Begegnung mit den Jüngern
M a r i a   V a l t o r t a
Kapitel 318 aus "Der Gottmensch"
Aus dem italienischen.

Man kann den Himmel nicht erwerben, wenn man nicht liebt.

 

 

 

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Begegnung mit den Jüngern

    Jesus befindet sich in der Ebene von Chorazin, im oberen Jordantal, zwischen dem See Gennesaret und dem Meronsee. Ein Land voller Weinberge, in denen bereits die Lese begonnen hat. Er muss schon seit einigen Tagen hier sein, denn heute morgen haben sich ihm die Jünger angeschlossen, die in Sykaminon waren, und unter ihnen befinden sich die beiden neuen Jünger Stephanus und Hermas. Isaak entschuldigt sich, dass er nicht früher kommen konnte, und sagt, dass ihn die Neuankömmlinge und die Überlegungen, ob es gut sei oder nicht, sie mitzubringen, zurückgehalten haben.
    »Aber«, sagt er weiter, »ich habe gedacht, dass der Weg zum Himmel allen offen steht, die guten Willens sind; mir scheint, dass sie, obwohl Schüler Gamaliëls, zu uns gehören.«
    »Du hast gut gesprochen und gehandelt. Führe sie zu mir.«
    Isaak geht und kehrt mit den beiden zurück.
    »Der Friede sei mit euch! Habt ihr euch so sehr vom apostolischen Wort überzeugen lassen, dass ihr euch uns anschliessen wollt?«
    »Ja! Mehr noch von deinem Wort. Weise uns nicht zurück, Meister! «
    »Warum sollte ich das tun?«
    »Weil wir von Gamaliël kommen.«
    »Deswegen? Ich ehre den grossen Gamaliël und möchte ihn bei mir haben, denn er ist dessen würdig. Nur das fehlt ihm noch, um seine Weisheit vollkommen zu machen. Was hat er euch gesagt, als ihr ihn verlassen habt? Ihr habt euch doch sicher von ihm verabschiedet?«
    »Ja. Er hat uns gesagt: „Selig seid ihr, die ihr glauben könnt. Betet, damit ich vergessen kann, um mich wieder erinnern zu können!“«
    Die Apostel, neugierig um Jesus geschart, blicken sich gegenseitig an und fragen leise: »Was hat er damit sagen wollen? Vergessen, um sich zu erinnern?«
    Jesus hört das Flüstern und erklärt: »Er will seine Weisheit vergessen, um die meinige annehmen zu können. Er will vergessen, Rabbi Gamaliël zu sein, um sich daran zu erinnern, dass er ein Sohn Israels in Erwartung des Gesalbten ist. Er will sich selbst vergessen, um sich der Wahrheit zu erinnern.«
    »Aber Gamaliël ist doch kein Lügner, Meister«, entschuldigt ihn Hermas.
    »Nein! Es ist das Durcheinander armer menschlicher Worte, das lügenhaft ist. Ihr setzt die Worte anstelle des Wortes! Die Worte aber muss man vergessen. Man muss sich ihrer entledigen und nackt und jungfräulich zur Wahrheit kommen, um von ihr bekleidet und befruchtet zu werden. Das verlangt Demut. Hier liegt die Schwierigkeit . . . «
    »So müssen wohl auch wir vergessen?«
    »Ohne Zweifel! Alles vergessen, was des Menschen ist, und euch dessen erinnern, was Gottes ist. Kommt, ihr könnt es.«
    »Wir wollen es tun«, versichert Hermas.
    »Habt ihr schon das Leben eines Jüngers gelebt?«
    »Ja! Seit dem Tag, da wir erfuhren, dass der Täufer getötet worden war. Die Botschaft kam sehr rasch nach Jerusalem durch die Höflinge und Hauptleute des Herodes. Sein Tod hat uns aus der Saumseligkeit gerissen«, antwortet Stephanus.
    »Das Blut der Märtyrer ist immer Leben für die Lauen, Stephanus. Erinnere dich daran!«
    »Ja, Meister! Wirst du heute sprechen? Ich hungere nach deinem Wort.«
    »Ich habe schon gesprochen. Aber ich werde wieder und sehr oft zu euch Jüngern sprechen. Eure Gefährten, die Apostel, haben ihre Mission schon begonnen nach einer eingehenden Vorbereitung. Doch sie genügen nicht für die Bedürfnisse der Welt. Und alles muss rechtzeitig fertig sein. Ich habe sozusagen eine Frist, während welcher ich alles getan haben muss. Ich bitte euch alle um Hilfe und verspreche euch im Namen Gottes Hilfe und eine Zukunft in der Herrlichkeit.«
    Das scharfe Auge Jesu entdeckt einen Mann, der gänzlich in einen leinenen Mantel eingehüllt ist.
    »Bist du nicht der Priester Johannes?«
    »Ja, Meister! Trockener als das Tal des Fluches ist das Herz der Juden. Ich bin geflohen, um dich zu suchen.«
    »Und das Priestertum?«
    »Der Aussatz hatte mich ein erstes Mal davon ausgeschlossen; die Menschen ein zweites, weil ich dich liebe. Deine Gnade zieht mich an: zu dir! Auch sie vertreibt mich von einem geschändeten Ort, um mich zu einem reinen Ort zu führen. Du hast mich gereinigt, Meister, an Leib und Seele. Und etwas Reines kann und darf sich nicht mehr dem Unreinen nähern. Das wäre eine Beleidigung für den, der es gereinigt hat.«
    »Du sprichst ein strenges Urteil. Aber es ist nicht ungerecht.«
    »Meister, die Fehler einer Familie sind allen bekannt, die in der Familie leben, und werden nur denen mitgeteilt, die rechtschaffenen Herzens sind. Du bist es. Und du weisst alles. Anderen werde ich es nicht sagen. Hier sind ausser dir deine Apostel und zwei, die es wie du und ich wissen. Deshalb . . . «
    »Gut! Aber . . . Oh, auch du? Der Friede sei mit dir! Bist du wieder gekommen, um uns Nahrung zu bringen?«
    »Nein, um von dir Nahrung zu erhalten.«
    »Hattest du eine schlechte Ernte?«
    »O nein! Sie war noch nie so gut wie dieses Jahr. Aber, mein Meister, ich suche ein anderes Brot und eine andere Ernte: deine! Und bei mir ist der Aussätzige, den du auf meinem Besitztum geheilt hast. Er ist zu seinem Herrn zurückgekehrt. Aber er und ich, wir haben jetzt einen Herrn, dem wir folgen und dienen werden: dich!«
    »Kommt. Einer, zwei, drei, vier . . . Eine gute Ernte! Aber habt ihr über eure Stellung im Tempel nachgedacht? Ihr kennt euch aus, ich ebenfalls . . . Mehr brauche ich nicht zu sagen . . . «
