Die Bergpredigt
M a r i a V a l t o r t a
Auszug aus dem Buch "Der Gottmensch"
von Maria Valtorta. Kapitel 208 - 215. Von 714 Kapiteln.
Aus dem Italienischen übersetzt.
Carl Heinrich Bloch, ca. 1890
Der Mensch lebt von den Erinnerungen, und die stärksten sind die Erinnerungen an das eigene Ich. Man muss jedoch zwischen dem einen und dem anderen Ich unterscheiden. Da gibt es das geistige Ich der Seele, das sich an Gott und seinen Ursprung in Gott erinnert. Und es gibt das niedrige Ich des Fleisches, das für sich und seine Leidenschaft tausend Forderungen stellt. Dieses zweite Ich, das sich aus so vielen Stimmen zusammensetzt, dass sie einen ganzen Chor bilden, übertönt das erste, wenn die Stimme des Geistes, der sich auf seinen Adel als Kind Gottes besinnt, nicht stark genug ist. Daher muss man, um ein vollkommener Jünger zu sein, sich selbst vergessen – trotz aller Erinnerung, ängstlichen Überlegungen und Bedürfnisse des menschlichen Ichs. Dagegen muss man seiner Seele stets in heiliger Weise gedenken und dieses Bewusstsein immer mehr festigen und stark und lebendig erhalten.
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208
Die Bergpredigt - Ihr seid das Salz der Erde
(
Hörbuch ) 27:14
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209
Die Bergpredigt -
Die Seligpreisungen (Erster Teil)
(
Hörbuch ) 39:17
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210
Die Bergpredigt -
Die Seligpreisungen (Zweiter Teil)
(
Hörbuch ) 22:58
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211
Die Bergpredigt -
Die Seligpreisungen (Dritter Teil)
(
Hörbuch ) 37:57
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212
Die Bergpredigt -
Die Seligpreisungen (Vierter Teil)
(
Hörbuch ) 27:54
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213
Die Bergpredigt -
Die Seligpreisungen (Fünfter Teil)
(
Hörbuch ) 1:08:11
- 214 Heilung eines Aussätzigen am Fusse des Berges
(
Hörbuch
) 15:03
- 215 Am Sabbat nach der Bergpredigt am Fusse des Berges
(
Hörbuch ) 16:20
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208 Die Bergpredigt: »Ihr seid das Salz der Erde«
Jesus geht allein und eiligen Schrittes auf einer Hauptstrasse dahin.
Er ist auf dem Weg zu einem Berg, der sich nahe der Hauptstrasse,
die vom See nach Westen führt, erhebt. Erst steigt er langsam an
bis zu einem Plateau, von dem aus man den ganzen See mit der
Stadt Tiberias im Süden und einigen weniger prächtigen Ortschaften
im Norden sehen kann. Dann geht er steil nach oben bis zu einem
ersten Gipfel und fällt danach wieder ab, so dass sich eine Art Sattel
ergibt, hinter dem sich ein zweiter, ähnlicher Gipfel erhebt.
Jesus steigt auf einem gut gehaltenen Eselspfad zur Hochebene
hinauf und gelangt zu einem Dörflein, dessen Bewohner Landarbeiter
sind und diese Hochebene bestellen, auf der das Korn schon
Ähren bildet. Jesus geht durch das Dorf und dann weiter durch die
von Blumen und Kräutern übersäten Felder und Wiesen.
Der Tag ist heiter, und die umliegende Natur zeigt sich in ihrer
ganzen Schönheit. Hinter dem einsamen Berg, zu dem Jesus sich
begibt, erhebt sich im Norden der grosse Hermon, dessen Gipfel einer
riesigen Perle gleich auf einem Smaragdsockel ruht, so weiss ist
der mit Schnee bedeckte Gipfel und so grün seine bewaldeten Hänge.
Jenseits des Sees, zwischen diesem und dem Hermon, erstreckt
sich die grüne Ebene des Sees von Meron, den man jedoch von hier
aus nicht sehen kann, und mehrere nordwestlich gegen den See von
Tiberias verlaufende Hügel. Weit dahinter noch andere Hügel, die
durch die Entfernung sanfter erscheinen, und andere Ebenen. Im
Süden, auf der anderen Seite der Hauptstrasse, verdecken die Hügel
Nazaret. Je höher man hinaufsteigt, um so weiter wird der Ausblick.
Ich kann nur nicht sehen, was im Westen ist, da mir der Berg die
Sicht in diese Richtung nimmt.
Jesus begegnet zuerst dem Apostel Philippus, der anscheinend als
Wachtposten amtiert. »Oh, Meister, hier bist du? Wir haben dich auf
der Strasse erwartet. Und ich warte hier auf meine Gefährten, die
gerade Milch holen gegangen sind bei den Hirten, die ihre Schafe
auf dieser Hochebene weiden. Unten, auf der Strasse, kommen Simon
und Judas des Simon, und mit ihnen sind Isaak und . . . Oh, da
kommen sie! Kommt! Kommt! Der Meister ist hier!«
Die Apostel, die Flaschen und Behälter tragen, beginnen zu laufen,
die Jüngeren kommen natürlich zuerst an. Ihre Freude, den Meister
zu sehen, ist rührend. Endlich sind sie vereint, und während Jesus
ihnen zulächelt, wollen alle gleichzeitig reden und erzählen . . .
»Aber wir haben dich auf der Strasse erwartet!«
»Wir hätten nicht gedacht, dass du schon heute kommst!«
»Es sind viele Menschen da, weisst du?«
»Oh, wir waren in grosser Verlegenheit, denn unter ihnen sind
auch Schriftgelehrte und sogar Schüler des Gamaliël . . . «
»Ach ja, Herr! Du hast uns gerade im richtigen Augenblick allein
gelassen. Ich habe noch nie solche Angst wie damals ausgestanden.
Tu mir so etwas, bitte, nie mehr an!«
Petrus beschwert sich, Jesus lächelt und fragt: »Aber ist es euch
denn so schlecht ergangen?«
»O nein, im Gegenteil! Oh, mein Meister! Weisst du nicht,
dass Johannes
gesprochen hat? . . . Es war, als sprächest du aus ihm. Ich . . .
wir alle waren verblüfft . . . Dieser Jüngling, der noch vor einem Jahre
zu nichts anderem taugte als zum Netze auswerfen . . . Oh!« Petrus
ist immer noch voller Bewunderung und schüttelt den lächelnden
Johannes, der schweigt . . . »Scheint es euch möglich, dass dieser
Junge mit diesem lachenden Munde solche Worte sagen konnte? Er
glich wahrhaftig Salomon.«
»Auch Simon hat gut gesprochen, mein Herr. Er war wirklich das
Oberhaupt«, sagt Johannes.
»Allerdings. Man hat mich einfach gepackt und hingestellt! Ach
was . . . sie sagen, dass ich gut gesprochen habe. Kann sein. Ich weiss
es nicht, denn in meinem Staunen über die Worte des Johannes und
in meiner Angst, vor so vielen reden zu müssen und dich womöglich
zu blamieren, war ich ganz verwirrt . . . «
»Mich?« neckt Jesus. »Schliesslich hast ja du gesprochen und hättest
dich selber blamiert, Simon.«
»Oh, meinetwegen . . . Ich machte mir keine Sorge um mich selbst.
Ich wollte nur nicht, dass sie dich als töricht verspotten, weil du einen
Dummkopf als Apostel genommen hast.«
Jesus strahlt vor Freude über die Demut und Liebe des Petrus.
Aber er fragt nur: »Und die anderen?«
»Auch der Zelote hat gut gesprochen. Aber bei ihm ist es verständlich
. . . Johannes hingegen war eine echte Überraschung! Nun ja,
seit wir uns im Gebet zurückgezogen hatten, scheint dieser Junge
mit seiner Seele immer wie im Himmel zu sein.«
»Das ist wahr! Das ist wahr!« Alle bestätigen die Worte des Petrus.
Dann fahren sie fort zu erzählen.
»Weisst du, unter den Zuhörern sind nun, wie Judas des Simon
sagt, zwei sehr bedeutende Personen. Judas bemüht sich sehr um
sie. Nun ja, er kennt viele von ihnen . . . von der Oberschicht, und
weiss mit ihnen umzugehen, und er redet gerne. Er redet gut, doch
das Volk hört lieber Simon, deine Brüder und besonders Johannes.
Gestern hat ein Mann mir gesagt: „Dieser Jüngling spricht gut“ –
er meinte damit Judas – „doch ich ziehe dich ihm vor.“ Oh, armer
Kerl, mich vorziehen, der ich kaum vier Worte hintereinander sagen
kann . . . Aber warum bist du hierher gekommen? Unser Treffpunkt
war doch die Strasse, und wir sind dort gewesen.«
»Weil ich wusste, dass ich euch hier finden würde. Nun hört. Geht
hinunter und sagt den anderen, sie sollen kommen. Aber das Volk
soll heute noch nicht kommen. Ich möchte zu euch allein sprechen.«
»Dann ist es besser, bis zum Abend zu warten. Bei Einbruch der
Dämmerung zerstreuen sich die Leute in den umliegenden Weilern
und kommen erst am anderen Morgen wieder, um auf dich zu warten.
Wenn sie jetzt erfahren, dass du hier bist, wer wird sie dann
zurückhalten können?«
»Gut. Macht es so. Ich werde dort auf dem Gipfel auf euch warten.
Die Nächte sind nun mild, wir können auch im Freien schlafen.«
»Wie du willst, Meister, wenn du nur bei uns bist!«
Die Jünger entfernen sich, und Jesus geht auf dem Pfad weiter bis
zum Gipfel. Es ist der gleiche, den ich schon im vorigen Jahr gegen
Ende der Bergpredigt und bei der ersten Begegnung mit Magdalena
gesehen habe. Der Rundblick wird noch weiter, und der Horizont
leuchtet wie Feuer beim nun beginnenden Sonnenuntergang. Jesus
setzt sich auf einen Felsblock und sammelt sich in Betrachtung. Er
verweilt in dieser Haltung, bis Schritte auf dem Weg ankündigen, dass die Apostel angekommen sind. Der Abend bricht herein, doch
auf der Anhöhe hat sich die Sonne noch nicht zurückgezogen und
entlockt jedem Gras und jeder Blume Düfte. Die wilden Maiglöckchen
duften besonders stark, und die hohen Stengel der Narzissen
schütteln ihre Sterne und ihre Knospen, als wollten sie damit den
Tau herbeilocken.
Jesus steht auf und grüsst mit seinem: »Der Friede sei mit euch!«
Viele Jünger kommen mit den Aposteln den Berg herauf. Isaak, mit
seinem Lächeln und dem feinen Gesicht eines Asketen, führt sie an.
Sie scharen sich alle um Jesus, der im besonderen Judas Iskariot und
Simon den Zeloten begrüsst.
»Ich habe euch alle zu mir gebeten, um einige Stunden mit euch
allein sein zu können. Ich muss euch einiges sagen, um euch immer
besser auf eure Mission vorzubereiten. Lasst uns zuvor etwas essen,
dann wollen wir reden, und noch im Schlaf wird eure Seele fortfahren,
sich an dieser Lehre zu erlaben.«
Sie verzehren das karge Nachtmahl. Dann bilden die Apostel und
die Jünger einen Kreis um Jesus, der sich auf einen grossen Stein
gesetzt hat. Es sind ihrer ungefähr hundert Jünger und Apostel, vielleicht
mehr: Ein Kranz von aufmerksamen Gesichtern, die von den
Flammen zweier Feuer eigenartig erhellt werden. Jesus spricht langsam
und unterstreicht seine Worte durch ruhige Gebärden. Sein Gesicht
wirkt durch den Gegensatz zu seinem dunkelblauen Gewand
noch blasser. Auch der Neumond trägt dazu bei, und gleich einer
Sichel aus Licht berührt er sanft den Herrn über Himmel und Erde.
»Ich wollte allein mit euch sein, denn ihr seid meine Freunde. Ich
habe euch nach der ersten überstandenen Prüfung der Zwölf gerufen,
um den Kreis meiner mitarbeitenden Jünger zu erweitern und
auch, um von euch zu erfahren, was ihr empfindet, wenn ihr von
denen geführt werdet, die ich euch als meine Nachfolger übergebe.
Ich weiss, dass alles gut gegangen ist. Ich habe durch meine Gebete
die Seelen der Apostel gestärkt, die mit neuer Kraft im Geiste und
im Herzen aus der mehrtägigen Anbetung hervorgegangen sind. Es
ist eine Kraft, die nicht durch menschliches Studium erworben wird,
sondern nur in der vollkommenen Hingabe an Gott.
Am meisten gegeben haben jene, die sich selbst am meisten vergessen
haben. Sich selbst zu vergessen aber ist sehr schwierig.
Der Mensch lebt von den Erinnerungen, und die stärksten sind
die Erinnerungen an das eigene Ich. Man muss jedoch zwischen dem
einen und dem anderen Ich unterscheiden. Da gibt es das geistige
Ich der Seele, das sich an Gott und seinen Ursprung in Gott erinnert.
Und es gibt das niedrige Ich des Fleisches, das für sich und seine
Leidenschaft tausend Forderungen stellt. Dieses zweite Ich, das
sich aus so vielen Stimmen zusammensetzt, dass sie einen ganzen
Chor bilden, übertönt das erste, wenn die Stimme des Geistes, der
sich auf seinen Adel als Kind Gottes besinnt, nicht stark genug ist.
Daher muss man, um ein vollkommener Jünger zu sein, sich selbst
vergessen – trotz aller Erinnerung, ängstlichen Überlegungen und
Bedürfnisse des menschlichen Ichs. Dagegen muss man seiner Seele
stets in heiliger Weise gedenken und dieses Bewusstsein immer mehr
festigen und stark und lebendig erhalten.
Bei dieser ersten Prüfung meiner zwölf Apostel haben jene mehr
gegeben, die sich selbst mehr vergessen haben, also nicht nur ihre
Vergangenheit, sondern auch die Grenzen ihrer Person; jene, die
sich nicht mehr erinnert haben, was sie vorher waren und so sehr
in Gott aufgegangen sind, dass sie nichts mehr befürchten: Nichts
mehr! Warum die Zurückhaltung einiger Apostel? Weil sie von ihren
üblichen Bedenken, ihren gewohnten Überlegungen und Vorurteilen
nicht loskamen. Warum die Wortkargheit der anderen? Weil
sie an ihre Unfähigkeit zu lehren dachten und fürchteten, sich selbst
oder mich zu blamieren. Warum das offensichtliche Grosstun anderer?
Weil sie sich ihres gewohnten Stolzes erinnerten, des Wunsches,
beachtet zu werden, Beifall zu ernten, hervorzutreten und etwas zu
gelten. Warum bei anderen schliesslich die überraschende Enthüllung
einer lehrhaften, sicheren, überzeugenden, erfolgreichen und
rabbinischen Redekunst? Weil sie, und sie allein, fähig waren, im
rechten Augenblick die ihnen verliehene hohe Würde zu übernehmen,
die sie zuvor aus Furcht, sich zu viel anzumassen, und in ihrer
Bescheidenheit und ihrem Wunsch, unbeachtet zu bleiben, nie angenommen
hätten. Sie allein haben es verstanden, sich an Gott zu
erinnern. Die ersten drei Gruppen erinnerten sich nur ihres niedrigen
Ichs. Die Apostel der vierten Gruppe aber besannen sich auf ihr
höheres Ich und fürchteten nichts. Sie fühlten Gott mit ihnen und in
ihnen und waren unbesorgt. Oh, heilige Inbrunst, die der Gottverbundenheit
entspringt!
Darum hört gut zu, ihr alle, Apostel und Jünger. Ihr Apostel kennt
diese Gedanken schon, nun aber werdet ihr alles noch tiefer erfassen. Ihr Jünger kennt sie noch nicht oder nur teilweise, und es ist
notwendig, dass sie in eure Herzen eingemeisselt werden. Denn da
die Herde Christi immer zahlreicher wird, will ich euch nun auch
immer häufiger einsetzen. Die Welt wird mich und euch mehr und
mehr bekämpfen, und die Zahl der Wölfe, die mich, den Hirten,
und meine Herde angreifen, wird beständig wachsen. Darum will
ich euch Waffen zur Verteidigung meiner Lehre und meiner Herde
in die Hand geben. Was für die Herde genügt, genügt nicht für euch,
kleine Hirten. Wenn es noch geduldet wird, dass die Schafe Fehler
machen, indem sie Kräuter fressen, die ihr Blut verderben oder wilde
Gelüste in ihnen wecken, so ist es doch nicht erlaubt, dass ihr die
gleichen Fehler begeht und dadurch viele von der Herde ins Verderben
stürzen. Ihr müsst bedenken, dass die Schafe eines Hirten, der
einem falschen Ideal anhängt, durch Gift zugrunde gehen oder von
den Wölfen getötet werden.
Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt. Doch wenn
ihr in eurer Mission versagt, werdet ihr zu einem schalen, unnützen
Salz. Nichts mehr könnte euch dann den Geschmack zurückgeben,
da Gott ihn euch nicht geben konnte. Denn ihr habt das Salz als
ein Geschenk von ihm erhalten, es aber schal werden lassen, da ihr
es mit den faden und schmutzigen Wassern der Menschlichkeit verwässert
und mit der entarteten Süsse der Sinnlichkeit gesüsst habt. Ihr
habt dem reinen Salz Gottes die Schlacken des Stolzes, des Geizes,
der Unmässigkeit, der Unzucht, des Zornes und der Trägheit beigemischt,
und das in solchem Masse, dass auf sieben Körner eines jeden
Lasters nur ein Salzkorn kommt. Euer Salz ist also nichts mehr als
ein Gemisch von Steinen, in dem sich das armselige Körnchen Salz
verliert. Steine, die zwischen den Zähnen knirschen, im Mund einen
Erdgeschmack hinterlassen und die Speise widerlich und abstossend
machen. Nicht einmal mehr für mindere Zwecke ist es brauchbar,
da ein mit sieben Lastern durchwirktes Wissen selbst menschlichen
Aufgaben schaden würde. Also taugt das Salz nicht mehr, es wird
weggeworfen und von den Menschen achtlos zertreten. Wie viele,
o wie viele Menschen werden auf diese Weise die Männer Gottes
mit Füssen treten können! Denn diese Berufenen selbst haben dem
Volk erlaubt, sie so zu zertreten, da man zu ihnen nicht mehr seine
Zuflucht nimmt, um den Wohlgeruch von etwas Erlesenem, Himmlischem
zu kosten: sie sind doch nichts anderes als Schlacke.
Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid wie dieser Berggipfel, auf
den noch die letzten Strahlen der Sonne fallen und der sich als erster
mit dem silbernen Schein des Mondes kleidet. Was in der Höhe
ist, leuchtet und wird gesehen, denn selbst das Auge des gedankenlosen
Menschen blickt manchmal nach oben. Ich würde sagen,
das natürliche Auge, das man den Spiegel der Seele nennt, spiegelt
die Sehnsucht der Seele wider: die Sehnsucht, die oft nicht wahrgenommen,
doch stets lebendig ist, solange der Mensch kein Dämon
geworden ist, die Sehnsucht nach dem Himmel, wo der Verstand
instinktiv dem Allmächtigen seinen Platz zuweist und zu dem man,
wenn man den Himmel sucht, wenigstens hin und wieder im Leben
die Augen erhebt.
Ich bitte euch, erinnert euch, was wir seit unserer Kindheit beim
Betreten Jerusalems tun. Wohin eilen unsere Blicke? Zum Berg Morija,
gekrönt im Triumph mit seinem Tempel aus Marmor und Gold.
Was tun wir, wenn wir im Vorhof stehen? Die kostbaren Kuppeln betrachten
wir, die in der Sonne glänzen. Wie schön ist das Innere der
heiligen Einfriedungsmauer mit ihren Säulenhallen, Torbögen und
prächtigen Höfen! Doch unser Auge blickt nach oben.
Weiter bitte ich euch, erinnert euch auch an die Zeit unterwegs.
Wohin richtet sich unser Auge, um die lange Wegstrecke, die Eintönigkeit,
die Müdigkeit, die Hitze oder den Schmutz vergessen zu lassen?
Zu den Gipfeln, auch wenn sie nicht so hoch und weit entfernt
sind! Mit welcher Erleichterung sehen wir sie auftauchen, wenn wir
uns im eintönigen Flachland befinden. Ist hier unten Schmutz? Dort
ist Sauberkeit. Ist hier Schwüle und Hitze? Dort ist Frische. Ist die
Sicht hier begrenzt? Dort ist die Weite. Schon allein das Betrachten
lässt uns den Tag weniger heiss, den Staub weniger lästig, das
Gehen weniger beschwerlich erscheinen, und wenn dann noch eine
Stadt von der Höhe eines Berges grüsst, dann gibt es kein Auge,
das sich nicht daran erfreuen würde. Man könnte sagen, dass auch
ein unscheinbarer Ort schöner wirkt, wenn er auf dem Kamm eines
Berges liegt. Aus diesem Grunde haben die wahren, wie auch die
falschen Religionen, nach Möglichkeit ihre Tempel auf Anhöhen errichtet.
Wenn es in der Gegend weder einen Hügel noch einen Berg
gibt, dann stellt man in mühsamer Handarbeit einen Unterbau aus
Stein, eine Erhöhung her, auf der man dann den Tempel errichtet.
Warum tut man das? Weil man will, dass der Tempel gesehen wird,
um durch seinen Anblick einen Gedanken an Gott zu wecken.
Ebenso habe ich euch gesagt, dass ihr ein Licht seid. Wenn jemand
am Abend in einem Haus eine Lampe anzündet, wohin stellt er sie?
In das Loch unter dem Herd? In die Höhle, die ihm als Keller dient?
In eine geschlossene Truhe? Oder verbirgt man ihr Leuchten, indem
man sie unter den Scheffel stellt? Nein, denn dann wäre es sinnlos,
das Licht anzuzünden. Vielmehr stellt man das Licht auf eine Konsole
oder auf einen Leuchter, so dass es von der Höhe herab den
ganzen Raum erhellt und alle Bewohner in sein Licht taucht. Doch
gerade weil das, was hoch steht, die Aufgabe hat, zu leuchten und
an Gott zu erinnern, muss es seiner Aufgabe gewachsen sein.
Ihr habt die Aufgabe, an den wahren Gott zu erinnern. Handelt
also so, dass in euch nicht das siebenfache Heidentum sei, sonst würdet
ihr sein wie die Stätten der Götzendiener mit ihren Hainen, die
diesem oder jenem Gott geweiht sind, und mit eurem Heidentum
würdet ihr jene verführen, die in euch Tempel Gottes sehen. Ihr
müsst das Licht Gottes in euch tragen. Ein schmutziger Docht, oder
ein Docht ohne Öl, qualmt und gibt kein Licht, er stinkt und leuchtet
nicht. Eine Flamme hinter einem schmutzigen Kristall verbreitet
nicht die frohe Helligkeit, nicht das leuchtende Spiel des Lichtes,
das aus einem klaren Glas erstrahlen kann. Sie flimmert nur
schwach durch den schwarzen Rauchschleier, der den funkelnden
Schutz trübt.
Das Licht Gottes erstrahlt dort, wo man willig und eifrig darum
bemüht ist, es von den Schlacken zu reinigen, die sich aus dem Wirken
des Menschen ergeben: aus seinen Kontakten, Reaktionen und
Enttäuschungen. Das Licht Gottes erstrahlt dort, wo der Docht in
reichlich Öl des Gebetslebens und der Nächstenliebe getaucht ist.
Das Licht Gottes leuchtet mit so unendlich vielen Strahlen, wie es
Vollkommenheiten Gottes gibt, von denen jede einzelne im heiligmässigen
Menschen eine heldenhaft ausgeübte Tugend erweckt, wenn
der Diener Gottes den Kristall seiner Seele rein bewahrt und dem
qualmenden Rauch der bösen Leidenschaften zu widerstehen vermag.
Unanfechtbar soll der Kristall eurer Seele sein! Unanfechtbar!
(Die donnernde Stimme Jesu widerhallt dröhnend in diesem natürlichen
Amphitheater.) Nur Gott allein hat das Recht und die Macht,
diesen Kristall zu ritzen und mit dem Diamanten seines Willens seinen
heiligsten Namen darin einzugraben. Dann wird dieser Name
zur Zierde und lässt ein Feuer übernatürlicher Schönheiten von unendlicher
Vielfalt auf diesem reinsten Quarz erstrahlen.
Aber, wenn der törichte Diener des Herrn die Selbstkontrolle und
den Überblick über seine Aufgabe, die einzig und allein übernatürlicher
Art ist, verliert und falsche Figuren einritzen lässt, Kratzer, die
keine Gravierungen, sondern geheimnisvolle, dämonische Namenszüge
von den feurigen Krallen Satans sind, dann scheint die wundersame
Lampe nicht mehr schön und ungetrübt. Der Kristall zerspringt,
und die Flamme erlischt unter den Scherben. Oder, wenn
die Lampe nicht zerspringt, entsteht ein Gewirr unverständlicher
Zeichen eindeutigen Ursprungs, in denen sich der Russ festsetzt und
sie vollends unkenntlich macht.
Wehe, dreimal wehe den Lehrmeistern, welche die Weisheit Gottes
verleugnen, um sich mit einer Wissenschaft zu sättigen, die der
Weisheit häufig widerspricht, aber immer dem Stolz schmeichelt
und oftmals teuflischer Art ist, denn sie lässt sie an ihrer Menschlichkeit
festhalten, während doch jeder Mensch dazu bestimmt ist, sich
zu heiligen und ein Kind Gottes zu werden. Der Lehrer, der Priester
sollte in noch vermehrtem Masse einzig und allein Kind Gottes sein,
selbst wenn er vorher alle Züge der Diesseitigkeit an sich trug. Der
Priester muss ein Geschöpf sein, ganz Seele und Vollkommenheit,
um durch seine Ausstrahlung Jünger für Gott zu gewinnen. Fluch
den Lehrern einer übernatürlichen Lehre, die zu Götzen menschlicher
Gelehrtheit werden!
Wehe, siebenmal wehe den Toten im Geiste unter meinen Priestern,
die in ihrer Lauheit, in ihrer weichlichen, jeder Tatkraft entbehrenden
Trägheit des Fleisches, in ihrer Schläfrigkeit trügerischen
Traumbildern nachhängen, aber ihre Gedanken nicht auf den dreieinigen
Gott richten; die voller Berechnung sind, sich aber nicht bemühen,
dem höheren Ziel, nämlich den Reichtum der Herzen und
den Schatz Gottes zu vermehren, gerecht zu werden. Erdgebunden,
engherzig und abgestumpft leben sie dahin und ziehen auch jene
in ihr totes Gewässer, die ihnen nachfolgen in der Meinung, dass
sie das Leben besässen. Der Fluch Gottes komme über die Verführer
meiner kleinen, geliebten Herde! Nicht jene, die durch eure Trägheit verloren gehen, ihr pflichtvergessenen Diener des Herrn, werde ich
bestrafen, sondern von euch werde ich Rechenschaft fordern über
jede Stunde, jeden Augenblick, jede eurer Nachlässigkeiten und ihre
Folgen.
Erinnert euch dieser Worte und geht nun! Ich werde nun auf den
Gipfel steigen, und ihr, geht schlafen. Morgen wird der Hirte der
Herde die Weiden der Wahrheit eröffnen.«
209 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Erster Teil)
Jesus spricht mit den Aposteln und
weist jedem seinen Platz zu, damit sie die Leute, die seit den ersten
Morgenstunden heraufkommen, anleiten und betreuen. Viele Kranke sind auf Armen
oder Bahren herbeigetragen worden oder haben sich auf Krücken hergeschleppt.
Unter den Vielen befinden sich auch Stephanus und Hermas.
Die Luft ist klar und
etwas frisch, doch die Sonne mildert die morgendliche Brise in den
Bergen, ohne ihr die gesunde Reinheit zu nehmen. Die Menschen setzen sich auf
Steine und Felsbrocken, die in der Senke zwischen den beiden Gipfeln liegen;
andere warten ab, dass die Sonne das taunasse Gras trocknet, um sich dann auf
dem Boden niederzulassen. Es ist schon eine grosse Menschenmenge da; sie stammen
aus allen Gegenden Palästinas und aus allen Volksschichten. Die Apostel
verlieren sich in dieser Menge, aber, wie Bienen, die zwischen den Wiesen und
den Bienenstöcken hin- und herfliegen, kehren sie immer wieder zum Meister
zurück, um ihm zu berichten und ihm Fragen zu stellen, aber auch, um von den
Leuten als ihm Nahestehende beachtet zu werden.
Jesus geht durch den Talgrund
und steigt etwas höher die Wiese empor, lehnt sich an die Felswand und beginnt
zu sprechen.
»Viele haben mich während des Jahres, da ich gepredigt habe,
gefragt: „Du, der du dich Sohn Gottes nennst, sage uns also, was der Himmel, was
das Reich, was Gott ist, denn wir haben unklare Vorstellungen. Wir wissen, dass
es einen Himmel mit Gott und den Engeln gibt; doch keiner ist je zu uns
gekommen, um uns zu sagen, wie der Himmel ist, da er selbst den Gerechten
verschlossen ist.“ Sie haben mich also gefragt, was das Reich und was Gott ist.
Ich habe mich bemüht, es euch zu erklären: bemüht, nicht weil es schwierig für
mich wäre, euch dies zu erklären, sondern weil es durch eine Reihe von Umständen
schwierig ist, euch die anstössige Wahrheit über das wahre Reich erkennen zu
lassen; denn dem steht ein jahrhundertealtes Gefüge menschlicher Vorstellungen
über das Wesen Gottes – ungeachtet der Erhabenheit seiner göttlichen Natur –
entgegen. 13
Andere wiederum haben gefragt: „Gut, dies ist das Reich, und das ist
Gott. Aber wie gelangt man zu Gott und zum Reich?“ Auch hier habe ich
unermüdlich versucht, den wahren Kern des Gesetzes vom Sinai zu erklären. Wer
sich diese Wahrheit zu eigen macht, macht sich den Himmel zu eigen. Aber um euch
das Gesetz des Sinai zu erklären, ist
es nötig, euch auch die Donnerstimme des Gesetzgebers und seines Propheten
vernehmen zu lassen, die den Befolgern des Gesetzes Segen verheissen, den
Ungehorsamen aber harte Strafen und den Fluch Gottes androhen. Die Erscheinung
des Herrn am Sinai war schreckenerregend, und diese Schrecklichkeit spiegelt
sich im ganzen Gesetz wider und gilt für alle Zeiten und alle Menschen.
