber reissende Wölfe; sie kommen im Kleide der Heiligkeit und sind Gottesverächter; sie behaupten, die Wahrheit zu lieben und weiden sich an Lügen. Prüft sie, bevor ihr ihnen folgt.
    Der Mensch hat eine Zunge, und mit dieser spricht er. Er hat Augen, und mit diesen sieht er. Er hat Hände, und mit diesen macht er Zeichen. Aber er hat noch etwas anderes, das mehr als alles andere über sein wahres Wesen aussagt: es sind seine Werke. Was sind zwei Hände, die zum Gebet gefaltet sind, wenn der Mensch ein Dieb und Unkeuscher ist? Was sind zwei Augen, die Verzückung vortäuschen, sich in alle Richtungen verdrehen, aber nach Beendigung des Schauspiels imstande sind, den Blick begierlich auf die Frau zu richten oder auf den Feind, oder gar nach Unzucht oder Mord Ausschau zu halten? Und wie soll man eine Zunge nennen, die in lügnerischen Lobgesängen zu schmeicheln versteht und mit honigsüssen Redewendungen verführt, während sie euch dann hinter eurem Rücken verleumdet und es sogar fertigbringt, falsch zu schwören, nur damit man euch für verachtungswürdige Menschen hält? Was ist eine Zunge, die lange heuchlerische Gebete verrichtet und gleich danach den guten Ruf des Nächsten untergräbt oder dessen Gutgläubigkeit täuscht? Widerlich, widerlich sind lügnerische Augen und Hände. Aber die Werke des Menschen, die tatsächlichen Werke, also die Art sich in der Familie, im Umgang mit dem Nächsten und den Dienern zu benehmen, bezeugen: ‚Dieser ist ein Diener des Herrn‘, denn die heiligen Werke sind die Frucht einer wahren Religion.
    Ein guter Baum gibt keine schlechten Früchte, und ein schlechter Baum gibt keine guten Früchte. Könnten diese stacheligen Schlehen jemals saftige Weintrauben hervorbringen, und könnten die noch lästigeren Disteln weiche Feigen reifen lassen? Nein, sicher werdet ihr wenige und herbe Beeren von den ersten pflücken, und ungeniessbare Früchte werden auch die Disteln tragen, deren Blüten schon aus Stacheln bestehen. Der nicht gerechte Mensch vermag sich nur durch den äusseren Anschein Achtung zu verschaffen. Auch diese flaumige Distelblüte scheint ein Knäuel feiner Silberfäden zu sein, die der Tau mit Diamanten geschmückt hat. Berührt man sie aber versehentlich, ist sie nicht wie ein weicher Knäuel, sondern als ein Bündel Stacheln anzufassen. Für den Menschen lästig und für die Schafe schädlich, wird sie von den Hirten ausgerissen und ins nächtliche Feuer geworfen, damit nicht einmal die Samen überleben: eine gute und vorsorgliche Massnahme. Ich sage euch nicht: „Tötet die falschen Propheten und die scheinheiligen Gläubigen.“ Ich sage vielmehr: „Überlasst Gott das Gericht“, und: „Habt acht; meidet sie, damit sie euch nicht mit ihren Säften vergiften.“
    Gestern habe ich euch gesagt, wie Gott geliebt werden muss. Nun sage ich euch, wie der Nächste geliebt werden muss.
    Es gab eine Zeit, wo man sagte: „Liebe deinen Freund, deinen Feind aber hasse.“ Nein, so nicht. Das konnte gelten für die Zeiten, in denen der Mensch den Trost des Lächelns Gottes nicht kannte. Doch jetzt kommen die neuen Zeiten, in denen Gott die Menschen so liebt, dass er ihnen sein Wort sendet, um sie zu erlösen. Jetzt spricht das Wort, und die Gnade strömt schon aus. Dann wird das Wort das Opfer des Friedens und der Erlösung vollbringen, und die Gnade wird nicht nur ausströmen, sondern sie wird jeder Seele, die an Christus glaubt, geschenkt werden. Daher muss die Nächstenliebe zu der Vollkommenheit erhoben werden, die den Freund mit dem Feind vereinigt.
    Werdet ihr verleumdet? Liebt und verzeiht! Werdet ihr geschlagen? Liebt und reicht dem, der euch schlägt, auch die andere Wange; denkt, dass es besser ist, dass der Zorn sich über euch ergiesse, die ihr versteht, ihn zu ertragen, als über einen anderen, der sich für die Beleidigung sofort rächen würde. Hat man euch beraubt? Denkt nicht: „Dieser mein Nächster ist habgierig“, seid barmherzig und denkt: „Dieser mein armer Bruder ist bedürftig“, und gebt ihm auch den Rock, wenn er euch den Mantel genommen hat. So macht ihr es ihm unmöglich einen zweifachen Diebstahl zu begehen, weil er es nicht mehr nötig hat, einem anderen den Rock zu stehlen. Ihr sagt: „Es könnte aber auch Laster und nicht Bedürftigkeit sein.“ Nun, gebt gleichwohl, Gott wird es euch vergelten, und der Missetäter wird es büssen. Doch sehr oft – und ich erinnere euch an das, was ich gestern über die Sanftmut gesagt habe – fällt das Laster vom Herzen des Sünders, wenn er sich so behandelt sieht, und er befreit sich davon, macht den Diebstahl wieder gut und erstattet das Gestohlene zurück.
    Seid grosszügig mit jenen, die rechtschaffener sind und euch um das bitten, was sie nötig haben, anstatt euch zu berauben. Wenn die Reichen wirklich arm im Geiste wären, wie ich es gestern gelehrt habe, dann gäbe es keine leidigen gesellschaftlichen Unterschiede, die Ursache so viel menschlichen und übermenschlichen Unglücks. Denkt immer: „Wenn ich in Not wäre, wie würde ich die Verweigerung einer Hilfe empfinden?“ und handelt dann im Einklang mit der Antwort eures Ich. Tut den anderen, was ihr wünscht, dass man auch euch tue, und fügt ihnen nicht zu, was ihr nicht möchtet, dass euch zugefügt werde.
    Der alte Spruch: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, der nicht in den zehn Geboten steht, aber gesagt wurde, weil der Mensch ohne Gnade ein für nichts anderes als für die Rache zugänglicher Unmensch ist, wird nun ungültig und entkräftet durch das neue Wort: „Liebe den, der dich hasst; bete für den, der dich verfolgt; sei nachsichtig mit dem, der dich verleumdet; segne den, der dich verflucht; tue Gutes dem, der dir Schaden zufügt; sei friedfertig mit dem Streitsüchtigen, nachgiebig mit dem Lästigen; hilf gerne dem, der dich um Hilfe bittet, und treibe keinen Wucher; kritisiere und richte nicht.“ Ihr könnt die äusserste Not, die einen Menschen zu gewissen Handlungen treibt, nicht ermessen. In allen Hilfeleistungen seid grosszügig, seid barmherzig. Je mehr ihr gebt, um so mehr wird euch gegeben werden. Ein volles Mass wird Gott in den Schoss dessen ausschütten, der grossherzig gewesen ist. Gott wird euch nicht nur in dem Masse geben, in dem ihr gegeben habt, sondern viel mehr. Bemüht euch, zu lieben, um selbst liebenswert zu sein. Streitigkeiten kommen teurer zu stehen als freundschaftliche Übereinkunft, und die Liebenswürdigkeit ist wie Honig, dessen Süsse lange auf der Zunge bleibt.
    Liebt, liebt! Liebt die Freunde und die Feinde, um eurem Vater ähnlich zu sein, der über Gute und Böse regnen und die Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen lässt, der es sich aber vorbehält, mit ewiger Sonne und ewigem Tau, mit höllischem Feuer und höllischem Hagel zu vergelten, wenn die Guten wie erlesene Ähren unter den Erntegarben ausgewählt werden. Es genügt nicht, jene zu lieben, die euch lieben und von denen ihr euch eine Gegenleistung erhofft. Das ist kein Verdienst. Es ist vielmehr eine Freude, und auch die von Natur aus ehrbaren Menschen können es tun. Auch die Zöllner und die Heiden handeln so. Aber ihr sollt wie Gott und aus Ehrfurcht vor Gott lieben, denn er ist auch der Schöpfer jener, die sich euch gegenüber feindselig oder nicht gerade liebenswürdig benehmen. Ich verlange von euch die vollkommene Liebe und sage deshalb „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
    So gross ist das Gebot der Nächstenliebe, die Vervollkommnung des Gebotes der Nächstenliebe, dass ich nicht mehr sage, wie euch geboten wurde „Ihr sollt nicht töten“, denn wer tötet, wird durch die Menschen verurteilt werden. Ich sage euch vielmehr: „Lasst keinen Zorn in euch aufkommen“, denn ein weit höheres Gericht steht über euch und erwägt auch die verborgenen Taten. Wer den Bruder beleidigt, wird vom Hohen Rat verurteilt. Wer ihn aber einen Narren nennt und dadurch schädigt, wird von Gott verurteilt. Vergebens ist es, am Altar zu opfern, wenn man nicht vorher im Inneren seines Herzens aus Liebe zu Gott seinen Groll zum Opfer gebracht und den heiligsten Akt des Verzeihens vollzogen hat. Wenn du also Gott ein Opfer darbringen willst und dich erinnerst, dass du gegen deinen Bruder gefehlt hast oder dass du ihm wegen einer Schuld seinerseits grollst, dann lasse deine Gabe vor dem Altar, opfere zuerst deine Eigenliebe und versöhne dich mit deinem Bruder. Dann komm zum Altar, und dann, erst dann, wird dein Opfer heilig sein. Ein gutes Einvernehmen ist immer die beste Lösung. Fragwürdig ist das Urteil des Menschen, und wer hartnäckig einen Rechtstreit herausfordert, könnte den Prozess verlieren und dem Gegner alles bis zum letzten Heller bezahlen oder im Gefängnis schmachten müssen.
    Erhebt in allen Dingen den Blick zum Himmel. Fragt euch: „Habe ich das Recht zu tun, was Gott nicht mit mir tut?“ Denn Gott ist nicht so unerbittlich und unnachgiebig, wie ihr es seid. Wehe euch, wenn er es wäre! Kein einziger würde gerettet werden. Diese Überlegung führe euch zu sanftmütigen, demütigen, barmherzigen Gefühlen. So wird die Vergeltung Gottes hier auf Erden und im Himmel nicht ausbleiben.
    Hier vor mir steht ein Mann, der mich hasst und es nicht wagt, zu sagen „Heile mich“; denn er weiss, dass ich seine Gedanken kenne. Doch ich sage: „Es geschehe dir nach deinem Wunsche. Und wie dir die Schuppen von den Augen fallen, so mögen auch Rachsucht und Finsternis aus deinem Herzen weichen.“
    Geht alle mit meinem Frieden! Morgen werde ich wieder zu euch sprechen.«
    Die Menschenmenge zerstreut sich langsam, vielleicht in Erwartung eines Freudenschreis über ein Wunder, der aber ausbleibt.
    Auch die Apostel und die älteren Jünger, die auf dem Berge bleiben, fragen: »Wen hast du gemeint? Ist er vielleicht nicht geheilt worden?« Sie bedrängen den Meister, der mit verschränkten Armen stehengeblieben ist und den Leuten nachsieht, die hinuntersteigen.
    Jesus antwortet zuerst nicht. Dann sagt er: »Die Augen sind geheilt, die Seele nicht, es ist nicht möglich, weil sie voller Hass ist.«
    »Aber um wen handelt es sich? Vielleicht um den Römer?«
    »Nein, um einen Unglücklichen.«
    »Aber warum hast du ihn denn geheilt?« fragt Petrus.
    »Sollte ich alle seinesgleichen vom Blitz treffen lassen?«
    »Herr, ich weiss, dass du nicht willst, dass ich „Ja“ sage, und darum sage ich es nicht, aber . . . ich denke es . . . und das ist dasselbe.«
    »Es ist dasselbe, Simon des Jona, aber wisse, dass dann . . . Oh, wie viele Herzen, mit Schuppen des Hasses bedeckt, umgeben mich!
    Komm, lass uns auf den Gipfel steigen, um aus der Höhe unser schönes galiläisches Meer zu bewundern. Ich und du allein . . . «

 

211 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Dritter Teil)