    »Ich bin ein freier Mensch und gehe, mit wem ich will«, sagt der Priester Johannes.
    »Und ich auch«, erklärt der letzte Ankömmling, der Schriftgelehrte Johannes, der am Sabbat für die Verpflegung am Fuss des Berges der Seligpreisungen gesorgt hatte.
    »Und wir ebenfalls«, sagen Hermas und Stephanus.
    Und Stephanus fügt hinzu: »Sprich zu uns, Herr! Wir wissen noch nicht, worin genau unsere Sendung besteht. Sage uns die grundlegenden Dinge, damit wir dir sofort dienen können. Alles andere werden wir lernen in deiner Nachfolge.«
    »Ja. Auf dem Berg hast du von den Seligkeiten gesprochen. Und das war eine Lektion für uns. Aber was sollen wir mit der zweiten Liebe, der Nächstenliebe, tun?« fragt der Schriftgelehrte Johannes.
    »Wo ist Johannes von En-Dor?« fragt Jesus, anstatt eine Antwort zu geben.
    »Dort, Meister, bei den Geheilten.«
    »Er soll hierherkommen.«
     Johannes von En-Dor eilt herbei. Jesus legt ihm mit einem besonderen Gruss die Hand auf die Schulter und sagt: »Nun will ich reden. Ich will euch vor mir haben, euch mit dem heiligen Namen: dich, meinen Apostel; dich, den Priester; dich, den Schriftgelehrten; dich, Johannes, Jünger des Täufers; und endlich dich, um den Kranz der Gnaden, die Gott gegeben hat, zu schliessen. Und wenn ich dich auch als letzten nenne, so weisst du doch, dass du in meinem Herzen nicht der letzte bist. Ich habe dir eines Tages diese Predigt versprochen. Jetzt sollst du sie hören.«
    Wie gewöhnlich steigt Jesus auf eine kleine Erhöhung, damit alle ihn sehen können. Vor sich in der ersten Reihe hat er die fünf Johannes; hinter diesen ist die Menge der Jünger, die sich mit denen vermischt haben, die aus allen Teilen Palästinas gekommen sind, weil sie der Heilung oder des Wortes bedürfen.
    »Der Friede sei mit euch allen, und die Weisheit sei über euch!
    Hört. Eines Tages, es ist schon länger her, wurde ich von jemand gefragt, ob und bis zu welchem Punkt Gott mit den Sündern barmherzig ist. Der danach fragte, war ein Sünder, dem vergeben worden war, der sich jedoch von der vollständigen Verzeihung Gottes nicht überzeugen liess. Ich habe ihn mit Gleichnissen beruhigt und ihm versprochen, dass ich für ihn immer über die Barmherzigkeit sprechen würde, damit sein reumütiges Herz, das gleich einem verirrten Kind weinte, die Gewissheit habe, sich schon auf den Besitzungen seines himmlischen Vaters zu befinden.
    Gott ist Barmherzigkeit, denn Gott ist Liebe.
    Der Diener Gottes muss barmherzig sein und damit Gott nachahmen.
    Gott bedient sich der Barmherzigkeit als eines Mittels, um die verirrten Söhne an sich zu ziehen.
    Der Diener Gottes muss sich der Barmherzigkeit bedienen als eines Mittels, um die verirrten Söhne zu Gott zurückzuführen.
    Das Gebot der Liebe ist für alle verpflichtend. Aber es ist dreifach verpflichtend für die Diener Gottes.
    Man kann den Himmel nicht erwerben, wenn man nicht liebt. Aber das brauche ich nur den Gläubigen zu sagen. Den Dienern Gottes sage ich: „Man kann die Gläubigen nicht für den Himmel gewinnen, wenn man nicht vollkommen liebt.“
    Und ihr, wer seid ihr? Ihr, die ihr euch um mich drängt? Zum grössten Teil seid ihr Menschen, die nach einem vollkommenen Leben streben; nach dem gesegneten, mühevollen, erleuchteten Leben eines Dieners Gottes, eines Dieners Christi. Welche Pflichten habt ihr in diesem Leben als Diener und Werkzeug Gottes? Ihr müsst Gott und euren Nächsten in vollkommener Weise lieben. Wie? So, dass ihr Gott zurückbringt, was die Welt, das Fleisch und Satan Gott geraubt haben. Auf welche Weise? Durch die Liebe. Die Liebe hat tausend Arten, sich auszudrücken, und ein einziges Verlangen: Liebe zu lehren.
    Denken wir an unseren schönen Jordan! Wie mächtig ist er in Jericho! Doch war er es schon an der Quelle? Nein! Er war nur ein Wasserfaden, und er wäre es noch, wenn er stets allein geblieben wäre. Aber von den Bergen und Hügeln, von beiden Seiten seines Tales gelangen Tausende von Zuflüssen zu ihm, die ihrerseits von Hunderten von Bächen gebildet werden und sich alle in sein Flussbett ergiessen, das wächst und wächst und wächst, bis er von einem lieblichen, silberblauen Bächlein, das in seiner Kindheit noch lacht und scherzt, zu einem breiten, feierlichen, geruhsamen Fluss geworden ist, der wie ein himmelblaues Band zwischen den smaragdgrünen Ufern dahinfliesst.
    So ist die Liebe. Anfangs ein Faden bei den Kindern zu Beginn des Lebensweges, die sich nur aus Furcht vor Strafe gerade noch vor der schweren Sünde retten. Dann schreiten sie auf dem Weg der Vollkommenheit voran, und siehe da: auf den rauhen, trockenen, stolzen und harten Bergen der Menschheit entspringen aus dem Willen zu lieben Bäche über Bäche dieser grundlegenden Tugend, und alles dient dazu, sie entspringen und anwachsen zu lassen: die Schmerzen und die Freuden, so, wie auf dem Berg der gefrorene Schnee und die ihn schmelzende Sonne den Bach hervorbringen. Alles dient dazu, ihnen den Weg zu öffnen: die Demut wie die Reue; alles dient dazu, sie dem Hauptfluss zuzuführen. Denn die Seele, die es drängt, diesen Weg zu gehen, liebt den Abstieg in die Verleugnung des eigenen Ichs und trachtet danach, wieder emporzusteigen, angezogen von der göttlichen Sonne, nachdem sie zum mächtigen, schönen, wohltuenden Fluss geworden ist.
    Die Bäche, die den jungen Fluss der noch scheuen Liebe nähren, sind ausser den Tugenden auch die Werke, welche die Tugenden zu vollbringen anleiten. Die Werke sind, wenn sie Zuflüsse der Liebe sein sollen, Werke der Barmherzigkeit. Betrachten wir sie zusammen! Einige waren Israel schon bekannt; andere will ich euch bekanntmachen, denn mein Gesetz ist die Vervollkommnung der Liebe.