Doch
Gott ist nicht nur Gesetzgeber, Gott ist Vater! Er ist ein unendlich gütiger
Vater.
Vielleicht, nein, sicher können sich eure geschwächten Seelen nicht mehr
zu Gott erheben; denn sie sind geschwächt durch die Erbsünde, die
Leidenschaften, die Sünden, die vielen Arten eurer Selbstsucht und auch durch
den Egoismus anderer. Durch all das habt ihr eure Mitmenschen verärgert und
verschliesst euch ihnen gegenüber. Ihr seid daher nicht fähig, die unendlichen
Vollkommenheiten Gottes zu betrachten, und am wenigsten die Güte Gottes, weil
sie die Tugend ist, die die Sterblichen, zusammen mit der Liebe, am wenigsten
besitzen. Die Güte! Wie süss ist es, gut zu sein, ohne Hass, ohne Neid, ohne
Hochmut! Augen zu haben, die nur liebevoll schauen, Hände zu haben, die in einer
Gebärde der Liebe gereicht werden, Lippen, die nur Worte der Liebe sprechen, und
ein Herz, vor allem ein Herz, in dem einzig und allein die Liebe wohnt und das
Augen, Hände und Lippen zu Taten der Liebe drängt!
Die Gelehrten unter euch
wissen, welch reiche Gaben Gott Adam und seinen Nachkommen hat zuteil werden
lassen. Auch die ungebildetsten unter den Kindern Israels wissen, dass in uns
der Geist (die Seele), ist. Nur die armen Heiden kennen ihn nicht, diesen
königlichen Gast, diesen Hauch des Lebens, dieses himmlische Licht, das unseren
Leib heiligt und belebt. Aber die Gelehrten wissen, welche Gaben dem Menschen,
dem Geist des Menschen, verliehen wurden.
Gott hat diesen Geist nicht weniger
freigebig bedacht als das Fleisch und Blut des von ihm mit etwas Staub und
seinem Hauch erschaffenen Geschöpfes. Wie er Adam die natürlichen Gaben der
Schönheit, der Unversehrtheit, der Intelligenz, des Willens und der
Fähigkeit zu lieben und Liebe zu schenken gab, so verlieh er auch die
moralischen Gaben: die Unterordnung des Fleisches unter die Vernunft, damit sein
Geschenk der Freiheit, Selbstbeherrschung und des eigenen Willens nicht durch
die Knechtschaft der Triebe und Leidenschaften beeinträchtigt werde. Frei war
sein Lieben, frei sein Wollen und frei seine Freude in Gerechtigkeit; ohne das
Gift, das Satan verspritzt, von dem er überfliesst und das euch zu Sklaven
macht; das Gift, das euch vom reinen Flussbett über schlammige Felder in
faulende Tümpel führt, wo die Fieber fleischlicher und geistiger
Triebhaftigkeiten gären. Ihr wisst, dass auch die Begehrlichkeit im Denken zur
Sinnlichkeit gehört. Die ersten Menschen hatten übernatürliche Gaben die heiligmachende Gnade, die Bestimmung zu Höherem, die Anschauung Gottes.
Die heiligmachende Gnade: das Leben der Seele, dieses
hochgeistige Etwas, das in unsere religiöse Seele gelegt wurde; die Gnade, die
uns zu Kindern Gottes macht, weil sie uns vor dem Tod durch die Sünde bewahrt;
denn wer tot ist, lebt nicht im Haus des Vaters, im Paradies, in meinem Reich:
dem Himmel. Was ist diese heilige Gnade, die das Leben und den Himmel verleiht?
Oh, macht nicht viele Worte. Die Gnade ist Liebe. Die Gnade ist daher Gott. Sie
ist Gott! Gott, der sich selbst in seinem vollendet erschaffenen Geschöpf
bewundert, liebt, betrachtet, sich selbst verschenkt, um diesen seinen Besitz zu
vermehren, um sich an dieser Vermehrung zu beseligen und um sich in allen zu
lieben, die sein eigenes Ich sind.
14
O Kinder, beraubt Gott nicht dieses
seines Rechtes! Beraubt Gott nicht seines Besitzes! Enttäuscht Gott nicht in
diesem seinem Wunsch! Denkt daran, dass er aus Liebe wirkt. Auch wenn ihr nicht
wäret, bliebe er doch immer der Unendliche, und seine Macht wäre dadurch nicht
geringer. Doch obschon Gott in seiner unendlichen Grösse vollendet und
unermesslich ist, will er seine Liebe nicht für sich und in sich vermehren, denn
er könnte es ja gar nicht, da er schon der Unendliche ist, sondern er will es
tun für sein Geschöpf, und er will diese Liebe in dem Masse vermehren, wie
dieses Geschöpf selbst Liebe hat. Er gibt euch die Gnade, die Liebe, auf dass
sie in euch zur Vollkommenheit der Heiligen wachse und ihr dann diesen Schatz,
den ihr aus dem Schatz der Gnade Gottes geschöpft und durch alle heiligen Werke
eures ganzen heldenhaften und heiligen Lebens vermehrt habt, in den unendlichen
Ozean des Himmels, die Wohnung Gottes, zurückfliessen lasst.
Göttliche,
göttliche, göttliche Zisternen der Liebe! Ihr lebt und seid nicht bestimmt zu
sterben, weil ihr unsterblich seid wie Gott, indem ihr in Gott seid. Ihr werdet
leben, und euer Leben wird nicht enden, weil ihr unsterblich seid wie die
heiligen Geister, die euch im Überfluss ernährt haben und reich an eigenen
Verdiensten zu euch zurückkommen. Ihr lebt und nährt euch, ihr lebt und
bereichert euch, ihr lebt und bildet diese heiligste Gemeinschaft der Geister,
die alle umfasst, von Gott, dem vollkommensten Geist, bis zum neugeborenen
Kinde, das zum erstenmal an der mütterlichen Brust saugt.
Kritisiert mich nicht
in euren Herzen, ihr Gelehrten! Sagt nicht: „Dieser da ist ein Narr, ein Lügner;
denn nur ein Narr kann behaupten, dass die Gnade in uns wäre, da wir sie doch
durch die Erbsünde verloren haben. Er lügt, wenn er uns schon eins mit Gott
nennt.“ Ja, die Schuld besteht! Ja, die Trennung ist da! Doch vor der Macht des
Erlösers wird die Schuld, die grausame Trennung des Vaters von den Kindern, wie
eine Wand zusammenstürzen, erschüttert vom neuen Simson. Schon habe ich sie
erfasst und rüttle an ihr. Sie wankt, und Satan zittert vor Zorn und Ohnmacht,
da er gegen meine Macht nichts vermag und ahnt, dass ihm eine grosse Beute
entgeht und dass es für ihn schwierig wird, den Menschen zur Sünde zu verleiten.
Denn, wenn ich euch durch mich zum Vater gebracht habe und ihr durch mein Blut
und mein Leiden rein und stark geworden seid, dann wird auch die Gnade in euch
wieder lebendig, rege und mächtig werden, und ihr werdet siegen, wenn ihr es
wollt.
Gott zwingt euch nicht zu entsprechenden Gedanken und auch nicht zu eurer
Heiligung. Ihr seid frei. Aber er gibt euch die Kraft zurück. Er gibt euch
wiederum die Freiheit von der Herrschaft Satans. Euch ist es überlassen, das
höllische Joch wieder aufzuladen oder eurer Seele Engelsflügel zu verleihen.
Alles ist euch überlassen, mich als euren Bruder, der euch führt und mit
unvergänglicher Speise nährt, anzunehmen.
„Wie gewinnt man Gott und sein Reich
auf einem leichteren Weg als dem mühsamen Pfad des Sinai?“ fragt ihr. Es gibt
keinen anderen Weg. Nur dieser ist es. Doch lasst ihn uns betrachten, nicht in
der Farbe der Drohung, sondern in jener der Liebe. Sagen wir nicht: „Wehe, wenn
ich das nicht tue!“ während man aus Angst, der Sünde nicht widerstehen zu
können, furchtsam erzittert. Sagen wir: „Selig, wenn ich dies tue“; und
schwingen wir uns mit übernatürlicher Freude jubelnd empor, um diese Seligkeiten
zu erreichen, die der Befolgung der Gesetzes entspringen, und wie Rosenblüten
aus einem Dornenstrauch hervorwachsen.
„Selig, wenn ich arm im Geiste bin, denn
mein ist das Himmelreich!
Selig, wenn ich sanftmütig bin, denn ich werde das
Land erben!
Selig, wenn ich mich nicht gegen den Schmerz auflehne, denn ich
werde getröstet werden!
Selig, wenn ich mehr hungere und dürste nach
Gerechtigkeit als nach Brot und Wein, um mein Fleisch zu sättigen, denn die
Gerechtigkeit wird mich sättigen!
Selig, wenn ich Barmherzigkeit übe, denn ich
werde göttliche Barmherzigkeit erfahren!
Selig, wenn ich reinen Herzens
bin, denn Gott wird sich über mein reines Herz neigen, und ich werde Gott
schauen!
Selig, wenn ich den Geist des Friedens in mir habe, denn ich werde Kind
Gottes genannt werden; denn im Frieden ist Liebe, und Gott ist Liebe, und er
liebt jene, die ihm ähnlich sind.
Selig, wenn ich um der Gerechtigkeit willen
verfolgt werde, denn Gott, mein Vater, wird mir als Belohnung für die irdischen
Verfolgungen das Himmelreich geben.
Selig, wenn ich geschmäht und verleumdet
werde, weil ich dein Kind bin, o Gott! Nicht Trostlosigkeit, sondern Freude wird
mir daraus erwachsen, denn so werde ich deinen besten Dienern, den Propheten,
gleich, die aus demselben Grund verfolgt wurden. Ich glaube beharrlich, dass ich
mit ihnen einst an der erhabenen, ewigen Belohnung teilhaben werde: am Himmel,
der mein sein wird.“
Betrachten wir den Weg des Heiles mit der Freude der
Heiligen.
„Selig, wenn ich arm im Geiste bin.“
O Reichtümer, die ihr den
brennenden Durst Satans, Wahn und Rausch im Menschen hervorruft, im Reichen wie
im Armen! Im Reichen, der für sein Gold, dem Abgott seiner verderbten Seele,
lebt. Im Armen, der vom Neid auf den Reichen lebt, weil dieser im Reichtum des
Goldes schwelgt, und wenn er auch keinen wirklichen Mord begeht, so schleudert
er dennoch seine Flüche gegen die Reichen und wünscht ihnen allerhand
Schlechtes. Es genügt nicht, das Böse nicht zu tun, man darf auch nicht
wünschen, jemandem etwas Böses anzutun. Wer seinen Mitmenschen verflucht und ihm
Tod und Unglück wünscht, ist dem wirklichen Mörder nicht unähnlich, denn in ihm
lodert derWunsch, den Gehassten zugrunde gehen zu sehen. Wahrlich, ich sage euch,
dass der Wunsch nichts anderes ist als eine zurückgehaltene Tat, eine schon
gebildete, aber noch nicht geborene Leibesfrucht. Die Verwünschung vergiftet und
verdirbt, denn sie dauert länger als die gewaltsame Tat und ihre Wirkung ist
eine tiefgreifendere.
Der Arme im Geiste, obwohl reich an materiellen Gütern,
sündigt nicht seines Goldes wegen, sondern er bedient sich des Goldes zu
seiner Heiligung und wandelt es in Liebe. Geliebt und gepriesen, gleicht er den
rettenden Quellen in der Wüste, die sich ohne Geiz, glücklich, sich zu
verschenken, für alle ergiessen, um ihnen in ihrer Verzweiflung Linderung zu
verschaffen. Ist der Arme im Geiste arm an materiellen Gütern, ist er doch
glücklich in seiner Armut, und das Brot, das er in der Heiligkeit seiner vom
Fieber nach Gold unbelasteten Seele isst, mundet köstlich. Sein Schlaf, frei von
Alpträumen, lässt ihn ausgeruht und heiter an sein Tagwerk gehen, das ihm stets
leicht erscheint, da er es ohne Habsucht und Neid verrichtet.
Dinge, welche den
Menschen reich machen, sind sowohl materielle: das Gold, als auch moralische:
die Zuneigungen. Mit Gold sind nicht nur die Münzen gemeint, sondern auch die
Häuser, die Felder, die Schmuckstücke, die Möbel, die Herden und alles, was das
Leben materiell bereichert. Zuneigungen sind die Bande des Blutes oder der Ehe,
die Freundschaften, die intellektuellen Bereicherungen, die öffentlichen Ämter.
Wenn nun der Arme, wie ihr seht, hinsichtlich der ersten Art sagen kann: „Oh!
meinetwegen, wenn ich nur nicht die Reichen beneide, weil ich arm bin, dann ist
für mich alles in Ordnung“, so muss sich doch auch der Arme hinsichtlich der
zweiten Art in acht nehmen, da selbst der elendste unter den Menschen in
sündhafter Weise reich im Geist werden kann, denn wer einer Sache übermässig
ergeben ist, sündigt.
Ihr werdet sagen: „Wir sollen also das Gute, das Gott uns
gewährt, hassen. Warum gebietet er dann, Vater und Mutter, Gattin und Kinder zu
lieben, und sagt: ‚Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst‘?“ Ihr müsst
unterscheiden. Wir müssen den Vater, die Mutter, die Ehefrau und den Nächsten
lieben, aber in dem Masse, wie es uns von Gott befohlen wurde: wie uns selbst.
Gott hingegen müssen wir über alles lieben und mit unserem ganzen Sein. Gott
soll nicht in der Weise geliebt werden, wie wir die unter unseren Mitmenschen
lieben, die uns am nächsten stehen: die eine, weil sie uns gestillt hat, die
andere, weil sie an unserer Brust schläft und uns ein Kind gebiert; nein, Gott
soll mit unserem ganzen Sein geliebt werden, was heissen will, mit der
ganzen Liebesfähigkeit des Menschen: mit der Liebe des Kindes, des Gatten, des
Freundes, und – oh! empört euch nicht! – des Vaters. Ja, der Sache Gottes müssen
wir die Sorge eines Vaters für seine Kinder angedeihen lassen. Mit Liebe sichert
und mehrt er ihren Besitz, sorgt sich um ihr körperliches Gedeihen, lässt sie
ausbilden und bemüht sich um ihr Zurechtkommen im Leben.
Die Liebe ist nichts
Schlechtes und soll es nicht werden. Die Gnaden, die Gott gewährt, sind nichts
Schlechtes und dürfen es nicht werden. Sie sind Liebe. Aus Liebe werden sie uns
geschenkt. Darum soll man sich dieser Reichtümer, die uns Gott aus Liebe und
Güte gewährt, in Liebe bedienen, und nur, wer sie nicht zu Abgöttern macht,
sondern zum Mittel, um Gott in Heiligkeit zu dienen, beweist, dass er keine
sündhafte Anhänglichkeit an sie hat. Er übt die heilige Armut im Geist und
entäussert sich von allem, um frei zu sein und Gott, den höchsten Reichtum, und
mit ihm das Himmelreich zu erwerben.
„Selig, wenn ich sanftmütig bin.“
Diese
Aussage steht anscheinend im Widerspruch zu den Beispielen des täglichen Lebens,
denn nicht die Sanftmütigen scheinen in den Familien, in den Städten und in den
Nationen zu triumphieren. Aber ist es ein wahrer Triumph? Nein! Es ist nur die
Angst, welche die vom Despoten Unterdrückten scheinbar gefügig macht; in
Wirklichkeit ist sie der Deckmantel für eine überbordende Auflehnung gegen den
Tyrannen. Die Jähzornigen und Herrschsüchtigen besitzen die Herzen der
Familienangehörigen, der Mitbürger und der Untertanen nicht. Sie vermögen nicht,
Verstand und Geist ihren Lehren zu unterwerfen, diese Meister des: „Ich habe es
gesagt.“ Sie schaffen nur Autodidakten, Suchende nach einem geeigneten
Schlüssel, um die verschlossenen Tore einer Weisheit oder einer Wissenschaft
aufzuschliessen, deren Existenz sie ahnen, die aber im Widerspruch zu der ihnen
aufgezwungenen steht.
Jene Priester, die nicht mit geduldiger, demütiger und
liebevoller Sanftmut Seelen zu gewinnen suchen, sondern bewaffneten Kriegern
gleich, überfallartig, anmassend und keinen Widerspruch duldend auf ihr
Ziel losgehen, führen die Seelen nicht zu Gott . . . Oh, arme Seelen! Wären sie
heilig, hätten sie euch, ihr Priester, nicht nötig, um zum Lichte zu gelangen!
Sie hätten das Licht bereits in sich. Wären sie gerecht, hätten sie euch,
Richter, nicht nötig, um am Zügel der Gerechtigkeit gehalten zu werden, sie
hätten die Gerechtigkeit schon in sich. Wären sie gesund, hätten sie eure
Fürsorge nicht nötig. Seid daher sanftmütig! Treibt die Seelen nicht in die
Flucht! Zieht sie mit Liebe an, denn die Sanftmut ist Liebe, so wie es die Armut
im Geiste ist.
Wenn ihr sanftmütig seid, werdet ihr das Land erben und diesen
Boden für Gott gewinnen, noch bevor Satan von ihm Besitz ergreift, denn eure
Sanftmut, die ausser Liebe auch Demut ist, wird den Hass und den Stolz besiegen
und den schändlichen König des Stolzes und des Hasses aus den Herzen verbannen.
So wird die Welt euch, also Gott, gehören; denn ihr seid dann gerecht, wenn ihr
Gott als den absoluten Herrn der Schöpfung anerkennt, dem Ehre und Lobpreis
gebührt und dem sein Eigentum zurückgegeben wird.
„Selig, wenn ich mich im Leid
nicht auflehne.“
Der Schmerz ist auf Erden, und der Schmerz lässt den Menschen
Tränen vergiessen. Den Schmerz gab es nicht, doch der Mensch brachte ihn in die
Welt und bemüht sich wegen der Entartung seines Geistes mit allen Mitteln
ständig darum, ihn zu vermehren. Ausser Krankheiten und dem Unheil, das
Blitzschlag, Unwetter, Lawinen, Erdbeben nach sich ziehen, sucht der Mensch, um
zu leiden und besonders, um andere leiden zu lassen, immer schrecklichere
tödliche Waffen und immer grausamere moralische Härten, und mit raffinierten
Mitteln versucht er, anderen den Schmerz zu bereiten, von dem er selbst jedoch
frei sein möchte. Wieviel Tränen verursacht der Mensch dem Mitmenschen durch die
Anstiftung seines geheimen Königs, Satan! Trotzdem sage ich euch in Wahrheit,
dass alle deshalb vergossenen Tränen für die Menschen nicht eine Erniedrigung,
sondern eine Vervollkommnung bedeuten.
Der Mensch ist ein gedankenloses Kind,
ein unbeschwertes, sorgloses, ein geistig zurückgebliebenes Wesen, bis
ihn das Leid reif, besinnlich und verständig werden lässt. Nur jene, die ein
Leid zu tragen hatten, sind imstande zu lieben, zu verstehen und den wie sie
leidenden Brüdern Liebe zu schenken, sie in ihren Schmerzen zu begreifen und
ihnen gütig beizustehen, da sie aus eigener Erfahrung wissen, wie weh es tut, im
Leid allein zu sein. Auch vermögen sie Gott zu lieben, weil sie erkannt haben,
dass ausser Gott alles Leid ist; weil sie begriffen haben, dass der Schmerz,
wenn wir ihn am Herzen Gottes ausweinen, nachlässt; weil sie begriffen haben,
dass das ergeben getragene Leid, das den Glauben nicht ins Wanken, das Gebet
nicht zum Versiegen bringt und frei von Auflehnung ist, dessen Wesen ändert und
den Schmerz zur Tröstung werden lässt. Ja, die weinen und Gott lieben, werden
getröstet werden!
„Selig, wenn ich hungere und dürste nach der Gerechtigkeit.“
Von der Geburt bis zum Tode verlangt der Mensch gierig nach Nahrung. Er öffnet
nach der Geburt den Mund, um die Brust der Mutter zu ergreifen. Er öffnet im
Sterben die Lippen, um in der Beklemmung des Todeskampfes Labung zu suchen. Er
arbeitet, um sich zu ernähren. Er macht aus der Erde ein riesiges Euter, an dem
er unersättlich saugt und saugt von dem, was vergänglich ist. Aber was ist der
Mensch? Ein Tier? Nein, er ist ein Kind Gottes, das sich für wenige oder viele
Jahre im Exil befindet. Aber sein Leben endet nicht mit dem Wechsel seines
Aufenthaltes.
Es gibt ein Leben im Leben, so wie in einer Nussschale der Kern
enthalten ist. Nicht die Schale ist die Nuss, sondern der innere Kern. Wenn ihr
eine Nussschale pflanzt, dann wächst nichts, wenn ihr aber die Schale mit dem
Kern pflanzt, dann wächst ein grosser Baum. So ist es auch beim Menschen. Nicht
der Körper ist unsterblich, sondern die Seele, und sie muss genährt werden, um
ihre Unsterblichkeit zu sichern, zu der sie dann aus Liebe den Körper bei der
seligen Auferstehung führen wird. Die Nahrung der Seele sind Weisheit und
Gerechtigkeit. Wie Speise und Trank werden sie aufgenommen und stärken, und je
mehr man davon kostet, um so mehr wächst das heilige Verlangen nach dem
Besitz der Weisheit und dem Erkennen der Gerechtigkeit. Aber es wird auch ein
Tag kommen, da dieser unersättliche heilige Hunger der Seele gestillt sein wird.
Er wird kommen. Gott wird sich seinem Geschöpfe hingeben und es direkt an seine
Brust legen, und der für das Paradies Geborene wird sich sättigen an der
bewunderungswürdigen Mutter, die Gott selber ist. Nie mehr wird er Hunger
leiden, sondern glücklich an der göttlichen Brust ruhen. Keine menschliche
Wissenschaft kommt dieser göttlichen gleich. Die Wissbegier des Geistes kann
durch die menschliche Wissenschaft gestillt werden, das Bedürfnis der Seele aber
nicht. In der Verschiedenheit des Geschmackes empfindet die Seele eher Ekel, und
sie wendet den Mund ab von dieser bitteren Nahrung und zieht es vor, Hunger zu
leiden, anstatt sich mit einer Speise zu sättigen, die nicht von Gott kommt.
Habt keine Angst, ihr, die ihr nach Gott dürstet und hungert! Bleibt treu, und
ihr werdet von dem gesättigt werden, der euch liebt.
„Selig, wenn ich
Barmherzigkeit übe.“
Wer unter den Menschen kann sagen: „Ich brauche keine
Barmherzigkeit?“ Niemand! Wenn auch im Alten Gesetz geschrieben steht: „Auge um
Auge und Zahn um Zahn“, warum sollte es dann im Neuen Gesetz nicht heissen: „Wer
Barmherzigkeit übt, dem wird Barmherzigkeit zuteil werden“? Alle bedürfen der
Verzeihung.
Nun, nicht die Worte und die äussere Form eines Ritus, nicht die
Symbole, die dem Menschen in der Trübheit seines Geistes zugebilligt wurden,
bewirken die Vergebung, sondern der innere Akt der Liebe, oder, wiederum der
Barmherzigkeit. Wenn das Opfer einer Ziege oder eines Lammes und die Gabe
einiger Münzen auferlegt wurden, dann geschah dies, weil jedes Übel letztlich
zwei Wurzeln hat: die Habsucht und den Stolz. Die Habsucht wird mit der Ausgabe
für die Beschaffung des Opfers bestraft, der Stolz mit dem offenkundigen
rituellen Bekenntnis, indem man gesteht: „Ich bringe diese Opfer dar, weil ich
gesündigt habe.“ Es geschah auch, um damit die Zeit und das Zeichen der Zeit
vorwegzunehmen, denn das dabei vergossene Blut symbolisiert das göttliche
Blut, das vergossen werden wird, um die Sünden der Menschheit zu tilgen.
Daher
selig, wer Barmherzigkeit übt an Hungernden, Nackten und Obdachlosen, aber auch
an den noch Elenderen, die durch ihren schlechten Charakter ihrer Umgebung und
ihren Mitmenschen Leid zufügen. Habt Erbarmen, verzeiht, seid nachsichtig,
hilfsbereit, belehrt und stärkt sie. Schliesst euch nicht in einen Kristallturm
ein und sagt: „Ich bin rein und mische mich nicht unter die Sünder.“ Sagt nicht:
„Ich bin reich und glücklich und will nichts vom Elend hören.“ Gebt acht, denn
noch schneller als der Rauch, den der Wind verweht, kann euer Reichtum, eure
Gesundheit und euer häusliches Glück entschwinden. Denkt daran, dass der
Kristall wie ein Vergrösserungsglas wirkt, denn hättet ihr euch unter die
Menschen begeben, wäret ihr unbemerkt geblieben; in einem Kristallturm
eingeschlossen aber, allein, abgeschieden und allen Blicken ausgesetzt, bleibt
ihr nicht mehr verborgen.
Übt Barmherzigkeit, um damit ein geheimes,
ununterbrochenes, heiliges Opfer der Sühne zu vollbringen und selbst
Barmherzigkeit zu erlangen.
„Selig bin ich, wenn ich reinen Herzens bin.“
Gott ist die Reinheit! Das Paradies ist das Reich der
Reinheit. Nichts Unreines kann in den Himmel eingehen, wo Gott ist. Wenn ihr
also unrein seid, werdet ihr nicht in den Himmel, in das Reich Gottes, eingehen.
Aber, o Freude! Vorfreude, die der Vater seinen Kindern schenkt! Wer rein ist,
hat schon auf Erden eine Vorahnung des Himmels, denn Gott neigt sich über den
Reinen, und der Mensch schaut schon auf dieser Erde seinen Gott
15; Der Reine kennt nicht die Freude der
menschlichen Liebe, aber er kennt die Wonne der göttlichen Liebe bis zur
Verzückung und kann sagen: „Ich bin bei dir und du in mir, und daher besitze und
kenne ich dich als liebenswürdigsten Bräutigam meiner Seele.“ Glaubt mir, wer
Gott besitzt, erfährt unerklärliche, grundlegende Veränderungen, die ihn heilig,
weise und stark werden lassen; auf seinen Lippen erblühen Worte und seine
Handlungen sind von einer Macht getragen, die ihren Ursprung nicht in ihm selbst
hat, sondern in Gott, der in ihm lebt.
Was ist das Leben des Menschen, der Gott
schaut? Seligkeit. Möchtet ihr euch wegen niedriger Unreinheit einer solchen
Gabe berauben?
„Selig, wenn ich den Geist des Friedens besitze.“
Der Friede ist
eine der Eigenschaften Gottes. Gott ist im Frieden, denn der Friede ist Liebe,
der Krieg aber Hass. Der Teufel ist Hass. Gott ist Friede. Ein jähzorniger
Mensch, jederzeit zu wüten und zu toben bereit, kann sich nicht Kind Gottes
nennen, und Gott kann ihn nicht sein Kind nennen.
Doch auch der kann sich nicht
Kind Gottes nennen, der sich nicht bemüht, einen Streit, selbst wenn er ihn
nicht ausgelöst hat, durch seine Ruhe und seinen inneren Frieden zu besänftigen.
Ein friedfertiger Mensch verbreitet, auch ohne zu sprechen, Friede.
16
Als Herr
seiner selbst, und ich wage es zu sagen, als Gebieter über Gott, trägt er ihn in
sich, gleich wie eine Lampe das Licht, wie ein Weihrauchfass den Wohlgeruch des
Weihrauchs und wie ein Schlauch die Flüssigkeit. Es wird Licht inmitten von
rauchigen Nebeln des
Grolls, die Luft wird rein vom Gifthauch der Missgunst, und die tobenden Wogen
der Streitigkeiten beruhigen sich unter dem Einfluss des milden Öls des Geistes
des Friedens, den die Kinder Gottes ausströmen.
Handelt so, dass Gott und die
Menschen euch friedfertig nennen können.
„Selig, wenn ich um der Gerechtigkeit
willen Verfolgung leide.“
Der Mensch ist so sehr von Satan beherrscht, dass er
das Gute hasst, wo immer er es antrifft. Er hasst den Guten, als ob jeder gute
Mensch ihn anklagen und ihm Vorwürfe machen wollte, auch wenn dieser schweigt.
Tatsächlich lässt die Güte eines Menschen die Bosheit des Bösen noch deutlicher
zutage treten. Der Glaube des wahrhaft Glaubenden lässt die Scheinheiligkeit des
falschen Gläubigen noch offenkundiger hervortreten. Und so kann es nicht anders
sein, als dass der Ungerechte den hasst, der durch seinen Lebenswandel ein
stetes Zeugnis für die Gerechtigkeit ablegt. Daher gerät man in Wut über die
Menschen, die die Gerechtigkeit lieben.
Auch hier ist es wie bei den Kriegen.
Der Mensch macht in der satanischen Kunst der Verfolgung mehr Fortschritte als
in der heiligen Kunst der Liebe. Aber er kann nur verfolgen, was ein kurzes
Leben hat. Das Ewige im Menschen entgeht seinen Nachstellungen und erwirbt durch
die Verfolgung noch mehr Lebenskraft. Das Leben entschwindet durch die Wunden
der geöffneten Adern oder durch sonstige Leiden, die den Verfolgten erliegen
lassen. Doch das Blut wird zum Purpur des künftigen Königs, und die Leiden
wandeln sich in ebensoviele Stufen, die ihn hinauf zum Throne führen, den der
Vater seinen Märtyrern, denen die königlichen Sitze des Himmelreiches
vorbehalten sind, bereitet hat.