Derselbe Platz, dieselbe Stunde. Die Menschenmenge ist dieselbe und vielleicht noch grösser, denn viele stehen bis zu den Wegen, die ins kleine Tal führen. Nur der Römer fehlt.
    Jesus spricht:
    »Einer der Fehler, denen der Mensch leicht verfällt, ist der Mangel an Ehrlichkeit, auch sich selbst gegenüber. Da der Mensch schwerlich aufrichtig und ehrlich ist, hat er sich selbst einen Zügel angelegt, der ihn zwingt, den vorgeschriebenen Weg zu gehen. Einen Zügel, den er allerdings wie ein unbändiges Pferd rasch lockert, um seine Gangart zu ändern, oder dessen er sich ganz entledigt, um ohne weitere Überlegung alles tun zu können, was ihm eine solche Handlungsweise an Vorwürfen von seiten Gottes, der Menschen und seines eigenen Gewissens einbringen könnte.
    Dieser Zügel ist der Schwur. Doch ein Eid ist unter Ehrlichen nicht nötig, und es ist nicht Gott, der ihn euch gelehrt hat. Im Gegenteil, er hat euch geboten: „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen.“ Diesem Gebot hat er nichts hinzugefügt! Denn der Mensch soll aufrichtig sein, und die Treue zu seinem Wort sollte genügen. Wenn im Deuteronomium von Schwüren und auch von Gelübden die Rede ist als von etwas, das aus einem Herzen kommt, das sich mit Gott vereinigt glaubt, oder aus einem Bedürfnis oder einem Dankbarkeitsgefühl entspringt, dann heisst es darin „Das Wort, das einmal über deine Lippen gekommen ist, musst du halten und erfüllen, so wie du es deinem Herrn und Gott freiwillig gelobt hast!“ Es wird immer vom gegebenen Wort gesprochen, von nichts anderem als dem Wort. Wer es für nötig hält zu schwören, tut es, weil er weder seiner selbst sicher ist noch der Meinung, die sein Nächster von ihm hat. Wer aber einen anderen zu schwören auffordert, beweist, dass er der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Schwörenden misstraut.
    Wie ihr seht, ist die Gewohnheit des Schwörens eine Folge der moralischen Unehrlichkeit des Menschen und somit eine Schande für ihn. Es ist eine doppelte Schande für ihn, weil er nicht einmal dieser beschämenden Handlung, dem Schwur, treu ist. Mit derselben Unbesonnenheit, mit der er seinen Nächsten verspottet, verspottet er auch Gott, da er sich nicht scheut, mit grösster Ruhe und Leichtfertigkeit falsch zu schwören. Gibt es ein schändlicheres Geschöpf als den Meineidigen? Wie oft verwendet man beim Schwören eine heilige Formel und ruft dabei Gott als Zeugen und Bürgen an; oder man beruft sich auf sein Liebstes, auf Vater, Mutter, Kinder, Ehefrau, verstorbene Angehörige, das eigene Leben und die kostbarsten Organe; und diese müssen Gewähr für eine falsche Aussage bieten, um den Mitmenschen zu überzeugen, obwohl er doch betrogen wird. Ein solcher Mensch ist ein Gotteslästerer, ein Dieb, ein Verräter, ein Mörder. Wessen? Natürlich Gottes, weil er die Wahrheit mit der Gemeinheit seiner Lüge vermischt und ihn durch seine Herausforderung verhöhnt: „Bestrafe mich, überführe mich meiner Lüge, wenn du kannst; du bist dort, und ich bin hier, und ich spotte deiner.“ Ja, lacht nur, lacht nur, ihr Lügner und Spötter, doch die Stunde wird kommen, da ihr nicht mehr lacht; sie wird kommen, wenn der, dem alle Macht gegeben ist, euch in seiner schrecklichen Majestät erscheinen wird. Allein sein Anblick wird euch erzittern lassen und seine Blicke werden euch niederschmettern, noch ehe seine Stimme euch in euer ewiges Schicksal stürzt und euch mit seinem Fluch zeichnet.
    Er ist ein Dieb, da er sich eine Achtung verschafft, die er nicht verdient. Der Nächste, von seinem Schwur beeindruckt, bezeigt ihm diese Achtung, und die Schlange ziert sich damit und täuscht vor, was sie nicht ist. Er ist ein Verräter, denn mit seinem Schwur verspricht er, was er nicht halten will. Er ist ein Mörder, denn er zerstört die Ehre seinesgleichen, der durch seinen falschen Eid die Achtung der anderen verliert; und auch, weil er seine Seele tötet, denn der Meineidige ist ein abscheulicher Sünder in den Augen des Herrn. Wenn auch kein anderer die Wahrheit sieht, so entgeht sie doch Gott nicht, und er lässt sich weder durch lügenhafte Worte noch durch heuchlerische Taten betrügen. Er sieht es, und er verliert jeden einzelnen Menschen keinen Moment aus den Augen. Es gibt keine noch so starke Festung und keinen noch so tiefen Keller, in die sein Blick nicht eindringen könnte. Auch in euer Innerstes, in diese Festung eines jeden Menschenherzens, schaut Gott, und er richtet euch nicht nach dem, was ihr schwört, sondern nach dem, was ihr tut.
    Das Gebot, das euch mit der Einsetzung des Schwures gegeben wurde, um der Lüge und Leichtfertigkeit, mit der man das gegebene Wort brach, Einhalt zu gebieten, ersetze ich nun durch ein anderes Gebot. Ich sage nicht wie die Alten: „Schwört nicht falsch und haltet, was ihr schwört“, sondern ich sage euch: „Schwört nie!“ Nicht beim Himmel, dem Thron Gottes, nicht bei der Erde, dem Schemel seiner Füsse, nicht bei Jerusalem und seinem Tempel, der Stadt des grossen Königs und dem Haus des Herrn, unseres Gottes.
    Schwört weder auf die Gräber der Dahingeschiedenen noch auf ihre Seelen. Die Gräber sind voll von Überresten dessen, was minderwertig am Menschen ist und was er mit dem Tier gemeinsam hat, und die Seelen sollt ihr lassen, wo sie sind. Verursacht ihnen nicht Leid und Abscheu, wenn es Seelen Gerechter sind, die schon eine Voraus-Erkenntnis Gottes besitzen. Denn auch wenn es nur eine Vorkenntnis, also eine teilweise Erkenntnis ist und sie Gott bis zum Augenblick der Erlösung nicht in der ganzen Fülle seiner Herrlichkeit besitzen, so können sie euch doch nicht sündigen sehen, ohne zu leiden. Wenn es aber nicht Seelen Gerechter sind, vermehrt nicht noch ihre Pein, indem ihr sie durch eure Sünden an ihre eigenen Sünden erinnert. Lasst sie, lasst die heiligen Verstorbenen in Frieden, die Nichtheiligen in ihren Qualen. Nehmt den einen nicht ihre Ruhe, vermehrt nicht die Pein der anderen. Warum sich auf die Toten berufen? Sie können nicht reden. Die Heiligen nicht, weil die Barmherzigkeit es ihnen verbietet; sie müssten zu oft widersprechen. Die Verdammten nicht, weil die Hölle ihre Pforten nicht öffnet, weil sie den Mund nur zum Fluchen aufmachen, und weil jede Stimme durch den Hass Satans und der Teufel erstickt wird; denn die Verdammten sind Teufel.
    Schwört weder auf das Haupt des Vaters, noch auf das der Mutter, noch auf das der Gattin oder der unschuldigen Kinder. Ihr habt kein Recht dazu. Sind sie vielleicht eine Münze oder eine Ware? Sind sie eine Unterschrift auf einem Dokument? Sie sind mehr und weniger als das. Sie sind Fleisch und Blut von deinem Blute, o Mensch, aber sie sind auch freie Geschöpfe, und du kannst sie nicht wie Sklaven als Bürgen für deinen falschen Schwur gebrauchen. Sie sind weniger als deine eigene Unterschrift, denn du bist intelligent, frei und erwachsen und weder unmündig noch ein Kind, das nicht weiss, was es zu tun hat und daher durch seine Eltern vertreten werden muss. Du bist du selbst, ein mit Vernunft begabter Mensch, und deshalb verantwortlich für dein Tun und deine Worte. Für dich allein musst du handeln, und deine eigene Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit und die Achtung deiner Mitmenschen sollen für deine Worte und Werke bürgen, nicht die Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit deiner Angehörigen und die Achtung, die sie sich zu erwerben wussten. Sind die Väter für ihre Söhne verantwortlich? Gewiss, für die minderjährigen. Danach ist jeder für sich selbst verantwortlich. Nicht immer haben gerechte Eltern auch gerechte Kinder, und eine gottesfürchtige Frau ist nicht immer mit einem gottesfürchtigen Mann verheiratet. Warum also die Gerechtigkeit eines Verwandten als Bürgschaft benutzen? Gleicherweise können einem Sünder heilige Kinder geboren werden, und solange sie unschuldig sind, sind sie alle heilig. Warum sich also mit einer unlauteren Handlung, wie mit einem Schwur, den man nicht halten will, auf einen Unschuldigen berufen?
    Schwört auch nicht auf euer Haupt, eure Augen, Zunge und Hände. Ihr habt kein Recht dazu. Alles, was ihr habt, stammt von Gott. Ihr seid nur die zeitlichen Hüter, die Verwalter der geistigen oder materiellen Güter, die euch Gott gewährt hat. Warum also gebrauchen, was euch nicht gehört? Könnt ihr eurem Haupte auch nur ein Haar hinzufügen oder seine Farbe verändern? Wenn ihr das nicht könnt, warum benützt ihr dann das Sehen, das Sprechen, die Freiheit eurer Glieder, um euren Eid zu bekräftigen? Fordert Gott nicht heraus! Er könnte euch beim Wort nehmen und eure Augen austrocknen lassen, wie er eure Obstgärten verdorren lassen, euch eure Kinder entreissen und eure Häuser in Schutt verwandeln kann, um euch daran zu erinnern, dass er der Herr ist und ihr die Untertanen seid und dass verflucht ist, wer sich selbst zum Gott macht, wer sich über Gott stellt und ihn mit seiner Lüge herausfordert.
    Eure Rede sei: „Ja, ja“ und „nein, nein“. Nicht mehr. Was darüber ist, flüstert euch der Böse ein, um dann über euch zu lachen, wenn ihr, da ihr euch nicht an alles erinnern könnt, zur Lüge gezwungen seid und als Lügner entlarvt und verspottet werdet. Aufrichtigkeit, Kinder, im Reden und im Beten!
    Macht es nicht wie die Heuchler, die sich beim Beten in den Synagogen oder an den Ecken der Plätze den Menschen zur Schau stellen, um als fromme und gerechte Menschen gepriesen zu werden, während sie sich an ihrer Familie, an Gott und am Nächsten versündigen. Versteht ihr nicht, dass dies einem Meineid gleichkommt? Warum wollt ihr auf einer Unwahrheit bestehen, wenn nicht, um euch eine Achtung zu verschaffen, die ihr nicht verdient? Das heuchlerische Gebet soll sagen: „Wahrlich, ich bin ein Gerechter. Ich schwöre es vor den Augen aller, die mich sehen und nicht leugnen können, dass sie mich beten sehen.“ Mit dem Schleier, den ihr über eure Bosheit breitet, wird ein in solcher Absicht verrichtetes Gebet zur Gotteslästerung.
    Überlasst es Gott, euch für gerecht zu erklären, und handelt so, dass euer ganzes Leben für euch zeuge: „Seht, da ist ein Diener des Herrn.“ Doch ihr selbst, ihr sollt schweigen, zu eurem eigenen Nutzen. Macht eure Zunge, die vom Hochmut bewegt wird, nicht zum Gegenstand des Ärgernisses in den Augen der Engel. Besser wäre es, ihr würdet augenblicklich stumm, wenn ihr nicht die Kraft besitzt, dem Hochmut und der Zunge zu gebieten, die euch als gerecht und Gott wohlgefällig verkünden. Überlasst den Hoffärtigen und den Heuchlern diese armselige Ehre! Lasst den Stolzen und den Falschen diese hinfällige Belohnung! Armselige Vergeltung! Doch diese wollen sie, und eine andere werden sie nicht erhalten; denn mehr als eine steht niemand zu. Entweder die wahre, gerechte und ewige des Himmels, oder die unechte dieser Welt, die nur so lange währt wie ein Menschenleben, vielleicht auch kürzer, und die dann im anderen Leben, weil sie ungerecht war, mit einer beschämenden Strafe gebüsst werden muss.
    Hört, wie ihr beten sollt: sowohl mit der Zunge als auch mit der Arbeit und mit eurem ganzen Sein, aus Antrieb des Herzens, das Gott liebt und in ihm den Vater erkennt und das euch stets bedenken lässt, wer der Schöpfer und was das Geschöpf ist. Dann steht der Mensch stets in ehrfurchtsvoller Liebe vor dem Angesicht Gottes, ob er nun betet oder arbeitet oder unterwegs ist, ob er sich ausruht, seinen Lebensunterhalt verdient oder Wohltaten spendet. Aus einem inneren Antrieb des Herzens, habe ich gesagt. Dies ist die erste und wesentliche Eigenschaft, denn alles kommt aus dem Herzen, und wie das Herz ist, so ist der Geist, das Wort, der Blick und das Handeln eines Menschen.
    Der Gerechte schöpft aus seinem gerechten Herzen das Gute, und je mehr er daraus schöpft, desto mehr findet er; denn was er Gutes getan hat, erzeugt aufs neue Gutes, so wie das Blut, das sich im Kreislauf durch die Adern erneuert und, angereichert mit neuen Stoffen aus Luft und Nahrung, zum Herzen zurückkehrt. Der entartete Mensch hingegen kann aus seinem finstersten Herzen voller Trug und Gift nur Trug und Gift schöpfen, und wie sich bei ihm Trug und Gift durch die zunehmenden Sünden mehren, so vermehrt sich beim guten Menschen die Gnade Gottes. Glaubt nur, wovon das Herz des Menschen voll ist, davon fliesst der Mund über, und in seinen Werken findet es seinen Ausdruck.
    Schafft euch ein demütiges und reines Herz, voll Liebe, Vertrauen und Aufrichtigkeit. Liebt Gott mit der scheuen Liebe, die eine Jungfrau für ihren Bräutigam empfindet. Wahrlich, ich sage euch, jede Seele ist eine Jungfrau, vermählt mit dem ewig Liebenden, unserem Herrn und Gott. Dieses irdische Leben ist die Zeit der Verlobung und der Engel, der jedem Menschen als Beschützer gegeben wurde, der geistige Brautführer. Alle Stunden des Lebens und jede Begebenheit sind ebenso viele Mägde, die die hochzeitliche Ausstattung vorbereiten. Die Stunde des Todes ist die Stunde der mit Gott vollzogenen Vermählung, danach kommt die Erkenntnis, die Umarmung und die Vereinigung. Angetan mit dem Hochzeitsgewand, kann nunmehr die mit Gott vermählte Seele ihren Schleier abnehmen und sich in die Arme Gottes werfen, und niemand kann an dieser Liebe zum Bräutigam Anstoss nehmen.
    Doch zur Stunde, ihr Seelen, da sich eure Hingabe an Gott noch im Opfer der Verlobungsbande vollzieht, begebt euch, um mit Gott, dem Bräutigam zu sprechen, in die friedliche Stille eurer Wohnung, besonders aber in die friedliche Wohnung des Herzens und sprecht als Engel im Fleisch, die ihr stets euren Schutzengel zur Seite habt, zum König der Engel. Sprecht zu eurem Vater in der Verborgenheit eures Herzens und eurer inneren Kammer und lasst alles weltliche draussen, sowohl den Drang, bemerkt zu werden und erbaulich zu wirken, als auch die Bedenken, ob lange wortreiche Gebete mit vielen lauen und schalen Worten der Liebe notwendig seien. O nein, nichts von alledem! Befreit euch davon, im Gebet Massstäbe anzusetzen. Tatsächlich gibt es Menschen, die Stunde um Stunde in einem sich wiederholenden Monolog, einem blossen Lippen- und Selbstgespräch verschwenden, denn nicht einmal der Schutzengel hört zu. Er versucht, das leere Geplapper wieder gutzumachen, indem er sich selbst, anstelle seines törichten Schützlings, in ein glühendes Gebet versenkt.
    Es gibt wahrlich solche, die diese Stunden nicht anders verbringen würden, auch wenn ihnen Gott persönlich erschiene und sagte: „Das Heil der Welt hängt davon ab, dass du diese seelenlose Art zu beten aufgibst, um vielleicht einfach an einem Brunnen Wasser zu schöpfen und damit aus Liebe zu mir und deinem Mitmenschen die Erde zu begiessen.“ In Wahrheit, es gibt Leute, die ihr Selbstgespräch höher einschätzen als die Höflichkeitspflicht, einen Besucher zu empfangen oder in Nächstenliebe einem Notleidenden zu helfen. Es sind Seelen, die dem Götzendienst des Gebets verfallen sind.
    Das Gebet ist ein Akt der Liebe. Und lieben kann man, wenn man betet und wenn man Brot bäckt, wenn man betrachtet, wenn man einem Gebrechlichen beisteht, wenn man zum Tempel pilgert, wenn man sich der Familie widmet, wenn man ein Lämmlein darbringt, oder wenn man, um sich im Herrn zu sammeln, die eigenen selbstgerechten Wünsche opfert. Es genügt, dass man sein ganzes Sein und alles, was man tut, in Liebe kleidet. Habt keine Angst! Der Vater sieht euch. Der Vater versteht euch. Der Vater hört euch an. Der Vater gibt euch. Wieviel Gnaden werden schon für einen einzigen, wahrhaftigen, vollkommenen Liebesseufzer gewährt! Welche Fülle für ein geheimes, mit Liebe dargebrachtes Opfer! Seid nicht wie die Heiden. Gott hat es nicht nötig, dass ihr ihm sagt, was er tun und geben soll, um euch zu helfen. Das können die Heiden ihren Götzen sagen, die nichts verstehen, nicht aber ihr eurem Gott, dem wahren, geistigen Gott, der nicht nur Gott und König, sondern auch euer Vater ist und weiss, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn darum bittet.
    Bittet, und ihr werdet empfangen, sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und es wird euch aufgetan. Denn wer bittet, empfängt, wer sucht, der findet und wer anklopft, dem wird aufgetan. Wenn eines eurer Kinder das Händchen hinhält und sagt: „Vater, ich habe Hunger“, gebt ihr ihm dann vielleicht einen Stein? Gebt ihr ihm eine Schlange, wenn es euch um einen Fisch bittet? Nein, im Gegenteil, ihr gebt ihm Brot, Fisch und noch mehr: Liebkosung und Segen; denn für einen Vater ist es wunderbar, sein Geschöpf zu ernähren und sein glückliches Lächeln sehen zu können. Wenn ihr also trotz eures unvollkommenen Herzens euren Kindern aus natürlicher Liebe heraus gute Gaben zu geben wisst, wie auch das Tier mit seiner Brut es tut, wieviel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen geben, die ihn um gute und ihrem Wohl zuträgliche Dinge bitten. Habt keine Angst zu bitten, und fürchtet nicht, das Erbetene nicht zu erhalten.
    Jedoch – hier muss ich euch vor einem Irrtum warnen, dem man leicht verfallen kann – macht es nicht wie die Schwachen im Glauben und in der Liebe, die Heiden der wahren Religion – denn auch unter den Gläubigen gibt es Heiden, deren armseliger Glaube ein Gewirr von Aberglauben und wahrem Glauben, ein heruntergekommenes Gebäude ist, in dessen Mauerrissen sich Unkraut und Schmarotzerpflanzen jeglicher Art eingenistet haben, so dass die Mauer abzubröckeln beginnt und später in Verfall gerät – deren Glauben zu schwinden beginnt, wenn sie sehen, dass sie nicht erhört werden.
    Ihr bittet, und ihr findet es richtig zu bitten. In diesem Augenblick wäre es in der Tat nicht ungerecht, euch die erbetene Gnade zu gewähren. Doch das Leben ist in diesem Augenblick noch nicht zu Ende, und was heute gut sein mag, kann morgen schlecht sein. Ihr könnt dies nicht wissen, denn ihr kennt nur die Gegenwart, und das ist schon eine Gnade Gottes. Doch Gott kennt auch die Zukunft, und um euch ein noch grösseres Leid zu ersparen, lässt er oft ein Gebet unerhört. In diesem Jahre meines öffentlichen Lebens habe ich mehr als einmal in den Herzen ein Seufzen vernommen „Wie sehr habe ich damals gelitten, als Gott mich nicht erhört hat.“ Doch nun sage ich: „Es war gut so, denn jene Gnade hätte mich daran gehindert, jetzt zu Gott zu kommen.“ Andere habe ich sagen und mir sagen gehört: „Warum, Herr, erhörst du mich nicht? Alle erhörst du, nur mich nicht“, und obwohl es mich schmerzte, sie leiden zu sehen, musste ich antworten: „Ich kann nicht“, denn die Erhörung wäre ein Hindernis für ihren Höhenflug zur Vollkommenheit gewesen.
    Auch der Vater sagt manchmal: „Ich kann nicht.“ Nicht, weil er nicht augenblicklich eingreifen könnte, sondern er will die Bitte nicht erfüllen, weil er die sich daraus ergebenden Folgen für die Zukunft kennt. Hört: Ein Kind hat kranke Eingeweide. Die Mutter ruft den Arzt, und dieser sagt: „Um es zu heilen ist absolutes Fasten nötig.“ Das Kind weint, schreit, bettelt und scheint vor Hunger zu sterben. Die wie immer mitleidsvolle Mutter vereinigt ihre Klagen mit denen des Kindes. Das totale Verbot des Arztes scheint ihr zu hart zu sein. Sie meint, dem Kind könnte das Fasten und das Weinen schaden. Doch der Arzt bleibt unerbittlich und sagt schliesslich: „Frau, ich weiss, um was es geht, du weisst es nicht. Willst du dein Kind verlieren oder willst du, dass ich es dir rette?“ Die Mutter schreit: „Ich will, dass es lebt.“ „Dann“, sagt der Arzt, „kann ich keine Nahrung erlauben. Es wäre sein Tod.“ Auch der Vater spricht manchmal so. Ihr Mütter, die ihr euer Ich bemitleidet, wollt nicht hören, dass es einer verweigerten Gunst wegen weint. Doch Gott sagt: „Ich kann nicht. Es wäre zu deinem Übel.“ So kommt der Tag oder die Ewigkeit, wo man sich schliesslich sagen muss: „Danke, mein Gott, dass du meine törichte Bitte nicht erhört hast.“
    Was ich euch über das Gebet gesagt habe, gilt auch für das Fasten. Wenn ihr fastet, dann setzt keine trübsinnige Miene auf, wie es die Heuchler tun, die kunstvoll das Gesicht verziehen, damit die Leute wissen und glauben, dass sie fasten, auch wenn es nicht wahr ist. Auch sie haben mit dem Lob der Welt ihren Lohn schon empfangen und einen anderen werden sie nicht erhalten. Ihr aber, wenn ihr fastet, nehmt eine heitere Miene an, wascht euch öfters das Gesicht, damit es sauber und frisch erscheint, salbt euch den Bart, parfümiert euer Haar und lächelt mit der Zufriedenheit des Wohlgenährten. Oh, wahrlich, es gibt keine Speise, die so sehr erquickt wie die Liebe. Wer im Geist der Liebe fastet, der nährt sich mit Liebe. Wahrlich, ich sage euch, wenn die Welt euch auch „eitel“ und „Zöllner“ nennt: euer Vater kennt euer heldenmütiges Geheimnis und wird es euch doppelt vergelten. Er wird euch belohnen für das Fasten, und auch dafür, dass ihr deshalb nicht gerühmt worden seid.
    Nun gehet hin und gebt dem Körper Nahrung, nachdem die Seele gespeist worden ist. Diese beiden armen Leute sollen bei uns bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste sein, die unserem Brot den Wohlgeschmack verleihen. Der Friede sei mit euch.«
    Die beiden armen Leute bleiben. Es handelt sich um eine hagere Frau und einen sehr alten Mann. Doch sie gehören nicht zusammen. Der Zufall hat sie zusammengeführt. Sie waren beschämt in einer Ecke zurückgeblieben und hatten allen vergeblich die Hand entgegengestreckt, die an ihnen vorübergingen.
    Jesus schreitet direkt auf sie zu, da sie nicht wagen, ihm entgegenzugehen, nimmt sie bei der Hand und führt sie mitten in die Schar der Jünger unter eine Art Zelt, das Petrus etwas abseits errichtet hat. Dort nächtigen die Jünger anscheinend und halten sich in den wärmsten Stunden des Tages auf. Das Dach besteht nur aus Reisern und . . . Mänteln. Doch die Behausung dient ihrem Zweck, auch wenn sie so niedrig ist, dass Jesus und Judas Iskariot, als die grössten, sich bücken müssen um einzutreten.
    »Hier ist ein Vater und hier ist eine Schwester. Bringt herbei, was wir haben. Während wir die Mahlzeit einnehmen, wollen wir uns ihre Geschichte anhören.« Jesus bedient die beiden Beschämten persönlich und hört sich ihren jammervollen Bericht an. Der alte Mann ist allein geblieben, als seine Tochter mit ihrem Manne weit fortgezogen ist und den Vater zurückgelassen und vergessen hat. Auch die Frau ist allein, seitdem das Fieber ihren Mann hinweggerafft hat, und sie ist ausserdem noch krank.
    »Die Leute verachten uns, weil wir arm sind«, sagt der alte Mann. »Ich gehe betteln, um etwas beiseite zu legen, damit ich das Paschafest halten kann. Ich bin achtzig Jahre alt, immer habe ich das Pascha (jüdische Osterfest) gehalten, und es könnte das letzte Mal sein. Aber ich will ohne Gewissensbisse in Abrahams Schoss eingehen. So wie ich meiner Tochter verzeihe, hoffe ich, Verzeihung zu erlangen, und ich will mein Pascha halten.«
    »Der Weg ist lang, Vater.«
    »Noch länger ist der zum Himmel, wenn man den Feierlichkeiten des Festes fernbleibt.«
    »Gehst du allein? Wenn du dich aber unterwegs übel fühlen solltest? «
    »Der Engel Gottes wird mir meine Lider schliessen.«
    Jesus streichelt das zitternde, weisse Haupt und fragt dann die Frau: »Was machst du?«
    »Ich bin auf der Suche nach Arbeit. Wäre ich besser genährt, so würde ich vom Fieber genesen, und wäre ich geheilt, könnte ich auch auf den Feldern arbeiten.«
    »Glaubst du, dass allein die Nahrung dich heilen würde?«
    »Nein, auch du bist da . . . Doch ich bin ein armes Ding, ein zu armes Ding, als dass ich um Barmherzigkeit bitten dürfte!«
    »Wenn ich dich heilen würde, was wünschtest du dann?«
    »Nichts mehr. Ich hätte dann schon mehr, als ich zu hoffen wage.«
    Jesus lächelt und reicht ihr ein Stück Brot, das er zuvor in etwas Essigwasser getaucht hat, das als Getränk dient. Die Frau isst es ohne zu sprechen, und Jesus lächelt immer noch.
    Die Mahlzeit ist rasch beendet, sie war ja so karg. Die Apostel und die Jünger gehen zu den Abhängen auf die Suche nach einem schattigen Platz zwischen den Büschen. Jesus bleibt im Zelt.
    Der Greis hat sich an die überwachsene Felswand gesetzt und ist erschöpft eingeschlafen.
    Nach einer Weile kommt die Frau, die sich ebenfalls auf der Suche nach Schatten und Ruhe entfernt hatte, zurück und geht zaghaft auf Jesus zu. Jesus lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen. Sie kommt scheu, doch glücklich näher, fast bis zum Zelt. Dann ist die Freude stärker als die Schüchternheit, und sie macht eilig die letzten Schritte und fällt vor Jesus nieder mit dem gedämpften Rufe: »Du hast mich geheilt. Gepriesen seist du! Es ist die Zeit meines starken Schüttelfrostes, und ich habe ihn nicht mehr . . . Oh!« und sie küsst Jesus die Füsse.
    »Bist du sicher, geheilt zu sein? Ich habe es dir nicht gesagt. Es könnte ein Zufall sein . . . «
    »O nein! Nun habe ich dein Lächeln verstanden, mit dem du mir das Brot gegeben hast. Deine Kraft ist mit jedem Bissen in mich eingeströmt. Ich habe nichts, mit dem ich dir dies vergelten könnte, ausser meinem Herz. Befiehl deiner Dienerin, Herr, und sie wird dir bis zum Tode gehorsam sein!«
    »Ja. Siehst du den Greis dort? Er ist allein, und er ist ein Gerechter. Du hattest einen Gatten, und der Tod hat ihn dir genommen. Er hatte eine Tochter, und der Egoismus hat sie ihm entrissen; das ist noch schlimmer, und doch schimpft er nicht. Aber es wäre nicht recht, wenn er seine letzten Stunden allein verbringen müsste. Sei du ihm Tochter!«
    »Ja, mein Herr!«
    »Aber bedenke, das heisst, für zwei arbeiten zu müssen.«
    »Ich bin jetzt stark und werde es schaffen.«
    »Geh also zu dem Gebüsch dort und sag zu dem in Grau gekleideten ruhenden Mann, dass er zu mir kommen soll.«
    Die Frau geht rasch zu der bezeichneten Stelle und kehrt mit Simon dem Zeloten zurück.
    »Komm her, Simon. Ich muss dich etwas fragen. Warte, Frau.«
    Jesus entfernt sich einige Meter.
    »Glaubst du, dass es für Lazarus schwierig wäre, eine Arbeiterin mehr in seinen Dienst zu nehmen?«
    »Lazarus? Ich glaube, er weiss nicht einmal, wie viel Bedienstete er hat. Einer mehr oder weniger . . . Aber um wen handelt es sich?«
    »Um die Frau dort; ich habe sie geheilt.«
    »Das genügt, Meister. Wenn du sie geheilt hast, beweist dies, dass du sie liebst, und was du liebst, ist Lazarus heilig. Ich bürge für ihn.«
    »Das stimmt. Was ich liebe, ist Lazarus heilig. Das hast du gut gesagt. Deswegen wird Lazarus auch heilig werden, denn da er liebt, was ich liebe, liebt er auch die Vollkommenheit. Ich möchte jenen alten Mann dieser Frau anvertrauen, und so kann der alte Patriarch sein letztes Osterfest in Freuden begehen. Ich liebe die alten Gerechten sehr, und wenn ich ihnen einen heiteren Lebensabend bescheren kann, dann bin ich glücklich.«
    »Du liebst auch die Kinder . . . «
    »Ja, und die Kranken . . . «
    »Und die Betrübten . . . «
    »Und die Alleinstehenden . . . «
    »Oh, mein Meister! Aber bist du dir nicht bewusst, dass du alle liebst, selbst deine Feinde?«
    »Ich bin mir dessen nicht bewusst, Simon. Lieben ist meine Natur. Jetzt erwacht der Patriarch. Lass uns zu ihm gehen und ihm sagen, dass er Ostern mit einer Tochter an seiner Seite feiern wird und keinen Mangel an Brot mehr leiden muss.«
    Sie kehren zum Zelt zurück, wo die Frau auf sie wartet, und gehen dann alle drei zum alten Mann, der sich gesetzt hat und seine Sandalen wieder schnürt.
    »Was machst du, Vater?«
    »Ich will ins Tal hinuntergehen. Ich hoffe, ein Obdach für die Nacht zu finden. Morgen werde ich auf der Strasse betteln, und dann, weiter, weiter, immer weiter und, vielleicht in einem Monat, wenn ich nicht vorher sterbe, werde ich im Tempel sein.«
    »Nein.«
    »Soll ich es nicht tun? Warum?«
    »Weil der liebe Gott es nicht will. Du wirst nicht allein gehen. Diese Frau hier wird dich begleiten. Sie wird dich an den Ort führen, den ich euch nennen werde, und wo man euch aus Liebe zu mir aufnehmen wird. Du wirst deine Ostern feiern, aber ohne Mühsal. Dein Kreuz hast du schon getragen, Vater. Lege es nun nieder und sammle dich nur in der Danksagung an deinen gütigen Gott.«
    »Aber warum . . . ich . . . ich verdiene nicht so viel . . . Du . . . eine Tochter . . . Mehr, als wenn du mir zwanzig Jahre schenken würdest . . . und wohin, wohin schickst du mich?« Der Greis weint in seinen langen, struppigen Bart.
    »Zu Lazarus des Theophilus. Ich weiss nicht, ob du ihn kennst.«
    »Oh, ich bin aus dem Grenzgebiet von Syrien und erinnere mich an Theophilus. O gebenedeiter Sohn Gottes, erlaube, dass ich dich segne!«
    Jesus, der sich dem alten Mann gegenüber im Gras niedergelassen hat, neigt sich wahrhaftig, um sich von ihm in feierlicher Gebärde die Hand auflegen zu lassen. Laut ertönt die tiefe Greisenstimme im alten Segensspruch »Der Herr segne und behüte dich. Der Herr lasse sein Antlitz leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr wende dir sein Angesicht zu und gebe dir seinen Frieden.«
    Jesus, Simon und die Frau antworten miteinander: »Amen.«

