Heft 20. Judas Ischariot Sein Schicksal im Jenseits
Inhaltsverzeichnis
01. Judas in den Hallen des Tempels
02. Judas vor Jesus
03. Judas
04. Judas und Dismas
05. Judas allein
06. Judas und Gesmas
07. Judas bei seinem Leichnam
08. Offenbarungen des Engels über
Judas
Judas in den Hallen des Tempels
In den Hallen des Tempels war Hochbetrieb. Alles war aufgeregt und hocherfreut:
war doch endlich der verhasste Nazarener unschädlich gemacht worden! Und dabei
war alles so glatt und billig abgelaufen! Kaiphas, der Hohepriester, sagte:
„So muss es jedem Anhänger des verfluchten Nazareners ergehen, und rücksichtslos
müssen wir alle Anhänger vernichten! Es werden sich genug Gründe dafür finden
lassen. Ha, dieser Grosssprecher! Ja, solange er Freunde hatte, da war ihm
schwer beizukommen; aber dieser Augenblick war günstig für uns, denn Jesus war
allein mit seinen schwachen Jüngern."
Entgegnete ein anderer Priester:
„Sei nur nicht so überfroh! Wohl konnten wir Jesum töten, aber Seine Lehre —
nie! Denn armseliger als jetzt stand der Tempel noch nie da, das werden wir in
Kürze erleben. Die Bewegung des Nazareners wird erst durch die Kreuzigung auf
Golgatha ihre wahre Weihe finden. Ich werde der Erste sein, der nach diesem
Unrecht, das man Jesus antat, den Tempel verlässt. Ihr wisst, ich war Zeuge
Seiner Kreuzigung. Hätte Jesus geklagt, geheult oder geflucht, mir wäre wohl
gewesen. Aber Seine Ruhe, Sein Dulden und Seine gewaltigen Worte zeigten mir
meine und eure Verstocktheit. Jesus war unschuldig, das ist sicher wahr, und nun
warte ich ab, was der Tempel unternimmt. Mich rührte der Judas, als er das Geld,
das wir ihm gegeben, hierher schleuderte und voll Verzweiflung Jesu Freiheit
forderte! Ahnt ihr denn nicht, dass Judas etwas anderes wollte als den Tod
seines Meisters? Was mag aus Judas geworden sein?"
Da antwortete der Hohepriester erregt:
„Also bist auch du ein Verräter des Tempels, dir mag es genau so ergehen wie
Judas! Denn dieser hat sich erhängt an einer Weide und konnte gar nichts
besseres tun, ist so doch ein Ankläger weniger!"
Auf Judas, dessen Seele in ihrer Verzweiflung hier im Tempel Schutz und Ruhe
suchte, wirkten diese Worte wie Keulenschläge.
„Ich erhängt? Ich lebe aber doch! Wohl wollte ich meinem Leben ein Ende machen,
da mir alles zerbrochen war, und Jesus auch nicht den leisesten Versuch machte,
mit Hilfe seiner wunderbaren Kraft ein Königreich aufzurichten und die Macht der
Römer zu brechen. Ja, jetzt wird es mir klar: mein Vorhaben war verkehrt, aber
der Tempel ist schuld daran!"
Eine mörderische Wut entbrannte in ihm, doch er war ohnmächtig und zur
Untätigkeit verdammt. — „Ihr Teufel, ihr tausendmal verfluchten Teufel", schrie
er den Priester an, aber ein leeres Hohngelächter war das ganze Echo, das aus
dem Munde vieler verlorener Seelen kam. Die Templer aber hörten und sahen
nichts. Voll Wut ging Judas ins Allerheiligste und schrie, was er nur schreien
konnte —, doch niemand hörte ihn. Und seine Verzweiflung wuchs mehr und mehr — —
da wurde er plötzlich am Arm gefasst, er hörte, dass jemand sprach: „Judas, komm
— dein Meister will, dass du mit mir zu Ihm kommst!"
Judas aber schrie: „Lass mich" — und riss sich los — „nie will ich Ihn sehen,
denn durch Ihn bin ich erst ins Unglück gekommen! Wäre ich nicht zu Ihm
gekommen, so stände es anders mit mir, und ich hätte kein so elendes Leben!"
Da sprach der Andere: “Judas, komm mit mir, denn du bist ein Unglücklicher. Sieh
mich an —, ich war ein Verfluchter, an meinen Händen klebte Blut; aber Jesus,
der Heiland, hat mir meine Schuld vergeben. Er aber machte zur Bedingung, dass
ich wiedergutmache, was ich verbrochen. — Meinst du, dass nicht auch dir
geholfen werden könnte ? — Komm mit, dass ich dir helfen kann, und du teilhaftig
werdest der Gnade aus Jesus! Dir ist schon geholfen, da doch der Heiland nach
dir verlangt. Hier im Tempel widerfährt dir kein Heil, denn diese Menschen
wollen dich nicht. Und für die, die im Tempel ihre Heimat haben, kannst du nicht
da sein. Es bleibt für dich keine andere Lösung: Komm mit zu Jesus!"