 

    Die Hungrigen speisen!

    Es ist dies eine Pflicht der Dankbarkeit und der Liebe. Eine Pflicht der Nachfolge. Die Söhne sind dem Vater dankbar für das Brot, das er ihnen verschafft, und wenn sie grösser sind, tun sie es ihm nach und verschaffen ihren eigenen Kindern Brot. Auch dem Vater, der aus Altersgründen nicht mehr arbeitsfähig ist, verschaffen sie durch ihre eigene Arbeit das Brot, als liebevolle und pflichtschuldige Rückerstattung des Guten, das sie einst empfangen haben.
    Das vierte Gebot sagt: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Und ihr sollt ihre Hilflosigkeit ehren und sie nicht dazu zwingen, ihr Brot bei anderen erbetteln zu müssen.
    Doch dem vierten Gebot geht das erste voraus: „Du sollst aus deinem ganzen Wesen Gott lieben“, und das zweite: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“ Gott lieben um seiner selbst willen und ihn im Nächsten lieben, das ist Vollkommenheit.
    Man liebt ihn, wenn man dem Hungrigen Brot gibt, in Erinnerung daran, dass Gott so oft des Menschen Hunger durch Wundertaten gestillt hat. Aber auch ohne das Manna und die Wachteln zu nennen, beachten wir das fortwährende Wunder des Korns, das durch die Güte Gottes keimt. Gott macht die Erde für die Bebauung geeignet, regelt die Winde, den Regen, die Wärme und die Jahreszeiten, damit der Same Ähre und die Ähre Brot werde.
    Und war es nicht ein Wunder seiner Barmherzigkeit, dass er mit seinem übernatürlichen Licht den sündhaften Sohn erleuchtet und ihn gelehrt hat, dass die hohen, zarten Gräser, die unter dem Einfluss der Sonnenhitze zu goldenen, in eine harte Hülle dorniger Spelzen eingeschlossenen Körnern werden und zur Nahrung dienen, wenn sie gesammelt, gedroschen, gemahlen, gesiebt und gebacken sind? Gott hat den Menschen all dies gelehrt: wie das Korn gesammelt, gereinigt, gemahlen, vermengt und gebacken werden soll. Er legte die Steine neben die Ähren und liess das Wasser neben den Steinen fliessen; er entzündete durch die Spiegelung, den Reflex des Wassers und der Sonne, das erste Feuer auf Erden, und über das Feuer trug der Wind die Körner, so dass sie geröstet wurden und angenehmen Duft verbreiteten. Der Mensch sollte verstehen, dass das geröstete Korn besser schmeckt als das rohe, das die Vögel fressen, oder das zu einem klebrigen Brei mit Wasser vermengte Mehl. Ihr denkt nicht daran, wenn ihr das gute Brot, das im Haus gebacken wurde, esst, wieviel Barmherzigkeit diese Vollkommenheit des Backens ausdrückt; welchen Weg das menschliche Wissen zurückgelegt hat, um von der ersten Ähre, die der Mensch wie das Pferd kaute, zum heutigen Brot zu gelangen. Und durch wen? Durch den Geber des Brotes. Und das gilt für jede Art von Nahrung, die der Mensch durch das wohltätige Licht des Verstandes aus Pflanzen und Tieren gewinnt, mit denen der Schöpfer die Erde, den Ort der väterlichen Strafe für den sündigen Sohn, ausgestattet hat.
    Die Hungernden zu speisen ist Gebet der Dankbarkeit dem Herrn und Vater gegenüber, der unseren Hunger stillt. Es ist eine Nachahmung des Vaters, der uns ohne unser Verdienst als sein Ebenbild erschaffen hat, das wir immer mehr vervollkommnen sollen, indem wir seine Handlungen zum Vorbild nehmen.

 

    Die Durstigen tränken!

    Habt ihr darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn der Vater nicht mehr regnen liesse? Und doch, wenn er sagen würde: „Wegen eurer Herzenshärte gegen die Durstigen will ich die Wolken daran hindern, Wasser auf die Erde zu regnen“: könnten wir uns ihm widersetzen und fluchen? Das Wasser kommt, mehr noch als das Korn, von Gott. Denn das Korn wird vom Menschen angebaut, aber nur Gott allein bestellt die Felder der Wolken, die als Regen oder Tau, als Nebel oder Schnee herabkommen und die Äcker tränken, die Zisternen füllen und die Flüsse und Seen anschwellen lassen, die den Fischen Aufenthalt gewähren, die wiederum den Menschen zusammen mit anderen Tieren ernähren. Könnt ihr daher jemand, der sich mit der Bitte: „Gib mir zu trinken“ an euch wendet, sagen: „Nein, das Wasser gehört mir, ich gebe es dir nicht?“ Lügner! Wer von euch hat auch nur eine einzige Schneeflocke oder einen Tropfen Wasser gemacht? Wer von euch hat mit seiner Sternenwärme auch nur einen einzigen Tautropfen hervorgebracht? Niemand! Gott tut es. Und wenn die Wasser vom Himmel fallen und wieder zum Himmel aufsteigen, dann geschieht dies nur, weil Gott diesen Teil der Schöpfung, wie alle anderen, regelt. Gebt daher das gute, frische Wasser der Adern des Erdbodens, das reine Wasser eures Brunnens oder das, welches eure Zisternen gefüllt hat; gebt es dem, der Durst hat. Es sind die Wasser Gottes; sie gehören allen. Gebt sie jenen, die durstig sind. Für dieses kleine Werk, das euch kein Geld kostet und keine andere Mühe erfordert als die, einen Becher oder einen Krug zu reichen, werdet ihr im Himmel eine Belohnung erhalten, ich versichere es euch. Denn nicht das Wasser, sondern die Tat der Liebe ist gross in den Augen und im Urteil Gottes.