 

212 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Vierter Teil)

Die Menschenmenge wächst von Tag zu Tag an. Es sind Frauen, Männer, Alte, Kinder, Reiche und Arme darunter. Auch das Paar Stephanus–Hermas ist wieder anwesend, obgleich es noch nicht zur Gruppe der alten Jünger gehört, die der Leitung Isaaks untersteht. Auch der alte Mann und die Frau, die gestern durch Jesus zusammengefunden haben, sind immer noch da. Sie stehen ganz vorne bei ihrem Tröster; ihre Gesichtszüge sind gelöster als gestern. Der Alte hat seine runzlige Hand auf die Knie der Frau gelegt, als wolle er sich für die vielen Monate und Jahre, in denen er von seiner Tochter vernachlässigt wurde, entschädigen, und sie streichelt die alte Hand mit dem moralisch gesunden, der Frau angeborenen Bedürfnis, mütterlich zu sein.
    Jesus geht an ihnen vorbei, um zu seiner einfachen Kanzel zu gelangen, und im Vorübergehen legt er seine Hand auf das Haupt des Greises, der ihn anschaut, als ob er Jesus bereits in der Gestalt Gottes sehen würde. Petrus sagt etwas zu Jesus, und dieser gibt ihm ein Zeichen, als wolle er sagen »Das macht nichts.«
    Doch ich habe nicht verstanden, was der Apostel gesagt hat, der nun bei Jesus bleibt, zu dem sich noch Judas Thaddäus und Matthäus gesellen. Die anderen verlieren sich in der Menge.
    »Der Friede sei mit euch allen!
    Gestern habe ich vom Gebet, vom Schwören und vom Fasten gesprochen. Heute möchte ich euch über andere Vollkommenheiten belehren. Auch sie sind Gebet, Vertrauen, Aufrichtigkeit, Liebe und Glaube.
    Die erste Vollkommenheit, von der ich spreche, ist der richtige Gebrauch von Reichtümern, welche durch den guten Willen des treuen Dieners in ebensoviele Schätze des Himmels umgewandelt werden. Die Schätze der Erde sind vergänglich, die Schätze des Himmels aber ewig. Hängt ihr an eurem Besitz? Bedauert ihr es, sterben zu müssen, weil ihr euch dann nicht mehr um eure Güter kümmern könnt und sie zurücklassen müsst? Dann versetzt sie doch in den Himmel! Ihr sagt: „In den Himmel kann nichts eingehen, was der Erde angehört, und du lehrst uns, dass das Geld die schmutzigste Sache dieser Welt ist. Wie können wir es also in den Himmel versetzen?“ Nein, ihr könnt die Münzen, die Materie, nicht in das himmlische, rein geistige Reich mitnehmen. Aber ihr könnt den Nutzen mitnehmen, den ihr aus ihnen zu ziehen vermögt. Wenn ihr euer Geld einer Bank übergebt, warum tut ihr das? Damit es euch Gewinn einbringt. Ihr gebt es also nicht, oder nur zeitweilig, damit euch nachher dieselbe Summe zurückerstattet wird, sondern ihr verlangt, dass euch für zehn Talente elf und mehr zurückgezahlt werden. Dann freut ihr euch und lobt den Bankier. Anderenfalls sagt ihr: „Er ist zwar ehrlich, aber er ist ein Dummkopf.“ Gibt er euch statt elf Talenten nur neun und entschuldigt sich: „Ich habe den Rest verloren“, dann klagt ihr ihn an und lasst ihn ins Gefängnis werfen.
    Was ist der Zins eures Geldes? Sät der Bankier vielleicht euer Geld und begiesst es, um es zu mehren? Nein. Der Zins ergibt sich aus einer klugen Geschäftsführung, so dass sich durch die Gewährung von Hypotheken und Darlehen und die dafür zu recht geforderten Zinsen das Kapital vermehrt. Ist es nicht so? So hört also. Gott gibt euch die irdischen Güter, dem einen viel, dem anderen kaum das Lebensnotwendigste. Er sagt euch: „Nun ist es an dir. Ich habe sie dir gegeben. Benütze diese Mittel zu einem Zweck, der den Wünschen meiner Liebe und deinem Wohle entspricht. Ich vertraue sie dir an; jedoch nicht, damit du Böses damit tust. Zum Dank für das in dich gesetzte Vertrauen und meine Gaben, nutze diese Güter und lege sie gut an für die wahre Heimat, den Himmel.
    Nun sage ich euch, was ihr zu tun habt, um dieses Ziel zu erreichen. Häuft nicht Reichtümer auf dieser Erde an, für die ihr allein lebt, die euch hartherzig gegen andere sein lassen und die den Fluch des Nächsten und den Fluch Gottes auf euch herabrufen. Sie sind es nicht wert. Sie sind hier auf Erden nie sicher. Diebe können euch jederzeit berauben. Das Feuer kann eure Häuser zerstören. Krankheiten und Seuchen können eure Obstgärten und Herden vernichten. Wie viele Gefahren bedrohen eure Güter, ob sie nun fest stehen wie Häuser oder unwandelbar sind wie Gold; ob sie verletzlich sind wie alles Lebende der Tier- oder Pflanzenwelt, oder ob sie wie kostbare Stoffe ihren Wert verlieren können. Blitz, Feuer und Wasser bedrohen die Häuser; Diebe, Rost, Dürre, Nagetiere und Insekten die Felder; Tollwut, Verrenkungen und todbringende Seuchen die Tiere; Motten und Mäuse bedrohen kostbare Stoffe und wertvolle Möbel; Abnützung und Korrosion, Geschirr, Leuchter, kunstvolle Gittertore: alles ist dem Verderb ausgesetzt.
    Wenn ihr aber aus all diesen irdischen Gütern ein übernatürliches Gut macht, dann bleibt es vor den Schäden der Zeit, der Menschen und der Unwetter bewahrt. Sammelt Schätze im Himmel, dort, wo Diebe nicht eindringen können und wo es kein Unheil gibt. Arbeitet mit barmherziger Liebe gegen alles Elend der Erde. Liebkost eure Münzen, küsst sie auch, wenn ihr wollt, freut euch über vielversprechende Ernten, über Weinberge voller Trauben, über Ölbäume, die sich unter der Last unzähliger Oliven beugen, über die trächtigen Schafe mit prallen Eutern. Ihr könnt dies alles tun, aber nicht auf unfruchtbare, nicht auf menschliche Weise. Tut es mit Liebe und Bewunderung, mit übernatürlicher Freude und übernatürlichen Gedanken.
    „Danke, mein Gott, für diese Münze, dieses Korn, diese Bäume, diese Schafe und diese Geschäfte. Schafe, Bäume, Wiesen, Geschäfte, habt Dank, dass ihr mir so gut dient. Seid gesegnet, denn durch deine Güte, o Ewiger, und durch eure Güte, ihr Güter alle, kann ich dem Hungrigen, dem Nackten, dem Obdachlosen, Kranken und Einsamen viel Gutes tun . . . Im vergangenen Jahr habe ich für zehn gegeben. Dieses Jahr – obwohl ich viel für gute Zwecke ausgegeben habe – habe ich noch mehr Geld, denn die Ernten haben noch mehr Ertrag gebracht, und meine Herden sind noch zahlreicher. Deshalb werde ich zwei-, ja, dreimal soviel geben wie letztes Jahr, denn alle, auch jene Unglücklichen, die nichts ihr eigen nennen, sollen an meiner Freude teilhaben und dich, den Ewigen Herrn, mit mir preisen.“ Das ist das Gebet des Gerechten, und verbunden mit der guten Tat versetzt es eure Schätze in den Himmel. Sie bleiben euch dort nicht nur auf ewig erhalten, sondern ihr werdet sie vermehrt um alle heiligen Früchte der Liebe vorfinden.
    Euer Schatz sei im Himmel, damit auch euer Herz dort sei, über dem Diesseits und ausser Gefahr; denn nicht nur Gold, Häuser, Felder und Herden kann das Unglück ereilen, sondern auch euer Herz, dem der Geist der Welt nachstellt, um es zu berauben, zu schwächen, zu verwunden und sogar zu töten. Wenn ihr so handelt, werdet ihr euren Schatz in eurem Herzen haben, denn ihr werdet Gott in euch haben bis zu dem seligen Tage, an dem ihr in ihm seid.
    Um jedoch das Verdienst der Liebe nicht zu vermindern, sorgt dafür, dass ihr barmherzig im übernatürlichen Sinne seid. Was ich vom Gebet und Fasten gesagt habe, das sage ich auch über die Wohltätigkeit und über jede gute Tat, die ihr tun könnt.
    Bewahrt das Gute, das ihr tut, vor der Entheiligung durch den Geist der Welt, bewahrt es unversehrt von menschlichem Lob. Entweiht nicht die duftende Rose, das wahre Weihrauchfass das die dem Herrn wohlgefälligen Düfte eurer Nächstenliebe und eurer guten Werke verströmt. Der Hochmut, der Wunsch, gesehen zu werden, wenn man etwas Gutes tut, und das Streben nach Anerkennung entweihen das Gute. Dann wird die Rose der Nächstenliebe durch schleimige Schnecken vom Geifer befriedigten Hochmuts besudelt und angefressen, und ins Weihrauchfass fallen Halme stinkenden Strohs, auf dem sich der Hochmut wie ein wohlgenährtes Tier wälzt.
    Oh, diese wohltätigen Handlungen, die nur getan werden, damit man davon spricht! Besser wäre es, sie würden unterbleiben. Wer keine Taten der Nächstenliebe vollbringt, sündigt durch Hartherzigkeit! Wer das Gute tut, aber den gespendeten Betrag und den Namen des Empfängers bekannt gibt und dafür Lob fordert, sündigt durch Hochmut, denn er sagt damit: „Seht, was ich alles tue.“ Er fehlt gegen die Liebe, weil er mit der Bekanntgabe seines Namens den Empfänger beschämt; er sündigt durch geistige Habsucht, weil er menschliches Lob einheimsen will . . . Stroh, Stroh, nichts als Stroh! Handelt so, dass Gott euch mit seinen Engeln lobe.
    Wenn ihr Almosen gebt, dann posaunt es nicht vor euch her, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf euch zu lenken und um geehrt zu werden wie die Heuchler, die den Beifall der Menschen suchen und nur dort Almosen geben, wo sie von vielen gesehen werden. Auch diese haben ihren Lohn schon empfangen und werden keinen anderen mehr von Gott erhalten. Ihr sollt nicht in den gleichen Fehler und dieselbe Überheblichkeit verfallen. Ihr sollt so Almosen geben, dass eure Rechte nicht weiss, was die Linke tut; so verborgen und verschämt soll euer Almosengeben sein. Und dann müsst ihr es vergessen. Verweilt nicht selbstgefällig bei eurem vollbrachten Werk, und bläht euch nicht auf wie eine Kröte, die sich mit ihren verschleierten Augen im Teich bewundert und sich, da sie die Bäume, die Wolken und den stehenden Wagen am Ufer widergespiegelt sieht und sich selbst daneben so klein vorkommt, bis zum Platzen mit Luft anfüllt. Eure Nächstenliebe ist ein Nichts im Vergleich zur unendlichen Barmherzigkeit Gottes, und wenn ihr ihm gleich sein wollt und eure winzig kleine Wohltätigkeit riesengross und bedeutend sehen möchtet, um es seiner unendlichen Barmherzigkeit nachzutun, dann bläht ihr euch mit dem Wind des Stolzes auf und geht schliesslich zugrunde.
    Vergesst sie, eure guten Werke! Es wird euch immer ein Licht, eine Stimme, eine Freude bleiben, die euch den Tag erhellen und euch zufrieden und glücklich machen. Das Licht ist das Lächeln Gottes, die Wonne der Seelenfrieden, der wiederum Gott ist, die Stimme die Stimme Gottvaters, die euch sagt: „Danke.“ Er sieht das geheime Böse wie auch das verborgene Gute und wird es euch vergelten. Ich . . . «
    »Meister, du belügst dich selbst!«
    Die gehässige, unvermittelte Beschimpfung kommt mitten aus der Menge. Alle wenden sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Es entsteht Verwirrung. Petrus sagt: »Ich habe es dir gesagt! Ach, wenn nur einer von denen da ist, dann geht nichts mehr gut!«
    In der Menge werden Pfiffe und Gemurmel gegen den Lästerer laut. Jesus allein bleibt ruhig. Er hat die Arme über der Brust gekreuzt und steht in seinem dunkelblauen Gewande, die Sonne im Antlitz, aufrecht auf seinem Felsblock.
    Der Angreifer fährt ungeachtet der Reaktion der Menge fort: »Du bist ein schlechter Lehrer, denn du lehrst, was du selbst nicht tust und . . . «
    »Schweig! Geh fort! Schäme dich!« schreit die Menge und weiter: »Geh zu deinen Schriftgelehrten! Uns genügt der Meister. Heuchler unter Heuchlern! Falsche Lehrer! Würger! . . . « Sie würden so weiter machen, doch die Stimme Jesu donnert: »Ruhe! Lasst ihn reden!« Die Leute schreien nicht mehr: sie flüstern noch ihre Beschimpfungen unter wütenden Blicken.
    »Ja, du lehrst, was du selbst nicht tust. Du sagst, man soll Almosen geben, ohne sich selbst zur Schau zu stellen, und hast gestern in Anwesenheit des ganzen Volkes zu zwei Armen gesagt: „Bleibt, ich werde euch zu essen geben.“«
    »Ich habe gesagt: „Die zwei Armen sollen hier bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste sein und unserem Brot Wohlgeschmack verleihen“, nichts weiter. Ich habe nicht angedeutet, dass ich ihnen zu essen geben möchte.Wo ist der Arme, der nicht wenigstens ein Stück Brot hätte? Meine Freude war es, ihnen eine wahre Freundschaft anzubieten. «
    »Nun ja, du bist schlau und verstehst es, das Lamm zu spielen . . . «
    Der Greis steht auf, wendet sich um, hebt seinen Stock und ruft: »Höllische Zunge, die du den Heiligen beschuldigst! Glaubst du, alles zu wissen und wegen deiner Gelehrtheit anklagen zu können? So, wie du Gott verkennst und den verkennst, den du beschuldigst, so verkennst du auch seine Werke. Nur die Engel und mein jubelndes Herz wissen es. Hört, Leute, hört alle und wisst, dass Jesus kein Lügner und nicht hochmütig ist, wie dieser Auswurf des Tempels behauptet. Er . . . «
    »Schweig, Ismael! Schweige mir zuliebe. Wenn ich dich glücklich gemacht habe, dann mache mich jetzt durch dein Schweigen glücklich! « bittet ihn Jesus.
    »Ich gehorche dir, heiliger Sohn. Doch, lass mich nur dies sagen: Der Segen des alten getreuen Israeliten ist über ihm, der mich göttlich beschenkt hat, und Gott hat Lobesworte in meinen Mund gelegt, damit ich und Sara, meine neue Tochter, ihn preisen. Aber auf deinem Haupte wird kein Segen sein. Ich verfluche dich nicht. Ich verunreinige meinen Mund nicht mit einer Verwünschung, da ich im Begriff bin, zu Gott zu sagen: Nimm mich auf! Ich habe nicht einmal jene verflucht, die mich verleugnet hat, und habe schon die göttliche Belohnung erhalten. Doch wird es einen geben, der für den unschuldig Angeklagten und Ismael, den Freund Gottes, den der Herr mit Wohltaten beschenkt, eintreten wird.«
    Ein Chor von Ausrufen beschliesst die Rede des alten Mannes, der sich nun wieder niedersetzt, während sich ein anderer Mann, von Schmähungen gefolgt, davonmacht. Dann rufen die Leute Jesus zu: »Sprich weiter, sprich weiter, heiliger Meister! Wir wollen nur dich anhören, nicht diese verfluchten Raben, und du sollst uns anhören. Sie sind nur eifersüchtig, weil wir dich mehr lieben als sie. Aber in dir ist Heiligkeit und in ihnen Bosheit. Sprich, sprich! Du siehst, dass wir nach nichts anderem verlangen als nach deinem Wort. Unsere Häuser? Unsere Geschäfte? Ein Nichts, wenn wir dir zuhören dürfen.«
    »Ja, ich spreche. Doch ärgert euch nicht. Betet für jene Unglücklichen. Verzeiht ihnen, wie auch ich verzeihe. Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler verzeiht, dann wird euch auch euer Vater im Himmel eure Sünden verzeihen. Wenn ihr aber Hass in euren Herzen nährt und den Menschen nicht verzeiht, dann wird euch auch euer Vater eure Fehler nicht verzeihen. Und alle haben Verzeihung nötig.
    Ich sagte euch, dass Gott euch belohnen wird, auch wenn ihr nicht um Lohn bittet für das Gute, das ihr getan habt. Tut nicht Gutes, um dafür belohnt zu werden, um eine Garantie für morgen zu haben. Tut das Gute nicht abwägend und zurückhaltend, indem ihr sagt: „Werde ich dann für mich auch noch etwas haben? Wenn ich nichts mehr besitze, wer wird mir dann helfen? Wird jemand da sein, der mir tut, was ich getan habe? Wenn ich einmal nichts mehr geben kann, wird man mich dann immer noch lieben?“
    Schaut, ich habe einflussreiche Freunde unter den Reichen und Freunde unter den Armen der Erde. Wahrlich, ich sage euch, es sind nicht die mächtigen Freunde, die ich am meisten liebe. Ich gehe zu ihnen nicht aus Eigenliebe und Eigennutz, sondern weil ich von ihnen viel für jene bekomme, die selbst nichts haben. Ich bin arm. Ich besitze nichts. Ich möchte alle Schätze der Welt haben und sie in Brot für die Hungernden umwandeln, in Häuser für die Obdachlosen, in Kleider für die Nackten und in Arznei für die Kranken. Ihr werdet sagen: „Du kannst heilen.“ Ja, das und anderes kann ich. Aber nicht immer haben die Menschen Glauben. Und dann kann ich nicht tun, was ich tun möchte und tun würde, wenn der Glaube an mich in den Herzen der Menschen wäre. Ich möchte auch den Ungläubigen Gutes tun, und da diese den Menschensohn nicht um ein Wunder bitten, möchte ich ihnen von Mensch zu Mensch helfen. Doch ich besitze nichts. Daher halte ich dem die Hand hin, der etwas besitzt, und bitte: „Erweise mir Barmherzigkeit im Namen Gottes“; dazu habe ich Freunde in gehobenen Gesellschaftsschichten. Wenn ich dann einmal nicht mehr auf der Erde sein werde, wird es immer noch Arme geben, und ich werde keine Wunder mehr an jenen vollbringen können, die an mich glauben, und werde keine Almosen mehr geben können, um Menschen zum Glauben zu führen. Dann aber werden meine reichen Freunde von mir gelernt haben, wie man Wohltaten spenden soll, und ebenso werden meine Apostel durch das Zusammensein mit mir gelernt haben, aus Liebe zu den Brüdern um Almosen zu bitten; und so werden die Armen stets Hilfe erhalten.
    Gestern habe ich von einem, der nichts hat, mehr bekommen, als von allen Vermögenden zusammen; von einem Freund, der arm ist wie ich. Aber er hat mir etwas gegeben, was man mit keiner Münze kaufen kann und was mich glücklich gemacht hat, weil er mich dadurch in meine Kinder- und Jugendzeit mit ihren vielen heiteren Stunden zurückversetzt hat, als mir jeden Abend der Gerechte (mein Pflegevater) die Hände auflegte und ich mich unter dem Schutz seines Segens zur Ruhe legte. Gestern hat mich dieser arme Freund mit seinem Segen zum König gemacht. Ihr seht also, dass keiner meiner reichen Freunde je gegeben hat, was er mir gegeben hat. Darum seid nicht besorgt, denn auch wenn ihr die Macht des Geldes nicht mehr habt, könnt ihr den Armen, den Müden und den Traurigen doch immer noch Gutes tun, wenn euch nur Liebe und Heiligkeit bleiben.
    Daher sage ich euch: Macht euch keine grossen Sorgen, weil ihr wenig besitzt. Ihr werdet immer das Notwendige haben. Sorgt euch nicht zu sehr um die Zukunft. Niemand weiss, wie lange er noch zu leben hat. Sorgt euch nicht, was ihr essen werdet, um euch am Leben zu erhalten, noch womit ihr euch kleiden werdet, um euren Körper zu wärmen. Das Leben eurer Seele ist viel kostbarer als der Leib und die Glieder; es ist viel wertvoller als Nahrung und Kleidung. Euer Vater weiss es. Darum sollt auch ihr es wissen. Betrachtet die Vögel des Himmels: sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen; und doch sterben sie nicht Hungers, denn der himmlische Vater ernährt sie. Ihr Menschen, ihr bevorzugten Geschöpfe des Vaters, seid viel wertvoller als sie.
    Wer von euch kann mit all seiner Begabung seiner Körpergrösse auch nur eine Spanne hinzufügen? Wenn euch also nicht einmal das gelingt, wie könnt ihr dann daran denken, eure zukünftigen Verhältnisse zu ändern, indem ihr euren Reichtum vermehrt, um euch ein langes und sorgenfreies Alter zu garantieren? Könnt ihr dem Tode sagen: „Du wirst mich erst holen, wenn ich es will?“ Ihr könnt es nicht! Weshalb sich um das Morgen sorgen? Und warum befürchten, einmal keine Kleider mehr zu haben? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht, sie gehen nicht zu den Stoffhändlern, um einzukaufen! Dennoch sage ich euch: nicht einmal Salomon in all seiner Pracht war jemals gekleidet wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras des Feldes so kleidet, das heute grünt und morgen dazu dient, den Ofen zu wärmen oder die Herde zu weiden und schliesslich zu Asche oder Kot wird, wieviel mehr wird er für euch sorgen, die ihr seine Kinder seid.
    Seid nicht kleingläubig! Ängstigt euch nicht wegen einer ungewissen Zukunft, sagt nicht: „Wenn ich einmal alt bin, was werde ich dann essen, was werde ich trinken und womit werde ich mich kleiden?“ Diese Sorgen überlasst den Heiden, die nicht die erhabene Gewissheit der göttlichen Vaterschaft haben. Ihr habt sie und wisst, dass der Vater eure Bedürfnisse kennt und euch liebt. Vertraut also auf ihn. Sucht zuerst das wahrhaft Notwendige: den Glauben, die Güte, die Nächstenliebe, die Barmherzigkeit, die Reinheit, die Gerechtigkeit, die Sanftmut, die drei göttlichen und die vier Haupttugenden und alle übrigen, um Freunde Gottes zu sein und ein Anrecht auf sein Reich zu besitzen. Ich versichere euch: alles übrige wird euch dazugegeben werden, ohne dass ihr eigens darum zu bitten braucht. Es gibt keinen Reicheren als den Gerechten und keinen, der unbesorgter wäre als er. Gott ist mit dem Gerechten. Der Gerechte ist mit Gott. Er bittet nicht für seinen Leib, den Gott mit dem Notwendigen versorgt, er wirkt für seine Seele, und ihr schenkt Gott sich selbst schon hier auf Erden und im Jenseits das Paradies.
    Sorgt euch daher nicht unnötig um Dinge, die der Sorge nicht wert sind. Seid betrübt, weil ihr unvollkommen seid, nicht, weil es euch an irdischen Gütern fehlt. Kümmert euch nicht um den morgigen Tag, er wird für sich selbst sorgen, und ihr sollt erst an ihn denken, wenn ihr ihn erlebt. Warum denn schon heute daran denken? Habt ihr im Leben nicht schon genug unangenehme Erinnerungen an das Gestern und quälende Gedanken von heute, als dass ihr euch auch noch die Alpträume des „was wird wohl sein?“ aufladen müsstet, die ja das Morgen betreffen? Jedem Tag genügt seine Last! Es wird immer mehr Sorgen in unserem Leben geben, als wir haben möchten, auch ohne dass wir den gegenwärtigen Sorgen noch die zukünftigen Sorgen hinzufügen. Sagt immer das grosse Wort Gottes: „Heute.“ Seid seine Kinder, nach seinem Bild erschaffen. Sagt daher mit ihm: „Heute.“
    Heute gebe ich euch meinen Segen. Er möge euch begleiten bis zum Beginn des neuen Heute: bis zum morgigen Tag, wenn ich euch wiederum den Frieden im Namen Gottes geben werde.«