Da erkannte Judas in dem Sprecher Dismas, einen guten alten Bekannten. Dieser
war ein eifriger Anhänger des Barabbas gewesen. Barabbas aber hatte allenthalben
im Lande das Feuer gegen die Römer geschürt, er war ein bedeutender Anführer der
Jüdischen Freiheitsbewegung. Wenn Judas sich mit Barabbas getroffen hatte, um
mit ihm die Lage zu besprechen, war er Dismas oft begegnet. Judas war auch ein
glühender Nationalist und hasste die Römer um seines Volkes willen. Aber er war
kein Freund von Gewalt und scheute ängstlich jedes Blutvergiessen. Er wollte
Jesum, den mächtigen Meister, für seinen Plan gewinnen. Mit dessen Kraft wollte
er das fremde Joch von seinem Volke abschütteln und einen mächtigen jüdischen
Nationalstaat errichten. Judas erinnerte sich noch, wie er den Meister bei
Seinem eigenen Wort nahm und Ihn fragte:
„Sagtest Du nicht, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers, und Gott, was
Gottes ist?" —Und der Meister hatte darauf geantwortet: „Sag Judas, steht nicht
geschrieben: es ist alles Gottes!?— Gib jedem das Seine nach deiner Erkenntnis —
Ich aber bin Gottes, und Mein Reich ist nicht von dieser Welt! —"
Judas schloss die Augen, und vor seiner inneren Sehe zog noch einmal alles
vorüber: Die Gefangennahme des Barabbas und seiner Unterführer Dismas und Gesmas.
Ja, sie waren wilde Kämpfer, diese beiden Letzten, und waren nicht leicht zu
übertreffen im Blutvergiessen. Da wurde es höchste Zeit — Judas sah keine andere
Möglichkeit mehr — den Meister zu zwingen, die politische Führung zu übernehmen.
Er lieferte Jesum dem Tempel einfach aus. — Doch Jesus schwieg! — Schmerz um den
Meister, Schmerz um sein Volk wühlte in Judas Seele! Todesangst peinigte ihn!
Die johlende Menge aber, der stets Ostern ein Strafgefangener freigegeben wurde,
schrie: „Barabbas, Barabbas"! und dann kam für Judas das Ende! Neben dem Meister
wurden Dismas und Gesmas gekreuzigt. Dieser Dismas aber stand jetzt vor Judas
und sprach von Gnade und vom Heiland!!
„Wo ist Jesus", fragte Judas mit rauher Stimme, „wo?" — Er mochte diese Frage
hinausschreien, aber seine Stimme versagte. — — „Auf Golgatha, dort erwartet uns
Jesus", antwortete Dismas.
Judas: „Golgatha? 0 Gott, gerade nach Golgatha? — Das ist es ja, was mich von
Ihm trennt. Ist denn dies die einzige Möglichkeit?" — — „Ja, gerade nach
Golgatha berief uns der Herr", erwiderte Dismas. „Ich sehe nicht, dass dich
etwas aufhalten könnte. Ist es nicht gleich, wo du Jesum triffst, ob auf
Golgatha oder an einem anderen Ort? Mir ist der Ort gleich, seit ich erkannt
habe, dass Jesus mehr ist als ein Mensch. Gerade mich müsste Golgatha schrecken,
doch es ist mir zum Heil geworden. Darum komm! Ohne dich gehe ich nicht; ich
gehe aber auch nicht von dir fort, ehe nicht Jesus mich von dir trennt. Komm,
Jesus wartet auf uns!"
Judas folgte nun wirklich und verliess mit Dismas den Tempel. Sie gingen durch
die gleichen Strassen, durch die auch Jesus hatte gehen müssen. — Dabei sah
Dismas so manche Frage sich in Judas auftun und in seinem Gesicht sich
widerspiegeln. Das veranlasste ihn, Judas den ganzen Hergang der Ereignisse bis
zu Jesu Kreuzestod zu schildern. Auch von seinem eigenen Leiden erzählte er.
„Als es Nacht um mich wurde, und rasende Schmerzen meinen Körper aufwühlten, da
legte sich eine Hand auf meinen Kopf — und ich sah Jesum! Kein Wort sagte Er zu
mir — aber Seine Augen sprachen: „Ich helfe dir!" Da nahm eine wohltuende
Ohnmacht mich gefangen. Als ich erwachte, sah ich Tausende von Menschen um Jesus
versammelt. Ich hörte Seine Einladung, zu Ihm zu kommen, um teilzunehmen an
Seiner grossen Erlöserliebe. Da bekannte ich vor allen meine Schuld. Jesus aber
sagte, ich solle meinen Feinden vergeben, um von Ihm Gnade und Vergebung zu
erlangen.— Das aber fiel mir zunächst schwer. Als ich aber nach Seinen Worten
tat, wurde mir wohl. Darum bitte ich nun auch dich, Judas: Vergib denen, die
dich blendeten, damit Jesus auch dir vergeben kann!"
Judas aber schwieg.
Judas vor Jesus
Nun erreichten sie Golgatha. Wie durch eine magnetische Kraft gezogen, kamen sie
zu Jesus, dem Meister! Der ganze Berg war gedrängt voll von hungrigen Seelen.
Sie lauschten den Worten Jesu, mit denen Er noch einmal zeugte von Seinem Werk
und von der ewigen Liebe.
Judas stürzte seinem Meister zu Füssen — — und erlangte Verzeihung, da er in
allzu blinder Leidenschaft gehandelt. Nun wurde ihm plötzlich klar, mit welch'
grosser Liebe er doch jederzeit behandelt worden war. Mit tränenden Augen suchte
er den Blick seines Meisters. Wie aus weiter, weiter Ferne hörte er Jesum, den
Meister, sprechen:
„Judas, du Armer! Als wir noch Menschen waren, da konnte Ich dir weiterhelfen —,
weil du noch unwissend warst. Doch hier, im Reich des Lebens, gilt nur der freie
Wille. Da du nun ein Wissender bist, kannst du den Weg zu Mir finden durch
deinen eigenen freien Willen, der sich aber noch beugen muss, bis auch das
Geringste von dem vergangen ist, was dich von Mir trennte. Siehe, noch leben in
dir Hass, Wut und Eigenliebe! Dennoch habe Ich dir vergeben, weil du blind
gehandelt und vergessen hast, dass Mein Reich nicht von dieser irdischen Welt. —
Und so beherzige Meine Worte!"