 

    Die Nackten bekleiden!

    Auf den Strassen der Welt geht das nackte, verschmähte, erbarmungswürdige Elend vorüber. Es sind sich selbst überlassene Greise, durch Krankheit oder Unglücksfälle arbeitsunfähig gewordene Menschen; es sind Aussätzige, die durch die Güte Gottes zum Leben zurückkehren; es sind kinderreiche Witwen, vom Unglück verfolgt und von allem beraubt, was Wohlstand bedeutet; es sind unschuldige Waisenkinder. Wenn ich das Auge über die weite Erde schweifen lasse, sehe ich überall Menschen, die nackt oder nur mit Lumpen bedeckt sind, welche gerade noch die Sittsamkeit bewahren, jedoch nicht vor der Kälte schützen; und diese Menschen betrachten mit betrübten Augen die Reichen, die in weichen Gewändern und mit weichem Schuhwerk an den Füssen vorübergehen. Eine sanfte Traurigkeit in den Guten, eine hasserfüllte Niedergeschlagenheit in den weniger Guten! Aber warum helft ihr ihnen nicht in ihrer Niedergeschlagenheit und macht sie nicht besser, wenn sie gut sind, und warum vernichtet ihr nicht durch eure Liebe ihren Hass, wenn sie weniger gut sind?
    Sagt nicht: „Ich habe nur für mich.“ Wie bei den Broten, so ist immer etwas mehr als das absolut Notwendige auf den Tischen und in den Schränken fast aller, die nicht ganz verarmt sind. Unter meinen Zuhörern ist mehr als einer, der es verstanden hat, aus einem abgetragenen Gewand ein Kleid für ein Waisenkind oder sonst ein armes Kind zu machen; der es verstanden hat, aus einem alten Leinentuch Windeln für ein unschuldiges Kind herzustellen, dem das Nötigste fehlt. Und da ist einer, der selber betteln musste und doch jahrelang das erbettelte Brot mit den Aussätzigen geteilt hat, die nicht betteln und die Hand an den Schwellen der Reichen nicht ausstrecken durften. Wahrlich, ich sage euch, diese Barmherzigen sind nicht unter den Reichen zu suchen, wohl aber in den Scharen der Armen, die aus eigener Erfahrung wissen, wie schmerzlich die Armut ist.
    Und wie beim Wasser und beim Brot bedenkt, dass Wolle und Leinen, in die ihr euch kleidet, von Tieren und Pflanzen stammen, die der Vater nicht allein für die Reichen, sondern für alle Menschen geschaffen hat. Denn Gott hat den Menschen einen einzigen Reichtum gegeben: seinen eigenen der Gnade, der Gesundheit, des Verstandes, aber nicht den schmutzigen Reichtum des Goldes, das nicht schöner ist als andere Metalle und weniger nützlich als das Eisen, aus dem man Spaten, Pflüge, Sicheln, Sensen, Messer, Hämmer, Sägen und Hobel, die heiligen Werkzeuge der heiligen Arbeit, anfertigt; ihr aber habt das Gold zu einem edlen Metall erhoben, zu einer nutzlosen, lügenhaften Vornehmheit, durch Einflüsterung Satans, der aus euch, den Kindern Gottes, Wilde und Raubtiere macht. Den Reichtum der heiligen Dinge hat er euch gegeben, um euch immer heiliger werden zu lassen! Nicht aber den mörderischen Reichtum, der so viel Blut und Tränen vergiessen lässt. Gebt, wie auch euch gegeben wurde! Gebt im Namen des Herrn, ohne zu befürchten, nackt bleiben zu müssen. Besser wäre es, vor Kälte zu sterben, weil man sich für einen Bettler entblösst hat, als unter weichen Gewändern aus Mangel an Liebe das Herz erfrieren zu lassen.
    Die Wärme des vollbrachten guten Werkes ist wohltuender als die Wärme eines Mantels aus reinster Wolle, und die bedeckten Glieder des Armen sprechen zu Gott und bitten ihn: „Segne den, der uns bekleidet hat.“
    Wer Hunger und Durst stillt und Nackte bekleidet und sich selbst einschränkt, um geben zu können, vereinigt die heilige Mässigkeit mit der heiligsten Liebe; wer von dem gibt, was er durch die Güte Gottes reichlich besitzt, und damit das Los unglücklicher Brüder, die durch die Bosheit der Menschen oder durch Krankheit das Nötigste entbehren, auf heilige Weise verändert, vereint mit der heiligen Mässigkeit und der heiligsten Liebe noch die heilige Gerechtigkeit. Wenn ihr aber dem Pilger Gastfreundschaft gewährt, verbindet ihr die Liebe mit dem Vertrauen in den Nächsten. Auch das ist eine Tugend, wisst ihr? Eine Tugend, die bekundet, dass wer sie hat, ausser der Liebe auch Rechtschaffenheit besitzt. Denn wer rechtschaffen ist, handelt recht, und wer gewohnt ist, gut zu handeln, nimmt dies auch von den anderen an und beweist damit, dass er das Vertrauen und die Einfalt hat, die Worte der anderen für wahr zu halten; er lässt erkennen, dass er selbst in grossen und kleinen Dingen die Wahrheit sagt und nicht an der Ehrlichkeit anderer zweifelt.
    Warum einem Fremden gegenüber, der euch um Obdach bittet, denken: „Und wenn er ein Räuber und Mörder ist?“ Hängt ihr so sehr an eurem Reichtum, dass ihr bei jeder Ankunft eines Fremden um ihn bangen müsst? Hängt ihr so sehr an eurem Leben, dass ihr vor Schrecken erstarrt, wenn ihr daran denkt, dass man es euch nehmen könnte? Glaubt ihr denn nicht, dass Gott euch gegen Räuber verteidigen kann? Ihr fürchtet, dass der Wanderer ein Dieb sein könnte, und habt keine Angst vor dem finsteren Gast, der euch des Unersetzlichen beraubt? Wie viele beherbergen den Teufel in ihrem Herzen! Ich könnte sagen: alle beherbergen die Hauptsünde, doch zittert keiner deswegen. Ist etwa nur das Gut des Reichtums und des Lebens kostbar? Und ist nicht die Ewigkeit viel kostbarer, die ihr euch durch die Sünde rauben und töten lasst? Arme, arme Seelen, die ihres Schatzes beraubt und den Mördern überlassen werden, als ob sie wertlos wären, während man die Häuser verbarrikadiert, Riegel anbringt und sich Hunde und Tresore anschafft, um Dinge zu schützen, die man nicht in die Ewigkeit mitnehmen kann! Warum wollt ihr in jedem Pilger einen Dieb sehen? Wir sind Brüder und müssen den vorüberziehenden Brüdern unser Haus öffnen. Ist der Pilger nicht von unserem Blut? O ja! Er ist vom Blut Adams und Evas. Ist er nicht unser Bruder? Aber sicher! Es gibt nur einen Vater: Gott, der uns allen eine gleiche Seele gegeben hat, so wie ein Vater den Söhnen eines Ehebettes das gleiche Blut gibt. Ist der Pilger arm? Seht zu, dass ihr nicht noch ärmer seid als er, im Geist, ohne Freundschaft. Ist sein Kleid zerrissen? Seht zu, dass eure Seele nicht noch mehr zerrissen ist durch die Sünde! Ist sein Fuss mit Staub oder Schlamm bedeckt? Sorgt dafür, dass das Laster euer Ich nicht mehr beschmutzt hat als das weite Wandern die Sandalen. Ist sein Aussehen hässlich? Sorgt dafür, dass das eure in den Augen Gottes nicht hässlicher ist. Ist seine Sprache euch fremd? Sorgt dafür, dass eure Sprache des Herzens in der Stadt Gottes nicht unverständlich wird.
    Seht im Pilger einen Bruder. Alle sind wir Pilger auf dem Weg zum Himmel, und alle pochen wir an den Türen längs des Weges, der zum Himmel führt. Die Türen sind die Patriarchen und die Gerechten, die Engel und die Erzengel, an die wir uns, um Hilfe und Schutz wenden, damit wir das Ziel erreichen, ohne im Dunkel der Nacht und in der eisigen Kälte eine Beute der Wölfe und Schakale, der Leidenschaften und Dämonen zu werden. So wie wir wollen, dass die Engel und Heiligen uns mit Liebe öffnen, uns beherbergen und uns die Kraft geben, das Leben fortzusetzen, so sollen auch wir den Pilgern dieser Erde öffnen. Und seid versichert, jedesmal, wenn wir das Haus und die Arme öffnen und einen Unbekannten mit dem süssen Ausruf „Bruder“ empfangen und dabei an Gott denken, der ihn kennt, legen wir viele Meilen auf dem Weg zurück, der zum Himmel führt.