„Selig, wenn ich geschmäht und verleugnet
werde.“
Seht zu, dass euer Name in den himmlischen Büchern eingetragen sei, in
denen nicht die Namen entsprechend den menschlichen Lügen aufgezeichnet sind und
jene gelobt werden, die eine Auszeichnung am wenigsten verdienen, sondern wo die
Werke der Guten in Gerechtigkeit und Liebe geschrieben stehen, um ihnen die
den Gesegneten Gottes verheissene Belohnung zuteil werden zu lassen.
In der
Vergangenheit waren es die Propheten, die verleumdet und geschmäht wurden. Aber
wenn sich die Pforten des Himmels öffnen, werden sie wie mächtige Könige in die
Stadt Gottes einziehen, und die Engel werden sich vor ihnen verneigen und
freudig singen. Auch ihr, auch ihr, die ihr verleumdet und geschmäht werdet,
weil ihr Gott angehört, werdet den himmlischen Triumph feiern. Und wenn die Zeit
erfüllt und das Paradies vollendet ist, dann werdet ihr den Wert jeder Träne
erkennen, denn ihretwegen habt ihr diese ewige Herrlichkeit erworben, die ich
euch im Namen des Vaters verheisse.
Gehet hin! Morgen werde ich wieder zu euch
sprechen. Nur die Kranken sollen noch hier bleiben, damit ich ihnen in ihren
Leiden helfen kann. Der Friede sei mit euch, und die Betrachtung über das Heil
durch die Liebe führe euch auf den Weg zum Himmel.«
210 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Zweiter Teil)
Ort und Stunde sind immer die gleichen. Die
Menschenmenge hat noch zugenommen. In einer Ecke, an einer Wegbiegung, so als
wolle er zuhören ohne den Widerwillen der Leute zu erregen, steht ein Römer. Ich
erkenne ihn an seinem kurzen Gewand und dem andersartigen Mantel als Römer. Auch
Stephanus und Hermas sind immer noch da. Jesus geht langsam zu seinem Platz und
fährt mit seiner Predigt fort.
»Aus dem, was ich euch gestern gesagt habe, dürft
ihr nicht schliessen, ich sei gekommen, um das Gesetz aufzuheben. Nein. Doch als
Menschensohn verstehe ich die Schwächen des Menschen und ich möchte euch nur
ermutigen, es zu befolgen und euer geistiges Auge nicht auf den dunklen Abgrund,
sondern auf den Abgrund des Lichtes zu lenken. Denn, wenn die Angst vor der
Strafe die Menschen in drei von zehn Malen von der Sünde abhalten kann, so
verleiht ihm die Gewissheit einer Belohnung in sieben von zehn Malen Auftrieb.
Die Zuversicht vermag also mehr als die Angst, und ich will, dass sie in
euch vollkommen und fest verankert sei, damit ihr nicht in sieben von zehn
Teilen, sondern in zehn von zehn Teilen gut handelt, um so die heiligste
Belohnung des Himmels zu erwerben.
Ich ändere kein Jota des Gesetzes. Denn wer
hat es unter den Blitzen des Sinai gegeben? Der Allerhöchste.
Wer ist der
Allerhöchste? Der eine und dreieinige Gott.
Woher hat er das Gesetz genommen?
Aus seinen Gedanken.
Wie hat er es gegeben? Durch sein Wort.
Warum hat er es
gegeben? Aus Liebe.
Ihr seht also, dass die Dreifaltigkeit zugegen war. Das dem
Gedanken und der Liebe stets gehorsame Wort sprach im Namen des Gedankens und
der Liebe.
Könnte ich mir selbst widersprechen? Ich könnte es nicht. Aber ich
kann, da ich alles vermag, das Gesetz vervollständigen, es göttlich
vervollständigen. Nicht wie es die Menschen im Laufe der Jahrhunderte getan
haben, die es nur immer schwieriger zu verstehen und einzuhalten werden liessen
durch Gesetze und Vorschriften und Vorschriften und Gesetze, die sie zu ihrem
eigenen Nutzen erdacht haben. Mit diesen Trümmern haben sie das heiligste
Gesetz, das uns von Gott gegeben wurde, gesteinigt und erstickt, verschüttet und
unfruchtbar gemacht Kann eine Pflanze überleben, wenn Lawinen und Geröll sie für
immer unter sich begraben und Überschwemmungen sie überfluten? Nein, die Pflanze
stirbt. Das Gesetz ist in vielen Herzen tot, weil es durch zu viel Überflüssiges
erstickt wurde. Dies wegzuräumen bin ich gekommen, und wenn das Gesetz einmal
freigelegt und auferstanden sein wird, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern
König sein.
Die Könige erlassen die Gesetze. Gesetze sind das Werk der Könige,
aber sie sind nicht mehr wie Könige. Ich hingegen mache aus dem Gesetz einen
König: Ich vervollständige es und setze ihm mit den evangelischen Räten die
Krone auf, mit den Ratschlägen zur Übung der Tugenden. Zuerst gab es den Befehl,
jetzt gibt es mehr als den Befehl. Zuerst gab es das Notwendige, jetzt gibt
es mehr als das Notwendige, jetzt gibt es das Vollkommene. Wer es annimmt, wie
ich es euch schenke, ist sogleich ein König, weil er das ‚Vollkommene‘ erreicht
hat, weil er nicht nur gehorsam, sondern heldenhaft, also heilig war. Denn die
Heiligkeit ist die Summe aller Tugenden, die höchste von einem Geschöpf
erreichbare Stufe, wenn es in heldenhafter Weise und in vollkommener Loslösung
von allem, was menschliche Begierde und Überlegung ist, gelebt und gedient hat.
Ich könnte sagen, den Heiligen hindern Liebe und Sehnsucht, sein Auge auf irgend
etwas anderes zu lenken, als auf Gott. Nicht durch niedrige Dinge abgelenkt,
sind die Augen seines Herzens inständig auf die Herrlichkeit der höchsten
Heiligkeit Gottes gerichtet. Im Lichte Gottes sieht er die Brüder in Bedrängnis,
die flehend ihre Hände ausstrecken. Ohne seinen Blick von Gott abzuwenden,
begibt sich der Heilige helfend zu seinen bittenden Brüdern. Wider das Fleisch,
wider die Reichtümer und die Bequemlichkeit verwirklicht er sein Ideal: zu
dienen. Ist der Heilige deshalb ein Armer, ein Herabgesetzter? Nein. Er hat die
wahre Weisheit und den wahren Reichtum erlangt, und darum besitzt er alles. Er
verspürt auch keine Müdigkeit, denn da er ständig arbeitet, hat er stets genug,
um sich zu ernähren, und da er das Leid der Welt erkennt, weidet er sich an der
Seligkeit des Himmels. Er nährt sich von Gott und erfreut sich in Gott. Er ist
das Geschöpf, das den Sinn des Lebens erkannt hat.
Wie ihr seht, verändere und
verunstalte ich das Gesetz nicht. Ich verfälsche es auch nicht mit dem Beiwerk
gärender menschlicher Theorie, sondern ich vervollständige es. Das Gesetz
bleibt, was es sein muss, und als solches wird es bis zum letzten Tag
fortbestehen, ohne dass ein Wort verändert oder eine Vorschrift aufgehoben würde;
aber es wird mit Vollkommenheit gekrönt. Um das Heil zu erlangen genügt es, das
Gesetz anzunehmen, wie es gegeben wurde. Um die unmittelbare Einheit mit Gott zu
erreichen, muss es so gelebt werden, wie ich es euch sage. Da jedoch die Helden
eine Ausnahme bilden, wende ich mich an die gewöhnlichen Menschen, an die
Masse der Seelen, damit man nicht sagen kann, ich wäre um der Vollkommenheit
willen am Notwendigsten vorbeigegangen. Von dem, was ich euch sage, behaltet vor
allem folgendes: wer sich erlaubt, eines der geringsten dieser Gebote zu
übertreten, wird im Himmelreich gering geschätzt werden, und wer andere dazu
verleitet, sie zu übertreten, wird gering geachtet werden; und nicht nur er
selbst, sondern auch der, den er zur Übertretung verleitet hat. Wer aber durch
seine Lebensweise und seine Werke andere zum Gehorsam geführt hat, wird gross
sein im Himmelreich, und seine Grösse wird zunehmen mit jedem, den er zum
Gehorsam und zur Selbstheiligung angespornt hat. Ich weiss, dass meine Worte für
viele einen bitteren Geschmack haben; aber ich kann nicht lügen, auch wenn die
Wahrheit, die ich euch verkünde, mir Feinde schaffen wird.
In Wahrheit sage ich
euch, wenn eure Gerechtigkeit sich nicht erneuert, wenn sie sich nicht
vollkommen lossagt von der erbärmlichen und fälschlich so bezeichneten
„Gerechtigkeit“, die euch von Schriftgelehrten und Pharisäern gelehrt wurde;
wenn ihr nicht viel mehr seid als Gerechte im Sinne der Pharisäer und
Schriftgelehrten, die glauben es zu sein, wenn sie die Formeln mehren, ohne
jedoch die Seelen grundlegend zu ändern, dann werdet ihr nicht ins Himmelreich
eingehen.
Hütet euch vor falschen Propheten und vor in die Irre gegangenen
Gelehrten. Sie kommen zu euch in Schafskleidern, sind aber reissende Wölfe; sie
kommen im Kleide der Heiligkeit und sind Gottesverächter; sie behaupten, die
Wahrheit zu lieben und weiden sich an Lügen. Prüft sie, bevor ihr ihnen folgt.
Der Mensch hat eine Zunge, und mit dieser spricht er. Er hat Augen, und mit
diesen sieht er. Er hat Hände, und mit diesen macht er Zeichen. Aber er hat noch
etwas anderes, das mehr als alles andere über sein wahres Wesen aussagt: es sind
seine Werke. Was sind zwei Hände, die zum Gebet gefaltet sind, wenn der Mensch
ein Dieb und Unkeuscher ist? Was sind zwei Augen, die Verzückung vortäuschen,
sich in alle Richtungen verdrehen, aber nach Beendigung des Schauspiels
imstande sind, den Blick begierlich auf die Frau zu richten oder auf den Feind,
oder gar nach Unzucht oder Mord Ausschau zu halten? Und wie soll man eine Zunge
nennen, die in lügnerischen Lobgesängen zu schmeicheln versteht und mit
honigsüssen Redewendungen verführt, während sie euch dann hinter eurem Rücken
verleumdet und es sogar fertigbringt, falsch zu schwören, nur damit man euch für
verachtungswürdige Menschen hält? Was ist eine Zunge, die lange heuchlerische
Gebete verrichtet und gleich danach den guten Ruf des Nächsten untergräbt oder
dessen Gutgläubigkeit täuscht? Widerlich, widerlich sind lügnerische Augen und
Hände. Aber die Werke des Menschen, die tatsächlichen Werke, also die Art sich
in der Familie, im Umgang mit dem Nächsten und den Dienern zu benehmen,
bezeugen: ‚Dieser ist ein Diener des Herrn‘, denn die heiligen Werke sind die
Frucht einer wahren Religion.
Ein guter Baum gibt keine schlechten Früchte, und
ein schlechter Baum gibt keine guten Früchte. Könnten diese stacheligen Schlehen
jemals saftige Weintrauben hervorbringen, und könnten die noch lästigeren
Disteln weiche Feigen reifen lassen? Nein, sicher werdet ihr wenige und herbe
Beeren von den ersten pflücken, und ungeniessbare Früchte werden auch die
Disteln tragen, deren Blüten schon aus Stacheln bestehen. Der nicht gerechte
Mensch vermag sich nur durch den äusseren Anschein Achtung zu verschaffen. Auch
diese flaumige Distelblüte scheint ein Knäuel feiner Silberfäden zu sein, die
der Tau mit Diamanten geschmückt hat. Berührt man sie aber versehentlich, ist
sie nicht wie ein weicher Knäuel, sondern als ein Bündel Stacheln anzufassen.
Für den Menschen lästig und für die Schafe schädlich, wird sie von den Hirten
ausgerissen und ins nächtliche Feuer geworfen, damit nicht einmal die Samen
überleben: eine gute und vorsorgliche Massnahme. Ich sage euch nicht: „Tötet die
falschen Propheten und die scheinheiligen Gläubigen.“ Ich sage vielmehr:
„Überlasst Gott das Gericht“, und: „Habt acht; meidet sie, damit sie euch nicht
mit ihren Säften vergiften.“
Gestern habe ich euch gesagt, wie Gott geliebt
werden muss. Nun sage ich euch, wie der Nächste geliebt werden muss.
Es gab eine
Zeit, wo man sagte: „Liebe deinen Freund, deinen Feind aber hasse.“ Nein, so
nicht. Das konnte gelten für die Zeiten, in denen der Mensch den Trost des
Lächelns Gottes nicht kannte. Doch jetzt kommen die neuen Zeiten, in denen Gott
die Menschen so liebt, dass er ihnen sein Wort sendet, um sie zu erlösen. Jetzt
spricht das Wort, und die Gnade strömt schon aus. Dann wird das Wort das Opfer
des Friedens und der Erlösung vollbringen, und die Gnade wird nicht nur
ausströmen, sondern sie wird jeder Seele, die an Christus glaubt, geschenkt
werden. Daher muss die Nächstenliebe zu der Vollkommenheit erhoben werden, die
den Freund mit dem Feind vereinigt.
Werdet ihr verleumdet? Liebt und verzeiht!
Werdet ihr geschlagen? Liebt und reicht dem, der euch schlägt, auch die andere Wange; denkt, dass es besser ist, dass der Zorn sich über euch ergiesse,
die ihr versteht, ihn zu ertragen, als über einen anderen, der sich für die
Beleidigung sofort rächen würde. Hat man euch beraubt? Denkt nicht: „Dieser mein
Nächster ist habgierig“, seid barmherzig und denkt: „Dieser mein armer Bruder
ist bedürftig“, und gebt ihm auch den Rock, wenn er euch den Mantel genommen
hat. So macht ihr es ihm unmöglich einen zweifachen Diebstahl zu begehen, weil
er es nicht mehr nötig hat, einem anderen den Rock zu stehlen. Ihr sagt: „Es
könnte aber auch Laster und nicht Bedürftigkeit sein.“ Nun, gebt gleichwohl,
Gott wird es euch vergelten, und der Missetäter wird es büssen. Doch sehr oft –
und ich erinnere euch an das, was ich gestern über die Sanftmut gesagt habe –
fällt das Laster vom Herzen des Sünders, wenn er sich so behandelt sieht, und er
befreit sich davon, macht den Diebstahl wieder gut und erstattet das Gestohlene
zurück.
Seid grosszügig mit jenen, die rechtschaffener sind und euch um das
bitten, was sie nötig haben, anstatt euch zu berauben. Wenn die Reichen wirklich
arm im Geiste wären, wie ich es gestern gelehrt habe, dann gäbe es keine
leidigen gesellschaftlichen Unterschiede, die Ursache so viel menschlichen und
übermenschlichen Unglücks. Denkt immer: „Wenn ich in Not wäre, wie würde ich die
Verweigerung einer Hilfe empfinden?“ und handelt dann im Einklang mit der
Antwort eures Ich. Tut den anderen, was ihr wünscht, dass man auch euch tue, und
fügt ihnen nicht zu, was ihr nicht möchtet, dass euch zugefügt werde.
Der alte
Spruch: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, der nicht in den zehn Geboten steht, aber
gesagt wurde, weil der Mensch ohne Gnade ein für nichts anderes als für die
Rache zugänglicher Unmensch ist, wird nun ungültig und entkräftet durch das neue
Wort: „Liebe den, der dich hasst; bete für den, der dich verfolgt; sei
nachsichtig mit dem, der dich verleumdet; segne den, der dich verflucht; tue
Gutes dem, der dir Schaden zufügt; sei friedfertig mit dem Streitsüchtigen,
nachgiebig mit dem Lästigen; hilf gerne dem, der dich um Hilfe bittet, und
treibe keinen Wucher; kritisiere und richte nicht.“ Ihr könnt die äusserste Not,
die einen Menschen zu gewissen Handlungen treibt, nicht ermessen. In allen
Hilfeleistungen seid grosszügig, seid barmherzig. Je mehr ihr gebt, um so mehr
wird euch gegeben werden. Ein volles Mass wird Gott in den Schoss dessen
ausschütten, der grossherzig gewesen ist. Gott wird euch nicht nur in dem Masse
geben, in dem ihr gegeben habt, sondern viel mehr. Bemüht euch, zu lieben, um
selbst liebenswert zu sein. Streitigkeiten kommen teurer zu stehen als
freundschaftliche Übereinkunft, und die Liebenswürdigkeit ist wie Honig, dessen
Süsse lange auf der Zunge bleibt.
Liebt, liebt! Liebt die Freunde und die
Feinde, um eurem Vater ähnlich zu sein, der über Gute und Böse regnen und die
Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen lässt, der es sich aber vorbehält,
mit ewiger Sonne und ewigem Tau, mit höllischem Feuer und höllischem Hagel zu
vergelten, wenn die Guten wie erlesene Ähren unter den Erntegarben ausgewählt
werden. Es genügt nicht, jene zu lieben, die euch lieben und von denen ihr euch
eine Gegenleistung erhofft. Das ist kein Verdienst. Es ist vielmehr eine
Freude, und auch die von Natur aus ehrbaren Menschen können es tun. Auch die
Zöllner und die Heiden handeln so. Aber ihr sollt wie Gott und aus Ehrfurcht vor
Gott lieben, denn er ist auch der Schöpfer jener, die sich euch gegenüber
feindselig oder nicht gerade liebenswürdig benehmen. Ich verlange von euch die
vollkommene Liebe und sage deshalb „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel
vollkommen ist.“
So gross ist das Gebot der Nächstenliebe, die Vervollkommnung
des Gebotes der Nächstenliebe, dass ich nicht mehr sage, wie euch geboten wurde
„Ihr sollt nicht töten“, denn wer tötet, wird durch die Menschen verurteilt
werden. Ich sage euch vielmehr: „Lasst keinen Zorn in euch aufkommen“, denn ein
weit höheres Gericht steht über euch und erwägt auch die verborgenen Taten. Wer
den Bruder beleidigt, wird vom Hohen Rat verurteilt. Wer ihn aber einen Narren
nennt und dadurch schädigt, wird von Gott verurteilt. Vergebens ist es, am Altar
zu opfern, wenn man nicht vorher im Inneren seines Herzens aus Liebe zu Gott
seinen Groll zum Opfer gebracht und den heiligsten Akt des Verzeihens vollzogen
hat. Wenn du also Gott ein Opfer darbringen willst und dich erinnerst, dass du
gegen deinen Bruder gefehlt hast oder dass du ihm wegen einer Schuld seinerseits
grollst, dann lasse deine Gabe vor dem Altar, opfere zuerst deine Eigenliebe und
versöhne dich mit deinem Bruder. Dann komm zum Altar, und dann, erst dann, wird
dein Opfer heilig sein. Ein gutes Einvernehmen ist immer die beste Lösung.
Fragwürdig ist das Urteil des Menschen, und wer hartnäckig einen Rechtstreit
herausfordert, könnte den Prozess verlieren und dem Gegner alles bis zum letzten
Heller bezahlen oder im Gefängnis schmachten müssen.
Erhebt in allen Dingen den
Blick zum Himmel. Fragt euch: „Habe ich das Recht zu tun, was Gott nicht mit mir
tut?“ Denn Gott ist nicht so unerbittlich und unnachgiebig, wie ihr es seid.
Wehe euch, wenn er es wäre! Kein einziger würde gerettet werden. Diese
Überlegung führe euch zu sanftmütigen, demütigen, barmherzigen Gefühlen. So wird
die Vergeltung Gottes hier auf Erden und im Himmel nicht ausbleiben.
Hier
vor mir steht ein Mann, der mich hasst und es nicht wagt, zu sagen „Heile mich“;
denn er weiss, dass ich seine Gedanken kenne. Doch ich sage: „Es geschehe dir
nach deinem Wunsche. Und wie dir die Schuppen von den Augen fallen, so mögen
auch Rachsucht und Finsternis aus deinem Herzen weichen.“
Geht alle mit meinem
Frieden! Morgen werde ich wieder zu euch sprechen.«
Die Menschenmenge zerstreut
sich langsam, vielleicht in Erwartung eines Freudenschreis über ein Wunder, der
aber ausbleibt.
Auch die Apostel und die älteren Jünger, die auf dem Berge
bleiben, fragen: »Wen hast du gemeint? Ist er vielleicht nicht geheilt worden?«
Sie bedrängen den Meister, der mit verschränkten Armen stehengeblieben ist und
den Leuten nachsieht, die hinuntersteigen.
Jesus antwortet zuerst nicht. Dann
sagt er: »Die Augen sind geheilt, die Seele nicht, es ist nicht möglich, weil
sie voller Hass ist.«
»Aber um wen handelt es sich? Vielleicht um den Römer?«
»Nein, um einen Unglücklichen.«
»Aber warum hast du ihn denn geheilt?« fragt
Petrus.
»Sollte ich alle seinesgleichen vom Blitz treffen lassen?«
»Herr, ich
weiss, dass du nicht willst, dass ich „Ja“ sage, und darum sage ich es nicht,
aber . . . ich denke es . . . und das ist dasselbe.«
»Es ist dasselbe, Simon des
Jona, aber wisse, dass dann . . . Oh, wie viele Herzen, mit Schuppen des Hasses
bedeckt, umgeben mich!
Komm, lass uns auf den Gipfel steigen, um aus der Höhe
unser schönes galiläisches Meer zu bewundern. Ich und du allein . . . «
211 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Dritter Teil)
Derselbe Platz, dieselbe Stunde. Die Menschenmenge ist
dieselbe und vielleicht noch grösser, denn viele stehen bis zu den Wegen, die ins
kleine Tal führen. Nur der Römer fehlt.
Jesus spricht:
»Einer der Fehler,
denen der Mensch leicht verfällt, ist der Mangel an Ehrlichkeit, auch sich
selbst gegenüber. Da der Mensch schwerlich aufrichtig und ehrlich ist, hat er
sich selbst einen Zügel angelegt, der ihn zwingt, den vorgeschriebenen Weg zu
gehen. Einen Zügel, den er allerdings wie ein unbändiges Pferd rasch lockert, um
seine Gangart zu ändern, oder dessen er sich ganz entledigt, um ohne weitere
Überlegung alles tun zu können, was ihm eine solche Handlungsweise an Vorwürfen
von seiten Gottes, der Menschen und seines eigenen Gewissens einbringen könnte.
Dieser Zügel ist der Schwur. Doch ein Eid ist unter Ehrlichen nicht nötig, und
es ist nicht Gott, der ihn euch gelehrt hat. Im Gegenteil, er hat euch geboten:
„Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen.“ Diesem Gebot hat er nichts
hinzugefügt! Denn der Mensch soll aufrichtig sein, und die Treue zu seinem Wort
sollte genügen. Wenn im Deuteronomium von Schwüren und auch von Gelübden die
Rede ist als von etwas, das aus einem Herzen kommt, das sich mit Gott vereinigt
glaubt, oder aus einem Bedürfnis oder einem Dankbarkeitsgefühl entspringt, dann
heisst es darin „Das Wort, das einmal über deine Lippen gekommen ist, musst du
halten und erfüllen, so wie du es deinem Herrn und Gott freiwillig gelobt hast!“
Es wird immer vom gegebenen Wort gesprochen, von nichts anderem als dem Wort.
Wer es für nötig hält zu schwören, tut es, weil er weder seiner selbst sicher
ist noch der Meinung, die sein Nächster von ihm hat. Wer aber einen anderen zu
schwören auffordert, beweist, dass er der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des
Schwörenden misstraut.
Wie ihr seht, ist die Gewohnheit des Schwörens eine Folge
der moralischen Unehrlichkeit des Menschen und somit eine Schande für ihn. Es
ist eine doppelte Schande für ihn, weil er nicht einmal dieser beschämenden
Handlung, dem Schwur, treu ist. Mit derselben Unbesonnenheit, mit der er seinen
Nächsten verspottet, verspottet er auch Gott, da er sich nicht scheut, mit
grösster Ruhe und Leichtfertigkeit falsch zu schwören. Gibt es ein schändlicheres
Geschöpf als den Meineidigen? Wie oft verwendet man beim Schwören eine
heilige Formel und ruft dabei Gott als Zeugen und Bürgen an; oder man beruft
sich auf sein Liebstes, auf Vater, Mutter, Kinder, Ehefrau, verstorbene
Angehörige, das eigene Leben und die kostbarsten Organe; und diese müssen Gewähr
für eine falsche Aussage bieten, um den Mitmenschen zu überzeugen, obwohl er
doch betrogen wird. Ein solcher Mensch ist ein Gotteslästerer, ein Dieb, ein
Verräter, ein Mörder. Wessen? Natürlich Gottes, weil er die Wahrheit mit der
Gemeinheit seiner Lüge vermischt und ihn durch seine Herausforderung verhöhnt:
„Bestrafe mich, überführe mich meiner Lüge, wenn du kannst; du bist dort, und
ich bin hier, und ich spotte deiner.“ Ja, lacht nur, lacht nur, ihr Lügner und
Spötter, doch die Stunde wird kommen, da ihr nicht mehr lacht; sie wird kommen,
wenn der, dem alle Macht gegeben ist, euch in seiner schrecklichen Majestät
erscheinen wird. Allein sein Anblick wird euch erzittern lassen und seine Blicke
werden euch niederschmettern, noch ehe seine Stimme euch in euer ewiges
Schicksal stürzt und euch mit seinem Fluch zeichnet.
Er ist ein Dieb, da er sich
eine Achtung verschafft, die er nicht verdient. Der Nächste, von seinem Schwur
beeindruckt, bezeigt ihm diese Achtung, und die Schlange ziert sich damit und
täuscht vor, was sie nicht ist. Er ist ein Verräter, denn mit seinem Schwur
verspricht er, was er nicht halten will. Er ist ein Mörder, denn er zerstört die
Ehre seinesgleichen, der durch seinen falschen Eid die Achtung der anderen
verliert; und auch, weil er seine Seele tötet, denn der Meineidige ist ein
abscheulicher Sünder in den Augen des Herrn. Wenn auch kein anderer die Wahrheit
sieht, so entgeht sie doch Gott nicht, und er lässt sich weder durch lügenhafte
Worte noch durch heuchlerische Taten betrügen. Er sieht es, und er verliert
jeden einzelnen Menschen keinen Moment aus den Augen. Es gibt keine noch so
starke Festung und keinen noch so tiefen Keller, in die sein Blick nicht
eindringen könnte. Auch in euer Innerstes, in diese Festung eines jeden
Menschenherzens, schaut Gott, und er richtet euch nicht nach dem, was ihr
schwört, sondern nach dem, was ihr tut.
Das Gebot, das euch mit der Einsetzung
des Schwures gegeben wurde, um der Lüge und Leichtfertigkeit, mit der man
das gegebene Wort brach, Einhalt zu gebieten, ersetze ich nun durch ein anderes
Gebot. Ich sage nicht wie die Alten: „Schwört nicht falsch und haltet, was ihr
schwört“, sondern ich sage euch: „Schwört nie!“ Nicht beim Himmel, dem Thron
Gottes, nicht bei der Erde, dem Schemel seiner Füsse, nicht bei Jerusalem und
seinem Tempel, der Stadt des grossen Königs und dem Haus des Herrn, unseres
Gottes.
Schwört weder auf die Gräber der Dahingeschiedenen noch auf ihre Seelen.
Die Gräber sind voll von Überresten dessen, was minderwertig am Menschen ist und
was er mit dem Tier gemeinsam hat, und die Seelen sollt ihr lassen, wo sie sind.
Verursacht ihnen nicht Leid und Abscheu, wenn es Seelen Gerechter sind, die
schon eine Voraus-Erkenntnis Gottes besitzen. Denn auch wenn es nur eine
Vorkenntnis, also eine teilweise Erkenntnis ist und sie Gott bis zum Augenblick
der Erlösung nicht in der ganzen Fülle seiner Herrlichkeit besitzen, so können
sie euch doch nicht sündigen sehen, ohne zu leiden. Wenn es aber nicht Seelen
Gerechter sind, vermehrt nicht noch ihre Pein, indem ihr sie durch eure Sünden
an ihre eigenen Sünden erinnert. Lasst sie, lasst die heiligen Verstorbenen in
Frieden, die Nichtheiligen in ihren Qualen. Nehmt den einen nicht ihre Ruhe,
vermehrt nicht die Pein der anderen. Warum sich auf die Toten berufen? Sie
können nicht reden. Die Heiligen nicht, weil die Barmherzigkeit es ihnen
verbietet; sie müssten zu oft widersprechen. Die Verdammten nicht, weil die Hölle
ihre Pforten nicht öffnet, weil sie den Mund nur zum Fluchen aufmachen, und weil
jede Stimme durch den Hass Satans und der Teufel erstickt wird; denn die
Verdammten sind Teufel.
Schwört weder auf das Haupt des Vaters, noch auf das der
Mutter, noch auf das der Gattin oder der unschuldigen Kinder. Ihr habt kein
Recht dazu. Sind sie vielleicht eine Münze oder eine Ware? Sind sie eine
Unterschrift auf einem Dokument? Sie sind mehr und weniger als das. Sie sind
Fleisch und Blut von deinem Blute, o Mensch, aber sie sind auch freie Geschöpfe,
und du kannst sie nicht wie Sklaven als Bürgen für deinen falschen Schwur
gebrauchen. Sie sind weniger als deine eigene Unterschrift, denn du bist
intelligent, frei und erwachsen und weder unmündig noch ein Kind, das nicht
weiss, was es zu tun hat und daher durch seine Eltern vertreten werden muss. Du
bist du selbst, ein mit Vernunft begabter Mensch, und deshalb verantwortlich für
dein Tun und deine Worte. Für dich allein musst du handeln, und deine eigene
Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit und die Achtung deiner Mitmenschen sollen für
deine Worte und Werke bürgen, nicht die Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit deiner
Angehörigen und die Achtung, die sie sich zu erwerben wussten. Sind die Väter für
ihre Söhne verantwortlich? Gewiss, für die minderjährigen. Danach ist jeder für
sich selbst verantwortlich. Nicht immer haben gerechte Eltern auch gerechte
Kinder, und eine gottesfürchtige Frau ist nicht immer mit einem gottesfürchtigen
Mann verheiratet. Warum also die Gerechtigkeit eines Verwandten als Bürgschaft
benutzen? Gleicherweise können einem Sünder heilige Kinder geboren werden, und
solange sie unschuldig sind, sind sie alle heilig. Warum sich also mit einer
unlauteren Handlung, wie mit einem Schwur, den man nicht halten will, auf einen
Unschuldigen berufen?