Des Herrn Worte drangen Judas tief ins Herz. In ihm klang es wie Donnerrollen,
doch brachte er nicht fertig zu sagen: „O, Herr, lass mich mit Dir gehen!" — —
Er blieb stumm — und blieb allein.
Judas
Um ihn und in ihm ward es Nacht — „Nun bin ich allein! Der Meister nahm alle mit
sich. Was wird nun aus mir? Woher kommt plötzlich diese entsetzliche Dunkelheit,
diese Nacht? Es ist für mich wohl beruhigend: ,Der Meister hat mir vergeben!' —
so begann Judas sein Selbstgespräch —, doch was nützt mir Vergebung, wenn ich
mir selbst nicht vergeben kann?! Vergeben und allen Hass aus mir schaffen? Ja,
wenn es nur ginge! — Als ich den Meister sah und Seine Liebe fühlte, da zog ein
Gefühl der Reue in mein Herz. Doch seit ich wieder allein bin, verstärkt sich in
mir der Hass gegen die Menschen, ja, selbst gegen mich — o, könnte ich mich doch
vernichten!!"
Judas schloss seine Hände krampfhaft um seinen Hals, doch er griff hindurch, und
dies machte ihn noch verzweifelter. — „Ach, Jesus, wärest Du doch geblieben,
dann fände ich mich schon zurecht!" Er bedachte aber nicht, dass er bei Jesus
hätte bleiben können. So stand er auf und ging umher in der tiefen Finsternis.
Da stiess er an das Kreuz, an dem der Meister gehangen, und umklammerte es mit
Tränen des Schmerzes. Und im Selbstgespräch:
„Ja, hier musstest Du enden, durch meine Schuld. Hier hast Du ausgelitten für
meine Torheit. Ach, ich glaubte, richtig zu handeln, doch weh' mir, weh, ich
glaube, ich gehe dabei zugrunde! — O, Herr Jesus, ist das Deine verzeihende
Liebe, dass ich Dein Kreuz finde, an das Dich meine Dummheit heftete? O, wer
gibt mir in meinem lichtlosen Zustand Trost und Licht? Allein — in dieser
Finsternis, das Kreuz als Ankläger, o, was wird aus mir? Ist denn niemand da,
der mir hilft?"
Judas und Dismas
„Du bist nicht allein, ich, der Dismas, stehe neben dir. Die Liebe des Herrn gab
mir diesen Wink: dir helfend zur Seite zu stehen in deiner Not. Obschon es für
dich noch finster ist, so ist es für mich doch schon Tag: denn die Liebe zum
Herrn wurde mir zum Licht. Und darum erschaue ich dich in deiner Nacktheit. —
Aber höre: solange du hier verharren und auf Hilfe warten willst, wird dir Zeit
und Weile arg lang werden, denn der Herr ziehet mit den Seinen — du aber hast
dich vom Herrn getrennt. Da darfst du nicht erwarten, dass Er nun zu dir kommt.
— Willst du immer hier verharren und dich anklagen? Siehe, auch das ist
Selbstliebe - und du verlangst, dass dir geholfen werde! Mein armer Judas, das
sage ich dir, der ich doch tausendmal ärmer bin denn du: ich verlange nichts,
garnichts, ich möchte nur bei dir bleiben und dir dienen dürfen!
Dieses ist mehr für mich — als Seligkeit, und hilft mir meine Last tragen. —
Wohl hat der Heiland mir vergeben, doch das Bewusstsein meiner Schuld macht mich
unfrei. Wohl bin ich angenommen, doch Eines ist für mich das Erste: ich will
mich der grossen Gnade, der erbarmenden Heiland- und Jesus-liebe würdig
erweisen: darum diene ich dir! —
So frage ich dich, Judas, du Armer, Geknechteter: was soll ich dir tun, damit
auch du frei wirst, damit es vor allem Licht um dich werde und du anfängst, ein
ganz Anderer zu werden?"
„Höre" — antwortete Judas — „ich werde wohl kein Anderer mehr werden können.
Denn einige Male habe ich den Herrn gebeten, mich doch zu ändern, aber wie
Donnerschläge klingen mir noch Seine Worte nach: Die Reue hinter dem Grabe ist
wenig wert. Deshalb habe ich wenig Hoffnung auf die Gnade, die du erhieltest -
denn du vergisst, dass ich meinem Leben selbst ein Ende setzte und nun bitter
erfahren muss, dass es kein Ende gibt! Wie soll mir geholfen werden?"— Der
Meister ist von mir gegangen — und ich könnte den Weg zu Ihm nur finden durch
meinen noch zu beugenden Sinn! Dies ist mir ein neues Rätsel.