 

    Die Kranken besuchen!

    Oh, wahrlich, ebenso wie alle Menschen Pilger sind, so sind auch alle Kranke. Und die schwersten Krankheiten sind jene des Geistes, die unsichtbaren und todbringendsten. Und doch bewirken sie keinen Abscheu. Die moralischeWunde stösst nicht ab. Der Gestank des Lasters ekelt nicht an. Die dämonische Tollheit flösst keine Furcht ein. Das Geschwür des geistig Aussätzigen ruft keinen Widerwillen hervor. Man flieht nicht vor dem Grab, das voll ist vom Eiter eines an der Seele toten und verwesten Menschen. Wer sich einer solchen Unreinheit nähert, wird nicht verflucht. Armer, kurzsichtiger Mensch! Aber sagt: Was ist mehr wert, der Geist oder Fleisch und Blut? Hat die Materie die Macht, das Geistige durch ihre Berührung zu zerstören? Nein! Ich sage euch: nein! Der Geist hat einen unendlichen Wert im Vergleich zu Fleisch und Blut; aber das Fleisch hat nicht mehr Macht als der Geist. Der Geist kann nicht verdorben werden durch materielle Dinge, wohl aber durch geistige. Wenn daher jemand einen Aussätzigen pflegt, wird sein Geist dadurch nicht aussätzig, vielmehr fällt jeder Makel der Sünde von ihm ab durch die heroisch geübte Nächstenliebe, die so weit reicht, dass er sich aus Mitleid mit dem Bruder im Tal des Todes absondert. Denn die Liebe ist Freispruch von der Sünde und die erste aller Reinigungen.
    Geht immer von dem Gedanken aus: „Was würde ich mir wünschen, wenn ich in seiner Lage wäre?“ So wie ihr selbst möchtet, dass man euch tut, so sollt ihr auch eurem Nächsten tun. Jetzt hat Israel noch seine alten Gesetze. Aber der Tag wird kommen, und sein Morgengrauen ist nicht mehr fern, da man als Zeichen absoluter Schönheit das Abbild dessen verehren wird, in dem der Mann der Schmerzen des Jesaja und der Gequälte des Psalmes Davids wiederzuerkennen ist. Er wird, da er sich zum Aussätzigen gemacht hat, der Erlöser des Menschengeschlechtes sein; und zu seinen Wunden werden, wie die Hirsche zu denWasserquellen, alle Dürstenden, Kranken, Erschöpften und Weinenden auf der Erde eilen, und er wird sie tränken, heilen und stärken und sie zu Getrösteten im Geist und im Fleisch machen; und die Besten werden danach verlangen, ihm ähnlich zu werden, gekreuzigt aus Liebe, um die Menschen zu erlösen und so das Werk des Königs, des Erlösers der Welt, fortzusetzen.
    Ihr, die ihr noch Israel seid, aber schon die Flügelansätze zum Flug in das Himmelreich habt, beginnt von jetzt an mit der neuen Einschätzung und Bewertung der Krankheiten und lobt Gott, der euch gesund erhält, und neigt euch über den, der leidet und stirbt. Einer meiner Apostel hat einmal zu seinem Bruder gesagt: „Fürchte dich nicht, einen Aussätzigen zu berühren, denn keine Krankheit kann uns anstecken, wenn Gott es nicht will.“
    Er hat recht gehabt. Gott schützt seine Diener. Aber wenn ihr euch auch ansteckt beim Pflegen der Kranken, so steht ihr doch im anderen Leben auf der Liste der Märtyrer aus Liebe.

 

    Die Gefangenen besuchen!