 

213 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Fünfter Teil)

Es ist ein herrlicher Morgen. Die Luft ist kristallklar, und man erkennt auch die entferntesten Dinge in allen Einzelheiten, als sähe man sie durch ein Vergrösserungsglas. Von Tag zu Tag wird die Natur nun schöner und kleidet sich in das Prachtgewand des Frühlings, dessen Höhepunkt, wie mir scheint, in Palästina zwischen März und April fällt. Danach zeigen die Felder mit ihrem reifenden Korn und dem dichten Laubwerk der Bäume schon sommerliche Töne. Die grosse Menge bereitet sich vor, den Meister anzuhören.
    Alles steht in Blüte. Von der Höhe des Berges, der sogar an wenig geeigneten Stellen ganz mit Blumen übersät ist, sieht man die Ebene mit den im Winde wogenden Getreidefeldern; die noch elastischen Halme leuchten in einem hellen Blaugrün, während die Ähren bereits zartgolden sind. Über den Wogen der Kornfelder erheben sich blühende Obstbäume. Sie sehen wie riesige weisse, rosa und dunkelrote Puderquasten oder Wattebäusche aus. Die Olivenbäume, in den Gewändern büssender Asketen, beten, und ihr Gebet zeigt sich in einem noch zaghaften Schneefall von weissen Blümchen.
    Der Gipfel des Hermon, geküsst von den ersten Strahlen der Sonne, ist wie rosafarbener Alabaster. Von seiner Höhe fliessen zwei diamantene Rinnsale in die Tiefe – von hier aus sehen sie dünnen Fäden gleich – die die Sonne in fast unwirklichem Glitzern erstrahlen lässt. Sie verschwinden in den grünen Wäldern, um unten im Tal erneut aufzutauchen, wo sie zwei Bäche bilden und in den Meron fliessen, den man von hier aus nicht sieht. Dann verlassen sie, vermischt mit dem Wasser des Jordan, den See und fliessen zusammen ins helle Saphirblau des galiläischen Meeres, das durch das Sonnenspiel wie von kostbaren Schuppen übersät flimmert. Wundervolle Gärten und Felder umgeben den friedvollen, schimmernden See und es scheint, als würden die dahingleitenden Segel von den über das Himmelsmeer ziehenden Wölklein angeführt.
    Wahrlich, die Schöpfung lächelt an diesem Frühlingstag zu dieser frühen Morgenstunde.
    Die Menschen strömen unaufhörlich herbei. Aus allen Richtungen kommen sie: Alte, Gesunde, Kranke, Kinder, Eheleute, Jungvermählte, die ihren gemeinsamen Lebensweg mit dem Segen des Wortes Gottes beginnen möchten, Bettler und auch Wohlhabende, welche die Apostel herbeirufen, um ihnen Spenden für die Armen zu geben. Sie tun es an verborgenen Orten und es scheint fast, als ob sie beichten würden. Thomas hat eine der Reisetaschen der Apostel genommen und leert ruhig den ganzen Münzenschatz hinein, als ob es Hühnerfutter wäre. Dann trägt er ihn in die Nähe des Felsblockes, wo Jesus spricht. Fröhlich lachend sagt er: »Freue dich, Meister! Heute hast du genug für alle!«
    Jesus lächelt und sagt: »Wir wollen sofort anfangen, um die Betrübten gleich glücklich zu machen. Du und deine Gefährten, sucht die Kranken und die Armen und bringt sie hierher.«
    Es dauert nicht sehr lange, bis alle angehört worden sind. Doch hätte es mehr Zeit in Anspruch nehmen können ohne den praktischen Sinn von Thomas, der mit seiner lauten Stimme von einer Anhöhe aus ruft: »Alle, die körperliche Leiden haben, sollen sich rechts von mir, dort im Schatten, sammeln.« Judas Iskariot macht es ihm nach. Auch er hat eine mächtige, schöne Stimme und ruft: »Und alle, die meinen, einen Anspruch auf eine Gabe zu haben, mögen sich um mich versammeln. Doch nehmt euch in Acht und lügt nicht, denn das Auge des Meisters liest in den Herzen!«
    Es kommt nun Bewegung in die Menschenmenge, die sich beeilt, drei Gruppen zu bilden: die Kranken, die Armen und jene, die einfach nach der Lehre Jesu verlangen. Es sind aber auch zwei, dann drei Personen da, die anscheinend etwas anderes als Gesundheit oder Almosen suchen, etwas noch notwendigeres. Es sind eine Frau und zwei Männer. Sie sehen die Apostel an, wagen jedoch nicht, sie anzusprechen. Simon der Zelote geht mit ernster Miene vorbei. Petrus kommt eilfertig mit einem ganzen Schwarm von Buben daher, denen er Oliven verspricht, wenn sie bis zum Ende der Predigt Jesu ruhig bleiben, oder aber Schläge, wenn sie unruhig werden. Bartholomäus kommt alt und ernst daher. Dann sehe ich Matthäus mit Philippus mit einem Krüppel auf den Armen, für den es zu mühsam war, durch die dichte Menschenmenge nach vorne zu gelangen. Nun erscheinen die Vettern Jesu, die einen fast blinden Bettler und eine arme alte Frau, die dem Jakobus bereits mehrmals unter Tränen ihre Nöte vorgejammert hat, an den Händen halten. Jakobus des Zebedäus trägt in seinen Armen ein armes, kleines Mädchen, das sicher krank ist, denn er hat es seiner Mutter abgenommen, die ihm atemlos folgt, da sie befürchtet, die Menschenmenge könnte der Kleinen wehtun. Die letzten, die vorbeikommen, sind die – ich möchte sagen – Unzertrennlichen, Andreas und Johannes; denn wenn Johannes in seiner frohen Natürlichkeit eines heiligen Jünglings mit allen Gefährten gleichermassen zurechtkommt, so bevorzugt Andreas in seiner grossen Zurückhaltung, mit dem alten Gefährten des Fischfangs und der Zeit der Nachfolge Johannes des Täufers zusammen zu sein. Die beiden waren an der Stelle geblieben, wo die zwei Hauptwege sich treffen, um noch ankommende Menschen an ihre Plätze zu weisen. Doch nun zeigen sich keine Pilger mehr auf den steinigen Pfaden des Berges, und die beiden gehen zum Meister, um ihm die zuletzt empfangenen Almosen zu überbringen.
    Jesus hat sich bereits über die Kranken gebeugt, und die Hosannarufe der Menge künden die einzelnen Wunder an.
    Die Frau, ganz in Leid aufgelöst, wagt es, Johannes, der mit Andreas spricht und lächelt, am Gewand zu ziehen. Er beugt sich zu ihr nieder und fragt:
    »Was willst du, Frau?«
    »Ich möchte mit dem Meister sprechen.«
    »Bist du krank? Du bist doch nicht arm . . . «
    »Ich bin weder krank noch arm. Aber ich brauche ihn, denn es gibt Krankheiten ohne Fieber und Elend ohne Armut, und meine . . . meine . . . « und sie weint weiter.
    »Höre, Andreas. Die Frau hat einen seelischen Kummer und möchte ihn dem Meister anvertrauen. Wie machen wir es?«
    Andreas betrachtet die Frau und sagt: »Sicher ist es etwas, das schmerzt, wenn andere davon erfahren . . . « Die Frau nickt zustimmend mit dem Kopf. Andreas sagt: »Weine nicht . . . Johannes, führe sie hinter unser Zelt. Ich werde inzwischen den Meister holen.«
    Johannes bahnt sich lächelnd einen Weg, und Andreas geht in entgegengesetzter Richtung zu Jesus. Doch die beiden traurigen Männer haben die Szene beobachtet, und einer von ihnen hält Johannes auf, während der andere sich an Andreas wendet, und bald darauf sind die beiden zusammen mit der Frau hinter den schützenden Zweigen, die die Zeltwand bilden.
    Andreas kommt zu Jesus, als dieser gerade den Krüppel heilt und der Geheilte die beiden Krücken wie Trophäen schwingt, wie ein Tänzer hüpft und den Herrn preist. Andreas flüstert: »Meister, hinter unserem Zelte sind drei Personen, die weinen. Sie haben ein Herzeleid, das anderen verborgen bleiben soll . . . «
    »Es ist gut. Ich habe noch dieses kleine Mädchen und diese Frau, dann werde ich kommen. Sag ihnen, sie sollen Vertrauen haben.«
    Andreas geht, während Jesus sich über das Mädchen beugt, das die Mutter wieder auf ihren Schoss genommen hat.
    »Wie heisst du«, fragt Jesus.
    »Maria.«
    »Und wie heisse ich?«
    »Jesus«, antwortet das Mädchen.
    »Wer bin ich?«
    »Der Messias des Herrn, der gekommen ist, um den Menschen das Heil des Leibes und der Seele zu bringen.«
    »Wer hat es dir gesagt?«
    »Mutter und Vater, die ihre Hoffnung für mein Leben auf dich setzten.«
    »Lebe und sei brav!«
    Das Mädchen hat anscheinend eine Rückgraterkrankung, da es, obwohl es schon sieben oder etwas älter ist, nur die Hände bewegen kann und von den Achseln abwärts bis zu den Waden mit straffen Binden eingewickelt ist. Man sieht es gut, da die Mutter das Kleidchen geöffnet hat. Es bleibt für einige Minuten unbeweglich, dann zuckt es zusammen, gleitet vom Schosse der Mutter zur Erde und eilt zu Jesus, der soeben eine Frau heilt, deren Krankheit ich nicht erkennen kann.
    Die Kranken sind alle erhört worden und schreien lauter als alle anderen in der Menge, die dem „Sohn Davids, Gottes Ruhm und unser Ruhm“, zujubeln.
    Jesus geht zum Zelt. Judas Iskariot ruft: »Meister! Und diese?« Jesus wendet sich um und sagt: »Sie sollen warten, wo sie sind. Auch sie werden getröstet werden.« Dann geht er langsam hinter das Laubwerk, wo Andreas und Johannes mit den Trauernden warten.
    »Zuerst die Frau. Komm mit mir zu den Büschen. Sprich ohne Furcht.«
    »Herr, mein Mann verlässt mich wegen einer Dirne. Ich habe fünf Kinder, das jüngste ist zwei Jahre alt . . . Mein Schmerz ist gross . . . und ich denke an die Kinder . . . Ich weiss nicht, ob er sie haben will, oder ob er sie mir überlässt. Die Knaben, den ältesten wenigstens, wird er haben wollen . . . und ich, die ich ihn geboren habe, sollte mich nicht mehr an seinem Anblick erfreuen können? Was werden sie vom Vater oder von mir denken? Von einem von uns beiden müssen sie schlecht denken. Ich möchte nicht, dass sie ihren Vater verurteilen . . . «
    »Weine nicht. Ich bin der Herr über Leben und Tod. Dein Mann wird jene Frau nicht heiraten. Geh in Frieden und sei weiterhin gut.«
    »Aber du wirst ihn doch nicht töten? Oh, Herr, ich liebe ihn!«
    Jesus lächelt: »Ich werde niemanden töten. Ein anderer wird sein Werk vollbringen. Wisse, dass Satan nicht über Gott steht. Wenn du in deine Stadt zurückgekehrt bist, wirst du erfahren, dass jemand das unglückselige Geschöpf umgebracht hat, und zwar auf eine Art und Weise, die deinem Mann klarmachen wird, was er im Begriff war zu tun. Er wird dich mit einer neu erwachten Liebe lieben.«
    Die Frau ergreift die Hand, die Jesus auf ihren Kopf gelegt hat, küsst sie und geht dann weg.
    Einer der Männer kommt heran: »Ich habe eine Tochter, Herr. Zu ihrem Unglück ging sie mit ihren Freundinnen nach Tiberias und es scheint, als habe sie dort Gift geatmet. Sie ist wie liebestrunken zu mir zurückgekehrt. Nun will sie mit einem Griechen fortgehen . . . und dann . . . Warum ist sie mir geboren worden? Ihre Mutter ist krank vor Kummer und wird vielleicht sterben . . . Ich . . . nur deine Worte, die ich letzten Winter gehört habe, halten mich davor zurück, sie umzubringen. Aber ich muss es dir bekennen, mein Herz hat sie schon verflucht.«
    »Nein. Gott, der Vater, verflucht erst bei begangener Sünde und Verstocktheit. Was willst du von mir?«
    »Dass du sie umstimmst.«
    »Ich kenne sie nicht, sie wird sicher nicht zu mir kommen.«
    »Aber du kannst ihr Herz auch aus der Ferne umwandeln. Weisst du, wer mich zu dir schickt? Johanna des Chuza. Sie war gerade dabei, nach Jerusalem abzureisen, als ich zu ihrem Palast kam, um sie zu fragen, ob sie diesen infamen Griechen kenne. Ich nahm an, dass sie ihn nicht kennen würde, denn sie ist gut, obwohl sie in Tiberias wohnt . . . Aber da Chuza mit Heiden verkehrt . . . Sie kennt ihn nicht. Aber sie sagte mir: „Geh zu Jesus. Obwohl wir durch eine weite Entfernung voneinander getrennt waren, hat er zu meiner Seele gesprochen und mich zu sich gerufen, und sein Ruf bedeutete meine Heilung von der Schwindsucht. Er wird auch das Herz deiner Tochter heilen. Ich werde beten, und du, habe Vertrauen.“ Vertrauen habe ich, du siehst es. Erbarme dich, Meister.«
    »Deine Tochter wird noch heute Abend auf dem Schoss ihrer Mutter weinend um Verzeihung bitten. Sei auch du gut wie die Mutter und verzeih! Die Vergangenheit ist tot.«
    »Ja, Meister, dein Wille geschehe, und sei dafür gepriesen!«
    Er ist schon im Begriff zu gehen, doch dann wendet er sich noch einmal um: »Verzeih, Meister . . . Ich habe solche Angst . . . Die Unzucht ist ein so schlimmer Dämon! Gib mir nur einen Faden deines Gewandes. Ich werde ihn ins Kopfkissen meiner Tochter legen, so wird sie der Teufel nicht versuchen, während sie schläft.«
    Jesus lächelt und schüttelt das Haupt . . . aber er stellt den Mann zufrieden und sagt: »Damit du beruhigt bist. Doch glaube, wenn Gott sagt: „Ich will“, dann flieht der Teufel, ohne dass noch mehr nötig wäre. Du wirst es einfach als Andenken an mich behalten«, und er schenkt ihm einen kleinen Bausch seiner Fransen.
    Nun kommt der dritte Mann: »Meister, mein Vater ist gestorben. Wir glaubten, er besitze eine grössere Menge Geld, doch wir haben nichts gefunden. Das wäre alles nicht so schlimm, denn uns Brüdern fehlt es nicht an Brot. Aber ich wohnte bei meinem Vater, da ich der Erstgeborene bin, und die beiden anderen Brüder behaupten nun, ich hätte das Geld verschwinden lassen und wollen Klage wegen Diebstahls gegen mich einreichen. Du kennst meine Gesinnung. Ich habe nicht die kleinste Münze gestohlen. Mein Vater verwahrte sein Geld in einem eisernen Kästchen in einem Schrein. Nach seinem Tode öffneten wir den Schrein, und das Kästchen war nicht mehr da. Nun sagen sie: „In der Nacht, während wir schliefen, hast du es an dich genommen.“ Das ist nicht wahr. Hilf mir, dass wieder Friede und gegenseitige Achtung bei uns einkehren.«
    Jesus sieht ihn fest an und lächelt.
    »Warum lächelst du, Meister?«
    »Weil der Schuldige dein Vater ist . . . schuldig wie ein Kind, das sein Spielzeug versteckt, damit es ihm niemand wegnimmt.«
    »Aber er war nicht geizig. Glaube mir, er hat viel Gutes getan.«
    »Ich weiss es, aber er war sehr alt . . . Das sind Krankheiten des Alters . . . Er wollte es aufbewahren für euch und hat euch durch seine übergrosse Liebe gegeneinander aufgebracht. Die Kassette ist unter der Kellertreppe eingegraben. Ich sage es dir, damit du siehst, dass ich davon weiss. Während ich mit dir redete, stampfte dein jüngerer Bruder aus Zorn auf den Boden und entdeckte so zufällig das Versteck. Jetzt sind die Brüder verwirrt und bereuen, dich beschuldigt zu haben. Gehe unbeschwert nach Hause und sei gut zu ihnen. Verliere keine Worte über den Verdacht, den sie gegen dich hegten.«
    »Nein, Herr, ich gehe noch nicht. Ich bleibe hier, um dir zuzuhören. Erst morgen werde ich heimkehren.«
    »Und wenn sie dir Geld wegnehmen?«
    »Du sagst, man soll nicht habgierig sein. Ich will es nicht sein. Mir genügt es, wenn unter uns wieder Frieden herrscht. Übrigens, ich habe keine Ahnung, wieviel Geld in der Kassette war, und ich werde daher auch nicht missmutig sein über eine Mitteilung, die der Wahrheit vielleicht nicht entspricht. Ich denke auch, dass das Geld ebenso gut hätte verloren sein können. Wie ich bisher gelebt habe, so werde ich auch weiterhin leben können, sollte man mir das Geld vorenthalten. Es genügt mir, dass sie mich nicht mehr „Dieb“ nennen. «
    »Du bist auf dem Wege Gottes sehr weit fortgeschritten. Mach so weiter, und der Friede sei mit dir!«
    Auch dieser geht zufrieden weg. Jesus kehrt zur Menge zurück, zu den Armen, und verteilt nach eigenem Gutdünken die Almosen. Nun sind alle zufrieden, und Jesus kann sprechen.
    »Der Friede sei mit euch.
    Wenn ich euch die Wege des Herrn erkläre, dann tue ich es, damit ihr auf ihnen wandelt. Könnt ihr gleichzeitig die Wege, die rechts und links bergab führen, gehen? Nein, das könntet ihr nicht, denn wenn ihr den einen Weg einschlagt, dann müsst ihr den anderen verlassen. Selbst wenn beide Wege nebeneinander verlaufen würden, könntet ihr nicht lange mit dem einen Fuss auf diesem und mit dem anderen Fuss auf jenem gehen. Ihr würdet ermüden und den Tritt verfehlen, selbst wenn es um eine Wette ginge. Doch zwischen dem Weg Gottes und dem Weg Satans liegt eine grosse Entfernung, und sie wird immer grösser; so wie die beiden Wege, die hier nebeneinander beginnen, sich talabwärts immer weiter voneinander entfernen, da der eine nach Kafarnaum, der andere nach Ptolemaïs führt.
    So ist es mit dem Leben. Es verläuft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen dem Bösen und dem Guten. In der Mitte ist der Mensch mit seinem Willen, einem freien Willen; an den beiden Enden: auf der einen Seite Gott und sein Himmel, auf der anderen Satan und seine Hölle. Der Mensch kann wählen. Niemand zwingt ihn. Sagt mir nicht: „Aber Satan versucht mich . . . “, als Ausrede für den Abstieg auf dem Weg nach unten. Auch Gott lockt mit seiner Liebe, und zwar sehr mächtig: Er ruft uns mit Worten voll der Heiligkeit, und er sucht uns mit seinen verlockenden Verheissungen. Warum lässt man sich gerade von dem betören, der am wenigsten verdient, angehört zu werden? Die Worte, die Verheissungen, die Liebe Gottes, sind sie nicht ausreichend, um das Gift Satans unwirksam zu machen?
    Gebt acht, denn der Teufel vermag euch in schlimmer Weise zu schwächen. Ein kräftiger und gesunder Mensch ist zwar auch nicht immer gefeit gegen Ansteckungen, doch er überwindet sie mit Leichtigkeit. Während jemand, der schon krank und dadurch geschwächt ist, durch eine neue Ansteckung ziemlich sicher zugrunde geht; und wenn er überlebt, ist er kränker als zuvor, da sein Blut nicht mehr die Kraft besitzt, die Ansteckungskeime vollständig zu vernichten. Dasselbe gilt für den höheren Teil des Menschen. Wenn jemand moralisch und seelisch stark und gesund ist, ist er zwar nicht frei von Versuchungen, aber das Böse kann sich in ihm nicht festsetzen. Wenn ich jemand sagen höre: „Ich bin diesem oder jenem nahegekommen, ich habe dieses oder jenes gelesen, ich habe versucht, diesen oder jenen vom Guten zu überzeugen, stattdessen ist die Bosheit seines Geistes und Herzens und der schädliche Einfluss des Buches auf mich übergegangen“, dann muss ich ihm entgegnen: „Ich schliesse daraus, dass das Böse, um sich bei dir einnisten zu können, schon einen günstigen Nährboden vorgefunden hat. Das beweist, dass du ein Schwächling ohne moralischen und geistigen Widerstand bist. Denn selbst unsere Feinde können uns Gutes lehren. Wenn wir nämlich ihre Fehler beobachten, soll uns dies lehren, nicht in die gleichen Irrtümer zu verfallen. Der intelligente Mensch wird nicht zum Spielball der erstbesten Lehre, die er vernimmt. Der Mensch, dessen Geist bereits von einer Lehre durchdrungen ist, hat keinen Platz für andere Lehren. Dies erklärt auch die Schwierigkeiten, auf die man bei dem Versuch stösst, überzeugte Anhänger einer anderen Lehre für die wahre Lehre zu gewinnen. Aber wenn du mir sagst, dass du deine Ansicht bei jedem geringsten Windhauch änderst, dann sehe ich, dass in dir eine grosse Leere ist. Deine geistige Festung ist voller Risse, die Deiche deiner Gedanken sind an tausend Stellen undicht, und das gute Wasser dringt nach aussen, während das verseuchte Wasser hineingelangt; und du bist so töricht und apathisch, dass du es nicht einmal merkst und keine Vorsorge triffst. Du bist ein Unglückseliger. 17
    Daher wisst von den beiden Wegen den guten zu wählen, beschreitet ihn und widersteht jederzeit den Verlockungen der Sinne, der Welt, der Wissenschaft und des Teufels. Die Halbheiten im Glauben, die Kompromisse und die Pakte zwischen zwei gegensätzlichen Partnern, überlasst sie den Menschen der Welt. Auch sie dürften eine solche Geisteshaltung nicht annehmen, wenn sie ehrlich wären. Aber ihr, ihr wenigstens, ihr Männer Gottes, dürft sie nicht haben. Weder Gott noch Satan würde sich damit zufrieden geben. Darum duldet sie auch bei euch selber nicht; wenn in euren Werken Gutes mit Bösem vermischt ist, sind sie wertlos. Gute Taten verlieren durch die schlechten ihren Wert, denn die schlechten treiben euch geradewegs in die Arme des Feindes. Tut sie daher nicht und seid aufrichtig in eurem Dienen.
    Niemand kann zwei Herren dienen, die verschiedenen Sinnes sind. Entweder wird er den einen lieben und den anderen hassen, oder umgekehrt. So könnt ihr auch nicht gleichzeitig Gott und dem Mammon dienen. Der Geist Gottes lässt sich mit dem Geist der Welt nicht vereinbaren. Der eine führt nach oben, der andere nach unten. Der eine heiligt, der andere verdirbt. Wenn ihr aber verdorben seid, wie könnt ihr dann noch in Reinheit wirken? Die sinnliche Begierde erwacht im Verdorbenen und zieht noch andere Gelüste nach sich. Ihr wisst schon, wie Eva verführt wurde, und Adam durch sie.
    Satan küsste das Auge der Frau und bezauberte es so, dass alle Dinge, die ihr bis dahin rein erschienen waren, nun ein unreines Aussehen annahmen und in ihr eine ungewohnte Neugier weckten. Dann küsste Satan ihre Ohren und machte sie hellhörig für Worte einer unbekannten Wissenschaft der seinen. Auch der Verstand Evas wollte erfahren, was nicht notwendig war. Dann zeigte Satan den dem Bösen nun zugänglich gewordenen Augen und Verstand, was sie vorher nicht gesehen hatten. Da erwachte Eva und wurde verdorben, und das Weib ging zum Mann und enthüllte ihm das Geheimnis. Eva überzeugte Adam, von der neuen Frucht zu kosten, die schön anzusehen und bis dahin verboten war. Sie küsste ihn mit dem Mund und schaute ihn an mit den Augen, in denen schon die Verwirrung Satans war. Und die Verderbnis drang in Adam ein, der sah, und durch das Auge begehrte er nach dem Verbotenen. Mit seiner Gefährtin zusammen ass er, und sie fielen von erhabener Höhe in den Schlamm. 18
    Wenn einer verdorben ist, zieht er auch den anderen ins Verderben, sofern der andere nicht ein Heiliger im wahrsten Sinne des Wortes ist.
    Hütet eure Blicke, Männer! Sowohl die Blicke der Augen als auch die Blicke des Geistes. Sind sie verdorben, können sie nur alles übrige auch noch verderben. Das Licht des Körpers ist das Auge. Das Licht des Herzens ist dein Denken. Ist dein Auge unrein, dann wird alles in dir trübe sein, und verführerische Nebel werden in dir unreine Trugbilder erzeugen. Alles ist rein in dem, der reine Gedanken hat, die einen reinen Blick erzeugen, und das Licht Gottes steigt da, wo es die Sinne nicht behindern, machtvoll hernieder. Hast du aber dein Auge durch deinen schlechten Willen zu unreinen Betrachtungen erzogen, wird alles in dir Finsternis. Und vergeblich betrachtest du dann auch heiligste Dinge. Im Dunkel wird es nichts als Finsternis geben und du wirst Werke der Finsternis tun.
    Daher, Kinder Gottes, hütet euch vor euch selbst! Seid wachsam und hütet euch vor allen Versuchungen. Dass ihr versucht werdet, ist nichts Schlechtes. Der Wettkämpfer bereitet sich durch den Kampf auf den Sieg vor. Schlimm ist es, besiegt zu werden wegen ungenügender Vorbereitung und Unachtsamkeit. Ich weiss, dass alles der Versuchung dient. Ich weiss, dass andauernde Verteidigung zermürbt. Ich weiss, dass der Kampf ermüdet. Doch Mut! Überlegt euch, was ihr durch all dies gewinnt! Möchtet ihr für eine Stunde des Vergnügens, welcher Art es auch sei, eine Ewigkeit des Friedens verlieren? Was bleibt euch von der Sinnenlust, von der Freude am Gold und den Gedanken daran? Nichts! Was gewinnt ihr, wenn ihr auf sie verzichtet? Alles! Ich spreche zu Sündern, denn der Mensch ist ein Sünder. Sagt mir also ganz ehrlich: Wenn ihr eure Sinnenlust, euren Hochmut und euren Geiz befriedigt habt, fühlt ihr euch dann frischer, zufriedener und sicherer? Empfindet ihr nach deren Befriedigung, der immer ein Moment des Nachdenkens folgt, wirklich das Gefühl echten Glückes? Ich habe dieses Brot der Sinne nicht verkostet, doch ich antworte euch: Nein! Niedergeschlagenheit, Unzufriedenheit, Unsicherheit, Ekel, Angst und Unruhe sind die traurigen Folgen des Nachgebens.
    Aber ich bitte und sage euch: Gebt nie nach; ich sage euch ebenfalls: Seid nicht unerbittlich gegen jene, die fehlen. Denkt daran, dass ihr alle Brüder seid, aus Fleisch und Seele. Bedenkt, dass es viele Ursachen gibt, die einen Menschen zur Sünde verleiten können. Seid barmherzig mit den Sündern, helft ihnen mit Güte, sich zu erheben und führt sie zu Gott; zeigt ihnen, dass der von ihnen eingeschlagene Weg voller Gefahren für das Fleisch, den Geist und die Seele ist. Tut dies, und euer Lohn wird gross sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit den Guten und vergilt jede gute Tat hundertfach. Daher sage ich euch . . . « UNTERBRUCH