Schwört auch nicht auf euer Haupt, eure Augen, Zunge und
Hände. Ihr habt kein Recht dazu. Alles, was ihr habt, stammt von Gott. Ihr seid
nur die zeitlichen Hüter, die Verwalter der geistigen oder materiellen Güter,
die euch Gott gewährt hat. Warum also gebrauchen, was euch nicht gehört? Könnt
ihr eurem Haupte auch nur ein Haar hinzufügen oder seine Farbe verändern? Wenn
ihr das nicht könnt, warum benützt ihr dann das Sehen, das Sprechen, die
Freiheit eurer Glieder, um euren Eid zu bekräftigen? Fordert Gott nicht heraus!
Er könnte euch beim Wort nehmen und eure Augen austrocknen lassen, wie er eure
Obstgärten verdorren lassen, euch eure Kinder entreissen und eure Häuser in
Schutt verwandeln kann, um euch daran zu erinnern, dass er der Herr ist und ihr
die Untertanen seid und dass verflucht ist, wer sich selbst zum Gott macht, wer
sich über Gott stellt und ihn mit seiner Lüge herausfordert.
Eure Rede sei:
„Ja, ja“ und „nein, nein“. Nicht mehr. Was darüber ist, flüstert euch der Böse
ein, um dann über euch zu lachen, wenn ihr, da ihr euch nicht an alles erinnern
könnt, zur Lüge gezwungen seid und als Lügner entlarvt und verspottet werdet.
Aufrichtigkeit, Kinder, im Reden und im Beten!
Macht es nicht wie die Heuchler,
die sich beim Beten in den Synagogen oder an den Ecken der Plätze den Menschen
zur Schau stellen, um als fromme und gerechte Menschen gepriesen zu werden,
während sie sich an ihrer Familie, an Gott und am Nächsten versündigen. Versteht
ihr nicht, dass dies einem Meineid gleichkommt? Warum wollt ihr auf einer
Unwahrheit bestehen, wenn nicht, um euch eine Achtung zu verschaffen, die ihr
nicht verdient? Das heuchlerische Gebet soll sagen: „Wahrlich, ich bin ein
Gerechter. Ich schwöre es vor den Augen aller, die mich sehen und nicht leugnen
können, dass sie mich beten sehen.“ Mit dem Schleier, den ihr über eure Bosheit
breitet, wird ein in solcher Absicht verrichtetes Gebet zur Gotteslästerung.
Überlasst es Gott, euch für gerecht zu erklären, und handelt so, dass euer ganzes
Leben für euch zeuge: „Seht, da ist ein Diener des Herrn.“ Doch ihr selbst, ihr
sollt schweigen, zu eurem eigenen Nutzen. Macht eure Zunge, die vom Hochmut
bewegt wird, nicht zum Gegenstand des Ärgernisses in den Augen der Engel. Besser
wäre es, ihr würdet augenblicklich stumm, wenn ihr nicht die Kraft besitzt, dem
Hochmut und der Zunge zu gebieten, die euch als gerecht und Gott wohlgefällig
verkünden. Überlasst den Hoffärtigen und den Heuchlern diese armselige Ehre! Lasst
den Stolzen und den Falschen diese hinfällige Belohnung! Armselige Vergeltung!
Doch diese wollen sie, und eine andere werden sie nicht erhalten; denn mehr als
eine steht niemand zu. Entweder die wahre, gerechte und ewige des Himmels, oder
die unechte dieser Welt, die nur so lange währt wie ein Menschenleben,
vielleicht auch kürzer, und die dann im anderen Leben, weil sie ungerecht war,
mit einer beschämenden Strafe gebüsst werden muss.
Hört, wie ihr beten sollt:
sowohl mit der Zunge als auch mit der Arbeit und mit eurem ganzen Sein, aus
Antrieb des Herzens, das Gott liebt und in ihm den Vater erkennt und das euch
stets bedenken lässt, wer der Schöpfer und was das Geschöpf ist. Dann steht der
Mensch stets in ehrfurchtsvoller Liebe vor dem Angesicht Gottes, ob er nun betet
oder arbeitet oder unterwegs ist, ob er sich ausruht, seinen Lebensunterhalt
verdient oder Wohltaten spendet. Aus einem inneren Antrieb des Herzens, habe ich
gesagt. Dies ist die erste und wesentliche Eigenschaft, denn alles kommt aus dem
Herzen, und wie das Herz ist, so ist der Geist, das Wort, der Blick und das
Handeln eines Menschen.
Der Gerechte schöpft aus seinem gerechten Herzen das
Gute, und je mehr er daraus schöpft, desto mehr findet er; denn was er Gutes
getan hat, erzeugt aufs neue Gutes, so wie das Blut, das sich im Kreislauf durch
die Adern erneuert und, angereichert mit neuen Stoffen aus Luft und Nahrung, zum
Herzen zurückkehrt. Der entartete Mensch hingegen kann aus seinem finstersten
Herzen voller Trug und Gift nur Trug und Gift schöpfen, und wie sich bei ihm
Trug und Gift durch die zunehmenden Sünden mehren, so vermehrt sich beim guten
Menschen die Gnade Gottes. Glaubt nur, wovon das Herz des Menschen voll ist,
davon fliesst der Mund über, und in seinen Werken findet es seinen Ausdruck.
Schafft euch ein demütiges und reines Herz, voll Liebe, Vertrauen und
Aufrichtigkeit. Liebt Gott mit der scheuen Liebe, die eine Jungfrau für ihren
Bräutigam empfindet. Wahrlich, ich sage euch, jede Seele ist eine Jungfrau,
vermählt mit dem ewig Liebenden, unserem Herrn und Gott. Dieses irdische Leben
ist die Zeit der Verlobung und der Engel, der jedem Menschen als Beschützer
gegeben wurde, der geistige Brautführer. Alle Stunden des Lebens und jede
Begebenheit sind ebenso viele Mägde, die die hochzeitliche Ausstattung
vorbereiten. Die Stunde des Todes ist die Stunde der mit Gott vollzogenen
Vermählung, danach kommt die Erkenntnis, die Umarmung und die Vereinigung.
Angetan mit dem Hochzeitsgewand, kann nunmehr die mit Gott vermählte
Seele ihren Schleier abnehmen und sich in die Arme Gottes werfen, und niemand
kann an dieser Liebe zum Bräutigam Anstoss nehmen.
Doch zur Stunde, ihr Seelen,
da sich eure Hingabe an Gott noch im Opfer der Verlobungsbande vollzieht, begebt
euch, um mit Gott, dem Bräutigam zu sprechen, in die friedliche Stille eurer
Wohnung, besonders aber in die friedliche Wohnung des Herzens und sprecht als
Engel im Fleisch, die ihr stets euren Schutzengel zur Seite habt, zum König der
Engel. Sprecht zu eurem Vater in der Verborgenheit eures Herzens und eurer
inneren Kammer und lasst alles weltliche draussen, sowohl den Drang, bemerkt zu
werden und erbaulich zu wirken, als auch die Bedenken, ob lange wortreiche
Gebete mit vielen lauen und schalen Worten der Liebe notwendig seien. O nein,
nichts von alledem! Befreit euch davon, im Gebet Massstäbe anzusetzen.
Tatsächlich gibt es Menschen, die Stunde um Stunde in einem sich wiederholenden
Monolog, einem blossen Lippen- und Selbstgespräch verschwenden, denn nicht einmal
der Schutzengel hört zu. Er versucht, das leere Geplapper wieder gutzumachen,
indem er sich selbst, anstelle seines törichten Schützlings, in ein glühendes
Gebet versenkt.
Es gibt wahrlich solche, die diese Stunden nicht anders
verbringen würden, auch wenn ihnen Gott persönlich erschiene und sagte: „Das
Heil der Welt hängt davon ab, dass du diese seelenlose Art zu beten aufgibst, um
vielleicht einfach an einem Brunnen Wasser zu schöpfen und damit aus Liebe zu
mir und deinem Mitmenschen die Erde zu begiessen.“ In Wahrheit, es gibt Leute,
die ihr Selbstgespräch höher einschätzen als die Höflichkeitspflicht, einen
Besucher zu empfangen oder in Nächstenliebe einem Notleidenden zu helfen. Es
sind Seelen, die dem Götzendienst des Gebets verfallen sind.
Das Gebet ist ein
Akt der Liebe. Und lieben kann man, wenn man betet und wenn man Brot bäckt, wenn
man betrachtet, wenn man einem Gebrechlichen beisteht, wenn man zum Tempel
pilgert, wenn man sich der Familie widmet, wenn man ein Lämmlein darbringt, oder wenn man, um sich im Herrn zu sammeln, die eigenen selbstgerechten Wünsche
opfert. Es genügt, dass man sein ganzes Sein und alles, was man tut, in Liebe
kleidet. Habt keine Angst! Der Vater sieht euch. Der Vater versteht euch. Der
Vater hört euch an. Der Vater gibt euch. Wieviel Gnaden werden schon für einen
einzigen, wahrhaftigen, vollkommenen Liebesseufzer gewährt! Welche Fülle für ein
geheimes, mit Liebe dargebrachtes Opfer! Seid nicht wie die Heiden. Gott hat es
nicht nötig, dass ihr ihm sagt, was er tun und geben soll, um euch zu helfen. Das
können die Heiden ihren Götzen sagen, die nichts verstehen, nicht aber ihr eurem
Gott, dem wahren, geistigen Gott, der nicht nur Gott und König, sondern auch
euer Vater ist und weiss, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn darum bittet.
Bittet, und ihr werdet empfangen, sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und
es wird euch aufgetan. Denn wer bittet, empfängt, wer sucht, der findet und wer
anklopft, dem wird aufgetan. Wenn eines eurer Kinder das Händchen hinhält und
sagt: „Vater, ich habe Hunger“, gebt ihr ihm dann vielleicht einen Stein? Gebt
ihr ihm eine Schlange, wenn es euch um einen Fisch bittet? Nein, im Gegenteil,
ihr gebt ihm Brot, Fisch und noch mehr: Liebkosung und Segen; denn für einen
Vater ist es wunderbar, sein Geschöpf zu ernähren und sein glückliches Lächeln
sehen zu können. Wenn ihr also trotz eures unvollkommenen Herzens euren Kindern
aus natürlicher Liebe heraus gute Gaben zu geben wisst, wie auch das Tier mit
seiner Brut es tut, wieviel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen
geben, die ihn um gute und ihrem Wohl zuträgliche Dinge bitten. Habt keine Angst
zu bitten, und fürchtet nicht, das Erbetene nicht zu erhalten.
Jedoch – hier muss
ich euch vor einem Irrtum warnen, dem man leicht verfallen kann – macht es nicht
wie die Schwachen im Glauben und in der Liebe, die Heiden der wahren Religion –
denn auch unter den Gläubigen gibt es Heiden, deren armseliger Glaube ein Gewirr
von Aberglauben und wahrem Glauben, ein heruntergekommenes Gebäude ist, in
dessen Mauerrissen sich Unkraut und Schmarotzerpflanzen jeglicher Art
eingenistet haben, so dass die Mauer abzubröckeln beginnt und später in Verfall
gerät – deren Glauben zu schwinden beginnt, wenn sie sehen, dass sie nicht erhört
werden.
Ihr bittet, und ihr findet es richtig zu bitten. In diesem Augenblick
wäre es in der Tat nicht ungerecht, euch die erbetene Gnade zu gewähren. Doch
das Leben ist in diesem Augenblick noch nicht zu Ende, und was heute gut sein
mag, kann morgen schlecht sein. Ihr könnt dies nicht wissen, denn ihr kennt nur
die Gegenwart, und das ist schon eine Gnade Gottes. Doch Gott kennt auch die
Zukunft, und um euch ein noch grösseres Leid zu ersparen, lässt er oft ein Gebet
unerhört. In diesem Jahre meines öffentlichen Lebens habe ich mehr als einmal in
den Herzen ein Seufzen vernommen „Wie sehr habe ich damals gelitten, als Gott
mich nicht erhört hat.“ Doch nun sage ich: „Es war gut so, denn jene Gnade hätte
mich daran gehindert, jetzt zu Gott zu kommen.“ Andere habe ich sagen und mir
sagen gehört: „Warum, Herr, erhörst du mich nicht? Alle erhörst du, nur mich
nicht“, und obwohl es mich schmerzte, sie leiden zu sehen, musste ich antworten:
„Ich kann nicht“, denn die Erhörung wäre ein Hindernis für ihren Höhenflug zur
Vollkommenheit gewesen.
Auch der Vater sagt manchmal: „Ich kann nicht.“ Nicht,
weil er nicht augenblicklich eingreifen könnte, sondern er will die Bitte nicht
erfüllen, weil er die sich daraus ergebenden Folgen für die Zukunft kennt. Hört:
Ein Kind hat kranke Eingeweide. Die Mutter ruft den Arzt, und dieser sagt: „Um
es zu heilen ist absolutes Fasten nötig.“ Das Kind weint, schreit, bettelt und
scheint vor Hunger zu sterben. Die wie immer mitleidsvolle Mutter vereinigt ihre
Klagen mit denen des Kindes. Das totale Verbot des Arztes scheint ihr zu hart zu
sein. Sie meint, dem Kind könnte das Fasten und das Weinen schaden. Doch der
Arzt bleibt unerbittlich und sagt schliesslich: „Frau, ich weiss, um was es geht,
du weisst es nicht. Willst du dein Kind verlieren oder willst du, dass ich es dir
rette?“ Die Mutter schreit: „Ich will, dass es lebt.“ „Dann“, sagt der Arzt,
„kann ich keine Nahrung erlauben. Es wäre sein Tod.“ Auch der Vater spricht
manchmal so. Ihr Mütter, die ihr euer Ich bemitleidet, wollt nicht hören,
dass es einer verweigerten Gunst wegen weint. Doch Gott sagt: „Ich kann nicht. Es
wäre zu deinem Übel.“ So kommt der Tag oder die Ewigkeit, wo man sich
schliesslich sagen muss: „Danke, mein Gott, dass du meine törichte Bitte nicht
erhört hast.“
Was ich euch über das Gebet gesagt habe, gilt auch für das Fasten.
Wenn ihr fastet, dann setzt keine trübsinnige Miene auf, wie es die Heuchler
tun, die kunstvoll das Gesicht verziehen, damit die Leute wissen und glauben,
dass sie fasten, auch wenn es nicht wahr ist. Auch sie haben mit dem Lob der Welt
ihren Lohn schon empfangen und einen anderen werden sie nicht erhalten. Ihr
aber, wenn ihr fastet, nehmt eine heitere Miene an, wascht euch öfters das
Gesicht, damit es sauber und frisch erscheint, salbt euch den Bart, parfümiert
euer Haar und lächelt mit der Zufriedenheit des Wohlgenährten. Oh, wahrlich, es
gibt keine Speise, die so sehr erquickt wie die Liebe. Wer im Geist der Liebe
fastet, der nährt sich mit Liebe. Wahrlich, ich sage euch, wenn die Welt euch
auch „eitel“ und „Zöllner“ nennt: euer Vater kennt euer heldenmütiges Geheimnis
und wird es euch doppelt vergelten. Er wird euch belohnen für das Fasten, und
auch dafür, dass ihr deshalb nicht gerühmt worden seid.
Nun gehet hin und gebt
dem Körper Nahrung, nachdem die Seele gespeist worden ist. Diese beiden armen
Leute sollen bei uns bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste sein, die
unserem Brot den Wohlgeschmack verleihen. Der Friede sei mit euch.«
Die beiden
armen Leute bleiben. Es handelt sich um eine hagere Frau und einen sehr alten
Mann. Doch sie gehören nicht zusammen. Der Zufall hat sie zusammengeführt. Sie
waren beschämt in einer Ecke zurückgeblieben und hatten allen vergeblich die
Hand entgegengestreckt, die an ihnen vorübergingen.
Jesus schreitet direkt auf sie zu, da sie nicht wagen, ihm
entgegenzugehen, nimmt sie bei der Hand und führt sie mitten in die Schar der
Jünger unter eine Art Zelt, das Petrus etwas abseits errichtet hat. Dort
nächtigen die Jünger anscheinend und halten sich in den wärmsten Stunden des Tages auf. Das Dach besteht nur aus Reisern und
. . . Mänteln. Doch die Behausung dient ihrem Zweck, auch wenn sie so niedrig
ist, dass Jesus und Judas Iskariot, als die grössten, sich bücken müssen um
einzutreten.
»Hier ist ein Vater und hier ist eine Schwester. Bringt herbei, was
wir haben. Während wir die Mahlzeit einnehmen, wollen wir uns ihre Geschichte
anhören.« Jesus bedient die beiden Beschämten persönlich und hört sich ihren
jammervollen Bericht an. Der alte Mann ist allein geblieben, als seine Tochter
mit ihrem Manne weit fortgezogen ist und den Vater zurückgelassen und vergessen
hat. Auch die Frau ist allein, seitdem das Fieber ihren Mann hinweggerafft hat,
und sie ist ausserdem noch krank.
»Die Leute verachten uns, weil wir arm sind«,
sagt der alte Mann. »Ich gehe betteln, um etwas beiseite zu legen, damit ich das
Paschafest halten kann. Ich bin achtzig Jahre alt, immer habe ich das Pascha
(jüdische Osterfest) gehalten, und es könnte das letzte Mal sein. Aber ich will
ohne Gewissensbisse in Abrahams Schoss eingehen. So wie ich meiner Tochter
verzeihe, hoffe ich, Verzeihung zu erlangen, und ich will mein Pascha halten.«
»Der Weg ist lang, Vater.«
»Noch länger ist der zum Himmel, wenn man den
Feierlichkeiten des Festes fernbleibt.«
»Gehst du allein? Wenn du dich aber
unterwegs übel fühlen solltest? «
»Der Engel Gottes wird mir meine Lider
schliessen.«
Jesus streichelt das zitternde, weisse Haupt und fragt dann die Frau:
»Was machst du?«
»Ich bin auf der Suche nach Arbeit. Wäre ich besser genährt, so
würde ich vom Fieber genesen, und wäre ich geheilt, könnte ich auch auf den
Feldern arbeiten.«
»Glaubst du, dass allein die Nahrung dich heilen würde?«
»Nein, auch du bist da . . . Doch ich bin ein armes Ding, ein zu armes Ding, als
dass ich um Barmherzigkeit bitten dürfte!«
»Wenn ich dich heilen würde, was
wünschtest du dann?«
»Nichts mehr. Ich hätte dann schon mehr, als ich zu hoffen
wage.«
Jesus lächelt und reicht ihr ein Stück Brot, das er zuvor in etwas
Essigwasser getaucht hat, das als Getränk dient. Die Frau isst es ohne zu
sprechen, und Jesus lächelt immer noch.
Die Mahlzeit ist rasch beendet, sie war
ja so karg. Die Apostel und die Jünger gehen zu den Abhängen auf die Suche nach
einem schattigen Platz zwischen den Büschen. Jesus bleibt im Zelt.
Der Greis hat
sich an die überwachsene Felswand gesetzt und ist erschöpft eingeschlafen.
Nach
einer Weile kommt die Frau, die sich ebenfalls auf der Suche nach Schatten und
Ruhe entfernt hatte, zurück und geht zaghaft auf Jesus zu. Jesus lächelt ihr zu,
um sie zu ermutigen. Sie kommt scheu, doch glücklich näher, fast bis zum Zelt.
Dann ist die Freude stärker als die Schüchternheit, und sie macht eilig die
letzten Schritte und fällt vor Jesus nieder mit dem gedämpften Rufe: »Du hast
mich geheilt. Gepriesen seist du! Es ist die Zeit meines starken
Schüttelfrostes, und ich habe ihn nicht mehr . . . Oh!« und sie küsst Jesus die
Füsse.
»Bist du sicher, geheilt zu sein? Ich habe es dir nicht gesagt. Es könnte
ein Zufall sein . . . «
»O nein! Nun habe ich dein Lächeln verstanden, mit dem
du mir das Brot gegeben hast. Deine Kraft ist mit jedem Bissen in mich
eingeströmt. Ich habe nichts, mit dem ich dir dies vergelten könnte, ausser
meinem Herz. Befiehl deiner Dienerin, Herr, und sie wird dir bis zum Tode
gehorsam sein!«
»Ja. Siehst du den Greis dort? Er ist allein, und er ist ein
Gerechter. Du hattest einen Gatten, und der Tod hat ihn dir genommen. Er hatte
eine Tochter, und der Egoismus hat sie ihm entrissen; das ist noch schlimmer,
und doch schimpft er nicht. Aber es wäre nicht recht, wenn er seine letzten
Stunden allein verbringen müsste. Sei du ihm Tochter!«
»Ja, mein Herr!«
»Aber
bedenke, das heisst, für zwei arbeiten zu müssen.«
»Ich bin jetzt stark und
werde es schaffen.«
»Geh also zu dem Gebüsch dort und sag zu dem in Grau
gekleideten ruhenden Mann, dass er zu mir kommen soll.«
Die Frau geht rasch zu
der bezeichneten Stelle und kehrt mit Simon dem Zeloten zurück.
»Komm her,
Simon. Ich muss dich etwas fragen. Warte, Frau.«
Jesus entfernt sich einige
Meter.
»Glaubst du, dass es für Lazarus schwierig wäre, eine Arbeiterin mehr in
seinen Dienst zu nehmen?«
»Lazarus? Ich glaube, er weiss nicht einmal, wie viel
Bedienstete er hat. Einer mehr oder weniger . . . Aber um wen handelt es sich?«
»Um die Frau dort; ich habe sie geheilt.«
»Das genügt, Meister. Wenn du sie
geheilt hast, beweist dies, dass du sie liebst, und was du liebst, ist Lazarus
heilig. Ich bürge für ihn.«
»Das stimmt. Was ich liebe, ist Lazarus heilig. Das
hast du gut gesagt. Deswegen wird Lazarus auch heilig werden, denn da er liebt,
was ich liebe, liebt er auch die Vollkommenheit. Ich möchte jenen alten Mann
dieser Frau anvertrauen, und so kann der alte Patriarch sein letztes Osterfest
in Freuden begehen. Ich liebe die alten Gerechten sehr, und wenn ich ihnen einen
heiteren Lebensabend bescheren kann, dann bin ich glücklich.«
»Du liebst auch
die Kinder . . . «
»Ja, und die Kranken . . . «
»Und die Betrübten . . . «
»Und
die Alleinstehenden . . . «
»Oh, mein Meister! Aber bist du dir nicht bewusst,
dass du alle liebst, selbst deine Feinde?«
»Ich bin mir dessen nicht bewusst,
Simon. Lieben ist meine Natur. Jetzt erwacht der Patriarch. Lass uns zu ihm gehen
und ihm sagen, dass er Ostern mit einer Tochter an seiner Seite feiern wird und
keinen Mangel an Brot mehr leiden muss.«
Sie kehren zum Zelt zurück, wo die Frau
auf sie wartet, und gehen dann alle drei zum alten Mann, der sich gesetzt hat
und seine Sandalen wieder schnürt.
»Was machst du, Vater?«
»Ich will ins
Tal hinuntergehen. Ich hoffe, ein Obdach für die Nacht zu finden. Morgen werde
ich auf der Strasse betteln, und dann, weiter, weiter, immer weiter und,
vielleicht in einem Monat, wenn ich nicht vorher sterbe, werde ich im Tempel
sein.«
»Nein.«
»Soll ich es nicht tun? Warum?«
»Weil der liebe Gott es nicht
will. Du wirst nicht allein gehen. Diese Frau hier wird dich begleiten. Sie wird
dich an den Ort führen, den ich euch nennen werde, und wo man euch aus Liebe zu
mir aufnehmen wird. Du wirst deine Ostern feiern, aber ohne Mühsal. Dein Kreuz
hast du schon getragen, Vater. Lege es nun nieder und sammle dich nur in der
Danksagung an deinen gütigen Gott.«
»Aber warum . . . ich . . . ich verdiene
nicht so viel . . . Du . . . eine Tochter . . . Mehr, als wenn du mir zwanzig
Jahre schenken würdest . . . und wohin, wohin schickst du mich?« Der Greis weint
in seinen langen, struppigen Bart.
»Zu Lazarus des Theophilus. Ich weiss nicht,
ob du ihn kennst.«
»Oh, ich bin aus dem Grenzgebiet von Syrien und erinnere mich
an Theophilus. O gebenedeiter Sohn Gottes, erlaube, dass ich dich segne!«
Jesus,
der sich dem alten Mann gegenüber im Gras niedergelassen hat, neigt sich
wahrhaftig, um sich von ihm in feierlicher Gebärde die Hand auflegen zu lassen.
Laut ertönt die tiefe Greisenstimme im alten Segensspruch »Der Herr segne und
behüte dich. Der Herr lasse sein Antlitz leuchten über dir und sei dir gnädig.
Der Herr wende dir sein Angesicht zu und gebe dir seinen Frieden.«
Jesus, Simon
und die Frau antworten miteinander: »Amen.«
212 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Vierter Teil)
Die Menschenmenge wächst von Tag zu Tag an. Es sind
Frauen, Männer, Alte, Kinder, Reiche und Arme darunter. Auch das Paar Stephanus–Hermas ist wieder anwesend, obgleich es noch nicht zur Gruppe der
alten Jünger gehört, die der Leitung Isaaks untersteht. Auch der alte Mann und
die Frau, die gestern durch Jesus zusammengefunden haben, sind immer noch da.
Sie stehen ganz vorne bei ihrem Tröster; ihre Gesichtszüge sind gelöster als
gestern. Der Alte hat seine runzlige Hand auf die Knie der Frau gelegt, als
wolle er sich für die vielen Monate und Jahre, in denen er von seiner Tochter
vernachlässigt wurde, entschädigen, und sie streichelt die alte Hand mit dem
moralisch gesunden, der Frau angeborenen Bedürfnis, mütterlich zu sein.
Jesus
geht an ihnen vorbei, um zu seiner einfachen Kanzel zu gelangen, und im
Vorübergehen legt er seine Hand auf das Haupt des Greises, der ihn anschaut, als
ob er Jesus bereits in der Gestalt Gottes sehen würde. Petrus sagt etwas zu
Jesus, und dieser gibt ihm ein Zeichen, als wolle er sagen »Das macht nichts.«
Doch ich habe nicht verstanden, was der Apostel gesagt hat, der nun bei Jesus
bleibt, zu dem sich noch Judas Thaddäus und Matthäus gesellen. Die anderen
verlieren sich in der Menge.
»Der Friede sei mit euch allen!
Gestern habe ich
vom Gebet, vom Schwören und vom Fasten gesprochen. Heute möchte ich euch über
andere Vollkommenheiten belehren. Auch sie sind Gebet, Vertrauen,
Aufrichtigkeit, Liebe und Glaube.
Die erste Vollkommenheit, von der ich spreche,
ist der richtige Gebrauch von Reichtümern, welche durch den guten Willen des
treuen Dieners in ebensoviele Schätze des Himmels umgewandelt werden. Die
Schätze der Erde sind vergänglich, die Schätze des Himmels aber ewig. Hängt ihr
an eurem Besitz? Bedauert ihr es, sterben zu müssen, weil ihr euch dann nicht
mehr um eure Güter kümmern könnt und sie zurücklassen müsst? Dann versetzt sie
doch in den Himmel! Ihr sagt: „In den Himmel kann nichts eingehen, was der Erde
angehört, und du lehrst uns, dass das Geld die schmutzigste Sache dieser Welt
ist. Wie können wir es also in den Himmel versetzen?“ Nein, ihr könnt die
Münzen, die Materie, nicht in das himmlische, rein geistige Reich mitnehmen.
Aber ihr könnt den Nutzen mitnehmen, den ihr aus ihnen zu ziehen vermögt. Wenn
ihr euer Geld einer Bank übergebt, warum tut ihr das? Damit es euch Gewinn
einbringt. Ihr gebt es also nicht, oder nur zeitweilig, damit euch nachher
dieselbe Summe zurückerstattet wird, sondern ihr verlangt, dass euch für zehn
Talente elf und mehr zurückgezahlt werden. Dann freut ihr euch und lobt den
Bankier. Anderenfalls sagt ihr: „Er ist zwar ehrlich, aber er ist ein Dummkopf.“
Gibt er euch statt elf Talenten nur neun und entschuldigt sich: „Ich habe den
Rest verloren“, dann klagt ihr ihn an und lasst ihn ins Gefängnis werfen.
Was ist
der Zins eures Geldes? Sät der Bankier vielleicht euer Geld und begiesst es, um
es zu mehren? Nein. Der Zins ergibt sich aus einer klugen Geschäftsführung, so
dass sich durch die Gewährung von Hypotheken und Darlehen und die dafür zu recht
geforderten Zinsen das Kapital vermehrt. Ist es nicht so? So hört also. Gott
gibt euch die irdischen Güter, dem einen viel, dem anderen kaum das
Lebensnotwendigste. Er sagt euch: „Nun ist es an dir. Ich habe sie dir gegeben.
Benütze diese Mittel zu einem Zweck, der den Wünschen meiner Liebe und deinem
Wohle entspricht. Ich vertraue sie dir an; jedoch nicht, damit du Böses damit
tust. Zum Dank für das in dich gesetzte Vertrauen und meine Gaben, nutze diese
Güter und lege sie gut an für die wahre Heimat, den Himmel.
Nun sage ich euch,
was ihr zu tun habt, um dieses Ziel zu erreichen. Häuft nicht Reichtümer auf
dieser Erde an, für die ihr allein lebt, die euch hartherzig gegen andere sein
lassen und die den Fluch des Nächsten und den Fluch Gottes auf euch herabrufen.