    Glaubt ihr, dass sich auf den Galeeren nur Verbrecher befinden? Die menschliche Gerechtigkeit ist an einem Auge blind und hat an dem anderen Sehstörungen, so dass es Kamele sieht, wo nur Wolken sind, und eine Schlange mit einem blühenden Zweig verwechselt. Sie urteilt schlecht und noch schlechter, wenn der, welcher sie führt, oft vorsätzlich Nebel und Rauch erzeugt, damit sie noch unklarer sehe. Aber selbst wenn alle Gefangenen Diebe und Räuber wären, würden wir übel daran tun, uns selbst zu Räubern und Mördern zu machen, indem wir ihnen durch unsere Verachtung die Hoffnung auf Verzeihung nehmen.
    Arme Gefangenen! Sie wagen nicht, die Augen zu Gott zu erheben, da sie die Last ihrer Verbrechen fühlen. Die Ketten hemmen wahrlich mehr den Geist als den Fuss. Aber wehe, wenn sie an Gott verzweifeln! Dem Verbrechen am Nächsten fügen sie noch das der Verzweiflung an der Vergebung hinzu. Die Galeere ist Sühne, wie es auch der Tod auf dem Schafott ist. Aber es genügt nicht, für das an der menschlichen Gesellschaft begangene Verbrechen zu büssen. Auch und vor allem Gott muss Genugtuung geleistet werden, wenn man das ewige Leben erlangen will. Und wer sich auflehnt und verzweifelt, sühnt nur der Gesellschaft gegenüber. Dem Verurteilten oder dem Gefangenen gehört die Liebe der Brüder. Sie soll ein Licht in der Finsternis sein. Sie wird zur Stimme, zur Hand, die nach oben weist, während die Stimme sagt: „Meine Liebe sagt dir, dass Gott auch dich liebt. Er hat mir diese Liebe zu dir ins Herz gelegt, mein unglücklicher Bruder.“ Und das Licht erlaubt es, in Gott den barmherzigen Vater zu erkennen.
    Ein noch grösseres Recht auf eure Liebe haben die Märtyrer der menschlichen Ungerechtigkeit; die gänzlich Unschuldigen und jene, die eine grausame Macht zu töten gezwungen hat. Urteilt nicht auch noch dort, wo das Urteil schon ausgesprochen worden ist. Ihr wisst nicht, weshalb der Mensch töten konnte. Ihr wisst nicht, dass es oftmals nur ein Toter ist, der mordet; ein der Vernunft beraubter Mensch, der nur noch mechanisch handelt, weil ein grausamer Mord, die Gemeinheit eines grausamen Verrats, ihm den Verstand genommen hat. Gott weiss es, und das genügt. Im anderen Leben wird man viele von den Galeeren, die getötet und gestohlen haben, im Himmel wiederfinden, und man wird viele, die scheinbar getötet und beraubt wurden, in der Hölle entdecken, weil sie in Wirklichkeit die wahren Räuber des Friedens, der Redlichkeit und des Vertrauens der anderen waren; weil sie die wahren Mörder eines Herzens gewesen sind: diese Pseudo-Opfer. Opfer nur, weil sie zuletzt getroffen wurden, nachdem sie jahrelang stillschweigend gemordet haben. Mord und Diebstahl sind Sünde. Aber wer tötet und raubt, weil er von anderen dazu angehalten wurde, und dann bereut, wird nicht so sehr bestraft werden wie der, der zur Sünde verleitet hat und nicht bereut.
    Daher urteilt nie und seid barmherzig mit den Gefangenen. Denkt immer daran, dass, wenn alle Morde und Diebstähle bestraft würden, nur wenige Männer und Frauen nicht in den Gefängnissen oder am Kreuz sterben müssten. Die Frauen, die empfangen haben und dann nicht zulassen, dass ihre Frucht das Licht der Welt erblickt: wie wird man sie nennen? Oh, spielen wir nicht mit Worten! Sagen wir ihnen ganz offen ihren Namen: „Mörderinnen“. Jene Menschen, die den anderen das Ansehen und die Stellung rauben, wie sollen wir sie nennen? Nun, einfach das, was sie sind: „Diebe“. Jene Männer und Frauen, die Ehebrecher oder die Qual ihrer Familien sind und ihre Angehörigen dadurch zum Mord oder Selbstmord treiben, und die Grossen der Erde, die ihre Untergebenen zur Verzweiflung treiben und mit der Verzweiflung zu Gewalttaten, welchen Namen sollen sie haben? Hier ist er: „Menschenmörder“. Und? Keiner entflieht? Ihr seht, dass wir mit diesen Strafwürdigen, die der Gerechtigkeit entgangen sind und Häuser und Städte füllen, die uns auf den Strassen begegnen, in den Herbergen schlafen wie wir, und mit uns am selben Tisch sitzen, zusammenleben, ohne uns Gedanken zu machen. Und doch, wer ist ohne Sünde? Wenn der Finger Gottes an die Wand des Speisesaales die Gedanken der Geladenen schriebe; wenn er auf die Stirn der einzelnen Gäste schriebe, was sie sind oder waren, dann würde nur auf den wenigsten in Buchstaben des Lichtes stehen: „Unschuldig“. Auf den anderen Stirnen würde mit Buchstaben, grün wie der Neid oder schwarz wie der Verrat, oder rot wie das Verbrechen, geschrieben stehen: „Ehebrecher“, „Mörderin“, „Dieb“, „Menschenmörder“!
    Seid daher ohne Überheblichkeit barmherzig gegen die, menschlich gesprochen, weniger glücklichen Brüder, die in den Gefängnissen sitzen und dort für das sühnen, wofür ihr nicht sühnt, obwohl ihr die gleichen Sünden begangen habt. Dies wird eurer Demut von Nutzen sein.

 

    Die Toten begraben!