Wie oft sprach der Meister in Rätseln, und jetzt wieder? Mir kann das wenig
Hilfe bringen. Aber dennoch mag und will ich nicht in dieser Finsternis
verbleiben. — Wie sagtest du, um dich ist es Tag und um mich Nacht! — Wie geht
denn das zu? Das ist doch nicht denkbar, es ist zum Verrücktwerden in dieser
finsteren Nacht! — Wenn ich deine Worte nicht vernehmen würde, so müsste ich
glauben, mir träumt! Aber sag: gibt es denn gar keinen Ausweg aus dieser
Finsternis? Vor allem fort von hier
— von diesem Berg Golgatha, mich erdrückt er, was wollen wir tun?" — Da sagte
Dismas: „Judas, du alter Freund, meine Schuld drückt mich ebenso, wie dich die
deine. Aber jemanden kennen gelernt zu haben, der da spricht: dir sei vergeben,
wenn du denen vergeben kannst, die dich erschlugen! —, das löst in mir, in
meinem Herzen, eine Hoffnung aus, — und so habe ich Vertrauen gefasst zu Jesus,
dem Heiland! Aus Seinen Worten klingen Liebe und neue Hoffnung auf ein besseres
Sein. Ich glaube nun zu verstehen, wenn Er zu dir sagte: Die Reue ist wenig
wert, so wir gestorben sind. Denn nur Reue hegen zu wollen für vergangene Schuld
- das wäre leicht und könnte mich wohl fröhlich stimmen — aber was hätte der
andere wohl von meiner Reue, dem ich Übles getan? Aber bei sich selbst gilt es
anzufangen mit dem Beschreiten eines neuen Weges! Und so fühle ich nicht die
Verzagtheit, die dich, einen Jünger Jesu, betrübt. Jesus wird recht haben: du
bist ein Wissender! Und was könntest du mir sein, so du dein Klagen liessest und
im Innern dich abfinden würdest mit deiner Lage, die du doch selbst gewollt
hast. — Gewiss — ich, Dismas — habe gemordet! Aber durch meinen Tod, der auch
furchtbar war, ist der Mord immer noch Mord geblieben. Ich würde wohl für ewig
als Mörder angesehen werden — aber das hat hier in diesem Leben eine andere
Seite. Denn die ich räuberisch erschlug, die leben jetzt ebenso — wie ich und du
noch leben! — Du liefertest Jesus an das Kreuz zum Tode — und dennoch lebt Er!
Ich wurde erschlagen und lebe auch. Auch du hast deinem Leben ein Ende gemacht —
und doch lebst du!! — Sag, Judas, ist dies nichts zum Nachdenken? —
Sobald ich einmal die treffen werde, denen ich das Lebenslicht ausblies, da
werde ich solange um Verzeihung bitten — bis mir vergeben wird. Und sieh, du
hast Vergebung erlangt vom Heiland Jesus, und trotzdem fluchst du um Dinge, die
du selber schufest! Sag', bist denn du nicht ein grösserer Tor, als du ehedem
warst? — Die rettende Hand bietet dir Jesus in deiner Niedrigkeit, oder
erwartest du, dass ein Engel käme und dich im Triumph sogleich in einen
sogenannten Himmel führe? — O, welch' herrliche Gerechtigkeit!! — Jeder wird das
finden, was er selbst ausgestreut hat. Darum bitte ich dich im Namen des Herrn
und Heilandes Jesus: Ermanne dich und erkenne in deiner Nacht die Liebe, die
dich sucht, auf dass auch du dich dienstbar erweisen kannst nach dieser Gnade,
in deinem, wenn auch noch traurigen, Leben!" —
Sagte Judas: „Dismas, du redest wie ein Heiliger, nur schade, dass du kein
Jünger warst. Doch eins muss ich dir sagen — leichter wurde mir während deines
Redens nicht. Hast denn du alles vergessen, was im Leben wichtig war? — Schaffe
lieber dies Kreuz fort, damit ich wenigstens daran nicht erinnert werde. Ich
möchte dir gerne folgen, aber das Kreuz ist ein gewaltiger Mahner. Ich sehe ein:
zu ändern vermag ich Geschehenes nicht, aber ich kann noch nicht fort aus dieser
Öde und Finsternis. Es ist, als
wenn ich dieses Kreuz dauernd umfassen müsste!"
Dismas: „Nun, mein Judas, so nimm es auf deinen Rücken, und lass uns in den
Tempel gehen, wohin indessen der Herr gezogen ist." —
Judas: „Ich — das Kreuz tragen? — sag, ist dies dein Ernst? Etwas Törichteres
kannst du wohl nicht von mir verlangen? Ich wäre froh, wenn ich es nicht mehr
fühlte, und nun soll ich es überall hinschleppen, wohin soll das führen? — dies
ist doch wahrlich nicht dein Ernst. Denn, bei aller Liebe zum Herrn, ist mir
immer noch nicht einleuchtend, warum — ja warum Er Sich überhaupt kreuzigen
liess! — Ach, hätte ich in meiner Dummheit den Herrn nicht verlassen. Aber diese
Dummheit mache ich nicht zum zweiten Male — wenn ich je wieder zum Herrn
gelangen sollte! Aber, wie zu Ihm hinkommen? — Komm', Freund und Bruder Dismas,
führe mich zum Herrn, aber rede mir nicht mehr von dem Kreuz. Komm', reiche mir
deine Hand, damit ich sicher gehe und in dieser Finsternis nicht in
eine noch grössere Angst gerate." —
Sagte Dismas: „Lieber Bruder Judas, führen will ich dich gerne zum Heiland
Jesus, aber Sein Kreuz musst du tragen. Denn im Grunde ist es ja dein Kreuz! An
deinem Kreuze hat Er ausgelitten, weil Er durch dich ans Kreuz geliefert wurde.
Ich sehe nicht ein, warum du dich weigerst, dies Kreuz zu tragen. Bedenke, am
Kreuze litt Er um deinetwillen und am Kreuze hat Er mich angenommen, der ich dir
ein Helfer und Ratgeber sein darf. Und am Kreuze hat Er allen vergeben! Nun
willst du das Kreuz ansehen, als wenn dir das grösste Unrecht geschieht! Ich
bitte dich, Bruder Judas, weigere dich nicht länger. Komm', ich will dir helfen,
dies Kreuz auf deine Schultern zu legen."