Sie sind es nicht wert. Sie sind hier auf Erden nie sicher. Diebe können euch
jederzeit berauben. Das Feuer kann eure Häuser zerstören. Krankheiten und
Seuchen können eure Obstgärten und Herden vernichten. Wie viele Gefahren
bedrohen eure Güter, ob sie nun fest stehen wie Häuser oder unwandelbar sind wie
Gold; ob sie verletzlich sind wie alles Lebende der Tier- oder Pflanzenwelt,
oder ob sie wie kostbare Stoffe ihren Wert verlieren können. Blitz, Feuer
und Wasser bedrohen die Häuser; Diebe, Rost, Dürre, Nagetiere und Insekten die
Felder; Tollwut, Verrenkungen und todbringende Seuchen die Tiere; Motten und
Mäuse bedrohen kostbare Stoffe und wertvolle Möbel; Abnützung und Korrosion,
Geschirr, Leuchter, kunstvolle Gittertore: alles ist dem Verderb ausgesetzt.
Wenn ihr aber aus all diesen irdischen Gütern ein übernatürliches Gut macht,
dann bleibt es vor den Schäden der Zeit, der Menschen und der Unwetter bewahrt.
Sammelt Schätze im Himmel, dort, wo Diebe nicht eindringen können und wo es kein
Unheil gibt. Arbeitet mit barmherziger Liebe gegen alles Elend der Erde.
Liebkost eure Münzen, küsst sie auch, wenn ihr wollt, freut euch über
vielversprechende Ernten, über Weinberge voller Trauben, über Ölbäume, die sich
unter der Last unzähliger Oliven beugen, über die trächtigen Schafe mit prallen
Eutern. Ihr könnt dies alles tun, aber nicht auf unfruchtbare, nicht auf
menschliche Weise. Tut es mit Liebe und Bewunderung, mit übernatürlicher Freude
und übernatürlichen Gedanken.
„Danke, mein Gott, für diese Münze, dieses Korn,
diese Bäume, diese Schafe und diese Geschäfte. Schafe, Bäume, Wiesen, Geschäfte,
habt Dank, dass ihr mir so gut dient. Seid gesegnet, denn durch deine Güte, o
Ewiger, und durch eure Güte, ihr Güter alle, kann ich dem Hungrigen, dem
Nackten, dem Obdachlosen, Kranken und Einsamen viel Gutes tun . . . Im
vergangenen Jahr habe ich für zehn gegeben. Dieses Jahr – obwohl ich viel für
gute Zwecke ausgegeben habe – habe ich noch mehr Geld, denn die Ernten haben
noch mehr Ertrag gebracht, und meine Herden sind noch zahlreicher. Deshalb werde
ich zwei-, ja, dreimal soviel geben wie letztes Jahr, denn alle, auch jene
Unglücklichen, die nichts ihr eigen nennen, sollen an meiner Freude teilhaben
und dich, den Ewigen Herrn, mit mir preisen.“ Das ist das Gebet des Gerechten,
und verbunden mit der guten Tat versetzt es eure Schätze in den Himmel. Sie
bleiben euch dort nicht nur auf ewig erhalten, sondern ihr werdet sie vermehrt
um alle heiligen Früchte der Liebe vorfinden.
Euer Schatz sei im Himmel,
damit auch euer Herz dort sei, über dem Diesseits und ausser Gefahr; denn nicht
nur Gold, Häuser, Felder und Herden kann das Unglück ereilen, sondern auch euer
Herz, dem der Geist der Welt nachstellt, um es zu berauben, zu schwächen, zu
verwunden und sogar zu töten. Wenn ihr so handelt, werdet ihr euren Schatz in
eurem Herzen haben, denn ihr werdet Gott in euch haben bis zu dem seligen Tage,
an dem ihr in ihm seid.
Um jedoch das Verdienst der Liebe nicht zu vermindern,
sorgt dafür, dass ihr barmherzig im übernatürlichen Sinne seid. Was ich vom Gebet
und Fasten gesagt habe, das sage ich auch über die Wohltätigkeit und über jede
gute Tat, die ihr tun könnt.
Bewahrt das Gute, das ihr tut, vor der Entheiligung
durch den Geist der Welt, bewahrt es unversehrt von menschlichem Lob. Entweiht
nicht die duftende Rose, das wahre Weihrauchfass das die dem Herrn wohlgefälligen
Düfte eurer Nächstenliebe und eurer guten Werke verströmt. Der Hochmut, der
Wunsch, gesehen zu werden, wenn man etwas Gutes tut, und das Streben nach
Anerkennung entweihen das Gute. Dann wird die Rose der Nächstenliebe durch
schleimige Schnecken vom Geifer befriedigten Hochmuts besudelt und angefressen,
und ins Weihrauchfass fallen Halme stinkenden Strohs, auf dem sich der Hochmut
wie ein wohlgenährtes Tier wälzt.
Oh, diese wohltätigen Handlungen, die nur
getan werden, damit man davon spricht! Besser wäre es, sie würden unterbleiben.
Wer keine Taten der Nächstenliebe vollbringt, sündigt durch Hartherzigkeit! Wer
das Gute tut, aber den gespendeten Betrag und den Namen des Empfängers bekannt
gibt und dafür Lob fordert, sündigt durch Hochmut, denn er sagt damit: „Seht,
was ich alles tue.“ Er fehlt gegen die Liebe, weil er mit der Bekanntgabe seines
Namens den Empfänger beschämt; er sündigt durch geistige Habsucht, weil er
menschliches Lob einheimsen will . . . Stroh, Stroh, nichts als Stroh! Handelt
so, dass Gott euch mit seinen Engeln lobe.
Wenn ihr Almosen gebt, dann posaunt es
nicht vor euch her, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf euch zu lenken
und um geehrt zu werden wie die Heuchler, die den Beifall der Menschen
suchen und nur dort Almosen geben, wo sie von vielen gesehen werden. Auch diese
haben ihren Lohn schon empfangen und werden keinen anderen mehr von Gott
erhalten. Ihr sollt nicht in den gleichen Fehler und dieselbe Überheblichkeit
verfallen. Ihr sollt so Almosen geben, dass eure Rechte nicht weiss, was die Linke
tut; so verborgen und verschämt soll euer Almosengeben sein. Und dann müsst ihr
es vergessen. Verweilt nicht selbstgefällig bei eurem vollbrachten Werk, und
bläht euch nicht auf wie eine Kröte, die sich mit ihren verschleierten Augen im
Teich bewundert und sich, da sie die Bäume, die Wolken und den stehenden Wagen
am Ufer widergespiegelt sieht und sich selbst daneben so klein vorkommt, bis zum
Platzen mit Luft anfüllt. Eure Nächstenliebe ist ein Nichts im Vergleich zur
unendlichen Barmherzigkeit Gottes, und wenn ihr ihm gleich sein wollt und eure
winzig kleine Wohltätigkeit riesengross und bedeutend sehen möchtet, um es seiner
unendlichen Barmherzigkeit nachzutun, dann bläht ihr euch mit dem Wind des
Stolzes auf und geht schliesslich zugrunde.
Vergesst sie, eure guten Werke! Es
wird euch immer ein Licht, eine Stimme, eine Freude bleiben, die euch den Tag
erhellen und euch zufrieden und glücklich machen. Das Licht ist das Lächeln
Gottes, die Wonne der Seelenfrieden, der wiederum Gott ist, die Stimme die
Stimme Gottvaters, die euch sagt: „Danke.“ Er sieht das geheime Böse wie auch
das verborgene Gute und wird es euch vergelten. Ich . . . «
»Meister, du belügst
dich selbst!«
Die gehässige, unvermittelte Beschimpfung kommt mitten aus der
Menge. Alle wenden sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Es
entsteht Verwirrung. Petrus sagt: »Ich habe es dir gesagt! Ach, wenn nur einer
von denen da ist, dann geht nichts mehr gut!«
In der Menge werden Pfiffe und
Gemurmel gegen den Lästerer laut. Jesus allein bleibt ruhig. Er hat die Arme
über der Brust gekreuzt und steht in seinem dunkelblauen Gewande, die
Sonne im Antlitz, aufrecht auf seinem Felsblock.
Der Angreifer fährt ungeachtet
der Reaktion der Menge fort: »Du bist ein schlechter Lehrer, denn du lehrst, was
du selbst nicht tust und . . . «
»Schweig! Geh fort! Schäme dich!« schreit die
Menge und weiter: »Geh zu deinen Schriftgelehrten! Uns genügt der Meister.
Heuchler unter Heuchlern! Falsche Lehrer! Würger! . . . « Sie würden so weiter
machen, doch die Stimme Jesu donnert: »Ruhe! Lasst ihn reden!« Die Leute schreien
nicht mehr: sie flüstern noch ihre Beschimpfungen unter wütenden Blicken.
»Ja,
du lehrst, was du selbst nicht tust. Du sagst, man soll Almosen geben, ohne sich
selbst zur Schau zu stellen, und hast gestern in Anwesenheit des ganzen Volkes
zu zwei Armen gesagt: „Bleibt, ich werde euch zu essen geben.“«
»Ich habe
gesagt: „Die zwei Armen sollen hier bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste
sein und unserem Brot Wohlgeschmack verleihen“, nichts weiter. Ich habe nicht
angedeutet, dass ich ihnen zu essen geben möchte.Wo ist der Arme, der nicht
wenigstens ein Stück Brot hätte? Meine Freude war es, ihnen eine wahre
Freundschaft anzubieten. «
»Nun ja, du bist schlau und verstehst es, das Lamm zu
spielen . . . «
Der Greis steht auf, wendet sich um, hebt seinen Stock und ruft:
»Höllische Zunge, die du den Heiligen beschuldigst! Glaubst du, alles zu wissen
und wegen deiner Gelehrtheit anklagen zu können? So, wie du Gott verkennst und
den verkennst, den du beschuldigst, so verkennst du auch seine Werke. Nur die
Engel und mein jubelndes Herz wissen es. Hört, Leute, hört alle und wisst, dass
Jesus kein Lügner und nicht hochmütig ist, wie dieser Auswurf des Tempels
behauptet. Er . . . «
»Schweig, Ismael! Schweige mir zuliebe. Wenn ich dich
glücklich gemacht habe, dann mache mich jetzt durch dein Schweigen glücklich! «
bittet ihn Jesus.
»Ich gehorche dir, heiliger Sohn. Doch, lass mich nur dies
sagen: Der Segen des alten getreuen Israeliten ist über ihm, der mich göttlich
beschenkt hat, und Gott hat Lobesworte in meinen Mund gelegt, damit ich und
Sara, meine neue Tochter, ihn preisen. Aber auf deinem Haupte wird kein Segen
sein. Ich verfluche dich nicht. Ich verunreinige meinen Mund nicht mit einer
Verwünschung, da ich im Begriff bin, zu Gott zu sagen: Nimm mich auf! Ich habe
nicht einmal jene verflucht, die mich verleugnet hat, und habe schon die
göttliche Belohnung erhalten. Doch wird es einen geben, der für den unschuldig
Angeklagten und Ismael, den Freund Gottes, den der Herr mit Wohltaten beschenkt,
eintreten wird.«
Ein Chor von Ausrufen beschliesst die Rede des alten Mannes, der
sich nun wieder niedersetzt, während sich ein anderer Mann, von Schmähungen
gefolgt, davonmacht. Dann rufen die Leute Jesus zu: »Sprich weiter, sprich
weiter, heiliger Meister! Wir wollen nur dich anhören, nicht diese verfluchten
Raben, und du sollst uns anhören. Sie sind nur eifersüchtig, weil wir dich mehr
lieben als sie. Aber in dir ist Heiligkeit und in ihnen Bosheit. Sprich, sprich!
Du siehst, dass wir nach nichts anderem verlangen als nach deinem Wort. Unsere
Häuser? Unsere Geschäfte? Ein Nichts, wenn wir dir zuhören dürfen.«
»Ja, ich
spreche. Doch ärgert euch nicht. Betet für jene Unglücklichen. Verzeiht ihnen,
wie auch ich verzeihe. Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler verzeiht, dann
wird euch auch euer Vater im Himmel eure Sünden verzeihen. Wenn ihr aber Hass in
euren Herzen nährt und den Menschen nicht verzeiht, dann wird euch auch euer
Vater eure Fehler nicht verzeihen. Und alle haben Verzeihung nötig.
Ich sagte
euch, dass Gott euch belohnen wird, auch wenn ihr nicht um Lohn bittet für das
Gute, das ihr getan habt. Tut nicht Gutes, um dafür belohnt zu werden, um eine
Garantie für morgen zu haben. Tut das Gute nicht abwägend und zurückhaltend,
indem ihr sagt: „Werde ich dann für mich auch noch etwas haben? Wenn ich nichts mehr besitze, wer wird mir dann helfen? Wird jemand da sein, der mir tut,
was ich getan habe? Wenn ich einmal nichts mehr geben kann, wird man mich dann
immer noch lieben?“
Schaut, ich habe einflussreiche Freunde unter den Reichen und
Freunde unter den Armen der Erde. Wahrlich, ich sage euch, es sind nicht die
mächtigen Freunde, die ich am meisten liebe. Ich gehe zu ihnen nicht aus
Eigenliebe und Eigennutz, sondern weil ich von ihnen viel für jene bekomme, die
selbst nichts haben. Ich bin arm. Ich besitze nichts. Ich möchte alle Schätze der Welt haben und sie in Brot für die Hungernden umwandeln, in Häuser für die
Obdachlosen, in Kleider für die Nackten und in Arznei für die Kranken. Ihr
werdet sagen: „Du kannst heilen.“ Ja, das und anderes kann ich. Aber nicht immer
haben die Menschen Glauben. Und dann kann ich nicht tun, was ich tun möchte und
tun würde, wenn der Glaube an mich in den Herzen der Menschen wäre. Ich möchte
auch den Ungläubigen Gutes tun, und da diese den Menschensohn nicht um ein
Wunder bitten, möchte ich ihnen von Mensch zu Mensch helfen. Doch ich besitze
nichts. Daher halte ich dem die Hand hin, der etwas besitzt, und bitte: „Erweise
mir Barmherzigkeit im Namen Gottes“; dazu habe ich Freunde in gehobenen
Gesellschaftsschichten. Wenn ich dann einmal nicht mehr auf der Erde sein werde,
wird es immer noch Arme geben, und ich werde keine Wunder mehr an jenen
vollbringen können, die an mich glauben, und werde keine Almosen mehr geben
können, um Menschen zum Glauben zu führen. Dann aber werden meine reichen
Freunde von mir gelernt haben, wie man Wohltaten spenden soll, und ebenso werden
meine Apostel durch das Zusammensein mit mir gelernt haben, aus Liebe zu den
Brüdern um Almosen zu bitten; und so werden die Armen stets Hilfe erhalten.
Gestern habe ich von einem, der nichts hat, mehr bekommen, als von allen
Vermögenden zusammen; von einem Freund, der arm ist wie ich. Aber er hat mir
etwas gegeben, was man mit keiner Münze kaufen kann und was mich glücklich
gemacht hat, weil er mich dadurch in meine Kinder- und Jugendzeit mit ihren
vielen heiteren Stunden zurückversetzt hat, als mir jeden Abend der
Gerechte (mein Pflegevater) die Hände auflegte und ich mich unter dem Schutz
seines Segens zur Ruhe legte. Gestern hat mich dieser arme Freund mit seinem
Segen zum König gemacht. Ihr seht also, dass keiner meiner reichen Freunde je
gegeben hat, was er mir gegeben hat. Darum seid nicht besorgt, denn auch wenn
ihr die Macht des Geldes nicht mehr habt, könnt ihr den Armen, den Müden und den
Traurigen doch immer noch Gutes tun, wenn euch nur Liebe und Heiligkeit bleiben.
Daher sage ich euch: Macht euch keine grossen Sorgen, weil ihr wenig besitzt. Ihr
werdet immer das Notwendige haben. Sorgt euch nicht zu sehr um die Zukunft.
Niemand weiss, wie lange er noch zu leben hat. Sorgt euch nicht, was ihr essen
werdet, um euch am Leben zu erhalten, noch womit ihr euch kleiden werdet, um
euren Körper zu wärmen. Das Leben eurer Seele ist viel kostbarer als der Leib
und die Glieder; es ist viel wertvoller als Nahrung und Kleidung. Euer Vater
weiss es. Darum sollt auch ihr es wissen. Betrachtet die Vögel des Himmels: sie
säen nicht, sie ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen; und doch sterben sie
nicht Hungers, denn der himmlische Vater ernährt sie. Ihr Menschen, ihr
bevorzugten Geschöpfe des Vaters, seid viel wertvoller als sie.
Wer von euch
kann mit all seiner Begabung seiner Körpergrösse auch nur eine Spanne hinzufügen?
Wenn euch also nicht einmal das gelingt, wie könnt ihr dann daran denken, eure
zukünftigen Verhältnisse zu ändern, indem ihr euren Reichtum vermehrt, um euch
ein langes und sorgenfreies Alter zu garantieren? Könnt ihr dem Tode sagen: „Du
wirst mich erst holen, wenn ich es will?“ Ihr könnt es nicht! Weshalb sich um
das Morgen sorgen? Und warum befürchten, einmal keine Kleider mehr zu haben?
Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, sie
spinnen nicht, sie gehen nicht zu den Stoffhändlern, um einzukaufen! Dennoch
sage ich euch: nicht einmal Salomon in all seiner Pracht war jemals gekleidet
wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras des Feldes so kleidet, das heute
grünt und morgen dazu dient, den Ofen zu wärmen oder die Herde zu weiden
und schliesslich zu Asche oder Kot wird, wieviel mehr wird er für euch sorgen,
die ihr seine Kinder seid.
Seid nicht kleingläubig! Ängstigt euch nicht wegen
einer ungewissen Zukunft, sagt nicht: „Wenn ich einmal alt bin, was werde ich
dann essen, was werde ich trinken und womit werde ich mich kleiden?“ Diese
Sorgen überlasst den Heiden, die nicht die erhabene Gewissheit der göttlichen
Vaterschaft haben. Ihr habt sie und wisst, dass der Vater eure Bedürfnisse kennt
und euch liebt. Vertraut also auf ihn. Sucht zuerst das wahrhaft Notwendige: den
Glauben, die Güte, die Nächstenliebe, die Barmherzigkeit, die Reinheit, die
Gerechtigkeit, die Sanftmut, die drei göttlichen und die vier Haupttugenden und
alle übrigen, um Freunde Gottes zu sein und ein Anrecht auf sein Reich zu
besitzen. Ich versichere euch: alles übrige wird euch dazugegeben werden, ohne
dass ihr eigens darum zu bitten braucht. Es gibt keinen Reicheren als den
Gerechten und keinen, der unbesorgter wäre als er. Gott ist mit dem Gerechten.
Der Gerechte ist mit Gott. Er bittet nicht für seinen Leib, den Gott mit dem
Notwendigen versorgt, er wirkt für seine Seele, und ihr schenkt Gott sich selbst
schon hier auf Erden und im Jenseits das Paradies.
Sorgt euch daher nicht
unnötig um Dinge, die der Sorge nicht wert sind. Seid betrübt, weil ihr
unvollkommen seid, nicht, weil es euch an irdischen Gütern fehlt. Kümmert euch
nicht um den morgigen Tag, er wird für sich selbst sorgen, und ihr sollt erst an
ihn denken, wenn ihr ihn erlebt. Warum denn schon heute daran denken? Habt ihr
im Leben nicht schon genug unangenehme Erinnerungen an das Gestern und quälende
Gedanken von heute, als dass ihr euch auch noch die Alpträume des „was wird wohl
sein?“ aufladen müsstet, die ja das Morgen betreffen? Jedem Tag genügt seine
Last! Es wird immer mehr Sorgen in unserem Leben geben, als wir haben möchten,
auch ohne dass wir den gegenwärtigen Sorgen noch die zukünftigen Sorgen
hinzufügen. Sagt immer das grosse Wort Gottes: „Heute.“ Seid seine Kinder, nach
seinem Bild erschaffen. Sagt daher mit ihm: „Heute.“
Heute gebe ich euch
meinen Segen. Er möge euch begleiten bis zum Beginn des neuen Heute: bis zum
morgigen Tag, wenn ich euch wiederum den Frieden im Namen Gottes geben werde.«
213 Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Fünfter Teil)
Es ist ein herrlicher Morgen. Die Luft ist kristallklar,
und man erkennt auch die entferntesten Dinge in allen Einzelheiten, als sähe man
sie durch ein Vergrösserungsglas. Von Tag zu Tag wird die Natur nun schöner und
kleidet sich in das Prachtgewand des Frühlings, dessen Höhepunkt, wie mir
scheint, in Palästina zwischen März und April fällt. Danach zeigen die Felder
mit ihrem reifenden Korn und dem dichten Laubwerk der Bäume schon sommerliche
Töne. Die grosse Menge bereitet sich vor, den Meister anzuhören.
Alles steht in
Blüte. Von der Höhe des Berges, der sogar an wenig geeigneten Stellen ganz mit
Blumen übersät ist, sieht man die Ebene mit den im Winde wogenden
Getreidefeldern; die noch elastischen Halme leuchten in einem hellen Blaugrün,
während die Ähren bereits zartgolden sind. Über den Wogen der Kornfelder erheben
sich blühende Obstbäume. Sie sehen wie riesige weisse, rosa und dunkelrote
Puderquasten oder Wattebäusche aus. Die Olivenbäume, in den Gewändern büssender
Asketen, beten, und ihr Gebet zeigt sich in einem noch zaghaften Schneefall von
weissen Blümchen.
Der Gipfel des Hermon, geküsst von den ersten Strahlen der
Sonne, ist wie rosafarbener Alabaster. Von seiner Höhe fliessen zwei diamantene
Rinnsale in die Tiefe – von hier aus sehen sie dünnen Fäden gleich – die die
Sonne in fast unwirklichem Glitzern erstrahlen lässt. Sie verschwinden in den
grünen Wäldern, um unten im Tal erneut aufzutauchen, wo sie zwei Bäche bilden
und in den Meron fliessen, den man von hier aus nicht sieht. Dann verlassen sie,
vermischt mit dem Wasser des Jordan, den See und fliessen zusammen ins helle
Saphirblau des galiläischen Meeres, das durch das Sonnenspiel wie von kostbaren
Schuppen übersät flimmert. Wundervolle Gärten und Felder umgeben den
friedvollen, schimmernden See und es scheint, als würden die dahingleitenden
Segel von den über das Himmelsmeer ziehenden Wölklein angeführt.
Wahrlich, die
Schöpfung lächelt an diesem Frühlingstag zu dieser frühen Morgenstunde.
Die
Menschen strömen unaufhörlich herbei. Aus allen Richtungen kommen sie: Alte,
Gesunde, Kranke, Kinder, Eheleute, Jungvermählte, die ihren gemeinsamen
Lebensweg mit dem Segen des Wortes Gottes beginnen möchten, Bettler und auch
Wohlhabende, welche die Apostel herbeirufen, um ihnen Spenden für die Armen zu
geben. Sie tun es an verborgenen Orten und es scheint fast, als ob sie beichten
würden. Thomas hat eine der Reisetaschen der Apostel genommen und leert ruhig
den ganzen Münzenschatz hinein, als ob es Hühnerfutter wäre. Dann trägt er ihn
in die Nähe des Felsblockes, wo Jesus spricht. Fröhlich lachend sagt er: »Freue
dich, Meister! Heute hast du genug für alle!«
Jesus lächelt und sagt: »Wir
wollen sofort anfangen, um die Betrübten gleich glücklich zu machen. Du und
deine Gefährten, sucht die Kranken und die Armen und bringt sie hierher.«
Es
dauert nicht sehr lange, bis alle angehört worden sind. Doch hätte es mehr Zeit
in Anspruch nehmen können ohne den praktischen Sinn von Thomas, der mit seiner
lauten Stimme von einer Anhöhe aus ruft: »Alle, die körperliche Leiden haben,
sollen sich rechts von mir, dort im Schatten, sammeln.« Judas Iskariot macht es
ihm nach. Auch er hat eine mächtige, schöne Stimme und ruft: »Und alle, die
meinen, einen Anspruch auf eine Gabe zu haben, mögen sich um mich versammeln.
Doch nehmt euch in Acht und lügt nicht, denn das Auge des Meisters liest in den
Herzen!«
Es kommt nun Bewegung in die Menschenmenge, die sich beeilt, drei
Gruppen zu bilden: die Kranken, die Armen und jene, die einfach nach der Lehre
Jesu verlangen. Es sind aber auch zwei, dann drei Personen da, die anscheinend
etwas anderes als Gesundheit oder Almosen suchen, etwas noch notwendigeres. Es
sind eine Frau und zwei Männer. Sie sehen die Apostel an, wagen jedoch
nicht, sie anzusprechen. Simon der Zelote geht mit ernster Miene vorbei. Petrus
kommt eilfertig mit einem ganzen Schwarm von Buben daher, denen er Oliven
verspricht, wenn sie bis zum Ende der Predigt Jesu ruhig bleiben, oder aber
Schläge, wenn sie unruhig werden. Bartholomäus kommt alt und ernst daher. Dann
sehe ich Matthäus mit Philippus mit einem Krüppel auf den Armen, für den es zu
mühsam war, durch die dichte Menschenmenge nach vorne zu gelangen. Nun
erscheinen die Vettern Jesu, die einen fast blinden Bettler und eine arme alte
Frau, die dem Jakobus bereits mehrmals unter Tränen ihre Nöte vorgejammert hat,
an den Händen halten. Jakobus des Zebedäus trägt in seinen Armen ein armes,
kleines Mädchen, das sicher krank ist, denn er hat es seiner Mutter abgenommen,
die ihm atemlos folgt, da sie befürchtet, die Menschenmenge könnte der Kleinen
wehtun. Die letzten, die vorbeikommen, sind die – ich möchte sagen –
Unzertrennlichen, Andreas und Johannes; denn wenn Johannes in seiner frohen
Natürlichkeit eines heiligen Jünglings mit allen Gefährten gleichermassen
zurechtkommt, so bevorzugt Andreas in seiner grossen Zurückhaltung, mit dem alten
Gefährten des Fischfangs und der Zeit der Nachfolge Johannes des Täufers
zusammen zu sein. Die beiden waren an der Stelle geblieben, wo die zwei
Hauptwege sich treffen, um noch ankommende Menschen an ihre Plätze zu weisen.
Doch nun zeigen sich keine Pilger mehr auf den steinigen Pfaden des Berges, und
die beiden gehen zum Meister, um ihm die zuletzt empfangenen Almosen zu
überbringen.
Jesus hat sich bereits über die Kranken gebeugt, und die
Hosannarufe der Menge künden die einzelnen Wunder an.
Die Frau, ganz in Leid
aufgelöst, wagt es, Johannes, der mit Andreas spricht und lächelt, am Gewand zu
ziehen. Er beugt sich zu ihr nieder und fragt:
»Was willst du, Frau?«
»Ich
möchte mit dem Meister sprechen.«
»Bist du krank? Du bist doch nicht arm . . . «
»Ich bin weder krank noch arm. Aber ich brauche ihn, denn es gibt
Krankheiten ohne Fieber und Elend ohne Armut, und meine . . . meine . . . « und
sie weint weiter.
»Höre, Andreas. Die Frau hat einen seelischen Kummer und
möchte ihn dem Meister anvertrauen. Wie machen wir es?«
Andreas betrachtet die
Frau und sagt: »Sicher ist es etwas, das schmerzt, wenn andere davon erfahren .
. . « Die Frau nickt zustimmend mit dem Kopf. Andreas sagt: »Weine nicht . . .
Johannes, führe sie hinter unser Zelt. Ich werde inzwischen den Meister holen.«
Johannes bahnt sich lächelnd einen Weg, und Andreas geht in entgegengesetzter
Richtung zu Jesus. Doch die beiden traurigen Männer haben die Szene beobachtet,
und einer von ihnen hält Johannes auf, während der andere sich an Andreas
wendet, und bald darauf sind die beiden zusammen mit der Frau hinter den
schützenden Zweigen, die die Zeltwand bilden.
Andreas kommt zu Jesus, als dieser
gerade den Krüppel heilt und der Geheilte die beiden Krücken wie Trophäen
schwingt, wie ein Tänzer hüpft und den Herrn preist. Andreas flüstert: »Meister,
hinter unserem Zelte sind drei Personen, die weinen. Sie haben ein Herzeleid,
das anderen verborgen bleiben soll . . . «
»Es ist gut. Ich habe noch dieses
kleine Mädchen und diese Frau, dann werde ich kommen. Sag ihnen, sie sollen
Vertrauen haben.«
Andreas geht, während Jesus sich über das Mädchen beugt, das
die Mutter wieder auf ihren Schoss genommen hat.
»Wie heisst du«, fragt Jesus.
»Maria.«
»Und wie heisse ich?«
»Jesus«, antwortet das Mädchen.
»Wer bin ich?«
»Der Messias des Herrn, der gekommen ist, um den Menschen das Heil des Leibes
und der Seele zu bringen.«
»Wer hat es dir gesagt?«
»Mutter und Vater, die ihre
Hoffnung für mein Leben auf dich setzten.«
»Lebe und sei brav!«
Das Mädchen
hat anscheinend eine Rückgraterkrankung, da es, obwohl es schon sieben oder
etwas älter ist, nur die Hände bewegen kann und von den Achseln abwärts bis zu
den Waden mit straffen Binden eingewickelt ist. Man sieht es gut, da die Mutter
das Kleidchen geöffnet hat. Es bleibt für einige Minuten unbeweglich, dann zuckt
es zusammen, gleitet vom Schosse der Mutter zur Erde und eilt zu Jesus, der
soeben eine Frau heilt, deren Krankheit ich nicht erkennen kann.
Die Kranken
sind alle erhört worden und schreien lauter als alle anderen in der Menge, die
dem „Sohn Davids, Gottes Ruhm und unser Ruhm“, zujubeln.
Jesus geht zum Zelt.
Judas Iskariot ruft: »Meister! Und diese?« Jesus wendet sich um und sagt: »Sie
sollen warten, wo sie sind. Auch sie werden getröstet werden.« Dann geht er
langsam hinter das Laubwerk, wo Andreas und Johannes mit den Trauernden warten.
»Zuerst die Frau. Komm mit mir zu den Büschen. Sprich ohne Furcht.«
»Herr, mein
Mann verlässt mich wegen einer Dirne. Ich habe fünf Kinder, das jüngste ist zwei
Jahre alt . . . Mein Schmerz ist gross . . . und ich denke an die Kinder . . .