Hier teilt Jesus mir mit: »Siehe und schreibe. Das ist das Evangelium der Barmherzigkeit für alle und besonders für jene, die sich in der Sünderin wiedererkennen. Ich lade sie ein, ihr in ihrer Erlösung nachzufolgen.«

Bemerkung aus dem Hörbuch
Hier beginnt eine neue Version von Maria Valtorta, die sie ein Jahr vor der vorigen bekommen hatte, die aber chronologisch, nach dieser anschliesst.
Bitte hören sie weiterhin aufmerksam zu, sie ist sehr wichtig.

    Jesus steht auf einem Felsblock und spricht zu einer grossen Menge in einer gebirgigen Gegend, wo sich ein einsamer Hügel zwischen zwei Tälern erhebt. Der Gipfel des Hügels hat die Form eines Joches oder besser, die Form eines Kamelhöckers, so dass sich einige Meter unter der Kammlinie ein natürliches Amphitheater befindet, in welchem die Stimme klar erschallt wie in einem sehr gut gebauten Konzertsaal.
    Der Hügel ist von Blumen übersät und ich nehme an, dass die warme Jahreszeit angebrochen ist. Die Getreidefelder in den Ebenen beginnen sich gelblich zu färben und sind bald reif zur Ernte. Im Norden strahlt die schneebedeckte Kuppe eines hohen Berges in der Sonne. Darunter, im Osten, liegt das galiläische Meer wie ein in zahllose Stückchen zersplitterter Spiegel, und jeder einzelne Splitter leuchtet wie ein von der Sonne entflammter Saphir. Der See blendet mit seinem bläulichen Schimmern, nur einige Wolkenflöcklein spiegeln sich wider, die im tiefen Blau des reinen Himmels schweben wie fliehende Schatten eines Segelschiffes. Jenseits des Sees Gennesaret liegen auf den fernen Ebenen leichte Bodennebel oder vielleicht der Dunst des Taus – es müssen die ersten Morgenstunden sein, denn das Gras in der Höhe trägt noch diamantene Tautropfen – ; der Dunst scheint den See zu verlängern, aber in der Farbe eines grün geäderten Opals; dahinter zeigt sich eine Bergkette mit einem steinigen Abhang, der einem Wolkengebilde am klaren Himmel gleicht.
    Das Volk sitzt im Gras oder auf dem Steinen, und viele Leute hören auch stehend zu. Das Schar der Apostel ist nicht vollzählig. Ich sehe Petrus und Johannes, Andreas und Jakobus und höre, wie man zwei andere, nämlich Natanaël und Philippus, ruft. Ich sehe noch einen anderen, der vielleicht auch zur Gruppe gehört; er ist wahrscheinlich erst angekommen man nennt ihn Simon. Weitere sind nicht da, wenigstens sehe ich sie inmitten der vielen Leute nicht.
    Jesus hat erst vor kurzem zu sprechen begonnen. Es ist mir klar, dass es die Bergpredigt ist. Doch die Seligpreisungen sind bereits erwähnt worden. Mir scheint, dass die Rede ihrem Ende zugeht, denn Jesus sagt: »Tut dies, und euer Lohn wird gross sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit den Guten und wird hundertfach vergelten. Darum sage ich euch . . . «
    Eine starke Bewegung kommt in das Volk, das sich am Weg, der zur Hochebene hinaufführt, befindet. Die Köpfe derer in der Nähe Jesu wenden sich um. Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt. Jesus hört auf zu reden und wendet seinen Blick in dieselbe Richtung wie die anderen. Er ist ernst und schön in seinem dunkelblauen Gewand mit den auf der Brust gekreuzten Armen. Die Sonne streift sein Haupt mit dem ersten Strahl, der über den östlichen Gipfel des Hügels dringt.
    »Macht Platz, Gesindel, das ihr seid«, schreit eine zornige Männerstimme. »Macht Platz der Schönheit, die vorübergeht!« Es kommen vier aufgeputzte Gecken, von denen einer Römer sein muss, da er mit einer römischen Toga bekleidet ist. Sie tragen auf ihren Armen, die zu einem Sitz verschränkt sind, Maria von Magdala, die immer noch grosse Sünderin, im Triumph daher.
    Maria lacht mit ihrem entzückenden Mund und wirft ihren Kopf mit der goldenen Haarpracht zurück, deren Zöpfe und Locken von wertvollen Spangen, Nadeln und einem goldenen Band gehalten werden. Das mit Perlen bedeckte Band schmückt ihre Stirn wie ein Diadem, leichte Löckchen fallen darüber und verschleiern die an sich schon herrlichen Augen, die durch einen geschickten Kunstgriff noch grösser und verführerischer erscheinen. Das Diadem verliert sich hinter den Ohren unter der Fülle ihrer geflochtenen Haare, die über den weissen, blossen Nacken hängen. Die Blösse reicht sogar weit unter den Nacken. Ihre Achseln sind bis zu den Schulterblättern frei und die Brust noch weit mehr. Das Gewand wird auf den Schultern von zwei goldenen Kettchen gehalten und ist ärmellos. Alles ist sozusagen von einem Schleier bedeckt, der nur die Aufgabe hat, die Haut vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Das Kleid ist sehr leicht, und wenn sie sich in ihrem gezierten Getue einmal an diesen, dann an jenen Verehrer lehnt, ist es fast, als würde sie es mit dem nackten Körper tun. Ich habe den Eindruck, dass der Römer der Bevorzugte ist, denn ihm gelten hauptsächlich ihr Lachen und ihre Blicke, und an seine Schulter legt sie besonders gern ihren Kopf.
    »Die Göttin ist befriedigt«, sagt der Römer. »Rom hat sich zum Reittier der neuen Venus gemacht, und dort ist Apollo, den du zu sehen gewünscht hast. Verführe ihn nun, aber lass auch uns einige Brosamen deiner Gunst!«
    Maria lacht und springt mit einer behenden, herausfordernden Bewegung zu Boden und entblösst die kleinen Füsse in den weissen Sandalen mit goldenen Spangen, und auch ziemlich viel Bein. Dann deckt das weite Kleid aus leichter Wolle, das wie ein schneeweisser Schleier auf den Hüften von einem Gürtel aus goldenen Schuppen gehalten wird, alles wieder zu. Die Frau steht da wie eine Blume aus Fleisch und Blut, eine unreine Blume, durch einen Zauber auf der grünen Ebene erblüht, in der es Maiglöckchen und wilde Narzissen in grosser Zahl gibt.
    Maria von Magdala ist schön wie nie zuvor. Ihr kleiner, purpurroter Mund gleicht einer aufbrechenden Nelke, die auf dem Weiss der vollendet schönen Zähne blüht. Das Antlitz und der Körper könnten den anspruchsvollsten Maler oder Bildhauer sowohl durch die Farben als auch durch die Formen zufriedenstellen. Die volle Brust und die Hüften im rechten Verhältnis zur schmalen, geschmeidigen Taille, gleicht sie einer Göttin, wie der Römer gesagt hat . . . einer Göttin, aus zartem rosa Marmor gemeisselt, auf deren Hüften der leichte Stoff sanft aufliegt, um dann in einem reichen Faltenwurf nach vorn zu fallen. Alles ist für den Genuss der Augen ausgeklügelt.
    Jesus blickt sie fest an. Frech hält sie seinem Blick stand und lacht und windet sich unter der Berührung ihrer Schultern und Brust mit einem von dem Römer unterwegs gepflückten Maiglöckchen. Dann hebt sie unter gekünsteltem Jammern den Schleier und sagt: »Respektiert meine Unberührtheit!«, wobei die vier Männer in ein schallendes Gelächter ausbrechen.
    Jesus blickt sie weiterhin fest an. Als das Gelächter verstummt, nimmt er seine Rede wieder auf und würdigt sie keines Blickes mehr. Es ist, wie wenn das Auftauchen dieser Frau Jesus zur Wiederaufnahme der Rede entflammt hätte, die schon auf ihr Ende zuging und am Erlöschen war. Er schaut nun wieder auf seine Zuhörer, die durch den Vorfall verwirrt und entsetzt zu sein scheinen.
    Jesus fährt fort: »Ich habe gesagt, dass man dem Gesetz treu sein, demütig und barmherzig sein soll, dass man nicht nur die Menschen seines eigenen Geblütes lieben soll, sondern auch jene, die wie wir Menschen und somit unsere Brüder sind. Ich habe euch gesagt, dass Vergebung besser ist als Groll, dass Nachsicht besser ist als Unerbittlichkeit. Nun aber sage ich euch, dass man nicht verurteilen darf, wenn man nicht selbst frei von der Sünde ist, die man verurteilen will. Macht es nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die streng mit allen, aber nicht mit sich selbst sind, die unrein nennen, was äusserlich ist und nur das Äussere verunreinigen kann, und dann in tiefster Brust, im Herzen, der Unreinheit Raum gewähren.
    Gott ist nicht mit den Unreinen, denn die Unreinheit zerstört, was Gottes Eigentum ist: die Seele, und besonders die Seelen der Kinder, der auf der Erde verstreuten Engel. Wehe allen, die ihnen mit der Roheit dämonischer Bestien die Flügel ausreissen, diese Himmelsblumen in den Schmutz ziehen und in ihnen den Lebensgenuss wecken! Wehe! Es wäre besser, sie würden vom Blitz getroffen verbrennen, als einer solchen Sünde zu verfallen!
    Wehe euch Reichen und Geniessern! Gerade unter euch gärt die grösste Unreinheit, der Müssiggang und Geld als Bett und Polster dienen. Ihr seid jetzt überfüttert. Bis an die Kehle reicht euch die Speise der Begehrlichkeit und würgt euch. Aber einst werdet ihr einen Hunger kennenlernen, einen schrecklichen, unersättlichen Hunger, der nicht gelindert werden kann und ewig dauert! Jetzt seid ihr reich. Wieviel Gutes könntet ihr mit eurem Reichtum tun! Aber ihr benützt ihn zum Bösen, sowohl für euch als auch für die anderen. Eines Tages werdet ihr eine entsetzliche Armut kennenlernen, und sie wird kein Ende nehmen. Nun lacht ihr. Ihr wähnt zu triumphieren, doch eure Tränen werden die Pfuhle der Hölle (Gehenna) füllen, und sie werden endlos fliessen.
    Wo nistet sich der Ehebruch ein? Wo ist das Verderben der Mädchen? Wer hat ausser seinem Ehebett noch zwei oder drei Betten der Zügellosigkeit, auf denen er sein Geld verschwendet und die Kraft seines Körpers vergeudet, den er von Gott gesund erhalten hat, damit er für seine Familie arbeite und nicht, damit er sich in sündhaften Verbindungen aufreibe, die ihn unter ein unreines Tier erniedrigen? Ihr habt gehört, dass gesagt wurde „Du sollst nicht ehebrechen“? Ich aber sage euch, dass jeder, der eine Frau lüstern ansieht, und jede, die sich mit Begierde dem Manne nähert – und selbst, wenn es bei blosser Begierde bleibt – im Herzen bereits Ehebruch begangen hat. Kein Grund rechtfertigt den Ehebruch. Keiner! Nicht das Verlassen- und Verstossensein durch einen Ehemann. Nicht das Mitleid mit einer Verstossenen. Ihr habt nur ein Herz. Ist es durch ein Treuegelöbnis mit einem anderen verbunden, so dürft ihr nicht verleugnen, sonst wird euer schöner Körper, mit dem ihr sündigt, zusammen mit eurer unreinen Seele in das nie erlöschende Feuer geworfen. Verstümmelt ihn eher, aber tötet ihn nicht, indem ihr ihn auf ewig verdammt. Werdet wieder zu Menschen, ihr Reichen, ihr lasterhaften, wurmstichigen Gestalten, werdet wieder zu Menschen, um nicht den Himmel mit Abscheu vor euch zu erfüllen.
    Maria, die anfänglich mit einem Gesicht zugehört hat, das ein Gedicht von Verführung und Ironie war, und ab und zu ein spöttisches Kichern hören liess, wird gegen Ende der Rede schwarz vor Wut. Sie versteht, dass Jesu Worte ihr gelten, obwohl er sie nicht anblickt. Ihre wachsende Empörung wird immer aufsässiger und schliesslich kann sie nicht mehr widerstehen; sie hüllt sich verächtlich in ihren Schleier, und verfolgt von den Blicken der spottenden Menschenmenge und der Stimme Jesu, beginnt sie wütend und mit höhnischem Gelächter den Abhang hinunterzurennen und lässt ganze Fetzen ihres Kleides an den Disteln und wilden Rosensträuchern am Wegrand zurück.
    Jesus fährt fort: »Das Vorkommnis hat euch entrüstet. Seit zwei Tagen wird unser Zufluchtsort, hoch über dem Schlamm, vom Zischen der Schlange heimgesucht. Daher ist er kein Zufluchtsort mehr, und wir werden ihn verlassen. Doch ich will die Darlegung des Gesetzes des „höchst Vollkommenen“ in dieser Fülle von Licht und der Weite des Horizontes zu Ende führen. Hier zeigt Gott sich wahrlich in seiner Majestät als Schöpfer, und durch die Betrachtung seiner Wunderwerke kommen wir zum festen Glauben, dass er der Herr ist und nicht Satan. Der Böse könnte nicht einmal einen Grashalm erschaffen. Gott aber kann alles. Dies gereiche uns zum Trost. Ihr aber seid nunmehr alle der Sonne ausgesetzt, das ist nicht gut. Verteilt euch auf die schattigen und kühlen Hänge. Nehmt eure Mahlzeit ein, wenn ihr wollt. Ich werde noch über das gleiche Thema weitersprechen. Unser Aufenthalt hat sich aus verschiedenen Gründen hinausgezogen, doch ihr sollt nicht bereuen. Hier seid ihr bei Gott.«
    Die Leute rufen: »Ja, ja, bei dir!« und begeben sich zu den Hainen, die auf der östlichen Seite wachsen und einen Schutz bilden gegen die Sonne, die nun schon zu heiss herniederbrennt.
    Jesus beauftragt indessen Petrus, das Schutzdach abzubrechen.
    »Aber gehen wir wirklich weg?«
    »Ja!«
    »Weil sie gekommen ist . . . ?«
    »Ja. Aber sage es niemandem, besonders nicht dem Zeloten. Er würde traurig werden, des Lazarus wegen. Ich kann nicht zulassen, dass das Wort Gottes zum Spott der Heiden wird . . . «
    »Ich verstehe, ich verstehe . . . «
    »Dann wirst du auch etwas anderes verstehen.«
    »Was, Meister?«
    »Die Notwendigkeit, in gewissen Fällen zu schweigen. Ich lege es dir ans Herz. Du bist sehr gut, aber du bist auch so impulsiv, dass du dich zu beissenden Bemerkungen hinreissen lässt.«
    »Ich verstehe . . . du willst es nicht wegen Lazarus und Simon . . . «
    »Auch anderer wegen.«
    »Denkst du, dass heute solche hier sein werden?«
»Heute, morgen, übermorgen und immer. Immer wird es notwendig sein, das Aufbrausen meines Simon des Jona zu überwachen. Geh und tue, was ich dir gesagt habe.«
    Petrus geht und ruft seine Gefährten, damit sie ihm helfen.
    Judas Iskariot steht in Gedanken versunken in einer Ecke. Jesus ruft dreimal, aber er hört ihn nicht. Endlich dreht er sich um: »Brauchst du mich, Meister?« fragt er.
    »Ja. Nimm auch du deine Mahlzeit ein und hilf deinen Gefährten. «
    »Ich habe keinen Hunger. Du auch nicht?«
    »Ich auch nicht; aber aus ganz anderen Gründen. Bist du verwirrt, Judas?«
    »Nein, Meister, müde . . . «
    »Wir gehen zum See, Judas, und dann nach Judäa und zu deiner Mutter. Ich habe es dir versprochen.«
    Judas wird wieder lebendig: »Kommst du wirklich mit mir allein? «
    »Aber gewiss. Hab mich lieb, Judas. Ich wollte, deine Liebe zu mir wäre so gross, dass sie dich vor allem Bösen bewahrt.«
    »Meister . . . ich bin ein Mensch. Ich bin kein Engel. Ich habe Augenblicke der Müdigkeit. Ist es Sünde, das Bedürfnis nach Schlaf zu haben?«
    »Nein, wenn du an meiner Brust schläfst. Sieh dort die Leute, wie glücklich sie sind, und sieh, wie die Landschaft hier so heiter ist. Aber es muss im Frühjahr auch in Judäa sehr schön sein.«
    »Wunderschön, Meister! Nur kommt das Frühjahr im dortigen Gebirge, das höher ist als das hier, etwas später. Aber es gibt wundervolle Blumen. Die Obstgärten sind eine Pracht. Mein Obstgarten, den meine Mutter besonders pflegt, ist einer der schönsten; und wenn sie durch den Garten geht und hinter ihr her die Tauben, die darauf warten, Körner zu bekommen, dann, glaube mir, ist dies ein Anblick, der dem Herzen Frieden gibt.«