Judas: „Nie und nimmer trage ich dieses Kreuz. Du hättest wohl eine grosse
Freude daran, wenn ich den Beweis meines Verrates durch die Stadt trüge und im
Tempel aufstellte! Alle Welt würde sagen: Sehet Judas, den Verräter, so lohnte
er die Liebe seines Meisters. Nicht genug, dass er sich selbst richtete, alle
Welt müsste ihn richten! — So du mich nicht ohne dieses Kreuz zum Meister
führest, muss ich eben versuchen, von hier fortzukommen ohne dich. Denn es muss
doch irgendwo für mich Gelegenheit sein, auch ohne dich Jesus zu treffen. Und
wer weiss, ob Er noch im Tempel ist? Denn im Tempel hat Er Sich ja nie lange
aufgehalten!" —
In diesem Augenblick erschien dem Dismas ein Engel, ohne dass Judas ihn
wahrnehmen konnte, und sprach: „Lieber Freund, überlasse Judas seinem eigenen
freien Willen, zwinge ihn nie zu einem Tun. Verlasse ihn nicht, aber verbirg
dich vor ihm, damit er sich selber finde! Im Übrigen halte dich im Herzen an
Den, Der auch dir geholfen hat und weiter helfen wird, Der dir dieses sagen
lässt durch mich. — Unsichtbar werde ich bei euch verbleiben, um euch
beizustehen, denn die Hölle macht Anstrengungen, euch zu verderben." —
Nun trat Dismas noch einmal an Judas heran und sprach: „Bruder Judas, allein der
Herr und Meister kann dir helfen! Nie wird dir geholfen, wenn du Ihn nicht
suchst, und ohne das Kreuz kannst du nie zu Ihm kommen, denn du bliebest den
Beweis schuldig, dass du wahrhaft Reue übst. So wie ich im Herzen fühle, kannst
du nur gerettet werden durch die allergrösste Anstrengung. Siehe, ich habe
Anweisung, dich dir selbst zu überlassen, wenn du nicht das kleine Opfer
bringst. Der Herr brachte das allergrösste Opfer, und dabei war keine Schuld an
Ihm. Du sollst nur ein kleines Opfer bringen, doch deine Schuld ist riesengross.
Der Drang nach Erlösung muss doch in dir nicht so gross sein, sonst würdest du,
ohne zu säumen, dies Kreuz tragen, bis du beim Herrn angelangt bist. Ich bitte
dich um deiner Seligkeit willen: Tue nach dem Willen des Herrn, es wird dich
nicht gereuen!"
Judas: „Nie kann ich das Kreuz tragen, es würde meine Schande nur noch grösser
machen." —
Darauf entfernte sich Dismas langsam, nicht, ohne vorher Judas zuzurufen : „So
gehe vorerst allein deinen Weg nach deinem eigenen Willen. Lade nicht erst noch
mehr Schuld auf dich, denn du versuchst den Herrn aufs neue. Erst, wenn du
anderen Sinnes geworden bist, darf ich dir weiter dienen!"
Judas allein
Nun war Judas wieder allein. Wohl konnte Dismas unter der Obhut des Engels alles
sehen und hören, aber für Judas war er nicht mehr da. Judas fühlte, dass er
allein war, und so sprach er zu sich: „So ist nun auch dieser von mir gegangen,
und warum ? — weil ich nicht seinen Willen getan. Es ist aber auch ein starkes
Stück von ihm: ich solle das Kreuz tragen hin bis zum Meister Jesus! Es wäre ein
schönes Schauspiel gewesen, wenn der Verräter Judas das Kreuz dem Meister
nachschleppen würde. Weg mit dem Gedanken, weg mit dem Kreuz, damit ich nicht
mehr daran erinnert werde. Wenn ich nur ein Beil hätte, ich würde das Kreuz kurz
und klein hacken. O, du elender Querbalken, dass du mir noch solche Schande
machst. Es ist aber auch eine Dummheit gewesen vom Meister, Sich kreuzigen zu
lassen. Verstehe es, wer es kann, ich kann es nicht."
Hier suchte nun Judas den Hügel zu verlassen und setzte den Fuss vorwärts, ganz
vorsichtig, weil ihn die Finsternis nicht einmal den Boden erkennen liess. Nach
einigen langsamen Schritten musste er aber erschreckt innehalten — er war wieder
an ein Kreuz gestossen, und zwar an das, woran Dismas erschlagen worden war. —
Judas: „0, du verfluchtes Elend, schon wieder ein Kreuz! Ist denn der Berg
Golgatha nur mit Kreuzen bewachsen? Nur fort von hier, es wirkt unheimlich,
solch ein Kreuz." —
Nun tastete er mit den Füssen weiter, um sich nach Jerusalem zu entfernen — aber
da fiel er in ein Loch und blieb wie tot liegen. Erst nach längerer Zeit raffte
er sich wieder auf, die Glieder schmerzten, und elend und zerschlagen fühlte er
sich.
„Merkwürdig", sagte er zu sich, „da habe ich mir das Leben genommen, um allem
Elend aus dem Wege zu gehen, und nun bin ich elender als zuvor. Wenn ich nur
wenigstens etwas sehen könnte — oder sollte ich gar keine Augen mehr haben? Der
Dismas aber konnte sehen, und ich nicht. Es ist nicht zu glauben, welch ein
trauriges Dasein es ist — gestorben und nicht tot sein! O, wenn doch jemand
käme, der mir Hilfe brächte! Aber jetzt aus dem Loch heraus — Gott sei Dank, es
ist nicht tief."