Ich weiss nicht, ob er sie haben will, oder ob er sie mir überlässt. Die Knaben,
den ältesten wenigstens, wird er haben wollen . . . und ich, die ich ihn geboren
habe, sollte mich nicht mehr an seinem Anblick erfreuen können? Was werden sie
vom Vater oder von mir denken? Von einem von uns beiden müssen sie schlecht
denken. Ich möchte nicht, dass sie ihren Vater verurteilen . . . «
»Weine nicht.
Ich bin der Herr über Leben und Tod. Dein Mann wird jene Frau nicht heiraten.
Geh in Frieden und sei weiterhin gut.«
»Aber du wirst ihn doch nicht töten? Oh,
Herr, ich liebe ihn!«
Jesus lächelt: »Ich werde niemanden töten. Ein anderer
wird sein Werk vollbringen. Wisse, dass Satan nicht über Gott steht. Wenn du in
deine Stadt zurückgekehrt bist, wirst du erfahren, dass jemand das
unglückselige Geschöpf umgebracht hat, und zwar auf eine Art und Weise, die
deinem Mann klarmachen wird, was er im Begriff war zu tun. Er wird dich mit
einer neu erwachten Liebe lieben.«
Die Frau ergreift die Hand, die Jesus auf
ihren Kopf gelegt hat, küsst sie und geht dann weg.
Einer der Männer kommt heran:
»Ich habe eine Tochter, Herr. Zu ihrem Unglück ging sie mit ihren Freundinnen
nach Tiberias und es scheint, als habe sie dort Gift geatmet. Sie ist wie
liebestrunken zu mir zurückgekehrt. Nun will sie mit einem Griechen fortgehen .
. . und dann . . . Warum ist sie mir geboren worden? Ihre Mutter ist krank vor
Kummer und wird vielleicht sterben . . . Ich . . . nur deine Worte, die ich
letzten Winter gehört habe, halten mich davor zurück, sie umzubringen. Aber ich
muss es dir bekennen, mein Herz hat sie schon verflucht.«
»Nein. Gott, der Vater,
verflucht erst bei begangener Sünde und Verstocktheit. Was willst du von mir?«
»Dass
du sie umstimmst.«
»Ich kenne sie nicht, sie wird sicher nicht zu mir kommen.«
»Aber du kannst ihr Herz auch aus der Ferne umwandeln. Weisst du, wer mich zu dir
schickt? Johanna des Chuza. Sie war gerade dabei, nach Jerusalem abzureisen, als
ich zu ihrem Palast kam, um sie zu fragen, ob sie diesen infamen Griechen kenne.
Ich nahm an, dass sie ihn nicht kennen würde, denn sie ist gut, obwohl sie in
Tiberias wohnt . . . Aber da Chuza mit Heiden verkehrt . . . Sie kennt ihn
nicht. Aber sie sagte mir: „Geh zu Jesus. Obwohl wir durch eine weite Entfernung
voneinander getrennt waren, hat er zu meiner Seele gesprochen und mich zu sich
gerufen, und sein Ruf bedeutete meine Heilung von der Schwindsucht. Er wird auch
das Herz deiner Tochter heilen. Ich werde beten, und du, habe Vertrauen.“
Vertrauen habe ich, du siehst es. Erbarme dich, Meister.«
»Deine Tochter wird
noch heute Abend auf dem Schoss ihrer Mutter weinend um Verzeihung bitten. Sei
auch du gut wie die Mutter und verzeih! Die Vergangenheit ist tot.«
»Ja,
Meister, dein Wille geschehe, und sei dafür gepriesen!«
Er ist schon im Begriff
zu gehen, doch dann wendet er sich noch einmal um: »Verzeih, Meister . . . Ich
habe solche Angst . . . Die Unzucht ist ein so schlimmer Dämon! Gib mir nur
einen Faden deines Gewandes. Ich werde ihn ins Kopfkissen meiner Tochter legen,
so wird sie der Teufel nicht versuchen, während sie schläft.«
Jesus lächelt und
schüttelt das Haupt . . . aber er stellt den Mann zufrieden und sagt: »Damit du
beruhigt bist. Doch glaube, wenn Gott sagt: „Ich will“, dann flieht der Teufel,
ohne dass noch mehr nötig wäre. Du wirst es einfach als Andenken an mich
behalten«, und er schenkt ihm einen kleinen Bausch seiner Fransen.
Nun kommt der
dritte Mann: »Meister, mein Vater ist gestorben. Wir glaubten, er besitze eine
grössere Menge Geld, doch wir haben nichts gefunden. Das wäre alles nicht so
schlimm, denn uns Brüdern fehlt es nicht an Brot. Aber ich wohnte bei meinem
Vater, da ich der Erstgeborene bin, und die beiden anderen Brüder behaupten nun,
ich hätte das Geld verschwinden lassen und wollen Klage wegen Diebstahls gegen
mich einreichen. Du kennst meine Gesinnung. Ich habe nicht die kleinste Münze
gestohlen. Mein Vater verwahrte sein Geld in einem eisernen Kästchen in einem
Schrein. Nach seinem Tode öffneten wir den Schrein, und das Kästchen war nicht
mehr da. Nun sagen sie: „In der Nacht, während wir schliefen, hast du es an dich
genommen.“ Das ist nicht wahr. Hilf mir, dass wieder Friede und gegenseitige
Achtung bei uns einkehren.«
Jesus sieht ihn fest an und lächelt.
»Warum lächelst
du, Meister?«
»Weil der Schuldige dein Vater ist . . . schuldig wie ein Kind,
das sein Spielzeug versteckt, damit es ihm niemand wegnimmt.«
»Aber er war nicht
geizig. Glaube mir, er hat viel Gutes getan.«
»Ich weiss es, aber er war sehr alt
. . . Das sind Krankheiten des Alters . . . Er wollte es aufbewahren für euch
und hat euch durch seine übergrosse Liebe gegeneinander aufgebracht. Die Kassette
ist unter der Kellertreppe eingegraben. Ich sage es dir, damit du siehst,
dass ich davon weiss. Während ich mit dir redete, stampfte dein jüngerer Bruder
aus Zorn auf den Boden und entdeckte so zufällig das Versteck. Jetzt sind die
Brüder verwirrt und bereuen, dich beschuldigt zu haben. Gehe unbeschwert nach
Hause und sei gut zu ihnen. Verliere keine Worte über den Verdacht, den sie
gegen dich hegten.«
»Nein, Herr, ich gehe noch nicht. Ich bleibe hier, um dir
zuzuhören. Erst morgen werde ich heimkehren.«
»Und wenn sie dir Geld wegnehmen?«
»Du sagst, man soll nicht habgierig sein. Ich will es nicht sein. Mir genügt es,
wenn unter uns wieder Frieden herrscht. Übrigens, ich habe keine Ahnung, wieviel
Geld in der Kassette war, und ich werde daher auch nicht missmutig sein über eine
Mitteilung, die der Wahrheit vielleicht nicht entspricht. Ich denke auch, dass
das Geld ebenso gut hätte verloren sein können. Wie ich bisher gelebt habe, so
werde ich auch weiterhin leben können, sollte man mir das Geld vorenthalten. Es
genügt mir, dass sie mich nicht mehr „Dieb“ nennen. «
»Du bist auf dem Wege
Gottes sehr weit fortgeschritten. Mach so weiter, und der Friede sei mit dir!«
Auch dieser geht zufrieden weg. Jesus kehrt zur Menge zurück, zu den Armen, und
verteilt nach eigenem Gutdünken die Almosen. Nun sind alle zufrieden, und Jesus
kann sprechen.
»Der Friede sei mit euch.
Wenn ich euch die Wege des Herrn
erkläre, dann tue ich es, damit ihr auf ihnen wandelt. Könnt ihr gleichzeitig
die Wege, die rechts und links bergab führen, gehen? Nein, das könntet ihr
nicht, denn wenn ihr den einen Weg einschlagt, dann müsst ihr den anderen
verlassen. Selbst wenn beide Wege nebeneinander verlaufen würden, könntet ihr
nicht lange mit dem einen Fuss auf diesem und mit dem anderen Fuss auf jenem
gehen. Ihr würdet ermüden und den Tritt verfehlen, selbst wenn es um eine Wette
ginge. Doch zwischen dem Weg Gottes und dem Weg Satans liegt eine grosse
Entfernung, und sie wird immer grösser; so wie die beiden Wege, die hier
nebeneinander beginnen, sich talabwärts immer weiter voneinander
entfernen, da der eine nach Kafarnaum, der andere nach Ptolemaïs führt.
So ist
es mit dem Leben. Es verläuft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft,
zwischen dem Bösen und dem Guten. In der Mitte ist der Mensch mit seinem Willen,
einem freien Willen; an den beiden Enden: auf der einen Seite Gott und sein
Himmel, auf der anderen Satan und seine Hölle. Der Mensch kann wählen. Niemand
zwingt ihn. Sagt mir nicht: „Aber Satan versucht mich . . . “, als Ausrede für
den Abstieg auf dem Weg nach unten. Auch Gott lockt mit seiner Liebe, und zwar
sehr mächtig: Er ruft uns mit Worten voll der Heiligkeit, und er sucht uns mit
seinen verlockenden Verheissungen. Warum lässt man sich gerade von dem betören,
der am wenigsten verdient, angehört zu werden? Die Worte, die Verheissungen, die
Liebe Gottes, sind sie nicht ausreichend, um das Gift Satans unwirksam zu
machen?
Gebt acht, denn der Teufel vermag euch in schlimmer Weise zu schwächen.
Ein kräftiger und gesunder Mensch ist zwar auch nicht immer gefeit gegen
Ansteckungen, doch er überwindet sie mit Leichtigkeit. Während jemand, der schon
krank und dadurch geschwächt ist, durch eine neue Ansteckung ziemlich sicher
zugrunde geht; und wenn er überlebt, ist er kränker als zuvor, da sein Blut
nicht mehr die Kraft besitzt, die Ansteckungskeime vollständig zu vernichten.
Dasselbe gilt für den höheren Teil des Menschen. Wenn jemand moralisch und
seelisch stark und gesund ist, ist er zwar nicht frei von Versuchungen, aber das
Böse kann sich in ihm nicht festsetzen. Wenn ich jemand sagen höre: „Ich bin
diesem oder jenem nahegekommen, ich habe dieses oder jenes gelesen, ich habe
versucht, diesen oder jenen vom Guten zu überzeugen, stattdessen ist die Bosheit
seines Geistes und Herzens und der schädliche Einfluss des Buches auf mich
übergegangen“, dann muss ich ihm entgegnen: „Ich schliesse daraus, dass das Böse,
um sich bei dir einnisten zu können, schon einen günstigen Nährboden vorgefunden
hat. Das beweist, dass du ein Schwächling ohne moralischen und geistigen
Widerstand bist. Denn selbst unsere Feinde können uns Gutes lehren. Wenn
wir nämlich ihre Fehler beobachten, soll uns dies lehren, nicht in die gleichen
Irrtümer zu verfallen. Der intelligente Mensch wird nicht zum Spielball der
erstbesten Lehre, die er vernimmt. Der Mensch, dessen Geist bereits von einer
Lehre durchdrungen ist, hat keinen Platz für andere Lehren. Dies erklärt auch
die Schwierigkeiten, auf die man bei dem Versuch stösst, überzeugte Anhänger
einer anderen Lehre für die wahre Lehre zu gewinnen. Aber wenn du mir sagst,
dass
du deine Ansicht bei jedem geringsten Windhauch änderst, dann sehe ich, dass in
dir eine grosse Leere ist. Deine geistige Festung ist voller Risse, die Deiche
deiner Gedanken sind an tausend Stellen undicht, und das gute Wasser dringt nach
aussen, während das verseuchte Wasser hineingelangt; und du bist so töricht und
apathisch, dass du es nicht einmal merkst und keine Vorsorge triffst. Du bist ein
Unglückseliger. 17“
Daher wisst von den beiden Wegen den guten zu wählen,
beschreitet ihn und widersteht jederzeit den Verlockungen der Sinne, der Welt,
der Wissenschaft und des Teufels. Die Halbheiten im Glauben, die Kompromisse und
die Pakte zwischen zwei gegensätzlichen Partnern, überlasst sie den Menschen der
Welt. Auch sie dürften eine solche Geisteshaltung nicht annehmen, wenn sie
ehrlich wären. Aber ihr, ihr wenigstens, ihr Männer Gottes, dürft sie nicht
haben. Weder Gott noch Satan würde sich damit zufrieden geben. Darum duldet sie
auch bei euch selber nicht; wenn in euren Werken Gutes mit Bösem vermischt ist,
sind sie wertlos. Gute Taten verlieren durch die schlechten ihren Wert, denn die
schlechten treiben euch geradewegs in die Arme des Feindes. Tut sie daher nicht
und seid aufrichtig in eurem Dienen.
Niemand kann zwei Herren dienen, die
verschiedenen Sinnes sind. Entweder wird er den einen lieben und den anderen
hassen, oder umgekehrt. So könnt ihr auch nicht gleichzeitig Gott und dem Mammon
dienen. Der Geist Gottes lässt sich mit dem Geist der Welt nicht vereinbaren. Der
eine führt nach oben, der andere nach unten. Der eine heiligt, der andere
verdirbt. Wenn ihr aber verdorben seid, wie könnt ihr dann noch in Reinheit
wirken? Die sinnliche Begierde erwacht im Verdorbenen und zieht noch andere
Gelüste nach sich. Ihr wisst schon, wie Eva verführt wurde, und Adam durch sie.
Satan küsste das Auge der Frau und bezauberte es so, dass alle Dinge, die ihr bis
dahin rein erschienen waren, nun ein unreines Aussehen annahmen und in ihr eine
ungewohnte Neugier weckten. Dann küsste Satan ihre Ohren und machte sie hellhörig
für Worte einer unbekannten Wissenschaft der seinen. Auch der Verstand Evas
wollte erfahren, was nicht notwendig war. Dann zeigte Satan den dem Bösen nun
zugänglich gewordenen Augen und Verstand, was sie vorher nicht gesehen hatten.
Da erwachte Eva und wurde verdorben, und das Weib ging zum Mann und enthüllte
ihm das Geheimnis. Eva überzeugte Adam, von der neuen Frucht zu kosten, die
schön anzusehen und bis dahin verboten war. Sie küsste ihn mit dem Mund und
schaute ihn an mit den Augen, in denen schon die Verwirrung Satans war. Und die
Verderbnis drang in Adam ein, der sah, und durch das Auge begehrte er nach dem
Verbotenen. Mit seiner Gefährtin zusammen ass er, und sie fielen von erhabener
Höhe in den Schlamm. 18
Wenn einer
verdorben ist, zieht er auch den anderen ins Verderben, sofern der andere nicht
ein Heiliger im wahrsten Sinne des Wortes ist.
Hütet eure Blicke, Männer! Sowohl
die Blicke der Augen als auch die Blicke des Geistes. Sind sie verdorben, können
sie nur alles übrige auch noch verderben. Das Licht des Körpers ist das Auge.
Das Licht des Herzens ist dein Denken. Ist dein Auge unrein, dann wird alles in
dir trübe sein, und verführerische Nebel werden in dir unreine Trugbilder
erzeugen. Alles ist rein in dem, der reine Gedanken hat, die einen reinen Blick
erzeugen, und das Licht Gottes steigt da, wo es die Sinne nicht behindern,
machtvoll hernieder. Hast du aber dein Auge durch deinen schlechten Willen zu
unreinen Betrachtungen erzogen, wird alles in dir Finsternis. Und vergeblich
betrachtest du dann auch heiligste Dinge. Im Dunkel wird es nichts als
Finsternis geben und du wirst Werke der Finsternis tun.
Daher, Kinder Gottes,
hütet euch vor euch selbst! Seid wachsam und hütet euch vor allen Versuchungen.
Dass
ihr versucht werdet, ist nichts Schlechtes. Der Wettkämpfer bereitet sich durch
den Kampf auf den Sieg vor. Schlimm ist es, besiegt zu werden wegen ungenügender
Vorbereitung und Unachtsamkeit. Ich weiss, dass alles der Versuchung dient. Ich
weiss, dass andauernde Verteidigung zermürbt. Ich weiss, dass der Kampf ermüdet.
Doch Mut! Überlegt euch, was ihr durch all dies gewinnt! Möchtet ihr für eine
Stunde des Vergnügens, welcher Art es auch sei, eine Ewigkeit des Friedens
verlieren? Was bleibt euch von der Sinnenlust, von der Freude am Gold und den
Gedanken daran? Nichts! Was gewinnt ihr, wenn ihr auf sie verzichtet? Alles! Ich
spreche zu Sündern, denn der Mensch ist ein Sünder. Sagt mir also ganz ehrlich:
Wenn ihr eure Sinnenlust, euren Hochmut und euren Geiz befriedigt habt, fühlt
ihr euch dann frischer, zufriedener und sicherer? Empfindet ihr nach deren
Befriedigung, der immer ein Moment des Nachdenkens folgt, wirklich das Gefühl
echten Glückes? Ich habe dieses Brot der Sinne nicht verkostet, doch ich
antworte euch: Nein! Niedergeschlagenheit, Unzufriedenheit, Unsicherheit, Ekel,
Angst und Unruhe sind die traurigen Folgen des Nachgebens.
Aber ich bitte und
sage euch: Gebt nie nach; ich sage euch ebenfalls: Seid nicht unerbittlich gegen
jene, die fehlen. Denkt daran, dass ihr alle Brüder seid, aus Fleisch und Seele.
Bedenkt, dass es viele Ursachen gibt, die einen Menschen zur Sünde verleiten
können. Seid barmherzig mit den Sündern, helft ihnen mit Güte, sich zu erheben
und führt sie zu Gott; zeigt ihnen, dass der von ihnen eingeschlagene Weg voller
Gefahren für das Fleisch, den Geist und die Seele ist. Tut dies, und euer Lohn
wird gross sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit den Guten und
vergilt jede gute Tat hundertfach. Daher sage ich euch . . . « UNTERBRUCH
Hier teilt Jesus mir mit: »Siehe und schreibe. Das ist das Evangelium der Barmherzigkeit für alle und besonders für jene, die sich in der Sünderin wiedererkennen. Ich lade sie ein, ihr in ihrer Erlösung nachzufolgen.«
Bemerkung aus dem Hörbuch
Hier beginnt eine neue Version von Maria Valtorta, die sie ein Jahr vor der
vorigen bekommen hatte, die aber chronologisch, nach dieser anschliesst.
Bitte hören sie weiterhin aufmerksam zu, sie ist sehr wichtig.
Jesus steht auf einem Felsblock und spricht zu
einer grossen Menge in einer gebirgigen Gegend, wo sich ein einsamer Hügel
zwischen zwei Tälern erhebt. Der Gipfel des Hügels hat die Form eines Joches
oder besser, die Form eines Kamelhöckers, so dass sich einige Meter unter der
Kammlinie ein natürliches Amphitheater befindet, in welchem die Stimme klar
erschallt wie in einem sehr gut gebauten Konzertsaal.
Der Hügel ist von Blumen
übersät und ich nehme an, dass die warme Jahreszeit angebrochen ist. Die
Getreidefelder in den Ebenen beginnen sich gelblich zu färben und sind bald reif
zur Ernte. Im Norden strahlt die schneebedeckte Kuppe eines hohen Berges in der
Sonne. Darunter, im Osten, liegt das galiläische Meer wie ein in zahllose
Stückchen zersplitterter Spiegel, und jeder einzelne Splitter leuchtet wie ein
von der Sonne entflammter Saphir. Der See blendet mit seinem bläulichen
Schimmern, nur einige Wolkenflöcklein spiegeln sich wider, die im tiefen Blau
des reinen Himmels schweben wie fliehende Schatten eines Segelschiffes. Jenseits
des Sees Gennesaret liegen auf den fernen Ebenen leichte Bodennebel oder
vielleicht der Dunst des Taus – es müssen die ersten Morgenstunden sein, denn
das Gras in der Höhe trägt noch diamantene Tautropfen – ; der Dunst scheint den
See zu verlängern, aber in der Farbe eines grün geäderten Opals; dahinter zeigt
sich eine Bergkette mit einem steinigen Abhang, der einem Wolkengebilde am
klaren Himmel gleicht.
Das Volk sitzt im Gras oder auf dem Steinen, und viele
Leute hören auch stehend zu. Das Schar der Apostel ist nicht vollzählig. Ich
sehe Petrus und Johannes, Andreas und Jakobus und höre, wie man zwei andere,
nämlich Natanaël und Philippus, ruft. Ich sehe noch einen anderen, der
vielleicht auch zur Gruppe gehört; er ist wahrscheinlich erst angekommen man
nennt ihn Simon. Weitere sind nicht da, wenigstens sehe ich sie inmitten der
vielen Leute nicht.
Jesus hat erst vor kurzem zu sprechen begonnen. Es ist mir
klar, dass es die Bergpredigt ist. Doch die Seligpreisungen sind bereits erwähnt
worden. Mir scheint, dass die Rede ihrem Ende zugeht, denn Jesus sagt: »Tut
dies, und euer Lohn wird gross sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit
den Guten und wird hundertfach vergelten. Darum sage ich euch . . . «
Eine
starke Bewegung kommt in das Volk, das sich am Weg, der zur Hochebene
hinaufführt, befindet. Die Köpfe derer in der Nähe Jesu wenden sich um. Die
Aufmerksamkeit wird abgelenkt. Jesus hört auf zu reden und wendet seinen Blick
in dieselbe Richtung wie die anderen. Er ist ernst und schön in seinem
dunkelblauen Gewand mit den auf der Brust gekreuzten Armen. Die Sonne streift
sein Haupt mit dem ersten Strahl, der über den östlichen Gipfel des Hügels
dringt.
»Macht Platz, Gesindel, das ihr seid«, schreit eine zornige
Männerstimme. »Macht Platz der Schönheit, die vorübergeht!« Es kommen vier
aufgeputzte Gecken, von denen einer Römer sein muss, da er mit einer römischen
Toga bekleidet ist. Sie tragen auf ihren Armen, die zu einem Sitz verschränkt
sind, Maria von Magdala, die immer noch grosse Sünderin, im Triumph daher.
Maria
lacht mit ihrem entzückenden Mund und wirft ihren Kopf mit der goldenen
Haarpracht zurück, deren Zöpfe und Locken von wertvollen Spangen, Nadeln und
einem goldenen Band gehalten werden. Das mit Perlen bedeckte Band schmückt ihre
Stirn wie ein Diadem, leichte Löckchen fallen darüber und verschleiern die an
sich schon herrlichen Augen, die durch einen geschickten Kunstgriff noch grösser
und verführerischer erscheinen. Das Diadem verliert sich hinter den Ohren unter
der Fülle ihrer geflochtenen Haare, die über den weissen, blossen Nacken hängen.
Die Blösse reicht sogar weit unter den Nacken. Ihre Achseln sind bis zu den
Schulterblättern frei und die Brust noch weit mehr. Das Gewand wird auf den
Schultern von zwei goldenen Kettchen gehalten und ist ärmellos. Alles ist
sozusagen von einem Schleier bedeckt, der nur die Aufgabe hat, die Haut vor den
Sonnenstrahlen zu schützen. Das Kleid ist sehr leicht, und wenn sie sich in
ihrem gezierten Getue einmal an diesen, dann an jenen Verehrer lehnt, ist es
fast, als würde sie es mit dem nackten Körper tun. Ich habe den Eindruck,
dass der Römer der Bevorzugte ist, denn ihm gelten hauptsächlich ihr Lachen und
ihre Blicke, und an seine Schulter legt sie besonders gern ihren Kopf.
»Die
Göttin ist befriedigt«, sagt der Römer. »Rom hat sich zum Reittier der neuen
Venus gemacht, und dort ist Apollo, den du zu sehen gewünscht hast. Verführe ihn
nun, aber lass auch uns einige Brosamen deiner Gunst!«
Maria lacht und springt
mit einer behenden, herausfordernden Bewegung zu Boden und entblösst die kleinen
Füsse in den weissen Sandalen mit goldenen Spangen, und auch ziemlich viel Bein.
Dann deckt das weite Kleid aus leichter Wolle, das wie ein schneeweisser Schleier
auf den Hüften von einem Gürtel aus goldenen Schuppen gehalten wird, alles
wieder zu. Die Frau steht da wie eine Blume aus Fleisch und Blut, eine unreine
Blume, durch einen Zauber auf der grünen Ebene erblüht, in der es Maiglöckchen
und wilde Narzissen in grosser Zahl gibt.
Maria von Magdala ist schön wie nie
zuvor. Ihr kleiner, purpurroter Mund gleicht einer aufbrechenden Nelke, die auf
dem Weiss der vollendet schönen Zähne blüht. Das Antlitz und der Körper könnten
den anspruchsvollsten Maler oder Bildhauer sowohl durch die Farben als auch
durch die Formen zufriedenstellen. Die volle Brust und die Hüften im rechten
Verhältnis zur schmalen, geschmeidigen Taille, gleicht sie einer Göttin, wie der
Römer gesagt hat . . . einer Göttin, aus zartem rosa Marmor gemeisselt, auf deren
Hüften der leichte Stoff sanft aufliegt, um dann in einem reichen Faltenwurf
nach vorn zu fallen. Alles ist für den Genuss der Augen ausgeklügelt.
Jesus
blickt sie fest an. Frech hält sie seinem Blick stand und lacht und windet sich
unter der Berührung ihrer Schultern und Brust mit einem von dem Römer unterwegs
gepflückten Maiglöckchen. Dann hebt sie unter gekünsteltem Jammern den Schleier
und sagt: »Respektiert meine Unberührtheit!«, wobei die vier Männer in ein
schallendes Gelächter ausbrechen.
Jesus blickt sie weiterhin fest an. Als das
Gelächter verstummt, nimmt er seine Rede wieder auf und würdigt sie keines
Blickes mehr. Es ist, wie wenn das Auftauchen dieser Frau Jesus zur Wiederaufnahme der Rede entflammt hätte, die schon auf ihr Ende zuging und am
Erlöschen war. Er schaut nun wieder auf seine Zuhörer, die durch den Vorfall
verwirrt und entsetzt zu sein scheinen.
Jesus fährt fort: »Ich habe gesagt, dass
man dem Gesetz treu sein, demütig und barmherzig sein soll, dass man nicht nur
die Menschen seines eigenen Geblütes lieben soll, sondern auch jene, die wie wir
Menschen und somit unsere Brüder sind. Ich habe euch gesagt, dass Vergebung
besser ist als Groll, dass Nachsicht besser ist als Unerbittlichkeit. Nun aber
sage ich euch, dass man nicht verurteilen darf, wenn man nicht selbst frei von
der Sünde ist, die man verurteilen will. Macht es nicht wie die Schriftgelehrten
und Pharisäer, die streng mit allen, aber nicht mit sich selbst sind, die unrein
nennen, was äusserlich ist und nur das Äussere verunreinigen kann, und dann in
tiefster Brust, im Herzen, der Unreinheit Raum gewähren.
Gott ist nicht mit den
Unreinen, denn die Unreinheit zerstört, was Gottes Eigentum ist: die Seele, und
besonders die Seelen der Kinder, der auf der Erde verstreuten Engel. Wehe allen,
die ihnen mit der Roheit dämonischer Bestien die Flügel ausreissen, diese
Himmelsblumen in den Schmutz ziehen und in ihnen den Lebensgenuss wecken! Wehe!
Es wäre besser, sie würden vom Blitz getroffen verbrennen, als einer solchen
Sünde zu verfallen!
Wehe euch Reichen und Geniessern! Gerade unter euch gärt die
grösste Unreinheit, der Müssiggang und Geld als Bett und Polster dienen. Ihr seid
jetzt überfüttert. Bis an die Kehle reicht euch die Speise der Begehrlichkeit
und würgt euch. Aber einst werdet ihr einen Hunger kennenlernen, einen
schrecklichen, unersättlichen Hunger, der nicht gelindert werden kann und ewig
dauert! Jetzt seid ihr reich. Wieviel Gutes könntet ihr mit eurem Reichtum tun!
Aber ihr benützt ihn zum Bösen, sowohl für euch als auch für die anderen. Eines
Tages werdet ihr eine entsetzliche Armut kennenlernen, und sie wird kein Ende
nehmen. Nun lacht ihr. Ihr wähnt zu triumphieren, doch eure Tränen werden
die Pfuhle der Hölle (Gehenna) füllen, und sie werden endlos fliessen.
Wo nistet
sich der Ehebruch ein? Wo ist das Verderben der Mädchen? Wer hat ausser seinem
Ehebett noch zwei oder drei Betten der Zügellosigkeit, auf denen er sein Geld
verschwendet und die Kraft seines Körpers vergeudet, den er von Gott gesund
erhalten hat, damit er für seine Familie arbeite und nicht, damit er sich in
sündhaften Verbindungen aufreibe, die ihn unter ein unreines Tier erniedrigen?
Ihr habt gehört, dass gesagt wurde „Du sollst nicht ehebrechen“? Ich aber sage
euch, dass jeder, der eine Frau lüstern ansieht, und jede, die sich mit Begierde
dem Manne nähert – und selbst, wenn es bei blosser Begierde bleibt – im Herzen
bereits Ehebruch begangen hat. Kein Grund rechtfertigt den Ehebruch. Keiner!
Nicht das Verlassen- und Verstossensein durch einen Ehemann. Nicht das Mitleid
mit einer Verstossenen. Ihr habt nur ein Herz. Ist es durch ein Treuegelöbnis mit
einem anderen verbunden, so dürft ihr nicht verleugnen, sonst wird euer schöner
Körper, mit dem ihr sündigt, zusammen mit eurer unreinen Seele in das nie
erlöschende Feuer geworfen. Verstümmelt ihn eher, aber tötet ihn nicht, indem
ihr ihn auf ewig verdammt. Werdet wieder zu Menschen, ihr Reichen, ihr
lasterhaften, wurmstichigen Gestalten, werdet wieder zu Menschen, um nicht den
Himmel mit Abscheu vor euch zu erfüllen.