    Die Betrachtung des Todes ist eine Schule des Lebens. Ich möchte euch allen den Tod vor Augen halten und sagen: Versteht als Heilige zu leben, damit ihr nur den einen Tod zu erdulden habt: die zeitweilige Trennung des Leibes vom Geist, um dann siegreich und wiedervereint aufzuerstehen und ewig selig zu werden.
    Alle kommen wir nackt auf die Welt. Alle sterben wir und fallen der Verwesung anheim. König oder Bettler. Wie man geboren wurde, so stirbt man auch. Wenn der Reichtum der Könige auch eine längere Erhaltung des Leichnams gestattet, so kann das Fleisch doch letztlich der Zersetzung nicht entgehen. Was sind denn die Mumien? Fleisch? Nein! Vom Harz verhärtete Materie, die zu Holz geworden ist. Keine Beute der Würmer, weil entleert und von den Essenzen verbrannt, aber Beute der Holzwürmer wie altes Holz.
    Der Staub kehrt zum Staub zurück, wie Gott gesagt hat. Und nur weil dieser Staub der Seele als Hülle gedient hat und von ihr belebt worden ist, ist er zu etwas geworden, das die Herrlichkeit Gottes – die Seele des Menschen – berührt hat; man kann sagen, dass er geheiligter Staub geworden ist, nicht anders als die Dinge, die mit dem heiligen Zelt in Berührung gekommen sind. Wenigstens einen Augenblick war die Seele vollkommen: als der Schöpfer sie erschuf. Dann wurde sie von der Erbsünde entstellt und ihrer Vollkommenheit beraubt, und nur durch ihren Ursprung verleiht sie der Materie Schönheit; durch diese Schönheit, die von Gott kommt, wird auch der Körper schöner und verdient Achtung. Wir sind Tempel, und als solche verdienen wir Ehre, genauso wie die Orte, an denen das heilige Zelt gestanden hat, immer geehrt worden sind.
    Erweist daher den Toten die Liebe der ehrenvollen Ruhe in Erwartung der Auferstehung und seht in den wunderbaren Harmonien des menschlichen Körpers den Gedanken und den Finger Gottes, der ihn vollkommen erschaffen und geformt hat, indem ihr auch im Leichnam das Werk des Herrn verehrt.
    Doch der Mensch ist nicht nur Fleisch und Blut. Er ist auch Seele und Gedanke. Auch sie leiden, und man muss ihnen Barmherzigkeit erweisen.
    Es gibt Unwissende, die Böses tun, nur weil sie das Gute nicht kennen. Wie viele kennen die Sache Gottes nicht oder nur mangelhaft, und auch nicht die Gesetze der Moral! Wie Darbende schmachten sie, weil niemand sie sättigt, und ihre Kräfte schwinden, weil es ihnen an nährender Wahrheit mangelt. Geht und belehrt sie, denn dazu habe ich euch gesammelt und sende ich euch aus. Gebt dem Hunger der Seelen das Brot des Geistes. Unwissende belehren entspricht auf geistigem Gebiet dem „Hungernde speisen“; und wenn eine Belohnung verheissen wird für ein Brot, das man einem Hungernden reicht, damit er an diesem Tag nicht sterben müsse, welcher Lohn wird dann dem gegeben werden, der einen Geist mit ewigen Wahrheiten nährt, um ihm das ewige Leben zu schenken? Behaltet nicht für euch, was ihr wisst. Umsonst und ohne Mass wurde es euch gegeben. Gebt es ohne Geiz weiter, denn es ist ein Geschenk Gottes, wie das Wasser des Himmels, und muss gegeben werden, wie es gegeben wurde.
    Seid nicht geizig und seid auch nicht stolz auf euer Wissen, sondern gebt mit Demut und Hochherzigkeit. Und schenkt die klare und wohltuende Erquickung des Gebetes den Lebenden und Verstorbenen, die nach Gnade dürsten. Man darf den durstigen Mündern das Wasser nicht vorenthalten. Und wonach lechzen die Herzen der leidenden Lebenden und der büssenden Seelen der Toten? Nach Gebeten! Nach Gebeten, die durch die Liebe und den Opfergeist wirksam werden.
    Das Gebet muss wahr sein, nicht mechanisch wie das Geräusch des Rades auf dem Weg. Ist es das Geräusch oder das Rad, das den Wagen fortbewegt? Es ist das Rad, das sich dreht, um den Wagen voranzubringen. Das gleiche gilt für das mechanische und das wirksame Gebet. Das erste tönt, und sonst nichts. Das zweite ist ein Werk, das Kräfte verbraucht und die Leiden vermehrt, aber den Zweck erreicht. Betet mehr durch Opfer als mit den Lippen, dann verschafft ihr den Lebenden und den Toten Erquickung, indem ihr das zweite Werk der geistlichen Barmherzigkeit vollbringt. Die Welt wird eher durch die Gebete jener gerettet werden, die zu beten verstehen, als durch geräuschvolle, unnütze und mörderische Schlachten.
    Viele Menschen in der Welt haben reiches Wissen. Aber sie besitzen keinen festen Glauben. Als ob sie sich mit zwei sich gegenüberstehenden Schlachtreihen befassen müssten, pendeln sie hin und her, ohne einen Schritt vorwärts zu kommen, und mühen sich ab, ohne etwas zu erreichen. Das sind die Zweifler. Es sind jene, die beständig ein „wenn und aber“ und ein „doch dann“ auf den Lippen haben. Sie, die fragen: „Wird es auch so sein?“ „Und wenn es mir nicht gelingt?“ und so weiter. Es sind die Zaghaften, die nicht wissen, wo sie sich festhalten sollen; sie taumeln; man muss sie nicht nur stützen, sondern sie auch an jedem neuen Wendepunkt während des Tages führen.
    Oh, sie brauchen viel Geduld und Liebe, mehr als ein geistig zurückgebliebenes Kind! Aber, im Namen des Herrn, lasst sie nicht im Stich! Gebt diesen Gefangenen ihres eigenen Ichs, ihrer nebelhaften Krankheit, euren so lichtvollen Glauben, eure feurige Kraft. Führt sie zur Sonne und zur Höhe! Seid diesen Unsicheren Meister und Väter, ohne zu ermüden und ohne die Geduld zu verlieren. Treiben sie euch zur Verzweiflung? Macht nichts! Auch ihr treibt mich oft zur Verzweiflung, und noch mehr den Vater im Himmel, der oft denken muss, dass das Wort wohl umsonst Fleisch angenommen hat, weil der Mensch auch jetzt noch zweifelt, obwohl er das Wort Gottes reden hört.
    Ihr wollt euch doch nicht einbilden, dass ihr mehr als Gott, mehr als ich seid! Öffnet also diesen Gefangenen des „wenn“ und „aber“ die Gefängnisse. Befreit sie von den Ketten des „Kann ich es?“ und „Wenn es mir nicht gelingt?“ Überzeugt sie, dass es genügt, sein Bestes zu tun, um Gott zufrieden zu stellen. Und wenn ihr seht, dass sie den Halt verlieren, dann geht nicht vorüber, sondern richtet sie wieder auf, wie es die Mütter tun, die nicht weitergehen, wenn ihr Kind fällt, sondern stehen bleiben, ihm aufhelfen, es sauber machen, es trösten und es schützen, bis es die Angst vor einem neuen Fall verloren hat. Und monate- und jahrelang machen sie es so mit dem Kind, wenn es schwache Beinchen hat.