    »Ich glaube es. Wenn meine Mutter nicht zu müde ist, würde ich sie gerne zu deiner Mutter mitnehmen. Sie würden einander liebhaben, weil sie zwei gute Seelen sind.«
    Judas ist begeistert von dieser Idee, sein Gesicht erheitert sich, und er vergisst, dass er keinen Hunger hat und müde ist, und eilt lachend und fröhlich zu den Gefährten. Hochgewachsen wie er ist, löst er die obersten Knoten des Zeltes ohne Mühe und isst dann sein Brot mit den Oliven übermütig wie ein Kind. Jesus betrachtet ihn eine Weile voller Mitleid und begibt sich dann ebenfalls zu den Aposteln.
    »Hier ist Brot, Meister, und ein Ei. Ich habe es mir von dem Reichen dort im roten Gewande geben lassen. Ich habe ihm gesagt: „Du hörst ihm zu und bist selig. Er predigt und ist erschöpft. Gib mir eines von deinen Eiern. Es wird ihm besser bekommen als dir!“«
    »Aber Petrus!«
    »Nein, Herr! Du bist bleich wie ein Säugling an einer Brust ohne Milch, und du wirst dünn wie ein Fisch nach der Brunst. Lass mich machen! Ich will mir später nichts vorwerfen müssen. Nun werde ich das Ei in die warme Asche legen; es ist Reisig, das ich verbrannt habe, und dann wirst du es trinken. Weisst du, dass es schon . . . wie viele? . . . Wochen sind, dass wir nur Brot, Oliven und einige Kräuter essen und ein wenig Buttermilch trinken . . . Hm . . . Wir machen wohl eine Reinigungskur, und du isst am wenigsten von allen und sprichst für alle. Hier ist das Ei. Trink es lauwarm. Es wird dir guttun.«
    Jesus gehorcht, und da er sieht, dass Petrus nur Brot isst, fragt er: »Und du? Wo sind die Oliven?«
    »Psst . . . Ich brauche sie nachher. Ich habe sie versprochen.«
    »Wem denn?«
    »Einigen Kindern. Wenn sie aber nicht bis zum Ende schön ruhig sind, dann esse ich die Oliven selber, und sie bekommen die Kerne, nämlich Ohrfeigen.«
    »Ah, sehr schön!«
    »Nun, ich werde es nicht tun, aber wenn man es nicht so macht, dann geht es nicht. Ich habe viele Ohrfeigen bekommen. Wenn sie mir aber für alle meine Bubenstreiche welche gegeben hätten, dann wären es zehnmal mehr gewesen. Sie haben mir nicht geschadet. Ich bin so, weil ich sie gekriegt habe.«
    Alle lachen über die Aufrichtigkeit des Apostels.
    »Meister, ich möchte dir sagen, dass heute Freitag ist und diese Leute . . . ich weiss nicht, ob sie rechtzeitig Nahrungsmittel für morgen kaufen können und ob sie noch heute nach Hause gelangen«, sagt Bartholomäus.
    »Ja, es ist Freitag!« sagen mehrere zusammen.
    »Das macht nichts. Gott wird für sie sorgen. Aber wir werden es ihnen sagen.«
    Jesus erhebt sich und geht zu seinem neuen Platz, inmitten der Leute, die sich in den Hainen niedergelassen haben.
    »Zuerst möchte ich euch daran erinnern, dass Freitag ist. Ich sage es, damit alle, die befürchten, nicht mehr rechtzeitig ihre Häuser zu erreichen oder die nicht glauben können, dass Gott seinen Kindern morgen zu essen gibt, sofort nach Hause aufbrechen und nicht unterwegs vom Sonnenuntergang überrascht werden.«
    Aus der grossen Menge erheben sich nur etwa fünfzig Personen. Alle anderen bleiben, wo sie sind.
    Jesus lächelt und beginnt zu reden.
    »Ihr habt gehört, dass euren Vätern gesagt wurde: „Ihr sollt nicht ehebrechen.“ Wer unter euch mich schon anderswo reden gehört hat, weiss, dass ich öfters über diese Sünde gesprochen habe. Denn seht: für mich ist dies nicht eine Sünde, die von einer Person begangen wird, sondern von zwei oder drei Personen. Ich erkläre es euch. Der Ehebrecher sündigt selbst, und er sündigt in der Mitschuldigen seiner Tat. Ferner sündigt er, da er die betrogene Gattin oder den betrogenen Gatten zur Sünde treibt, sogar vielleicht bis zur Verzweiflung oder zum Verbrechen. Das gilt für den begangenen Ehebruch. Ich sage aber noch mehr. Ich sage: „Nicht nur die begangene Sünde ist Sünde, sondern schon das Verlangen, sie zu begehen. Was ist der Ehebruch? Er besteht in der fieberhaften Begierde nach einem Mann oder einer Frau, die uns nicht gehören. Die Sünde beginnt mit der Begierde; Verführung und Überredung setzen sie fort und vervollständigen sie, bis sie zuletzt durch die Tat ihren Abschluss findet.
    Wie beginnt die Sünde? Meistens mit einem unreinen Blick, und hier komme ich auf das zurück, was ich schon gesagt habe. Das unreine Auge sieht, was dem reinen Auge verborgen bleibt, und durch das unreine Auge dringt das heftige Verlangen in den Kopf, die Begierde in den Körper und die Leidenschaft ins Blut. Verlangen, Begierde und Leidenschaft des Fleisches – und so beginnt der Sinnenrausch. Ist die ins Auge gefasste Person ehrbar, so bleibt der Berauschte allein und verzehrt sich in der Glut seiner Leidenschaft; und vielleicht geht er gar so weit, den anderen aus Rache zu verleumden. Ist die betroffene Person aber ebenfalls unehrbar und erwidert den Blick, dann beginnt der Abstieg zur Sünde. Daher sage ich euch: „Wer eine Frau lüstern anblickt, hat mit ihr schon die Ehe gebrochen, denn in Gedanken hat er seine Begierde bereits in Tat umgesetzt.“ Wenn dir also dein rechtes Auge zum Ärgernis wird, so reiss es aus und wirf es von dir, denn es ist besser für dich, dass dir ein Auge fehlt, als dass du auf ewig in die höllische Finsternis stürzest. Gibt dir deine rechte Hand Anlass zur Sünde, so haue sie ab und wirf sie von dir, denn es ist besser für dich, ein Glied weniger zu haben, als dass dein ganzer Leib in der Hölle schmachtet. Es heisst zwar, dass ein Krüppel nicht mehr Diener im Tempel Gottes sein kann. Doch im Jenseits werden die von Geburt an Missgestalteten, die ein rechtschaffenes Leben geführt haben, oder jene, die durch Tugend zum Krüppel geworden sind, schöner als die Engel sein, und sie werden Gott dienen und ihn in der Glückseligkeit des Himmels lieben.
    Es ist euch auch gesagt worden: „Wer seine Frau entlässt, gebe ihr einen Scheidebrief“, doch ist eine solche Tat zu verwerfen, da sie nicht dem Willen Gottes entspricht. Gott sagte zu Adam: „Das ist die Gefährtin, die ich für dich erschaffen habe. Seid fruchtbar und mehrt euch, erfüllt die Erde und macht sie euch untertan.“ Adam, der in Vollkommenheit erschaffen wurde und dessen Intelligenz noch nicht durch die Sünde getrübt war, rief aus: „Das ist nun endlich Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Sie wird Mannweib heissen, denn vom Manne entnommen, ist sie mein anderes Ich. So wird der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen, und die beiden werden ein Fleisch sein.“ Mit zunehmendem Strahlen stimmte das Ewige Licht lächelnd dem Ausspruch Adams zu, der zum ersten unauslöschlichen Gesetz wurde. Wenn nun der irdische Gesetzgeber wegen der immer grösseren Härte des Menschen ein neues Gesetz schaffen musste; wenn er der stets wachsenden Unbeständigkeit Einhalt gebieten und sagen musste: „Wenn du sie schon verstossen hast, dann kannst du sie nicht mehr zurücknehmen“, so setzt dies das erste, authentische im irdischen Paradies entstandene und von Gott gebilligte Gesetz, nicht ausser Kraft.
    Ich sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt – ausgenommen im Fall nachgewiesener Unzucht – setzt sie dem Ehebruch aus. Denn in der Tat, was macht in neunzig Prozent der Fälle die verstossene Frau? Sie wird eine neue Ehe eingehen. Mit welchen Folgen? Oh, wieviel gäbe es hierüber zu sagen! Wisst ihr nicht, dass es dadurch ungewollt zu einer Blutschande kommen kann? Wie viele Tränen werden vergossen, die ihren Ursprung in der Unkeuschheit haben! Ja, Unkeuschheit. Einen anderen Namen gibt es dafür nicht. Seid ehrlich! Alles kann überwunden werden, wenn der Mensch rechtschaffen ist. Ist er jedoch unzüchtig, dient ihm alles zum Anlass, um seiner Fleischeslust zu frönen. Weibliche Gefühlskälte und Schwerfälligkeit, Unfähigkeit bei der Verrichtung von Hausarbeiten, ein Hang zum Nörgeln, Liebe zum Luxus: all dies kann überwunden werden, ja selbst Krankheit und Reizbarkeit, wenn man sich in heiliger Weise liebt. Da man sich jedoch nach einer gewissen Zeit nicht mehr so sehr liebt wie am ersten Tag, betrachtet man gleich das durchaus Mögliche als unmöglich und wirft eine Frau einfach hinaus auf die Strasse und ins Verderben.
    Wer sie verstösst, begeht Ehebruch, und wer sie nach der Verstossung heiratet, begeht Ehebruch. Nur der Tod scheidet die Ehegatten. Merkt euch dies. Habt ihr eine unglückliche Wahl getroffen, so tragt die Folgen wie ein Kreuz, lebt als zwei Unglückliche, aber Gerechte, und lasst es nicht eure Kinder büssen, denn sie sind an allem unschuldig und leiden am meisten unter diesen unseligen Verhältnissen. Die Liebe zu den Kindern sollte euch hundert und aberhundert Mal über alles nachdenken lassen, auch im Fall, dass einer der Ehegatten sterben sollte. Oh, wenn ihr euch doch mit dem zufriedengäbt, was ihr bekommen habt und wovon Gott gesagt hat: „Das genügt!“ Wenn ihr, Witwen und Witwer, doch im Tode nicht eine Beeinträchtigung sähet, sondern den Aufstieg zu einer Vervollkommnung in eurer Eigenschaft als Eltern! Mutter zu sein anstelle der verstorbenen Mutter, Vater zu sein anstelle des verstorbenen Vaters! Zwei Seelen in einer sein. Die Liebe des sterbenden Gatten von seinen kalten Lippen hinüberzunehmen für seine Kinder, um ihm sagen zu können: „Geh in Frieden und fürchte nicht für die, die aus dir geboren sind. Ich werde sie weiterlieben, sowohl für dich, als auch für mich, mit zweifacher Liebe, denn ich werde ihnen Vater und Mutter sein. Das Leid der Waisen wird nicht auf ihnen lasten, und die angeborene kindliche Eifersucht auf einen, der den ehrenvollen Platz des zu Gott Heimgerufenen einnimmt, sollen sie nicht kennen.“
    Kinder, meine Predigt geht zu Ende, so wie der Tag mit der im Westen untergehenden Sonne zur Neige geht. Ich möchte, dass ihr euch meiner Worte auf diesem Berge erinnert. Prägt sie in eure Seelen ein! Denkt oft über sie nach. Sie sollen euch ein ständiger Führer sein. Vor allem, seid gut zu den Schwachen. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denkt daran, dass der Augenblick kommen könnte, da Gott euch daran erinnert: „So hast du geurteilt, obwohl du wusstest, dass es schlecht war. Du hast also bewusst gesündigt. Büsse nun deine Schuld.“
    Die Nächstenliebe ist schon eine Lossprechung. Seid barmherzig zu allen und in allem. Wenn euch Gott immerfort beisteht, damit ihr rechtschaffene Menschen bleibt, so werdet nicht stolz. Sucht vielmehr die Leiter der Vollkommenheit emporzusteigen, auch wenn sie noch so steil ist. Reicht den Müden, den Unwissenden und den Enttäuschten die Hand. Warum betrachtest du so aufmerksam den Splitter im Auge deines Bruders und bemühst dich nicht vorher, den Balken aus deinem eigenen zu entfernen? Wie kannst du zu deinem Nächsten sagen: „Lass mich den Splitter aus deinem Auge nehmen“, wenn der Balken in deinem Auge dich blind macht? Sei nicht scheinheilig, Sohn! Entferne erst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du den Splitter bei deinem Bruder entfernen, ohne ihn zu sehr zu verletzen.
    Aber wenn ihr nicht lieblos sein dürft, so dürft ihr doch auch nicht unvorsichtig sein. Ich habe euch gesagt: Reicht den Müden, den Unwissenden und allen, die Opfer unvorhergesehener Enttäuschungen wurden, die Hand. Wenn es Nächstenliebe ist, die Unwissenden zu belehren, die Müden aufzumuntern und den Menschen neue Flügel zu geben, denen das Leben die Flügel gebrochen hat, so ist es andererseits unklug, den von Satan Angesteckten die ewigen Wahrheiten zu enthüllen. Denn ihre Absicht ist es, sich mit diesen Wahrheiten heuchlerisch als Prophet auszugeben, sich bei den Einfältigen einzuschleichen und in frevelhafter Weise die Sache Gottes irrezuführen und zu beschmutzen und schliesslich zugrunde zu richten. Absolute Ehrfurcht, das Wissen, wo gesprochen und wo geschwiegen werden soll, die Fähigkeit zu überlegen und zu handeln: das sind die Tugenden des wahren Jüngers, um Anhänger zu gewinnen und Gott zu dienen. Ihr habt eine Vernunft, und wenn ihr in Gerechtigkeit lebt, so wird euch Gott die nötige Erleuchtung geben und euren Verstand leiten. Denkt daran, dass die ewigen Wahrheiten Perlen gleichen, und nie hat man gesehen, dass Perlen Schweinen vorgeworfen wurden, die Eicheln und übelriechenden Abfall den kostbaren Perlen vorziehen. Erbarmungslos würden sie sie zertreten und danach mit der Wut eines Betrogenen auf euch losgehen und euch zerreissen. Heiliges darf nicht den Hunden vorgeworfen werden, weder jetzt, noch jemals.
    Vieles habe ich euch gesagt, meine Kinder! Hört auf meine Worte! Wer sie hört und sie befolgt, gleicht dem bedächtigen Menschen, der für den Bau seines Hauses einen felsigen Grund wählte. Gewiss kostete es viel Mühe, das Fundament zu errichten. Er brauchte Spitzhacke und Stemmeisen, seine Hände bekamen Schwielen und sein Rücken schmerzte. Doch schliesslich konnte er den Mörtel in die Felsspalten giessen und die Bausteine dicht aneinanderfügen, wie bei einer Festungsmauer. Das Haus wurde immer grösser und stark wie ein Berg. Es kamen Unwetter, Wolkenbrüche, durch die Regenfälle traten die Flüsse über die Ufer, die Winde heulten und die Wellen schlugen an das Haus, doch das Haus hielt stand. So ist es auch bei dem Menschen mit fest gegründetem Glauben. Wer jedoch oberflächlich zuhört und sich nicht bemüht, meine Worte in sein Herz einzugraben, weil er weiss, dass er sich zu sehr anstrengen müsste, dass es ihm Schmerzen bereiten würde und er zu viele tiefsitzende Dinge ausmerzen müsste, der gleicht dem Menschen, der aus Trägheit und Torheit sein Haus auf Sand baut. Kaum kommen die Unwetter, zerfällt das rasch erstellte Haus ebenso rasch, und der Törichte betrachtet untröstlich seine Trümmer und den Ruin seines Vermögens. Hier handelt es sich nicht nur um eine Ruine, die mit Aufwand und Mühe wieder hergestellt werden kann. Vielmehr ist hier das nicht tief gegründete Bauwerk des Glaubens eingestürzt und nichts mehr bleibt, um es wieder aufzubauen. Im jenseitigen Leben wird nicht mehr aufgebaut. Wehe dem, der dort mit Trümmern erscheint!
    Ich habe geendet. Nun will ich zum See hinuntergehen. Ich segne euch im Namen des dreieinigen Gottes. Mein Friede sei mit euch!«
    Doch die Menschen rufen: »Wir kommen mit dir! Lass uns mitgehen! Keiner hat Worte wie du!«
    Sie machen sich daran, Jesus zu folgen, der nun auf der dem Anstieg entgegengesetzten Seite hinabsteigt und die Richtung nach Kafarnaum einschlägt. Der Abstieg ist hier steiler, doch kürzer, und bald haben sie den Fuss des Berges erreicht, der in eine grüne und blühende Ebene ausläuft.