Maria, die anfänglich mit einem Gesicht
zugehört hat, das ein Gedicht von Verführung und Ironie war, und ab und zu ein
spöttisches Kichern hören liess, wird gegen Ende der Rede schwarz vor Wut. Sie
versteht, dass Jesu Worte ihr gelten, obwohl er sie nicht anblickt. Ihre
wachsende Empörung wird immer aufsässiger und schliesslich kann sie nicht mehr
widerstehen; sie hüllt sich verächtlich in ihren Schleier, und verfolgt von den
Blicken der spottenden Menschenmenge und der Stimme Jesu, beginnt sie wütend und
mit höhnischem Gelächter den Abhang hinunterzurennen und lässt ganze Fetzen ihres
Kleides an den Disteln und wilden Rosensträuchern am Wegrand zurück.
Jesus
fährt fort: »Das Vorkommnis hat euch entrüstet. Seit zwei Tagen wird unser
Zufluchtsort, hoch über dem Schlamm, vom Zischen der Schlange heimgesucht. Daher
ist er kein Zufluchtsort mehr, und wir werden ihn verlassen. Doch ich will die
Darlegung des Gesetzes des „höchst Vollkommenen“ in dieser Fülle von Licht und
der Weite des Horizontes zu Ende führen. Hier zeigt Gott sich wahrlich in seiner
Majestät als Schöpfer, und durch die Betrachtung seiner Wunderwerke kommen wir
zum festen Glauben, dass er der Herr ist und nicht Satan. Der Böse könnte nicht
einmal einen Grashalm erschaffen. Gott aber kann alles. Dies gereiche uns zum
Trost. Ihr aber seid nunmehr alle der Sonne ausgesetzt, das ist nicht gut.
Verteilt euch auf die schattigen und kühlen Hänge. Nehmt eure Mahlzeit ein, wenn
ihr wollt. Ich werde noch über das gleiche Thema weitersprechen. Unser
Aufenthalt hat sich aus verschiedenen Gründen hinausgezogen, doch ihr sollt
nicht bereuen. Hier seid ihr bei Gott.«
Die Leute rufen: »Ja, ja, bei dir!« und
begeben sich zu den Hainen, die auf der östlichen Seite wachsen und einen Schutz
bilden gegen die Sonne, die nun schon zu heiss herniederbrennt.
Jesus beauftragt
indessen Petrus, das Schutzdach abzubrechen.
»Aber gehen wir wirklich weg?«
»Ja!«
»Weil sie gekommen ist . . . ?«
»Ja. Aber sage es niemandem, besonders
nicht dem Zeloten. Er würde traurig werden, des Lazarus wegen. Ich kann nicht
zulassen, dass das Wort Gottes zum Spott der Heiden wird . . . «
»Ich verstehe,
ich verstehe . . . «
»Dann wirst du auch etwas anderes verstehen.«
»Was,
Meister?«
»Die Notwendigkeit, in gewissen Fällen zu schweigen. Ich lege es dir
ans Herz. Du bist sehr gut, aber du bist auch so impulsiv, dass du dich zu
beissenden Bemerkungen hinreissen lässt.«
»Ich verstehe . . . du willst es nicht
wegen Lazarus und Simon . . . «
»Auch anderer wegen.«
»Denkst du, dass heute
solche hier sein werden?«
»Heute, morgen, übermorgen und immer. Immer wird es
notwendig sein, das Aufbrausen meines Simon des Jona zu überwachen. Geh und tue,
was ich dir gesagt habe.«
Petrus geht und ruft seine Gefährten, damit sie ihm
helfen.
Judas Iskariot steht in Gedanken versunken in einer Ecke. Jesus ruft
dreimal, aber er hört ihn nicht. Endlich dreht er sich um: »Brauchst du mich,
Meister?« fragt er.
»Ja. Nimm auch du deine Mahlzeit ein und hilf deinen
Gefährten. «
»Ich habe keinen Hunger. Du auch nicht?«
»Ich auch nicht; aber aus
ganz anderen Gründen. Bist du verwirrt, Judas?«
»Nein, Meister, müde . . . «
»Wir gehen zum See, Judas, und dann nach Judäa und zu deiner Mutter. Ich habe es
dir versprochen.«
Judas wird wieder lebendig: »Kommst du wirklich mit mir
allein? «
»Aber gewiss. Hab mich lieb, Judas. Ich wollte, deine Liebe zu mir wäre
so gross, dass sie dich vor allem Bösen bewahrt.«
»Meister . . . ich bin ein
Mensch. Ich bin kein Engel. Ich habe Augenblicke der Müdigkeit. Ist es Sünde,
das Bedürfnis nach Schlaf zu haben?«
»Nein, wenn du an meiner Brust schläfst.
Sieh dort die Leute, wie glücklich sie sind, und sieh, wie die Landschaft hier
so heiter ist. Aber es muss im Frühjahr auch in Judäa sehr schön sein.«
»Wunderschön, Meister! Nur kommt das Frühjahr im dortigen Gebirge, das höher ist
als das hier, etwas später. Aber es gibt wundervolle Blumen. Die Obstgärten sind
eine Pracht. Mein Obstgarten, den meine Mutter besonders pflegt, ist einer der
schönsten; und wenn sie durch den Garten geht und hinter ihr her die Tauben, die
darauf warten, Körner zu bekommen, dann, glaube mir, ist dies ein Anblick, der
dem Herzen Frieden gibt.«
»Ich glaube es. Wenn meine Mutter nicht zu müde
ist, würde ich sie gerne zu deiner Mutter mitnehmen. Sie würden einander liebhaben, weil sie zwei gute Seelen sind.«
Judas ist begeistert von dieser
Idee, sein Gesicht erheitert sich, und er vergisst, dass er keinen Hunger hat und
müde ist, und eilt lachend und fröhlich zu den Gefährten. Hochgewachsen wie er
ist, löst er die obersten Knoten des Zeltes ohne Mühe und isst dann sein Brot mit
den Oliven übermütig wie ein Kind. Jesus betrachtet ihn eine Weile voller
Mitleid und begibt sich dann ebenfalls zu den Aposteln.
»Hier ist Brot, Meister,
und ein Ei. Ich habe es mir von dem Reichen dort im roten Gewande geben lassen.
Ich habe ihm gesagt: „Du hörst ihm zu und bist selig. Er predigt und ist
erschöpft. Gib mir eines von deinen Eiern. Es wird ihm besser bekommen als
dir!“«
»Aber Petrus!«
»Nein, Herr! Du bist bleich wie ein Säugling an einer
Brust ohne Milch, und du wirst dünn wie ein Fisch nach der Brunst. Lass mich
machen! Ich will mir später nichts vorwerfen müssen. Nun werde ich das Ei in die
warme Asche legen; es ist Reisig, das ich verbrannt habe, und dann wirst du es
trinken. Weisst du, dass es schon . . . wie viele? . . . Wochen sind, dass wir nur
Brot, Oliven und einige Kräuter essen und ein wenig Buttermilch trinken . . . Hm
. . . Wir machen wohl eine Reinigungskur, und du isst am wenigsten von allen und
sprichst für alle. Hier ist das Ei. Trink es lauwarm. Es wird dir guttun.«
Jesus gehorcht, und da er sieht, dass Petrus nur Brot isst, fragt er: »Und du? Wo
sind die Oliven?«
»Psst . . . Ich brauche sie nachher. Ich habe sie
versprochen.«
»Wem denn?«
»Einigen Kindern. Wenn sie aber nicht bis zum Ende
schön ruhig sind, dann esse ich die Oliven selber, und sie bekommen die Kerne,
nämlich Ohrfeigen.«
»Ah, sehr schön!«
»Nun, ich werde es nicht tun, aber wenn
man es nicht so macht, dann geht es nicht. Ich habe viele Ohrfeigen
bekommen. Wenn sie mir aber für alle meine Bubenstreiche welche gegeben hätten,
dann wären es zehnmal mehr gewesen. Sie haben mir nicht geschadet. Ich bin so,
weil ich sie gekriegt habe.«
Alle lachen über die Aufrichtigkeit des Apostels.
»Meister, ich möchte dir sagen, dass heute Freitag ist und diese Leute . . . ich
weiss nicht, ob sie rechtzeitig Nahrungsmittel für morgen kaufen können und ob
sie noch heute nach Hause gelangen«, sagt Bartholomäus.
»Ja, es ist Freitag!«
sagen mehrere zusammen.
»Das macht nichts. Gott wird für sie sorgen. Aber wir
werden es ihnen sagen.«
Jesus erhebt sich und geht zu seinem neuen Platz,
inmitten der Leute, die sich in den Hainen niedergelassen haben.
»Zuerst möchte
ich euch daran erinnern, dass Freitag ist. Ich sage es, damit alle, die
befürchten, nicht mehr rechtzeitig ihre Häuser zu erreichen oder die nicht
glauben können, dass Gott seinen Kindern morgen zu essen gibt, sofort nach Hause
aufbrechen und nicht unterwegs vom Sonnenuntergang überrascht werden.«
Aus der
grossen Menge erheben sich nur etwa fünfzig Personen. Alle anderen bleiben, wo
sie sind.
Jesus lächelt und beginnt zu reden.
»Ihr habt gehört, dass euren Vätern
gesagt wurde: „Ihr sollt nicht ehebrechen.“ Wer unter euch mich schon anderswo
reden gehört hat, weiss, dass ich öfters über diese Sünde gesprochen habe. Denn
seht: für mich ist dies nicht eine Sünde, die von einer Person begangen wird,
sondern von zwei oder drei Personen. Ich erkläre es euch. Der Ehebrecher sündigt
selbst, und er sündigt in der Mitschuldigen seiner Tat. Ferner sündigt er, da er
die betrogene Gattin oder den betrogenen Gatten zur Sünde treibt, sogar
vielleicht bis zur Verzweiflung oder zum Verbrechen. Das gilt für den begangenen
Ehebruch. Ich sage aber noch mehr. Ich sage: „Nicht nur die begangene Sünde ist
Sünde, sondern schon das Verlangen, sie zu begehen. Was ist der Ehebruch?
Er besteht in der fieberhaften Begierde nach einem Mann oder einer Frau, die uns
nicht gehören. Die Sünde beginnt mit der Begierde; Verführung und Überredung
setzen sie fort und vervollständigen sie, bis sie zuletzt durch die Tat ihren
Abschluss findet.
Wie beginnt die Sünde? Meistens mit einem unreinen Blick, und
hier komme ich auf das zurück, was ich schon gesagt habe. Das unreine Auge
sieht, was dem reinen Auge verborgen bleibt, und durch das unreine Auge dringt
das heftige Verlangen in den Kopf, die Begierde in den Körper und die
Leidenschaft ins Blut. Verlangen, Begierde und Leidenschaft des Fleisches – und
so beginnt der Sinnenrausch. Ist die ins Auge gefasste Person ehrbar, so bleibt
der Berauschte allein und verzehrt sich in der Glut seiner Leidenschaft; und
vielleicht geht er gar so weit, den anderen aus Rache zu verleumden. Ist die
betroffene Person aber ebenfalls unehrbar und erwidert den Blick, dann beginnt
der Abstieg zur Sünde. Daher sage ich euch: „Wer eine Frau lüstern anblickt, hat
mit ihr schon die Ehe gebrochen, denn in Gedanken hat er seine Begierde bereits
in Tat umgesetzt.“ Wenn dir also dein rechtes Auge zum Ärgernis wird, so reiss es
aus und wirf es von dir, denn es ist besser für dich, dass dir ein Auge fehlt,
als dass du auf ewig in die höllische Finsternis stürzest. Gibt dir deine rechte
Hand Anlass zur Sünde, so haue sie ab und wirf sie von dir, denn es ist besser
für dich, ein Glied weniger zu haben, als dass dein ganzer Leib in der Hölle
schmachtet. Es heisst zwar, dass ein Krüppel nicht mehr Diener im Tempel Gottes
sein kann. Doch im Jenseits werden die von Geburt an Missgestalteten, die ein
rechtschaffenes Leben geführt haben, oder jene, die durch Tugend zum Krüppel
geworden sind, schöner als die Engel sein, und sie werden Gott dienen und ihn in
der Glückseligkeit des Himmels lieben.
Es ist euch auch gesagt worden: „Wer
seine Frau entlässt, gebe ihr einen Scheidebrief“, doch ist eine solche Tat zu
verwerfen, da sie nicht dem Willen Gottes entspricht. Gott sagte zu Adam: „Das
ist die Gefährtin, die ich für dich erschaffen habe. Seid fruchtbar und mehrt
euch, erfüllt die Erde und macht sie euch untertan.“ Adam, der in
Vollkommenheit erschaffen wurde und dessen Intelligenz noch nicht durch die
Sünde getrübt war, rief aus: „Das ist nun endlich Bein von meinem Bein und
Fleisch von meinem Fleisch. Sie wird Mannweib heissen, denn vom Manne entnommen,
ist sie mein anderes Ich. So wird der Mann seinen Vater und seine Mutter
verlassen, und die beiden werden ein Fleisch sein.“ Mit zunehmendem Strahlen
stimmte das Ewige Licht lächelnd dem Ausspruch Adams zu, der zum ersten
unauslöschlichen Gesetz wurde. Wenn nun der irdische Gesetzgeber wegen der immer
grösseren Härte des Menschen ein neues Gesetz schaffen musste; wenn er der stets
wachsenden Unbeständigkeit Einhalt gebieten und sagen musste: „Wenn du sie schon
verstossen hast, dann kannst du sie nicht mehr zurücknehmen“, so setzt dies das
erste, authentische im irdischen Paradies entstandene und von Gott gebilligte
Gesetz, nicht ausser Kraft.
Ich sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt –
ausgenommen im Fall nachgewiesener Unzucht – setzt sie dem Ehebruch aus. Denn in
der Tat, was macht in neunzig Prozent der Fälle die verstossene Frau? Sie wird
eine neue Ehe eingehen. Mit welchen Folgen? Oh, wieviel gäbe es hierüber zu
sagen! Wisst ihr nicht, dass es dadurch ungewollt zu einer Blutschande kommen
kann? Wie viele Tränen werden vergossen, die ihren Ursprung in der Unkeuschheit
haben! Ja, Unkeuschheit. Einen anderen Namen gibt es dafür nicht. Seid ehrlich!
Alles kann überwunden werden, wenn der Mensch rechtschaffen ist. Ist er jedoch
unzüchtig, dient ihm alles zum Anlass, um seiner Fleischeslust zu
frönen. Weibliche Gefühlskälte und Schwerfälligkeit, Unfähigkeit bei der
Verrichtung von Hausarbeiten, ein Hang zum Nörgeln, Liebe zum Luxus: all dies
kann überwunden werden, ja selbst Krankheit und Reizbarkeit, wenn man sich in
heiliger Weise liebt. Da man sich jedoch nach einer gewissen Zeit nicht mehr so
sehr liebt wie am ersten Tag, betrachtet man gleich das durchaus Mögliche als
unmöglich und wirft eine Frau einfach hinaus auf die Strasse und ins Verderben.
Wer sie verstösst, begeht Ehebruch, und wer sie nach der Verstossung
heiratet, begeht Ehebruch. Nur der Tod scheidet die Ehegatten. Merkt euch dies.
Habt ihr eine unglückliche Wahl getroffen, so tragt die Folgen wie ein Kreuz,
lebt als zwei Unglückliche, aber Gerechte, und lasst es nicht eure Kinder büssen,
denn sie sind an allem unschuldig und leiden am meisten unter diesen unseligen
Verhältnissen. Die Liebe zu den Kindern sollte euch hundert und aberhundert Mal
über alles nachdenken lassen, auch im Fall, dass einer der Ehegatten sterben
sollte. Oh, wenn ihr euch doch mit dem zufriedengäbt, was ihr bekommen habt und
wovon Gott gesagt hat: „Das genügt!“ Wenn ihr, Witwen und Witwer, doch im Tode
nicht eine Beeinträchtigung sähet, sondern den Aufstieg zu einer Vervollkommnung
in eurer Eigenschaft als Eltern! Mutter zu sein anstelle der verstorbenen
Mutter, Vater zu sein anstelle des verstorbenen Vaters! Zwei Seelen in einer
sein. Die Liebe des sterbenden Gatten von seinen kalten Lippen hinüberzunehmen
für seine Kinder, um ihm sagen zu können: „Geh in Frieden und fürchte nicht für
die, die aus dir geboren sind. Ich werde sie weiterlieben, sowohl für dich, als
auch für mich, mit zweifacher Liebe, denn ich werde ihnen Vater und Mutter sein.
Das Leid der Waisen wird nicht auf ihnen lasten, und die angeborene kindliche
Eifersucht auf einen, der den ehrenvollen Platz des zu Gott Heimgerufenen
einnimmt, sollen sie nicht kennen.“
Kinder, meine Predigt geht zu Ende, so wie
der Tag mit der im Westen untergehenden Sonne zur Neige geht. Ich möchte, dass
ihr euch meiner Worte auf diesem Berge erinnert. Prägt sie in eure Seelen ein!
Denkt oft über sie nach. Sie sollen euch ein ständiger Führer sein. Vor allem,
seid gut zu den Schwachen. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
Denkt daran, dass der Augenblick kommen könnte, da Gott euch daran erinnert: „So
hast du geurteilt, obwohl du wusstest, dass es schlecht war. Du hast also bewusst
gesündigt. Büsse nun deine Schuld.“
Die Nächstenliebe ist schon eine
Lossprechung. Seid barmherzig zu allen und in allem. Wenn euch Gott immerfort
beisteht, damit ihr rechtschaffene Menschen bleibt, so werdet nicht stolz.
Sucht vielmehr die Leiter der Vollkommenheit emporzusteigen, auch wenn sie noch
so steil ist. Reicht den Müden, den Unwissenden und den Enttäuschten die Hand.
Warum betrachtest du so aufmerksam den Splitter im Auge deines Bruders und
bemühst dich nicht vorher, den Balken aus deinem eigenen zu entfernen? Wie
kannst du zu deinem Nächsten sagen: „Lass mich den Splitter aus deinem Auge
nehmen“, wenn der Balken in deinem Auge dich blind macht? Sei nicht
scheinheilig, Sohn! Entferne erst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du den
Splitter bei deinem Bruder entfernen, ohne ihn zu sehr zu verletzen.
Aber wenn
ihr nicht lieblos sein dürft, so dürft ihr doch auch nicht unvorsichtig sein.
Ich habe euch gesagt: Reicht den Müden, den Unwissenden und allen, die Opfer
unvorhergesehener Enttäuschungen wurden, die Hand. Wenn es Nächstenliebe ist,
die Unwissenden zu belehren, die Müden aufzumuntern und den Menschen neue Flügel
zu geben, denen das Leben die Flügel gebrochen hat, so ist es andererseits
unklug, den von Satan Angesteckten die ewigen Wahrheiten zu enthüllen. Denn ihre
Absicht ist es, sich mit diesen Wahrheiten heuchlerisch als Prophet auszugeben,
sich bei den Einfältigen einzuschleichen und in frevelhafter Weise die Sache
Gottes irrezuführen und zu beschmutzen und schliesslich zugrunde zu richten.
Absolute Ehrfurcht, das Wissen, wo gesprochen und wo geschwiegen werden soll,
die Fähigkeit zu überlegen und zu handeln: das sind die Tugenden des wahren
Jüngers, um Anhänger zu gewinnen und Gott zu dienen. Ihr habt eine Vernunft, und
wenn ihr in Gerechtigkeit lebt, so wird euch Gott die nötige Erleuchtung geben
und euren Verstand leiten. Denkt daran, dass die ewigen Wahrheiten Perlen
gleichen, und nie hat man gesehen, dass Perlen Schweinen vorgeworfen wurden, die
Eicheln und übelriechenden Abfall den kostbaren Perlen vorziehen. Erbarmungslos
würden sie sie zertreten und danach mit der Wut eines Betrogenen auf euch
losgehen und euch zerreissen. Heiliges darf nicht den Hunden vorgeworfen werden,
weder jetzt, noch jemals.
Vieles habe ich euch gesagt, meine Kinder! Hört
auf meine Worte! Wer sie hört und sie befolgt, gleicht dem bedächtigen Menschen,
der für den Bau seines Hauses einen felsigen Grund wählte. Gewiss kostete es viel
Mühe, das Fundament zu errichten. Er brauchte Spitzhacke und Stemmeisen, seine
Hände bekamen Schwielen und sein Rücken schmerzte. Doch schliesslich konnte er
den Mörtel in die Felsspalten giessen und die Bausteine dicht aneinanderfügen,
wie bei einer Festungsmauer. Das Haus wurde immer grösser und stark wie ein Berg.
Es kamen Unwetter, Wolkenbrüche, durch die Regenfälle traten die Flüsse über die
Ufer, die Winde heulten und die Wellen schlugen an das Haus, doch das Haus hielt
stand. So ist es auch bei dem Menschen mit fest gegründetem Glauben. Wer jedoch
oberflächlich zuhört und sich nicht bemüht, meine Worte in sein Herz
einzugraben, weil er weiss, dass er sich zu sehr anstrengen müsste, dass es ihm
Schmerzen bereiten würde und er zu viele tiefsitzende Dinge ausmerzen müsste, der
gleicht dem Menschen, der aus Trägheit und Torheit sein Haus auf Sand baut. Kaum
kommen die Unwetter, zerfällt das rasch erstellte Haus ebenso rasch, und der
Törichte betrachtet untröstlich seine Trümmer und den Ruin seines Vermögens.
Hier handelt es sich nicht nur um eine Ruine, die mit Aufwand und Mühe wieder
hergestellt werden kann. Vielmehr ist hier das nicht tief gegründete Bauwerk des
Glaubens eingestürzt und nichts mehr bleibt, um es wieder aufzubauen. Im
jenseitigen Leben wird nicht mehr aufgebaut. Wehe dem, der dort mit Trümmern
erscheint!
Ich habe geendet. Nun will ich zum See hinuntergehen. Ich segne euch
im Namen des dreieinigen Gottes. Mein Friede sei mit euch!«
Doch die Menschen
rufen: »Wir kommen mit dir! Lass uns mitgehen! Keiner hat Worte wie du!«
Sie
machen sich daran, Jesus zu folgen, der nun auf der dem Anstieg entgegengesetzten Seite hinabsteigt und die Richtung nach Kafarnaum einschlägt.
Der Abstieg ist hier steiler, doch kürzer, und bald haben sie den Fuss des Berges
erreicht, der in eine grüne und blühende Ebene ausläuft.
214 Heilung eines Aussätzigen am Fuße des Berges
Inmitten der vielen Blumen, die rundherum ihren Duft
verbreiten und das Auge erfreuen, steht das Schreckbild eines von übelriechenden
Geschwüren verunstalteten Aussätzigen.
Die Leute schreien vor Entsetzen und flüchten bis zu den
ersten Hängen des Berges. Jemand greift nach Steinen, um sie nach dem
Unvorsichtigen zu werfen. Doch Jesus wendet sich mit ausgebreiteten Armen um und
ruft: »Friede! Bleibt, wo ihr seid, und habt keine Angst. Legt die Steine
nieder. Habt Mitleid mit dem armen Bruder. Auch er ist ein Kind Gottes.«
Durch die Macht des Meisters bezwungen, gehorchen die
Menschen und Jesus nähert sich dem Aussätzigen durch das hohe, blühende Gras bis
auf wenige Schritte. Dieser ist seinerseits nähergekommen, als ihm klar geworden
ist, dass Jesus ihn unter seinen Schutz genommen hat. Vor Jesus angekommen,
wirft er sich nieder, und die blühenden Gräser nehmen ihn auf und benetzen ihn
wie frisches, duftendes Wasser. Die wogenden Blumen schließen sich wieder über
ihm, als wollten sie einen Schleier über das Elend breiten, das sich in ihrer
Mitte verborgen hält. Einzig die Stimme, die wehklagend daraus ertönt, erinnert
daran, dass sich hier ein armseliges Wesen befindet. Er ruft: »Herr, wenn du
willst, kannst du mich rein machen. Habe auch mit mir Erbarmen!«
Jesus antwortet: »Erhebe dein Angesicht und sieh mich an. Der
Mensch muss zum Himmel aufschauen können, wenn er an ihn glaubt, und du glaubst,
da du um Heilung bittest.«
Wieder bewegen sich die Gräser, und ein Kopf taucht auf, wie
der eines Schiffbrüchigen im Meer; ein kahler Kopf, ein Gesicht ohne Bart, ein
Totenschädel, an dem noch Reste von Fleisch hängen. Dennoch wagt Jesus, seine
Fingerspitzen auf diese Stirn zu legen, auf die Stelle, die noch rein und ohne
Wunden ist, auf die aschgraue, schuppige Haut zwischen zwei eiternden
Geschwüren, von denen eines die Kopfhaut zerfressen hat und das andere ein Loch
bildet. Dieses große Loch, das von der Schläfe zur Nase reicht und den
Backenknochen und das Nasenbein freilegt, ist voller Eiter, so dass ich nicht
sehen kann, ob der Augapfel noch vorhanden ist oder nicht.
Während Jesus nun mit der Spitze seiner schönen Hand die noch
unverwundete Stelle berührt, sagt er: »Ich will es. Sei rein!«
Wie, wenn der Mann nicht vom Aussatz zerfressen und von
Wunden bedeckt, sondern nur voller Schmutz wäre und sich reinigendes Wasser über
ihn ergießen würde, so verschwindet der Aussatz zusehends. Zuerst schließen sich
die Wunden, dann wird die Haut rein, das rechte Auge erscheint unter dem neu
gebildeten Augenlid und über den gelblichen Zähnen schließen sich die nun wieder
vorhandenen Lippen. Nur Kopf- und Barthaar fehlen noch, mit Ausnahme weniger
Haarbüschel an den Stellen, wo es vorher noch gesunde Haut gab.
Die Menge schreit vor Staunen, und der Mann begreift durch
diese Jubelrufe, dass er geheilt sein muss. Er erhebt die Hände, die bisher noch
vom Gras verborgen waren, und greift an sein Auge, dorthin, wo das große Loch
war; er greift an den Kopf, dorthin, wo die große Wunde den Schädelknochen
freigelegt hatte, und er spürt die neue Haut; schließlich steht er auf und
betrachtet auch seine Brust, seine Lenden . . . Alles ist gesund und rein . . .
Von Freude überwältigt, sinkt der Mann zu Boden und weint in der blumigen Wiese.
»Weine nicht! Steh auf und höre mich an. Kehre gemäß dem
gebotenen Ritus ins Leben zurück und sprich mit niemandem, bevor du der
Vorschrift nicht nachgekommen bist. Stelle dich so bald als möglich dem Priester
vor und bringe das von Mose vorgeschriebene Opfer dar als Zeugnis deiner
wunderbaren Heilung.«
»Für dich sollte ich Zeugnis ablegen, Herr!«
»Du wirst es tun, indem du meine Lehre liebst. Geh nun!«
Die Menge ist etwas nähergekommen und beglückwünscht aus
gebührender Entfernung den Geheilten. Einige haben das Bedürfnis, ihm eine
Wegzehrung für die Reise zu geben und werfen ihm Münzen zu. Andere werfen ihm
Brote und sonstige Esswaren zu, und einer, der gesehen hat, dass sein Gewand nur
ein löchriger Fetzen ist, nimmt seinen Mantel ab, knüpft ihn zusammen wie ein
Taschentuch und wirft ihn dem Geheilten zu, damit er sich in geziemender Weise
bedecken kann. Da die Nächstenliebe in der Gemeinschaft ansteckend wirkt, kann
ein anderer Mann es nicht lassen, ihm seine Sandalen zu schenken. Er zieht sie
aus und wirft ihm auch diese zu.
»Aber . . . und du?« fragt Jesus, der seine gute Tat sieht.
»Oh, ich bin in der Nähe zu Hause. Ich kann barfuß gehen. Er
hingegen hat einen weiten Weg vor sich.«
»Gott segne dich und alle, die den Bruder beschenkt haben.
Mann, du aber wirst für diese beten!«
»Ja, ja, für sie und für dich, damit die Welt an dich
glaube!«
»Leb wohl! Geh im Frieden.«
Der Mann entfernt sich einige Meter, dann wendet er sich um
und ruft: »Aber dem Priester darf ich sagen, dass du mich geheilt hast?«
»Das ist nicht notwendig. Sage nur: „Der Herr hat mir
Barmherzigkeit erwiesen.“ Das ist die ganze Wahrheit, und mehr braucht es
nicht.«
Die Menschen umringen den Meister und bilden einen Kreis, der
sich um keinen Preis öffnen will. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, und
die Sabbatruhe hat begonnen. Die Dörfer sind weit entfernt. Aber die Menschen
trauern weder ihrem Zuhause noch dem Essen nach, nichts. Die Apostel hingegen
machen sich deshalb Sorgen und sagen es Jesus. Auch die älteren Jünger machen
sich Gedanken. Es sind Frauen und Kinder da, und wenn die Nacht auch warm und
das Gras der Wiesen weich ist, so sind doch die Sterne nicht Brot, und die
Steine des Rains werden nicht zur Nahrung.
Jesus ist der Einzige, der sich nicht beunruhigt. Die Leute
essen inzwischen die Reste ihres Vorrats, als ob nichts wäre. Jesus macht die
Seinen darauf aufmerksam: »Wahrlich, ich sage euch, dass euch diese übertreffen!
Seht, mit welcher Unbekümmertheit sie alles aufbrauchen. Ich habe ihnen gesagt:
„Wer nicht glauben kann, dass Gott seinen Kindern morgen Nahrung gibt, soll nach
Hause gehen“; sie sind hiergeblieben. Gott wird seinen Messias nicht verleugnen
und wird die nicht enttäuschen, die auf ihn hoffen.«
Die Apostel zucken die Schultern und kümmern sich um nichts
mehr.
Der Abend sinkt nach einem herrlichen Abendrot friedlich und
schön hernieder, und die ländliche Stille breitet sich nach einem letzten Gesang
der Vögel über alles aus. Einige leichte Windstöße, und dann der erste lautlose
Flug eines Nachtvogels, zusammen mit dem ersten Stern und dem ersten Quaken
eines Frosches.
Die Kinder schlafen schon. Die Erwachsenen reden noch
miteinander, und ab und zu geht jemand zum Meister, um irgendeine Erklärung zu
erbitten. So ist man nicht erstaunt, als auf einem Feldweg zwischen zwei
Getreidefeldern ein Mann von stattlichem Aussehen daherkommt, sowohl was sein
Gewand als auch sein Alter anbelangt. Es folgen ihm einige Männer. Alle wenden
sich um und machen einander flüsternd auf die Neuankömmlinge aufmerksam. Das
Geflüster geht von einer Gruppe zur anderen, sich bald neu erhebend und bald
verstummend, und die entfernteren Gruppen kommen, von Neugier getrieben, näher.