    Kleidet die Nackten des Geistes mit Verzeihung, wenn sie euch beleidigen.
    Beleidigung ist Lieblosigkeit. Die Lieblosigkeit entfernt von Gott. Wer andere beleidigt, wird nackt, und nur die Verzeihung des Beleidigten bekleidet seine Nacktheit wieder, denn sie führt ihn zu Gott zurück. Gott wartet mit der Verzeihung, bis der Beleidigte verziehen hat. Er verzeiht sowohl dem vom Menschen Beleidigten als auch dem Beleidiger des Menschen und Gottes. Es gibt keinen, der seinen Herrn noch nie beleidigt hätte. Aber Gott verzeiht uns, wenn wir unserem Nächsten verzeihen, und er verzeiht dem Nächsten, wenn der Beleidigte ihm verziehen hat. Es wird euch geschehen, wie ihr tut. Verzeiht, wenn ihr Verzeihung wollt, und ihr werdet euch im Himmel über die Nächstenliebe, die ihr geübt habt, freuen wie über einen Sternenmantel, der auf eure heiligen Schultern gelegt wurde.

    Seid barmherzig mit den Weinenden!
    Sie sind die Verwundeten des Lebens, die Kranken des verletzten Herzens. Schliesst euch nicht in eure Selbstzufriedenheit wie in eine Festung ein. Weint mit den Weinenden! Tröstet die Trauernden! Füllt die Leere aus, die durch den Tod eines Verwandten entstanden ist! Seid den Waisen Väter, den Eltern Kinder, und seid allen Brüder und Schwestern!
    Liebt! Warum nur die Glücklichen lieben? Sie haben schon ihren Anteil an der Sonne. Liebt die Weinenden! Sie sind am wenigsten liebenswert für die Welt, denn die Welt kennt den Wert der Tränen nicht. Ihr kennt ihn. Liebt daher die Weinenden! Liebt sie, wenn sie sich in ihr Schicksal ergeben. Liebt sie noch mehr, wenn sie sich gegen das Leid auflehnen. Keine Vorwürfe, sondern Güte, um sie von der Wahrheit des Schmerzes zu überzeugen und sie über den Schmerz zu belehren. Sie können durch den Schleier der Tränen das Antlitz Gottes nur entstellt sehen und betrachten ihn als eine rächende Übermacht.
    Nein! Nehmt keinen Anstoss an den falschen Vorstellungen, die das Fieber des Schmerzes erzeugt. Kommt ihnen zu Hilfe, um sie vom Fieber zu befreien.
    Euer lebendiger Glaube soll wie das Eis sein, das man dem Fiebernden reicht. Ist das Fieber gesunken und die Niedergeschlagenheit und die Schwäche eines aus einem schrecklichen Traum Erwachten eingetreten, behandelt ihn wie ein Kind, das durch eine Krankheit geistig zurückgeblieben ist, und sprecht ihm wieder sanft und geduldig von Gott wie von etwas Neuem . . . Oh, welch ein schönes Märchen, um das ewige Kind, das der Mensch ist, zu zerstreuen! Dann schweigt! Seid nicht aufdringlich . . . Die Seele arbeitet alleine weiter. Helft ihr mit Liebkosungen und Gebet. Und wenn sie dann sagt: „Es ist also nicht Gott gewesen?“ dann erwidert: „Nein! Er wollte dir nicht wehtun, denn er liebt dich auch für den, der dich nicht mehr lieben kann, weil er tot ist oder dich aus einem anderen Grund verlassen hat.“ Und wenn die Seele sagt: „Aber ich habe ihn angeklagt“, dann antwortet: „Er hat es vergessen, denn es war im Fieber.“ Wenn er dann hinzufügt: „Ich verlange nach ihm“, dann erklärt: „Hier ist er! Er steht an der Türe deines Herzens und wartet nur darauf, dass du ihm öffnest.“

 

    Ertragt lästige Menschen!

    Sie stören die Ruhe des kleinen Hauses unseres Ichs, wie die Wanderer die Ruhe des Hauses stören, in dem wir wohnen. Aber so, wie ich euch gesagt habe, dass ihr die einen empfangen sollt, so sage ich euch auch, dass ihr die anderen empfangen sollt.
    Sind sie euch lästig? Aber wenn ihr sie auch nicht liebt wegen der Störung, die sie euch verursachen, so lieben sie doch euch mehr oder weniger. Um dieser Liebe willen nehmt sie auf. Und wenn sie auch neugierig, gehässig, beleidigend werden, übt immer Geduld und Liebe! Ihr könnt sie mit eurer Geduld bessern. Ihr könnt durch eure Lieblosigkeit Ärgernis erregen. Es soll euch schmerzen, dass sie sündigen; aber noch mehr soll es euch schmerzen, wenn ihr die Ursache der Sünden seid und selbst sündigt. Nehmt sie in meinem Namen auf, wenn ihr sie nicht mit eurer Liebe aufnehmen könnt. Gott wird euch belohnen und euren Besuch erwidern, indem er die bösen Erinnerungen mit seinen übernatürlichen Liebeserweisen auslöscht.
    Schliesslich, bestattet die Sünder, um ihre Rückkehr zum Leben der Gnade vorzubereiten. Wisst ihr, wann ihr dies tut? Wenn ihr sie mit väterlicher, geduldiger und liebevoller Eindringlichkeit ermahnt. Es ist, als ob ihr die Hässlichkeiten des Körpers, eine nach der anderen, begraben würdet, bevor ihr den Körper zu Grabe tragt, in Erwartung des Befehles Gottes: „Erhebe dich und komme zu mir!“
    Wir Juden reinigen die Toten aus Ehrfurcht vor der Auferstehung des Fleisches. Die Ermahnung der Sünder kommt einer Reinigung der Glieder vor dem Begräbnis gleich. Das Übrige wird die Gnade des Herrn tun. Reinigt sie mit Liebe, Tränen und Opfern. Entreisst die Seelen auf heroische Weise dem Verderben. Seid heroisch!
    Ihr werdet nicht unbelohnt bleiben. Denn wenn schon für ein dem Durstigen gereichtes Glas Wasser eine Belohnung gegeben wird, was wird dem dann gegeben werden, der eine Seele vor dem höllischen Durst bewahrt?

Ich habe gesprochen. Diese Werke der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit vermehren die Liebe. Geht und tut sie! Der Friede Gottes und mein Friede seien allezeit mit euch.«

 

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