 

214 Heilung eines Aussätzigen am Fuße des Berges

Inmitten der vielen Blumen, die rundherum ihren Duft verbreiten und das Auge erfreuen, steht das Schreckbild eines von übelriechenden Geschwüren verunstalteten Aussätzigen.
    Die Leute schreien vor Entsetzen und flüchten bis zu den ersten Hängen des Berges. Jemand greift nach Steinen, um sie nach dem Unvorsichtigen zu werfen. Doch Jesus wendet sich mit ausgebreiteten Armen um und ruft: »Friede! Bleibt, wo ihr seid, und habt keine Angst. Legt die Steine nieder. Habt Mitleid mit dem armen Bruder. Auch er ist ein Kind Gottes.«
    Durch die Macht des Meisters bezwungen, gehorchen die Menschen und Jesus nähert sich dem Aussätzigen durch das hohe, blühende Gras bis auf wenige Schritte. Dieser ist seinerseits nähergekommen, als ihm klar geworden ist, dass Jesus ihn unter seinen Schutz genommen hat. Vor Jesus angekommen, wirft er sich nieder, und die blühenden Gräser nehmen ihn auf und benetzen ihn wie frisches, duftendes Wasser. Die wogenden Blumen schließen sich wieder über ihm, als wollten sie einen Schleier über das Elend breiten, das sich in ihrer Mitte verborgen hält. Einzig die Stimme, die wehklagend daraus ertönt, erinnert daran, dass sich hier ein armseliges Wesen befindet. Er ruft: »Herr, wenn du willst, kannst du mich rein machen. Habe auch mit mir Erbarmen!«
    Jesus antwortet: »Erhebe dein Angesicht und sieh mich an. Der Mensch muss zum Himmel aufschauen können, wenn er an ihn glaubt, und du glaubst, da du um Heilung bittest.«
    Wieder bewegen sich die Gräser, und ein Kopf taucht auf, wie der eines Schiffbrüchigen im Meer; ein kahler Kopf, ein Gesicht ohne Bart, ein Totenschädel, an dem noch Reste von Fleisch hängen. Dennoch wagt Jesus, seine Fingerspitzen auf diese Stirn zu legen, auf die Stelle, die noch rein und ohne Wunden ist, auf die aschgraue, schuppige Haut zwischen zwei eiternden Geschwüren, von denen eines die Kopfhaut zerfressen hat und das andere ein Loch bildet. Dieses große Loch, das von der Schläfe zur Nase reicht und den Backenknochen und das Nasenbein freilegt, ist voller Eiter, so dass ich nicht sehen kann, ob der Augapfel noch vorhanden ist oder nicht.
    Während Jesus nun mit der Spitze seiner schönen Hand die noch unverwundete Stelle berührt, sagt er: »Ich will es. Sei rein!«
    Wie, wenn der Mann nicht vom Aussatz zerfressen und von Wunden bedeckt, sondern nur voller Schmutz wäre und sich reinigendes Wasser über ihn ergießen würde, so verschwindet der Aussatz zusehends. Zuerst schließen sich die Wunden, dann wird die Haut rein, das rechte Auge erscheint unter dem neu gebildeten Augenlid und über den gelblichen Zähnen schließen sich die nun wieder vorhandenen Lippen. Nur Kopf- und Barthaar fehlen noch, mit Ausnahme weniger Haarbüschel an den Stellen, wo es vorher noch gesunde Haut gab.
    Die Menge schreit vor Staunen, und der Mann begreift durch diese Jubelrufe, dass er geheilt sein muss. Er erhebt die Hände, die bisher noch vom Gras verborgen waren, und greift an sein Auge, dorthin, wo das große Loch war; er greift an den Kopf, dorthin, wo die große Wunde den Schädelknochen freigelegt hatte, und er spürt die neue Haut; schließlich steht er auf und betrachtet auch seine Brust, seine Lenden . . . Alles ist gesund und rein . . . Von Freude überwältigt, sinkt der Mann zu Boden und weint in der blumigen Wiese.
    »Weine nicht! Steh auf und höre mich an. Kehre gemäß dem gebotenen Ritus ins Leben zurück und sprich mit niemandem, bevor du der Vorschrift nicht nachgekommen bist. Stelle dich so bald als möglich dem Priester vor und bringe das von Mose vorgeschriebene Opfer dar als Zeugnis deiner wunderbaren Heilung.«
    »Für dich sollte ich Zeugnis ablegen, Herr!«
    »Du wirst es tun, indem du meine Lehre liebst. Geh nun!«
    Die Menge ist etwas nähergekommen und beglückwünscht aus gebührender Entfernung den Geheilten. Einige haben das Bedürfnis, ihm eine Wegzehrung für die Reise zu geben und werfen ihm Münzen zu. Andere werfen ihm Brote und sonstige Esswaren zu, und einer, der gesehen hat, dass sein Gewand nur ein löchriger Fetzen ist, nimmt seinen Mantel ab, knüpft ihn zusammen wie ein Taschentuch und wirft ihn dem Geheilten zu, damit er sich in geziemender Weise bedecken kann. Da die Nächstenliebe in der Gemeinschaft ansteckend wirkt, kann ein anderer Mann es nicht lassen, ihm seine Sandalen zu schenken. Er zieht sie aus und wirft ihm auch diese zu.
    »Aber . . . und du?« fragt Jesus, der seine gute Tat sieht.
    »Oh, ich bin in der Nähe zu Hause. Ich kann barfuß gehen. Er hingegen hat einen weiten Weg vor sich.«
    »Gott segne dich und alle, die den Bruder beschenkt haben. Mann, du aber wirst für diese beten!«
    »Ja, ja, für sie und für dich, damit die Welt an dich glaube!«
    »Leb wohl! Geh im Frieden.«
    Der Mann entfernt sich einige Meter, dann wendet er sich um und ruft: »Aber dem Priester darf ich sagen, dass du mich geheilt hast?«
    »Das ist nicht notwendig. Sage nur: „Der Herr hat mir Barmherzigkeit erwiesen.“ Das ist die ganze Wahrheit, und mehr braucht es nicht.«
    Die Menschen umringen den Meister und bilden einen Kreis, der sich um keinen Preis öffnen will. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, und die Sabbatruhe hat begonnen. Die Dörfer sind weit entfernt. Aber die Menschen trauern weder ihrem Zuhause noch dem Essen nach, nichts. Die Apostel hingegen machen sich deshalb Sorgen und sagen es Jesus. Auch die älteren Jünger machen sich Gedanken. Es sind Frauen und Kinder da, und wenn die Nacht auch warm und das Gras der Wiesen weich ist, so sind doch die Sterne nicht Brot, und die Steine des Rains werden nicht zur Nahrung.
    Jesus ist der Einzige, der sich nicht beunruhigt. Die Leute essen inzwischen die Reste ihres Vorrats, als ob nichts wäre. Jesus macht die Seinen darauf aufmerksam: »Wahrlich, ich sage euch, dass euch diese übertreffen! Seht, mit welcher Unbekümmertheit sie alles aufbrauchen. Ich habe ihnen gesagt: „Wer nicht glauben kann, dass Gott seinen Kindern morgen Nahrung gibt, soll nach Hause gehen“; sie sind hiergeblieben. Gott wird seinen Messias nicht verleugnen und wird die nicht enttäuschen, die auf ihn hoffen.«
    Die Apostel zucken die Schultern und kümmern sich um nichts mehr.
    Der Abend sinkt nach einem herrlichen Abendrot friedlich und schön hernieder, und die ländliche Stille breitet sich nach einem letzten Gesang der Vögel über alles aus. Einige leichte Windstöße, und dann der erste lautlose Flug eines Nachtvogels, zusammen mit dem ersten Stern und dem ersten Quaken eines Frosches.
    Die Kinder schlafen schon. Die Erwachsenen reden noch miteinander, und ab und zu geht jemand zum Meister, um irgendeine Erklärung zu erbitten. So ist man nicht erstaunt, als auf einem Feldweg zwischen zwei Getreidefeldern ein Mann von stattlichem Aussehen daherkommt, sowohl was sein Gewand als auch sein Alter anbelangt. Es folgen ihm einige Männer. Alle wenden sich um und machen einander flüsternd auf die Neuankömmlinge aufmerksam. Das Geflüster geht von einer Gruppe zur anderen, sich bald neu erhebend und bald verstummend, und die entfernteren Gruppen kommen, von Neugier getrieben, näher.
    Der Mann mit dem vornehmen Aussehen hat nun Jesus erreicht, der unter einem Baume sitzt und einigen Männern zuhört: er grüßt ihn mit einer tiefen Verneigung. Jesus erhebt sich sogleich und antwortet mit gleichem Respekt. Die Anwesenden betrachten alles sehr aufmerksam.
    »Ich war auf dem Berge, und du hast vielleicht gedacht, ich hätte keinen Glauben und wäre aus Angst vor dem Fasten weggegangen. Doch es gab einen anderen Grund. Ich wollte Bruder unter Brüdern sein, der ältere Bruder. Ich möchte unter vier Augen mit dir über meinen Gedanken sprechen. Willst du mich anhören? Obwohl ich Schriftgelehrter bin, bin ich nicht dein Feind.«
    »Lass uns etwas abseits gehen . . . « Sie begeben sich zwischen die Getreidefelder.
    »Ich wollte nur für die Nahrung der Pilger sorgen und bin hinuntergegangen, um anzuordnen, dass Brot für eine große Menge Leute gebacken wird. Du siehst, dass ich mich im gesetzlich erlaubten Bereich befinde, da diese Felder mir gehören, und so darf ich den Weg von hier bis zum Gipfel am Sabbat gehen. Da ich weiß, dass du dich mit den Leuten hier befindest, würde ich morgen mit den Dienern hierher kommen. Ich bitte dich deshalb, mir zu gestatten, die Menge am Sabbat mit Brot zu versorgen. Anderenfalls wäre ich sehr darüber betrübt, vergeblich auf deine Worte verzichtet zu haben.«
    »Vergeblich niemals, denn der Vater hätte dich dafür mit seinem Licht belohnt. Doch ich danke dir und enttäusche dich nicht. Ich mache dich nur darauf aufmerksam, dass es eine große Menschenmenge ist.«
    »Ich habe alle Backöfen heizen lassen, auch jene, die zum Dörren von Lebensmitteln verwendet werden, und so werde ich Brot für alle haben.«
    »Ich meine nicht deswegen, sondern wegen der großen Menge Brot . . . «
    »Oh, das macht mir nichts aus. Im vorigen Jahr hatte ich sehr viel Korn. Dieses Jahr kannst du dich selbst überzeugen, wie prächtig die Ähren stehen. Lass mich nur machen. Es bietet die beste Sicherheit für meine Felder. Übrigens, Meister . . . Du hast mir heute ein solch köstliches Brot gegeben . . . Wahrlich, du bist das Brot der Seele! . . . «
    »Es geschehe also nach deinem Wunsche. Komm, wir wollen es den Pilgern sagen.«
    »Nein. Du hast gesagt, dass Gott sorgen wird.«
    »Und du bist Schriftgelehrter?«
    »Ja, das bin ich.«
    »Der Herr möge dich führen, wie dein Herz es verdient.«
    »Ich verstehe, was du nicht aussprichst. Du meinst zur Wahrheit. Denn bei uns gibt es viele Irrtümer und . . . und viel Übelwollen.«
    »Wer bist du?«
    »Ein Sohn Gottes. Bitte beim Vater für mich. Leb wohl.«
    »Der Friede sei mit dir!«
    Jesus kehrt langsam zu den Seinen zurück, während der Mann sich mit seinen Dienern entfernt.
    »Wer war das? Was wollte er? Hat er etwas Unangenehmes zu dir gesagt? Hat er Kranke?«
    Jesus wird mit Fragen bestürmt.
    »Wer er ist, weiß ich nicht. Aber wer immer er auch sein mag, ich weiß, dass es eine gute Seele ist, und dies ist mir . . . «
    »Es ist Johannes, der Schriftgelehrte«, sagt jemand aus dem Volk.
    »Nun gut. Jetzt weiß ich es, da du es sagst. Er wollte ganz einfach Diener Gottes sein und Gutes tun für seine Kinder. Betet für ihn, denn morgen werden wir alle durch seine Güte zu essen haben.«
    »Er ist wahrlich ein Gerechter«, sagt ein Mann.
    »Ja; aber ich weiß wirklich nicht, wie er ein Freund der anderen sein kann . . . «, bemerkt ein anderer.
    »Er ist wie ein Neugeborener, in Skrupel und Vorschriften eingepackt . . . doch er ist nicht schlecht«, fügt ein dritter hinzu.
    »Sind das hier seine Felder?« fragen mehrere, die nicht aus der Gegend sind.
    »Ja. Ich nehme an, dass der Aussätzige vielleicht einer seiner Diener oder Pächter war, aber er duldete seine Nähe und ich vermute, dass er ihm auch zu essen gab.«
    Jesus entzieht sich all diesen Bemerkungen, ruft seine zwölf Apostel zu sich und fragt:
    »Was soll ich nun zu eurer Ungläubigkeit sagen? Hat der Vater nicht Brot für uns alle in die Hände eines Menschen gelegt, der mir durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht sogar feindlich gesinnt sein müsste. Oh, ihr kleingläubigen Menschen! . . . Geht ins weiche Heu und schlaft. Ich will den Vater bitten, er möge euch die Herzen öffnen, und ihm für seine Güte danken. Der Friede sei mit euch!«
    Dann begibt sich Jesus zu den langsam ansteigenden Hängen des Berges. Dort setzt er sich nieder und sammelt sich im Gebet. Er erhebt die Augen zum Himmel und erblickt das Meer der Sterne, die den Himmel bedecken und, den Blick senkend, die vielen Menschen, die auf den Wiesen schlafen. Nichts anderes. Doch die Freude, die er im Herzen verspürt, ist so groß, dass er wie zu Licht geworden und ganz verklärt scheint . . .