Der Mann mit dem vornehmen Aussehen hat nun Jesus erreicht,
der unter einem Baume sitzt und einigen Männern zuhört: er grüßt ihn mit einer
tiefen Verneigung. Jesus erhebt sich sogleich und antwortet mit gleichem
Respekt. Die Anwesenden betrachten alles sehr aufmerksam.
»Ich war auf dem Berge, und du hast vielleicht gedacht, ich
hätte keinen Glauben und wäre aus Angst vor dem Fasten weggegangen. Doch es gab
einen anderen Grund. Ich wollte Bruder unter Brüdern sein, der ältere Bruder.
Ich möchte unter vier Augen mit dir über meinen Gedanken sprechen. Willst du
mich anhören? Obwohl ich Schriftgelehrter bin, bin ich nicht dein Feind.«
»Lass uns etwas abseits gehen . . . « Sie begeben sich
zwischen die Getreidefelder.
»Ich wollte nur für die Nahrung der Pilger sorgen und bin
hinuntergegangen, um anzuordnen, dass Brot für eine große Menge Leute gebacken
wird. Du siehst, dass ich mich im gesetzlich erlaubten Bereich befinde, da diese
Felder mir gehören, und so darf ich den Weg von hier bis zum Gipfel am Sabbat
gehen. Da ich weiß, dass du dich mit den Leuten hier befindest, würde ich morgen
mit den Dienern hierher kommen. Ich bitte dich deshalb, mir zu gestatten, die
Menge am Sabbat mit Brot zu versorgen. Anderenfalls wäre ich sehr darüber
betrübt, vergeblich auf deine Worte verzichtet zu haben.«
»Vergeblich niemals, denn der Vater hätte dich dafür mit
seinem Licht belohnt. Doch ich danke dir und enttäusche dich nicht. Ich mache
dich nur darauf aufmerksam, dass es eine große Menschenmenge ist.«
»Ich habe alle Backöfen heizen lassen, auch jene, die zum
Dörren von Lebensmitteln verwendet werden, und so werde ich Brot für alle
haben.«
»Ich meine nicht deswegen, sondern wegen der großen Menge
Brot . . . «
»Oh, das macht mir nichts aus. Im vorigen Jahr hatte ich sehr
viel Korn. Dieses Jahr kannst du dich selbst überzeugen, wie prächtig die Ähren
stehen. Lass mich nur machen. Es bietet die beste Sicherheit für meine Felder.
Übrigens, Meister . . . Du hast mir heute ein solch köstliches Brot gegeben . .
. Wahrlich, du bist das Brot der Seele! . . . «
»Es geschehe also nach deinem Wunsche. Komm, wir wollen es
den Pilgern sagen.«
»Nein. Du hast gesagt, dass Gott sorgen wird.«
»Und du bist Schriftgelehrter?«
»Ja, das bin ich.«
»Der Herr möge dich führen, wie dein Herz es verdient.«
»Ich verstehe, was du nicht aussprichst. Du meinst zur
Wahrheit. Denn bei uns gibt es viele Irrtümer und . . . und viel Übelwollen.«
»Wer bist du?«
»Ein Sohn Gottes. Bitte beim Vater für mich. Leb wohl.«
»Der Friede sei mit dir!«
Jesus kehrt langsam zu den Seinen zurück, während der Mann
sich mit seinen Dienern entfernt.
»Wer war das? Was wollte er? Hat er etwas Unangenehmes zu dir
gesagt? Hat er Kranke?«
Jesus wird mit Fragen bestürmt.
»Wer er ist, weiß ich nicht. Aber wer immer er auch sein mag,
ich weiß, dass es eine gute Seele ist, und dies ist mir . . . «
»Es ist Johannes, der Schriftgelehrte«, sagt jemand aus dem
Volk.
»Nun gut. Jetzt weiß ich es, da du es sagst. Er wollte ganz
einfach Diener Gottes sein und Gutes tun für seine Kinder. Betet für ihn, denn
morgen werden wir alle durch seine Güte zu essen haben.«
»Er ist wahrlich ein Gerechter«, sagt ein Mann.
»Ja; aber ich weiß wirklich nicht, wie er ein Freund der
anderen sein kann . . . «, bemerkt ein anderer.
»Er ist wie ein Neugeborener, in Skrupel und Vorschriften
eingepackt . . . doch er ist nicht schlecht«, fügt ein dritter hinzu.
»Sind das hier seine Felder?« fragen mehrere, die nicht aus
der Gegend sind.
»Ja. Ich nehme an, dass der Aussätzige vielleicht einer
seiner Diener oder Pächter war, aber er duldete seine Nähe und ich vermute, dass
er ihm auch zu essen gab.«
Jesus entzieht sich all diesen Bemerkungen, ruft seine zwölf
Apostel zu sich und fragt:
»Was soll ich nun zu eurer Ungläubigkeit sagen? Hat der Vater
nicht Brot für uns alle in die Hände eines Menschen gelegt, der mir durch seine
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht sogar feindlich gesinnt
sein müsste. Oh, ihr kleingläubigen Menschen! . . . Geht ins weiche Heu und
schlaft. Ich will den Vater bitten, er möge euch die Herzen öffnen, und ihm für
seine Güte danken. Der Friede sei mit euch!«
Dann begibt sich Jesus zu den langsam ansteigenden Hängen des
Berges. Dort setzt er sich nieder und sammelt sich im Gebet. Er erhebt die Augen
zum Himmel und erblickt das Meer der Sterne, die den Himmel bedecken und, den
Blick senkend, die vielen Menschen, die auf den Wiesen schlafen. Nichts anderes.
Doch die Freude, die er im Herzen verspürt, ist so groß, dass er wie zu Licht
geworden und ganz verklärt scheint . . .
215 Am Sabbat nach der Bergpredigt am Fuße des Berges
Jesus ist während der Nacht wieder ein Stück weit den
Berg hinaufgestiegen, und man sieht ihn im Morgenrot auf einem Felsvorsprung
stehen. Petrus, der ihn zuerst entdeckt, macht die anderen Apostel auf ihn
aufmerksam, und so steigen sie zu ihm hinauf.
»Meister, warum bist du nicht mit uns gekommen?« fragen
einige.
»Ich musste beten.«
»Aber du hast es auch sehr nötig, dich auszuruhen.«
»Freunde, in der Nacht hat eine Stimme vom Himmel mich
aufgefordert, für die Guten und die Bösen, und auch für mich selber zu beten.«
»Warum? Hast du das denn nötig?«
»Wie die anderen. Ich schöpfe meine Kraft aus dem Gebet und
meine Freude aus der Erfüllung des Willens des Vaters. Der Vater hat mir zwei
Namen genannt und von einem Schmerz, der mich treffen wird, gesprochen. Es geht
um drei Dinge, die des Gebetes sehr bedürfen.« Jesus ist sehr traurig und schaut
seine Apostel mit flehenden und fragenden Augen an. Sein Blick wandert von einem
Jünger zum anderen und verweilt dann bei Judas Iskariot.
Der Apostel bemerkt es und fragt: »Warum schaust du mich so
an?«
»Ich sah nicht dich. Mein Auge betrachtete etwas anderes . .
. «
»Und das wäre?«
»Das Wesen des Jüngers. Alles Gute und alles Schlechte, dass
ein Jünger geben kann, dass er für seinen Meister tun kann. Ich dachte an die
Jünger der Propheten und an jene des Johannes, und ich dachte an meine eigenen.
Ich betete für Johannes, für die Jünger und für mich . . . «
»Du bist heute Morgen traurig und müde, Meister. Sage denen,
die dich lieben, deinen Kummer«, ermuntert ihn Jakobus des Zebedäus.
»Ja, sag es, und wenn wir dir irgendwie eine Erleichterung
verschaffen können, dann werden wir es tun . . . «, sagt der Vetter Judas.
Petrus spricht mit Bartholomäus und Philippus, doch ich
verstehe nicht, was sie sagen.
Jesus antwortet: »Gut sein, bemüht euch, gut und treu zu
sein. Das ist Erleichterung. Etwas anderes gibt es nicht, Petrus, hast du
verstanden? Lasst alle Mutmaßungen beiseite. Liebt mich und liebt euch
gegenseitig. Lasst euch nicht von jenen, die mich hassen, verleiten, und liebt
es vor allem, den Willen Gottes zu erfüllen.«
»Aber, wenn alles davon abhängt, dann sind auch unsere Fehler
Gottes Wille!« ruft Thomas mit philosophischer Miene aus.
»Das meinst du, aber es ist nicht so. Nun sind viele Leute
aufgewacht und schauen zu uns herauf. Lasst uns hinabsteigen und den heiligen
Tag mit dem Wort Gottes heiligen.«
Sie steigen den Berg hinab, während immer mehr Menschen
erwachen. Die Kinder, fröhlich wie Spatzen, rennen und springen zwitschernd und
schwatzend in den taunassen Wiesen umher, was hier und dort einen Klaps und
Tränen zur Folge hat. Doch dann eilen die Kinder zu Jesus, der sie liebkost und
dabei sein Lächeln wiederfindet als ob sich in ihm diese unschuldige
Fröhlichkeit widerspiegelte. Ein kleines Mädchen will ihm einen Blumenstrauß,
den es auf den Wiesen gepflückt hat, in den Gürtel stecken, „denn das Kleid ist
so schöner“, sagt es. Jesus lässt es geschehen, obgleich die Apostel dagegen
murren, und sagt: »Aber, freut euch doch, dass sie mich lieben! Der Tau reinigt
die Blumen vom Staub, die Liebe der Kinder nimmt von meinem Herzen die
Traurigkeit.«
Gleichzeitig mit Jesus, der vom Berg herunterkommt, trifft
auch Johannes, der Schriftgelehrte, von zu Hause mit vielen Dienern bei der
Menge ein. Beladen mit Körben voller Brote, Oliven, kleinen Käsen und einem
Lämmlein oder Ziegenböcklein, das für den Meister gebraten wurde, kommen sie an
und legen ihm alles zu Füßen. Jesus übernimmt die Verteilung selbst, indem er
jedem ein Brot und ein Stück Käse mit einer Handvoll Oliven überreicht. Einer
Mutter aber, die noch einen rundlichen Säugling an der Brust hat, der schon
seine ersten Zähnchen zeigt und lacht, gibt er mit dem Brot noch ein Stück des
gebratenen Lammes, und so macht er es auch mit zwei oder drei anderen, die in
ihm den Eindruck erwecken, dass sie einer besonderen Stärkung bedürfen.
»Aber es ist für dich bestimmt«, sagt der Schriftgelehrte.
»Ich werde davon kosten, keine Sorge. Aber wenn ich weiß,
dass deine Güte vielen gilt, dann wird es mir umso mehr munden.«
Die Verteilung ist beendet und die Leute knabbern an ihrem
Brot, behalten aber etwas davon für später zurück. Jesus trinkt ein wenig Milch,
die ihm der Schriftgelehrte aus einer Feldflasche, ähnlich einem Krüglein, in
eine kostbare Schale gegossen hat.
»Du musst mir jedoch die Freude machen, dir zuhören zu
dürfen«, sagt Johannes, der Schriftgelehrte, der von Hermas sehr ehrerbietig und
von Stephanus noch respektvoller begrüßt worden ist.
»Ich verweigere es dir nicht. Komm und bleib hier, mir
gegenüber! « Jesus, den Rücken dem Berg zugewandt, beginnt zu reden.
»Der Wille Gottes hat uns an diesem Ort zurückgehalten, denn,
den eingeschlagenen Weg noch weiter zu gehen hätte bedeutet, die Gebote zu
übertreten und Ärgernis zu geben; und dies darf nie geschehen, bis einmal der
Neue Bund Gültigkeit haben wird. Es ist richtig, die Feiertage zu heiligen und
den Herrn an den Stätten des Gebetes zu loben. Doch die ganze Schöpfung kann zur
Stätte des Gebetes werden, wenn das Geschöpf seinen Geist zum Vater erhebt.
So war auch die Arche Noahs während der Sintflut eine Stätte
des Gebetes, so der Bauch des Walfisches für Jona, das Haus des Pharao, als
Josef dort lebte, und das Zelt des Holofernes durch die keusche Judit. War denn
der lasterhafte Ort, an dem der Prophet Daniel als Sklave lebte, dem Herrn nicht
gerade deshalb heilig, weil ihn sein Diener durch seine Heiligkeit dem Herrn
wohlgefällig machte: eine Heiligkeit, die ihn würdig werden ließ, als Prophet
die Weissagung über Christus und den Antichrist zu verkünden, die als Schlüssel
für die heutige Zeit und für die Endzeit dienen soll? Mit wieviel größerem Recht
ist also dieser Ort heilig, der mit seinen Farben, seinen Düften, der reinen
Luft, den reichen Getreidefeldern und den Tauperlen von Gott, dem Vater und
Schöpfer, kündet und uns sagt: „Ich glaube. Möget daher auch ihr glauben, denn
wir legen Zeugnis ab für Gott.“ So soll uns Gottes Natur an diesem Sabbat die
Synagoge sein, wo uns Blumenkelche und Getreideähren diese immerwährenden Worte
verstehen lassen und wo uns die Sonne als heiliger Leuchter dient.
Ich habe euch Daniel zitiert. Ich habe euch gesagt: „Dieser
Ort soll unsere Synagoge sein.“ Daher erinnere ich an das freudige „Loblied der
Schöpfung“ der drei heiligen Jünglinge in den Flammen des Feuerofens: Himmel und
Wasser, Tau und Rauhreif, Eis und Schnee, Feuer und Hitze, Licht und Finsternis,
Blitze und Wolken, Berge und Hügel, alles, was da keimt und sprießt, alle Vögel,
Fische und alles Getier, lobet und preiset den Herrn mit den Menschen, die ein
demütiges und reines Herz haben. Das ist die Zusammenfassung dieses heiligen,
für die Demütigen und Gerechten so lehrreichen Hymnus. Beten und uns den Himmel
verdienen können wir an jedem Ort. Wir werden seiner würdig, wenn wir den Willen
des Vaters tun. Am frühen Morgen hat jemand bemerkt, dass, wenn alles vom Willen
Gottes abhängt, auch die menschlichen Fehler sein Wille sind. Das ist jedoch ein
Irrtum, und zwar ein weitverbreiteter. Kann ein Vater wollen, dass das Verhalten
seines Kindes zum Tadel Anlass gibt? Nein, das ist nicht möglich. Trotzdem
können wir auch in den Familien beobachten, wie einige Kinder das Missfallen
ihrer Eltern erregen, obwohl sie einen gerechten Vater haben, der sie lehrt, das
Gute zu tun und das Böse zu meiden. Kein rechtdenkender Mensch wird deshalb den
Vater beschuldigen, er hätte sein Kind zum Bösen angehalten.
Gott ist der Vater. Die Menschen sind die Kinder. Gott weist
auf das Gute hin und sagt: „Ich versetze dich zu deinem Wohle in diese
Lebenslage.“ Oder auch, wenn der Böse und seine menschlichen Helfer dem Menschen
Schaden zufügen und ihn ins Unglück stürzen, sagt Gott: „In dieser schmerzlichen
Stunde musst du nun so handeln, dann wird dir das Leid zum ewigen Heil dienen.“
Gott gibt Ratschläge, aber er zwingt euch nie. Wenn nun jemand, obwohl er den
Willen Gottes kennt, es vorzieht, das Gegenteil zu tun, kann man dann noch
sagen, dass dieser Ungehorsam der Wille Gottes sei? Man kann es nicht!
Liebet den Willen Gottes. Liebet ihn mehr als euren eigenen
und befolgt ihn trotz der verführerischen und machtvollen Kräfte der Welt, des
Fleisches und des Dämons, die ebenso ihre Forderungen stellen. Doch in Wahrheit
sage ich euch, dass jeder, der sich ihnen beugt, ein wahrhaft Unglücklicher ist.
Ihr nennt mich „Messias“ und „Herr“. Ihr sagt, dass ihr mich liebt und jubelt
mir zu. Ihr folgt mir, und allem Anschein nach liebt ihr mich. Aber in Wahrheit
sage ich euch: nicht alle von euch werden mit mir ins Himmelreich eingehen. Auch
unter meinen ersten und mir am nächsten stehenden Jüngern werden solche sein,
die dort nicht eingehen werden, denn viele werden ihren Willen oder den Willen
des Fleisches, der Welt und des Dämons tun, doch nicht den meines Vaters.
Nicht, wer zu mir sagt: „Herr, Herr“, wird in das Himmelreich
eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut. Nur diese werden in das
Reich Gottes eingehen. Der Tag wird kommen, an dem ich, der ich zu euch spreche,
nicht mehr Hirte, sondern Richter sein werde. Lasst euch nicht von meinem
jetzigen Verhalten verleiten. Zurzeit sammelt mein Hirtenstab alle zerstreuten
Seelen, und er ist sanft und lädt euch ein, zu den Weiden der Wahrheit zu
kommen. Dann aber wird der Hirtenstab durch das Zepter des Richter-Königs
ersetzt werden, und meine Macht wird eine ganz andere sein. Nicht mit Sanftheit,
sondern mit unerbittlicher Gerechtigkeit werde ich dann die Schafe, die sich von
der Wahrheit genährt haben, von jenen trennen, die Wahrheit mit Irrtum vermischt
oder sich nur vom Irrtum genährt haben.
Ein erstes und ein zweites Mal werde ich dies tun. Wehe
denen, die sich zwischen ihrem ersten und zweiten Erscheinen (dem einzelnen
Gericht und dem Endgericht) vor dem Richter nicht gereinigt haben; sie werden
sich nicht mehr von ihren Giften des Bösen reinigen können. Die dritte Kategorie
wird sich nie reinigen können; keine Strafe kann sie reinwaschen. Sie haben nur
den Irrtum gewollt, und im Irrtum sollen sie verbleiben. Unter ihnen werden
viele sein, die dann jammernd zu mir sagen: „Aber Herr, warum? Haben wir nicht
in deinem Namen geweissagt, Dämonen ausgetrieben und viele Wunder gewirkt?“
Dann werde ich ihnen klar und deutlich sagen: „Ja, ihr habt
es gewagt, euch meines Namens zu bedienen, um als etwas aufzutreten, was ihr
nicht seid. Ihr wolltet mit eurem Satanismus ein Leben in Jesus vortäuschen.19
Doch die Früchte eurer Werke klagen euch an. Wo sind eure
Geretteten? Wo haben sich eure Prophezeiungen erfüllt? Was war das Ergebnis
eurer Exorzismen? Wer stand bei euren Wundern Pate? Oh, wohl ist mein Feind
mächtig, aber er übertrifft mich nicht. Er hat euch geholfen, jedoch um seine
Beute zu vergrößern, und durch euer Wirken hat sich der Kreis der den Irrlehren
Verfallenen erweitert. Ja, ihr habt Wunder vollbracht und scheinbar größere als
die wahren Diener Gottes, die nicht mit Gauklerkünsten das Volk verwirren,
sondern die Engel durch ihre Demut und ihren Gehorsam in Erstaunen versetzen.
Jene, meine wahren Diener, schaffen mit ihren Opfern keine Trugbilder, sondern
verbannen sie vielmehr aus den Herzen. Meine wahren Diener drängen sich den
Menschen nicht auf, sondern zeigen den Seelen der Menschen Gott den Herrn. Sie
tun nichts anderes als den Willen Gottes, und sie bringen auch andere dazu, den
Willen Gottes zu erfüllen – so wie die Woge die vorangehende vorwärtstreibt und
die nachkommende mitzieht – ohne sich dabei in den Vordergrund zu stellen und
auszurufen: „Seht doch!“ Meine wahren Diener tun, was ich sage, und hegen nur
den einen Gedanken: meinen Willen zu erfüllen; und ihre Werke tragen mein
untrügliches Merkmal des Friedens, der Sanftmut, der Ordnung. Daher kann ich
euch sagen: diese sind meine Diener, euch hingegen kenne ich nicht. Weichet von
mir alle, die ihr Werke der Bosheit vollbracht habt.“
Dies werde ich alsdann über jene aussprechen, und es wird ein
furchtbares Urteil sein. Sorgt dafür, dass ihr diesen Richterspruch nicht
verdient und geht den sicheren, wenn auch mühevollen Weg des Gehorsams der
Herrlichkeit des Himmelreiches entgegen. Genießt nun eure Sabbatruhe und lobt
Gott von ganzem Herzen. Der Friede sei mit euch allen!«
Jesus segnet die Menschen, bevor sie sich auf der Suche nach
Schatten zerstreuen. In den vielen Gruppen, die sich bilden, unterhält man sich
über die eben gehörten Worte.
Bei Jesus verbleiben die Apostel und der Schriftgelehrte
Johannes, der nicht spricht, sondern in tiefe Betrachtung versunken Jesus in
allen seinen Bewegungen beobachtet.
Die Bergpredigt ist zu Ende.
13 Der heilige Augustinus sagt: Gott kann man nicht erklären, er kann nicht mit
dem Geist erfasst werden: Er ist! ZURÜCK
14 Der heilige Thomas von Aquin sagt mit Recht: »Gott hätte keine grösseren göttlichen Werke vollbringen können, als jene drei: Die Menschwerdung des Sohnes, die Mutterschaft der heiligsten Jungfrau und die Vergöttlichung der menschlichen Seele.« Auch der heilige Augustinus sagt: »Die Seelen sind durch den Vater am Geheimnis der ewigen Zeugung in göttlicher Weise beteiligt und durch den Vater und den Sohn an der Ausgiessung des Heiligen Geistes.« Daher wird die durch die Gnade Gottes Gott ähnlich gewordene Seele in ihrer Teilhabe und ihrem Wirken mit den drei göttlichen Personen vergöttlicht, und das ist das erhabenste Werk der unendlichen Liebe, die uns Geschöpfe zu vergöttlichten Geschöpfen erhebt. ZURÜCK
15 Der Geist Gottes erleuchtet und offenbart sich um so mehr, je mehr er Wohnung findet in einer reinen Seele, die sich aller Nichtigkeiten, die den ungeistigen und areligiösen Menschen erfüllen, entledigt hat. Befreit sich der Mensch von irdischen und hinfälligen Dingen, so erfüllt Gott seine Leere mit sich selbst und der reingewordene oder, noch besser, stets rein gebliebene Mensch schaut und begreift Gott im Geiste. So wie Gott ihn besitzt, besitzt er Gott auf geheimnisvolle Weise, soweit dies beim Menschen, der immer noch in der Verbannung lebt, möglich ist. Er besitzt Gott durch sein sehnliches Verlangen, und Gott, der seine Kinder besitzen will, entspricht diesem Verlangen. Das ist das kleine Paradies auf Erden, als Vorbote der ewigen und vollkommenen Seligkeit im Himmel. ZURÜCK
16 Gott liebt die Friedfertigen, weil sie ganz Liebe sind, denn die Liebe flösst Gefühle des Friedens ein, und der Friede wiederum stellt die Liebe unter den Brüdern her. Es ist, als ob Gott selbst sich in ihren Dienst stellen würde, um sie in ihrer Friedenssendung zu unterstützen, die eine seiner wunderbarsten Eigenschaften unter den Menschen vervielfältigt. ZURÜCK
17 Die durch seine Natur bedingten Lücken füllt der Mensch mit natürlichen Dingen aus, die oft nicht gut sind. Immer jedoch stehen sie dem Eindringen Gottes im Weg. Gelingt es aber, sich von diesem Hindernis, dem Menschlich- Natürlichen, zu befreien, dann füllt Gott die entstandene Leere mit sich selber aus und macht sie zu seiner Wohnstätte. Dann wird in uns das Reich Gottes errichtet, das so lange andauert, bis wir in sein Reich, den Himmel, eingehen, den wir durch unseren treuen, liebevollen guten Willen verdient und geerbt haben. ZURÜCK
18 Um Einwendungen vorzubeugen, erkläre ich, worin die Verführung des Auges und des Ohres Evas bestand. Man überlege und beachte, dass es sich um einen geistigen Kuss handelte, um eine intellektuelle Lehre über die Bosheit, um eine Neugierde zu erwecken, die anfänglich geistiger Natur war, so wie auch die von Gott gestellte Prüfung geistig war, um Adam und Eva in der Gnade zu festigen: Im Gehorsam gegenüber dem einzigen Gebot Gottes. Die anfänglich geistige Neugierde entartete zu einer Neugierde für das Stoffliche, die sich immer mehr dem Fleischlichen zuwandte. Eva war ganz Gnade und Unschuld, mit einer Fülle übernatürlicher Gaben ausgestattet und sah und erkannte Gott und sich selbst in Gerechtigkeit, als ein zur übernatürlichen Höhe des Kindes Gottes erhobenes Geschöpf. Sie sah und erkannte ihr Verhältnis als Geschöpf zu ihrem Schöpfer, den Unterschied zwischen ihm und ihr, der weder dadurch aufgehoben wurde, dass Gott der Vater den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat, noch durch seine göttliche Liebe zu seinem Geschöpf. Nichts hatte sie dazu verleitet, sich für Gott ebenbürtig zu halten, zu sein wie Gott, was ihre Natur und Macht betraf. Nichts hatte sie begierlich gemacht, alles sein zu wollen und zu können, so wie Gott alles ist und alles kann. Unschuldig und glücklich wie ein Kind war sie zufrieden mit dem, was ihr geschenkt worden war. Sie war seelisch und körperlich gesund, weil sie frei von abnormalen Begierden und Trieben war. Sie erkannte sich als Kind Gottes, und als solche erkannte sie auch ihren Gefährten. Als Königin über Tier- und Pflanzenreich, lag die Schöpfung zu ihren Füssen, doch ihr Anblick verführte ihre Seele nicht zur Sünde, sondern spornte sie an, über das Natürliche hinauszuwachsen; denn die Herrlichkeiten des Paradieses, in denen sie Gott erkannte, führten sie zu einer immer vollkommeneren Liebe zu ihrem Herrn. Sie erkannte sich in ihrem erhabenen Teil als Kind Gottes und nicht als animalisches Geschöpf. – Satan näherte sich ihr in Gestalt einer Schlange und zog die Unbedachte an sich. Die Schlange verstand es, mit ihrer Eigenart Eva zu begeistern und strömte ihr tödliches Gift mit ihrem magischen Zauber aus, wodurch geistige Erkenntnis und Einsichtsvermögen der Frau getrübt wurden, so dass sich das geschmeichelte Weib in Eva enthüllte. Eva würde sich nun mächtig wie Gott glauben, sobald sie das Kennzeichen eines Geschöpfes, d. h. die Pflicht, dem Gebot Gottes zu gehorchen und nur das zu tun, was Gott erlaubt, weit von sich werfen würde. Als sie sich dieses Kennzeichens entledigt hatte, um wie Gott zu sein, überkam sie die seelische Ausschweifung des „Alles-Können“, und diese zeugte die geistige Ausschweifung des „Alles-Kennen-Wollen“, das Gute und vor allem das Böse, das Gott ihr zu kennen verbot, während die Schlange sie dazu anspornte, es kennen zu lernen; denn nur durch die vollständige Kenntnis des Guten und Bösen würden sie und Adam „wie Götter“, und damit ihr Geschlecht und Same aus eigener Kraft unsterblich. Die Schlange bot sich ihr als Lehrmeisterin der unbeschränkten Erkenntnis an, und Eva nahm diese als Lehrmeisterin an. Die geistige Ausschweifung als Tochter der seelischen, zeugte nun die fleischliche Ausschweifung. Eva, die ihr Seh- und Hörvermögen schon zum Bösen benutzt hatte, wollte nun auch ihren Tastsinn dazu benützen, die Geheimnisse der verbotenen Frucht zu erkennen; mit dem Geruchssinn nahm sie deren betörenden Duft in sich auf, mit dem Geschmack öffnete sie die Schale einer neuen Erkenntnis, um den unbekannten Geschmack zu kosten. – In ihr erwachte die böse Begierde, das, was sie kaum versucht hatte, nunmehr vollständig auszukosten. Der Gnade, der Unschuld und Unversehrtheit beraubt, erschien ihr das Böse gut. Sie war nicht mehr fähig, ihre Sinnlichkeit der Vernunft zu unterstellen. – Sie erkannte sich und ihren Gefährten und wollte auch ihn zu dieser Erkenntnis führen. Arglistig näherte sie sich Adam und konnte ihn dazu verleiten, das Gebot Gottes mit Füssen zu treten. Sie verführte ihn zu dem, was sie schon getan hatte: in den Apfel zu beissen. Nachdem sie ihn in Unkeuschheit und Bosheit ihr gleichgemacht hatte, überredete sie ihn, die verbotene Frucht zu essen, um sich einen neuen, sofortigen Genuss zu verschaffen, und dazu die Macht, künftig Gott im Erschaffen neuer Menschen ähnlich zu sein, nach den Naturgesetzen, denen auch die Tiere unterworfen sind und anders als von Gott bestimmt. – Satan wollte erstens aus dem Menschen als Kind Gottes einen tierischen Menschen machen und zweitens versuchen, aus dem göttlichen Eingeborenen, der Mensch geworden war, einen Sünder zu machen. – Sein erstes Ziel, den Geist durch das Fleisch zu besiegen, erreichte er im unglückseligen Sündenfall. Sein zweites Vorhaben, den Messias zur Sünde zu verführen, schlug fehl. So satanisch auch sein Plan war, den Messias in die Sünde zu stürzen und dadurch jede Möglichkeit einer Wiedergeburt des Menschen zum Kinde Gottes zu verhindern, so diente doch dieser Plan der „Vollendung“ des Gott-Menschen, indem Christus in seiner Gnade als Mensch bestätigt wurde und somit in seiner Macht als Messias, als Ursache des ewigen Heils für die erlösten Kinder (Nachkommenschaft) Adams. ZURÜCK
19 Das richtet sich besonders an die Förderer von Geheimwissenschaften und die Mitglieder antichristlicher Sekten usw., also gegen jene, die gegen das erste Gebot gesündigt haben. ZURÜCK