Nun plagte er sich heraus, und endlich war er wieder oben.
„Welche Richtung gehe ich nun? Wo ist bloss ein Weg? O, du elende Finsternis,
hätte ich doch wenigstens ein Licht, da könnte ich mir schon helfen! — Ja,
Judas, du warst dumm, könntest heute dort sein, wo die Anderen sind — der
Meister in ihrer Mitte. Es war doch zu den Lebzeiten des Herrn auf der Erde eine
schöne Zeit — Not haben wir keine gelitten. Es war immer alles in Hülle und
Fülle da — wenn ich jetzt nur etwas von den Brocken hätte, ich wollte schon froh
sein. — — Aber nun weiter, damit ich von dem verfluchten Hügel fortkomme."
Und nun ging er einige Schritte weiter — aber zu seinem Schrecken stand er
wieder vor einem Kreuz. Er sank nieder, mit den Händen den Stamm umfassend!
„O, was nun, wieder ein Kreuz — welches denn jetzt? Es waren drei Kreuze
aufgerichtet, welches ist nun dieses? Ich muss Gewissheit haben, die Angst
schnürt mir die Brust zu. Also Judas — bloss weg mit der Angst, ich muss
Gewissheit haben, was aus mir wird. Ich habe keine Lust, mich von einem Kreuz in
die grösste Furcht jagen zu lassen." — — Seine Hände tasteten suchend nach oben,
und langsam erhob er sich, an das Kreuz sich anlehnend, und kam nun an die
Nagellöcher, wo man die Füsse des Herrn durchgeschlagen hatte. Es war das
mittlere Kreuz. Nun ging er einige Schritte nach rechts, mit den Händen suchte
er in der Luft herum, und schliesslich war er wieder beim Kreuz des Dismas. —
„So, und jetzt zurück zum Kreuz des Meisters!" — Nach einigen Schritten hatte er
es wieder erreicht; „und nun etwas nach links — so, nur vorsichtig, damit ich
nicht wieder in das verfluchte Loch falle". — Und dann erreichte er auch das
dritte Kreuz. — —
Judas und Gesmas
Wie Judas nun mit seinen Händen dieses Kreuz abtastete, griff er auf einmal an
einen menschlichen Körper. Mit einem Schrei zog er die Hände zurück. Aber da
sich nichts regte, tastete er langsam mit beiden Händen den Körper ab und
versuchte, den scheinbar leblosen Menschen in dieser Finsternis aufzurichten.
Mit einiger Anstrengung gelang es ihm auch, und wie er ihn ganz aufgerichtet
hatte, kam plötzlich Leben in den Körper!
„Wer bist du?, was willst du von mir?", so schrie voll Wut die Gestalt. Judas
erschrak und liess den Körper los. Doch dieser ergriff Judas und hielt ihn am
Arme fest. „Bist wohl Freund Dismas, he? — Sehr freundlich von dir, mich
aufzusuchen. Der Nazarener scheint dir Sein Wort nicht gehalten zu haben?" —
„Ich bin nicht Dismas, sondern Judas, der dich hier aufgefunden hat. Nun sage
mir, wer bist du?, denn es ist stockfinstere Nacht, ich kann dich nicht
erkennen."
„Ich?, ich bin Gesmas; ich wurde bei der Kreuzigung des Nazareners ebenso
erschlagen wie Dismas und dieser Jesus. Ich warte nur auf den Augenblick, um
mich zu rächen an denen, die mir das angetan haben."
Judas: „Du und rächen? Wie willst du das denn fertig bringen? Kannst du denn
fort von hier?"
Gesmas: „Warte nur ab, ich werde schon fortkommen, und war es auch schon einmal.
Nämlich, nachdem ich unter grössten Schmerzen mein Leben ausgehaucht hatte,
wurde ich langsam gewahr, dass man mich doch nicht erschlagen konnte. Denn als
ich am Boden lag und Stimmen um mich hörte, da wusste ich: ich trug nicht mehr
meinen Leib, denn meine Beine schlug man mir mit einer Keule kaputt. Und doch
konnte ich stehen - aber um mich war Nacht. Da bekam ich einen Menschen zu
fassen, an dem ich mich hielt, und ging mit diesem zum Tempel. Dort angekommen,
hörte ich allerhand vom Tode des Nazareners. Weil aber keiner von uns redete,
bekam ich eine solche Wut, dass ich hätte alles zerschlagen können - aber mich
sah ja niemand.
An den Hohenpriester klammerte ich mich an, denn in meiner Wut konnte ich einige
erkennen — doch alles in rotem Feuerschein. Und als mich niemand erschauen
wollte, da wurde ich vor Wut sinnlos und habe geflucht und gewettert. Da wurde
ich plötzlich von hinten gepackt, wurde hochgehoben und zu Boden geschleudert.
Lange muss ich gelegen haben; denn als ich erwachte, lag ich hier vor dem
Kreuze, und um mich war es noch finsterer als zuvor. Darauf versuchte ich von
hier fortzukommen, was mir aber nicht möglich war. Als ich nun an das andere
Kreuz kam, an dem der Nazarener gehangen hatte, da bekam ich wieder solche Wut,
dass ich hinauf geklettert bin und oben geschüttelt habe. Aber da bekam ich
einen Stoss — und alles andere weisst du! Hättest mich liegen lassen sollen, es
wäre für mich und dich besser gewesen, denn an meinen Händen klebt Blut. Mit mir
kannst du wenig Spass erleben. Hättest den Dismas suchen sollen, der war weit
besser denn ich. Wo mag er jetzt stecken?" —
Judas: „Der war bis vor kurzem noch hier, aber er hat mich verlassen. Denke dir,
ich sollte das Kreuz, an dem der Meister gestorben war, nach dem Tempel tragen,
was ich aber entschieden abgelehnt habe!"