 

215 Am Sabbat nach der Bergpredigt am Fuße des Berges

Jesus ist während der Nacht wieder ein Stück weit den Berg hinaufgestiegen, und man sieht ihn im Morgenrot auf einem Felsvorsprung stehen. Petrus, der ihn zuerst entdeckt, macht die anderen Apostel auf ihn aufmerksam, und so steigen sie zu ihm hinauf.
    »Meister, warum bist du nicht mit uns gekommen?« fragen einige.
    »Ich musste beten.«
    »Aber du hast es auch sehr nötig, dich auszuruhen.«
    »Freunde, in der Nacht hat eine Stimme vom Himmel mich aufgefordert, für die Guten und die Bösen, und auch für mich selber zu beten.«
    »Warum? Hast du das denn nötig?«
    »Wie die anderen. Ich schöpfe meine Kraft aus dem Gebet und meine Freude aus der Erfüllung des Willens des Vaters. Der Vater hat mir zwei Namen genannt und von einem Schmerz, der mich treffen wird, gesprochen. Es geht um drei Dinge, die des Gebetes sehr bedürfen.« Jesus ist sehr traurig und schaut seine Apostel mit flehenden und fragenden Augen an. Sein Blick wandert von einem Jünger zum anderen und verweilt dann bei Judas Iskariot.
    Der Apostel bemerkt es und fragt: »Warum schaust du mich so an?«
    »Ich sah nicht dich. Mein Auge betrachtete etwas anderes . . . «
    »Und das wäre?«
    »Das Wesen des Jüngers. Alles Gute und alles Schlechte, dass ein Jünger geben kann, dass er für seinen Meister tun kann. Ich dachte an die Jünger der Propheten und an jene des Johannes, und ich dachte an meine eigenen. Ich betete für Johannes, für die Jünger und für mich . . . «
    »Du bist heute Morgen traurig und müde, Meister. Sage denen, die dich lieben, deinen Kummer«, ermuntert ihn Jakobus des Zebedäus.
    »Ja, sag es, und wenn wir dir irgendwie eine Erleichterung verschaffen können, dann werden wir es tun . . . «, sagt der Vetter Judas.
    Petrus spricht mit Bartholomäus und Philippus, doch ich verstehe nicht, was sie sagen.
    Jesus antwortet: »Gut sein, bemüht euch, gut und treu zu sein. Das ist Erleichterung. Etwas anderes gibt es nicht, Petrus, hast du verstanden? Lasst alle Mutmaßungen beiseite. Liebt mich und liebt euch gegenseitig. Lasst euch nicht von jenen, die mich hassen, verleiten, und liebt es vor allem, den Willen Gottes zu erfüllen.«
    »Aber, wenn alles davon abhängt, dann sind auch unsere Fehler Gottes Wille!« ruft Thomas mit philosophischer Miene aus.
    »Das meinst du, aber es ist nicht so. Nun sind viele Leute aufgewacht und schauen zu uns herauf. Lasst uns hinabsteigen und den heiligen Tag mit dem Wort Gottes heiligen.«
    Sie steigen den Berg hinab, während immer mehr Menschen erwachen. Die Kinder, fröhlich wie Spatzen, rennen und springen zwitschernd und schwatzend in den taunassen Wiesen umher, was hier und dort einen Klaps und Tränen zur Folge hat. Doch dann eilen die Kinder zu Jesus, der sie liebkost und dabei sein Lächeln wiederfindet als ob sich in ihm diese unschuldige Fröhlichkeit widerspiegelte. Ein kleines Mädchen will ihm einen Blumenstrauß, den es auf den Wiesen gepflückt hat, in den Gürtel stecken, „denn das Kleid ist so schöner“, sagt es. Jesus lässt es geschehen, obgleich die Apostel dagegen murren, und sagt: »Aber, freut euch doch, dass sie mich lieben! Der Tau reinigt die Blumen vom Staub, die Liebe der Kinder nimmt von meinem Herzen die Traurigkeit.«
    Gleichzeitig mit Jesus, der vom Berg herunterkommt, trifft auch Johannes, der Schriftgelehrte, von zu Hause mit vielen Dienern bei der Menge ein. Beladen mit Körben voller Brote, Oliven, kleinen Käsen und einem Lämmlein oder Ziegenböcklein, das für den Meister gebraten wurde, kommen sie an und legen ihm alles zu Füßen. Jesus übernimmt die Verteilung selbst, indem er jedem ein Brot und ein Stück Käse mit einer Handvoll Oliven überreicht. Einer Mutter aber, die noch einen rundlichen Säugling an der Brust hat, der schon seine ersten Zähnchen zeigt und lacht, gibt er mit dem Brot noch ein Stück des gebratenen Lammes, und so macht er es auch mit zwei oder drei anderen, die in ihm den Eindruck erwecken, dass sie einer besonderen Stärkung bedürfen.
    »Aber es ist für dich bestimmt«, sagt der Schriftgelehrte.
    »Ich werde davon kosten, keine Sorge. Aber wenn ich weiß, dass deine Güte vielen gilt, dann wird es mir umso mehr munden.«
    Die Verteilung ist beendet und die Leute knabbern an ihrem Brot, behalten aber etwas davon für später zurück. Jesus trinkt ein wenig Milch, die ihm der Schriftgelehrte aus einer Feldflasche, ähnlich einem Krüglein, in eine kostbare Schale gegossen hat.
    »Du musst mir jedoch die Freude machen, dir zuhören zu dürfen«, sagt Johannes, der Schriftgelehrte, der von Hermas sehr ehrerbietig und von Stephanus noch respektvoller begrüßt worden ist.
    »Ich verweigere es dir nicht. Komm und bleib hier, mir gegenüber! « Jesus, den Rücken dem Berg zugewandt, beginnt zu reden.
    »Der Wille Gottes hat uns an diesem Ort zurückgehalten, denn, den eingeschlagenen Weg noch weiter zu gehen hätte bedeutet, die Gebote zu übertreten und Ärgernis zu geben; und dies darf nie geschehen, bis einmal der Neue Bund Gültigkeit haben wird. Es ist richtig, die Feiertage zu heiligen und den Herrn an den Stätten des Gebetes zu loben. Doch die ganze Schöpfung kann zur Stätte des Gebetes werden, wenn das Geschöpf seinen Geist zum Vater erhebt.
    So war auch die Arche Noahs während der Sintflut eine Stätte des Gebetes, so der Bauch des Walfisches für Jona, das Haus des Pharao, als Josef dort lebte, und das Zelt des Holofernes durch die keusche Judit. War denn der lasterhafte Ort, an dem der Prophet Daniel als Sklave lebte, dem Herrn nicht gerade deshalb heilig, weil ihn sein Diener durch seine Heiligkeit dem Herrn wohlgefällig machte: eine Heiligkeit, die ihn würdig werden ließ, als Prophet die Weissagung über Christus und den Antichrist zu verkünden, die als Schlüssel für die heutige Zeit und für die Endzeit dienen soll? Mit wieviel größerem Recht ist also dieser Ort heilig, der mit seinen Farben, seinen Düften, der reinen Luft, den reichen Getreidefeldern und den Tauperlen von Gott, dem Vater und Schöpfer, kündet und uns sagt: „Ich glaube. Möget daher auch ihr glauben, denn wir legen Zeugnis ab für Gott.“ So soll uns Gottes Natur an diesem Sabbat die Synagoge sein, wo uns Blumenkelche und Getreideähren diese immerwährenden Worte verstehen lassen und wo uns die Sonne als heiliger Leuchter dient.
    Ich habe euch Daniel zitiert. Ich habe euch gesagt: „Dieser Ort soll unsere Synagoge sein.“ Daher erinnere ich an das freudige „Loblied der Schöpfung“ der drei heiligen Jünglinge in den Flammen des Feuerofens: Himmel und Wasser, Tau und Rauhreif, Eis und Schnee, Feuer und Hitze, Licht und Finsternis, Blitze und Wolken, Berge und Hügel, alles, was da keimt und sprießt, alle Vögel, Fische und alles Getier, lobet und preiset den Herrn mit den Menschen, die ein demütiges und reines Herz haben. Das ist die Zusammenfassung dieses heiligen, für die Demütigen und Gerechten so lehrreichen Hymnus. Beten und uns den Himmel verdienen können wir an jedem Ort. Wir werden seiner würdig, wenn wir den Willen des Vaters tun. Am frühen Morgen hat jemand bemerkt, dass, wenn alles vom Willen Gottes abhängt, auch die menschlichen Fehler sein Wille sind. Das ist jedoch ein Irrtum, und zwar ein weitverbreiteter. Kann ein Vater wollen, dass das Verhalten seines Kindes zum Tadel Anlass gibt? Nein, das ist nicht möglich. Trotzdem können wir auch in den Familien beobachten, wie einige Kinder das Missfallen ihrer Eltern erregen, obwohl sie einen gerechten Vater haben, der sie lehrt, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Kein rechtdenkender Mensch wird deshalb den Vater beschuldigen, er hätte sein Kind zum Bösen angehalten.
    Gott ist der Vater. Die Menschen sind die Kinder. Gott weist auf das Gute hin und sagt: „Ich versetze dich zu deinem Wohle in diese Lebenslage.“ Oder auch, wenn der Böse und seine menschlichen Helfer dem Menschen Schaden zufügen und ihn ins Unglück stürzen, sagt Gott: „In dieser schmerzlichen Stunde musst du nun so handeln, dann wird dir das Leid zum ewigen Heil dienen.“ Gott gibt Ratschläge, aber er zwingt euch nie. Wenn nun jemand, obwohl er den Willen Gottes kennt, es vorzieht, das Gegenteil zu tun, kann man dann noch sagen, dass dieser Ungehorsam der Wille Gottes sei? Man kann es nicht!
    Liebet den Willen Gottes. Liebet ihn mehr als euren eigenen und befolgt ihn trotz der verführerischen und machtvollen Kräfte der Welt, des Fleisches und des Dämons, die ebenso ihre Forderungen stellen. Doch in Wahrheit sage ich euch, dass jeder, der sich ihnen beugt, ein wahrhaft Unglücklicher ist. Ihr nennt mich „Messias“ und „Herr“. Ihr sagt, dass ihr mich liebt und jubelt mir zu. Ihr folgt mir, und allem Anschein nach liebt ihr mich. Aber in Wahrheit sage ich euch: nicht alle von euch werden mit mir ins Himmelreich eingehen. Auch unter meinen ersten und mir am nächsten stehenden Jüngern werden solche sein, die dort nicht eingehen werden, denn viele werden ihren Willen oder den Willen des Fleisches, der Welt und des Dämons tun, doch nicht den meines Vaters.
    Nicht, wer zu mir sagt: „Herr, Herr“, wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut. Nur diese werden in das Reich Gottes eingehen. Der Tag wird kommen, an dem ich, der ich zu euch spreche, nicht mehr Hirte, sondern Richter sein werde. Lasst euch nicht von meinem jetzigen Verhalten verleiten. Zurzeit sammelt mein Hirtenstab alle zerstreuten Seelen, und er ist sanft und lädt euch ein, zu den Weiden der Wahrheit zu kommen. Dann aber wird der Hirtenstab durch das Zepter des Richter-Königs ersetzt werden, und meine Macht wird eine ganz andere sein. Nicht mit Sanftheit, sondern mit unerbittlicher Gerechtigkeit werde ich dann die Schafe, die sich von der Wahrheit genährt haben, von jenen trennen, die Wahrheit mit Irrtum vermischt oder sich nur vom Irrtum genährt haben.
    Ein erstes und ein zweites Mal werde ich dies tun. Wehe denen, die sich zwischen ihrem ersten und zweiten Erscheinen (dem einzelnen Gericht und dem Endgericht) vor dem Richter nicht gereinigt haben; sie werden sich nicht mehr von ihren Giften des Bösen reinigen können. Die dritte Kategorie wird sich nie reinigen können; keine Strafe kann sie reinwaschen. Sie haben nur den Irrtum gewollt, und im Irrtum sollen sie verbleiben. Unter ihnen werden viele sein, die dann jammernd zu mir sagen: „Aber Herr, warum? Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, Dämonen ausgetrieben und viele Wunder gewirkt?“
    Dann werde ich ihnen klar und deutlich sagen: „Ja, ihr habt es gewagt, euch meines Namens zu bedienen, um als etwas aufzutreten, was ihr nicht seid. Ihr wolltet mit eurem Satanismus ein Leben in Jesus vortäuschen.19 Doch die Früchte eurer Werke klagen euch an. Wo sind eure Geretteten? Wo haben sich eure Prophezeiungen erfüllt? Was war das Ergebnis eurer Exorzismen? Wer stand bei euren Wundern Pate? Oh, wohl ist mein Feind mächtig, aber er übertrifft mich nicht. Er hat euch geholfen, jedoch um seine Beute zu vergrößern, und durch euer Wirken hat sich der Kreis der den Irrlehren Verfallenen erweitert. Ja, ihr habt Wunder vollbracht und scheinbar größere als die wahren Diener Gottes, die nicht mit Gauklerkünsten das Volk verwirren, sondern die Engel durch ihre Demut und ihren Gehorsam in Erstaunen versetzen. Jene, meine wahren Diener, schaffen mit ihren Opfern keine Trugbilder, sondern verbannen sie vielmehr aus den Herzen. Meine wahren Diener drängen sich den Menschen nicht auf, sondern zeigen den Seelen der Menschen Gott den Herrn. Sie tun nichts anderes als den Willen Gottes, und sie bringen auch andere dazu, den Willen Gottes zu erfüllen – so wie die Woge die vorangehende vorwärtstreibt und die nachkommende mitzieht – ohne sich dabei in den Vordergrund zu stellen und auszurufen: „Seht doch!“ Meine wahren Diener tun, was ich sage, und hegen nur den einen Gedanken: meinen Willen zu erfüllen; und ihre Werke tragen mein untrügliches Merkmal des Friedens, der Sanftmut, der Ordnung. Daher kann ich euch sagen: diese sind meine Diener, euch hingegen kenne ich nicht. Weichet von mir alle, die ihr Werke der Bosheit vollbracht habt.“
    Dies werde ich alsdann über jene aussprechen, und es wird ein furchtbares Urteil sein. Sorgt dafür, dass ihr diesen Richterspruch nicht verdient und geht den sicheren, wenn auch mühevollen Weg des Gehorsams der Herrlichkeit des Himmelreiches entgegen. Genießt nun eure Sabbatruhe und lobt Gott von ganzem Herzen. Der Friede sei mit euch allen!«
    Jesus segnet die Menschen, bevor sie sich auf der Suche nach Schatten zerstreuen. In den vielen Gruppen, die sich bilden, unterhält man sich über die eben gehörten Worte.
    Bei Jesus verbleiben die Apostel und der Schriftgelehrte Johannes, der nicht spricht, sondern in tiefe Betrachtung versunken Jesus in allen seinen Bewegungen beobachtet.

Die Bergpredigt ist zu Ende.


 

 

13 Der heilige Augustinus sagt: Gott kann man nicht erklären, er kann nicht mit
dem Geist erfasst werden: Er ist!
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14 Der heilige Thomas von Aquin sagt mit Recht: »Gott hätte keine grösseren göttlichen Werke vollbringen können, als jene drei: Die Menschwerdung des Sohnes, die Mutterschaft der heiligsten Jungfrau und die Vergöttlichung der menschlichen Seele.« Auch der heilige Augustinus sagt: »Die Seelen sind durch den Vater am Geheimnis der ewigen Zeugung in göttlicher Weise beteiligt und durch den Vater und den Sohn an der Ausgiessung des Heiligen Geistes.« Daher wird die durch die Gnade Gottes Gott ähnlich gewordene Seele in ihrer Teilhabe und ihrem Wirken mit den drei göttlichen Personen vergöttlicht, und das ist das erhabenste Werk der unendlichen Liebe, die uns Geschöpfe zu vergöttlichten Geschöpfen erhebt. ZURÜCK

15 Der Geist Gottes erleuchtet und offenbart sich um so mehr, je mehr er Wohnung findet in einer reinen Seele, die sich aller Nichtigkeiten, die den ungeistigen und areligiösen Menschen erfüllen, entledigt hat. Befreit sich der Mensch von irdischen und hinfälligen Dingen, so erfüllt Gott seine Leere mit sich selbst und der reingewordene oder, noch besser, stets rein gebliebene Mensch schaut und begreift Gott im Geiste. So wie Gott ihn besitzt, besitzt er Gott auf geheimnisvolle Weise, soweit dies beim Menschen, der immer noch in der Verbannung lebt, möglich ist. Er besitzt Gott durch sein sehnliches Verlangen, und Gott, der seine Kinder besitzen will, entspricht diesem Verlangen. Das ist das kleine Paradies auf Erden, als Vorbote der ewigen und vollkommenen Seligkeit im Himmel. ZURÜCK

16 Gott liebt die Friedfertigen, weil sie ganz Liebe sind, denn die Liebe flösst Gefühle des Friedens ein, und der Friede wiederum stellt die Liebe unter den Brüdern her. Es ist, als ob Gott selbst sich in ihren Dienst stellen würde, um sie in ihrer Friedenssendung zu unterstützen, die eine seiner wunderbarsten Eigenschaften unter den Menschen vervielfältigt. ZURÜCK

17 Die durch seine Natur bedingten Lücken füllt der Mensch mit natürlichen Dingen aus, die oft nicht gut sind. Immer jedoch stehen sie dem Eindringen Gottes im Weg. Gelingt es aber, sich von diesem Hindernis, dem Menschlich- Natürlichen, zu befreien, dann füllt Gott die entstandene Leere mit sich selber aus und macht sie zu seiner Wohnstätte. Dann wird in uns das Reich Gottes errichtet, das so lange andauert, bis wir in sein Reich, den Himmel, eingehen, den wir durch unseren treuen, liebevollen guten Willen verdient und geerbt haben. ZURÜCK

18 Um Einwendungen vorzubeugen, erkläre ich, worin die Verführung des Auges und des Ohres Evas bestand. Man überlege und beachte, dass es sich um einen geistigen Kuss handelte, um eine intellektuelle Lehre über die Bosheit, um eine Neugierde zu erwecken, die anfänglich geistiger Natur war, so wie auch die von Gott gestellte Prüfung geistig war, um Adam und Eva in der Gnade zu festigen: Im Gehorsam gegenüber dem einzigen Gebot Gottes. Die anfänglich geistige Neugierde entartete zu einer Neugierde für das Stoffliche, die sich immer mehr dem Fleischlichen zuwandte. Eva war ganz Gnade und Unschuld, mit einer Fülle übernatürlicher Gaben ausgestattet und sah und erkannte Gott und sich selbst in Gerechtigkeit, als ein zur übernatürlichen Höhe des Kindes Gottes erhobenes Geschöpf. Sie sah und erkannte ihr Verhältnis als Geschöpf zu ihrem Schöpfer, den Unterschied zwischen ihm und ihr, der weder dadurch aufgehoben wurde, dass Gott der Vater den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat, noch durch seine göttliche Liebe zu seinem Geschöpf. Nichts hatte sie dazu verleitet, sich für Gott ebenbürtig zu halten, zu sein wie Gott, was ihre Natur und Macht betraf. Nichts hatte sie begierlich gemacht, alles sein zu wollen und zu können, so wie Gott alles ist und alles kann. Unschuldig und glücklich wie ein Kind war sie zufrieden mit dem, was ihr geschenkt worden war. Sie war seelisch und körperlich gesund, weil sie frei von abnormalen Begierden und Trieben war. Sie erkannte sich als Kind Gottes, und als solche erkannte sie auch ihren Gefährten. Als Königin über Tier- und Pflanzenreich, lag die Schöpfung zu ihren Füssen, doch ihr Anblick verführte ihre Seele nicht zur Sünde, sondern spornte sie an, über das Natürliche hinauszuwachsen; denn die Herrlichkeiten des Paradieses, in denen sie Gott erkannte, führten sie zu einer immer vollkommeneren Liebe zu ihrem Herrn. Sie erkannte sich in ihrem erhabenen Teil als Kind Gottes und nicht als animalisches Geschöpf. – Satan näherte sich ihr in Gestalt einer Schlange und zog die Unbedachte an sich. Die Schlange verstand es, mit ihrer Eigenart Eva zu begeistern und strömte ihr tödliches Gift mit ihrem magischen Zauber aus, wodurch geistige Erkenntnis und Einsichtsvermögen der Frau getrübt wurden, so dass sich das geschmeichelte Weib in Eva enthüllte. Eva würde sich nun mächtig wie Gott glauben, sobald sie das Kennzeichen eines Geschöpfes, d. h. die Pflicht, dem Gebot Gottes zu gehorchen und nur das zu tun, was Gott erlaubt, weit von sich werfen würde. Als sie sich dieses Kennzeichens entledigt hatte, um wie Gott zu sein, überkam sie die seelische Ausschweifung des „Alles-Können“, und diese zeugte die geistige Ausschweifung des „Alles-Kennen-Wollen“, das Gute und vor allem das Böse, das Gott ihr zu kennen verbot, während die Schlange sie dazu anspornte, es kennen zu lernen; denn nur durch die vollständige Kenntnis des Guten und Bösen würden sie und Adam „wie Götter“, und damit ihr Geschlecht und Same aus eigener Kraft unsterblich. Die Schlange bot sich ihr als Lehrmeisterin der unbeschränkten Erkenntnis an, und Eva nahm diese als Lehrmeisterin an. Die geistige Ausschweifung als Tochter der seelischen, zeugte nun die fleischliche Ausschweifung. Eva, die ihr Seh- und Hörvermögen schon zum Bösen benutzt hatte, wollte nun auch ihren Tastsinn dazu benützen, die Geheimnisse der verbotenen Frucht zu erkennen; mit dem Geruchssinn nahm sie deren betörenden Duft in sich auf, mit dem Geschmack öffnete sie die Schale einer neuen Erkenntnis, um den unbekannten Geschmack zu kosten. – In ihr erwachte die böse Begierde, das, was sie kaum versucht hatte, nunmehr vollständig auszukosten. Der Gnade, der Unschuld und Unversehrtheit beraubt, erschien ihr das Böse gut. Sie war nicht mehr fähig, ihre Sinnlichkeit der Vernunft zu unterstellen. – Sie erkannte sich und ihren Gefährten und wollte auch ihn zu dieser Erkenntnis führen. Arglistig näherte sie sich Adam und konnte ihn dazu verleiten, das Gebot Gottes mit Füssen zu treten. Sie verführte ihn zu dem, was sie schon getan hatte: in den Apfel zu beissen. Nachdem sie ihn in Unkeuschheit und Bosheit ihr gleichgemacht hatte, überredete sie ihn, die verbotene Frucht zu essen, um sich einen neuen, sofortigen Genuss zu verschaffen, und dazu die Macht, künftig Gott im Erschaffen neuer Menschen ähnlich zu sein, nach den Naturgesetzen, denen auch die Tiere unterworfen sind und anders als von Gott bestimmt. – Satan wollte erstens aus dem Menschen als Kind Gottes einen tierischen Menschen machen und zweitens versuchen, aus dem göttlichen Eingeborenen, der Mensch geworden war, einen Sünder zu machen. – Sein erstes Ziel, den Geist durch das Fleisch zu besiegen, erreichte er im unglückseligen Sündenfall. Sein zweites Vorhaben, den Messias zur Sünde zu verführen, schlug fehl. So satanisch auch sein Plan war, den Messias in die Sünde zu stürzen und dadurch jede Möglichkeit einer Wiedergeburt des Menschen zum Kinde Gottes zu verhindern, so diente doch dieser Plan der „Vollendung“ des Gott-Menschen, indem Christus in seiner Gnade als Mensch bestätigt wurde und somit in seiner Macht als Messias, als Ursache des ewigen Heils für die erlösten Kinder (Nachkommenschaft) Adams. ZURÜCK

19 Das richtet sich besonders an die Förderer von Geheimwissenschaften und die Mitglieder antichristlicher Sekten usw., also gegen jene, die gegen das erste Gebot gesündigt haben. ZURÜCK