Gesmas: „Du das Kreuz tragen, ja warum denn? Dazu müssten ja schliesslich Gründe
vorhanden gewesen sein. Darf ich diese wissen?"
Judas: „Nun höre: ich bin Judas, einer der Jünger Jesu, und habe Seinen Tod auf
meinem Gewissen. Denn ich war es, der den Templern Seinen Aufenthalt in der
Nacht verriet für lumpige dreissig Silberlinge. Nie hätte ich geglaubt, dass der
Meister dies sterbliche Ende nehmen würde. Vielmehr dachte ich, Er würde nun
Seine Macht beweisen, Sich zum Judenkönig machen, dadurch uns vom Römerjoche
befreien, und ein Jüdisches Reich aufrichten! So wenigstens klang es mir aus
Seinem Munde, und es schien mir auch, als wenn es Ihm so recht war. — Da mich
auch keiner davon abhielt, nun, so bin ich eben hingegangen und habe Seinen
nächtlichen Aufenthalt verraten. Als ich aber sah, welches Unheil ich dadurch
angerichtet hatte, da habe ich alle Besinnung verloren und eilte in den Tempel.
Dort warf ich den Pharisäern das erhaltene Geld vor die Füsse und verlangte
Seine Freisprechung. Und hier lernte ich den ganzen Hass kennen, der sich gegen
Jesus richtete, und in meiner Verzweiflung hängte ich mich auf. — Wohl wurde mir
hier im Geisterreiche inzwischen Gelegenheit gegeben, Jesus nochmals zu sehen
und zu sprechen. — Übrigens war eben Dismas derjenige, der mich zu Ihm
hinführte, denn ich war vorher auch im Tempel. Nun aber bin ich allein! —
Jesus sagte zu mir: ich sollte Ihn suchen und würde den Weg zu Ihm finden, doch
meine Liebe müsste ich zuvor opfern. Dismas aber verlangte, um den Herrn zu
finden, sollte ich Sein Kreuz in das Allerheiligste des Tempels tragen, dort
würden wir Ihn treffen! — Nun wirst auch du einsehen wie ich, dass mir dadurch
nicht im geringsten geholfen ist. Was soll nun werden?"
Gesmas: „Du bist also Judas Ischariot — dieser Waschlappen! Ja, ja, ich kenne
dich noch. Dem Barabbas zu folgen, warst du zu feige, und mit deinem Jesus hast
du noch nichts anfangen können, — diesem Nazarener! Hab´ ich ja vorher gewusst.
— Und nun, was werden soll, meinst du — dumme Frage — ich bleibe hier und warte
ab. Glaubst wohl, ich soll mir das Genick brechen in dieser finsteren Nacht ?
Warten wir den Morgen ab, alles Weitere werden wir sehen. Ja, die Sache ist gut
— du ein Jünger des Nazareners, ein Selbstmörder, und ich ein Hingerichteter!
Wir werden Freude miteinander erleben — aber was für welche! Doch dies eine
steht fest: sobald ich einen Templer oder einen Römer je in meine Hände bekomme,
dem wird es nicht zum Besten ergehen. Also warten wir ab!"
Nun wurde es zwischen den beiden ruhig! Der Engel, der alles mit Dismas
überwachte, machte mit der rechten Hand eine Bewegung, und darauf donnerte es
gewaltig!
Judas ergriff vor Angst den Gesmas und sprach: „Was muss das für ein Donner
gewesen sein, bin ich aber erschrocken! Aber es war komisch, ich habe gar keinen
Blitz gesehen. Hast du etwas bemerkt?"
Gesmas: „Ich, nein, nur Donnern hörte ich, aber was gibt es da zu erschrecken ?
So hat es auch gedonnert, als man mir meine Beine zerschlug. Nun, es ist ja
gleich, was, wird. Wenn es nur schon Morgen wäre!" —
Judas: „Gesmas, du wartest auf einen Morgen? Höre, was Dismas zu mir sagte: Bei
mir ist es Tag, und bei dir ist es Nacht. Deshalb glaube ich an keinen Morgen,
und wenn wir bis zum Jüngsten Tag hier warten sollten! Eilen wir wenigstens von
hier fort, denn ich möchte nicht mehr an das Kreuz erinnert werden. Also los!
Versuchen wir von hier fortzukommen, irgendwo muss doch schliesslich jemand zu
treffen sein. — Am liebsten suchte ich den Meister auf!" —
Gesmas: „Haha, du alter Esel, bist immer noch nicht geheilt? Möchtest wohl
nochmals deinen Herrn verraten? Oder möchtest nicht mehr an deine Schande
erinnert werden? — O, Judas, ich hätte dich für klüger gehalten. Es fehlt nur
noch, dass du wie ein altes Weib heulen würdest! — Wie kommt es, dass dich die
Kreuze ärgern? Mich ärgern sie durchaus nicht. Warum zerhackst du sie nicht,
wenn sie dich stören ? Wollen wir uns lieber von dem Holz ein Feuer machen, dann
wird es hell und auch etwas wärmer, denn es ist merklich kühl geworden. Dies ist
mein Vorschlag. Also suchen wir ein Beil, denn die Kriegsknechte haben ja ihr
ganzes Handwerkszeug liegen lassen. Wenigstens habe ich es gesehen, da ich noch
lebte. — Du suchst nach rechts, und ich nach links, wir wollen uns aber
gegenseitig rufen, damit wir uns nicht verlieren!" — Und nun krochen beide auf
dem Boden und tasteten mit den Händen. Der Engel legte ein Beil vor Judas hin,
das dieser auch sofort ergriff.
Judas: „Hallo, Freund, ich habe ein Beil gefunden. Suche nicht mehr weiter — und
nun ran an das verhasste Kreuz!"
Beide fanden sich wieder, und nun ging es an das mittlere Kreuz. So gut es ging,
hieb Judas mit dem Beil in den Kreuzesstamm. Öfters tasteten die Hände nach den
Einschnitten, und der Stamm war bald durch. Das Kreuz schwankte bereits
bedenklich. Noch einige Schläge, und der Stamm war durchgeschlagen. Das
umfallende Kreuz begrub alle beide unter seiner Last. Stumm lagen sie beide
darunter.
Erst nach einer Weile erwachten sie von ihrem Schreck, um nun zu begreifen: das
schwere Kreuz lag auf ihnen!
Nach einer längeren Zeit regten sich Arme und Beine, und mit den allergrössten
Anstrengungen konnte sich Judas befreien. Nachdem er seine Glieder erst einmal
richtig ausgestreckt hatte, half er dem Gesmas aus seiner Lage. Endlich war auch
dieser befreit, und Judas sprach: „Ja, das hätte dumm ausfallen können; deshalb
werde ich mich hüten, nochmals das Beil anzufassen und aus dem Kreuz Kleinholz
zu machen! — Nun liegst du da, du elendes Stück Holz, beinahe wäre ich unter
deiner Last zugrunde gegangen. Es ist aber auch zum Verrücktwerden. Weisst du,
Freund, jetzt gehen wir fort von hier, und wenn du nicht mitgehst, werde ich
allein gehen. Sag', was können wir hier noch anfangen? Wir können hier zu keinem
Ziele kommen!"
Sagte Gesmas: „Du, Judas, geh' ruhig, ich bleibe hier; und sollte ich Ewigkeiten
hier sitzen. Ich muss noch meine Rache kühlen, und das ist mir ganz gewiss: die
Bestien von Menschen werden bestimmt hierher zurückkommen!" —
Judas: „Da wünsche ich dir recht viel Glück. Ich mache mich fort vom Ort des
Schreckens, vielleicht finde ich anderweitig Hilfe. Also lasse dir die Zeit
nicht lang werden."
Und Judas machte kehrt und ging langsam mit den Füssen tastend in der Richtung
nach Jerusalem. Da sprach er wieder zu sich: „Nun bin ich wieder allein. Fort
von diesem Grobian; doch ist es vielleicht nicht recht gewesen, ihn verlassen zu
haben? — aber es musste sein. Überhaupt, dumme Rede von ihm: Rache zu nehmen!
Ich wäre froh, wenn sich mein Zustand besserte. Ich will an keine Rache mehr
denken. Mir wäre es schon lieber, Dismas zu treffen oder sonst irgend einen
guten Menschen. — Ja, Du lieber Meister, Du hattest recht, als Du lehrtest: Was
der Mensch säet, das wird er ernten! Geschieht mir ganz recht. Ich könnte jetzt
noch mit meinen Brüdern bei dem Meister sein. Wir haben keine Not bei ihm
gelitten. Doch, es ist nun einmal geschehen, vielleicht finde ich einen guten
Menschen, der mir hilft!"
Langsam, Schritt für Schritt, ging er nun den Hügel abwärts. Er getraute sich
gar nicht, seitwärts zu schauen aus Angst, die Richtung zu verlieren. —
„Kommt denn niemand hier vorbei?", sprach Judas weiter, „wer es auch sei, das
ist mir gleich. Die Hauptsache ist, ich bleibe nicht mehr allein. Ja, Judas,
hier bist du der Verspieler, während die Anderen, die bei dem Meister weilen, im
Vorteil sind. Ach, Meister Jesus, könnte ich meine Schuld wieder gut machen.
Könnte ich wieder von vorne anfangen, wie würde ich an Dich glauben — und nur an
Dich glauben! Jesus, Du guter Meister, wenn Du mir vergeben hast, so hilf mir
auch weiter, damit ich nicht noch elender werde, wie ich schon bin!" — Wie er so
sprach, wurde es allmählich etwas heller am Horizont. Nun blieb er stehen und
ruhte sich aus. Da stiess sein Fuss an einen grossen Stein, und auf diesen Stein
liess er sich nieder. Froh, wieder ein klein wenig erkennen zu können, schaute
er in Richtung Jerusalem. Auch blickte er zurück nach Golgatha und dachte an die
beiden Menschen: Dismas und Gesmas!
„Vielleicht war es falsch, Gesmas zu verlassen", sprach er, „wenn auch keine
Hilfe von ihm zu erwarten war, so war ich wenigstens nicht allein. Na, es ist
nun einmal geschehen! Doch woher kommt nur die Helligkeit! Ja, was ist denn in
Jerusalem los? Da scheint mir ein grosses Feuer zu sein, denn es wird in dieser
Richtung am Himmel ein roter Schein sichtbar. Na, Judas, jetzt hast du Glück,
denn wo ein Feuer ist, sind auch Menschen. Also machen wir hier ein Ende ". — —
Und weiter ging er, in der Richtung des Feuerscheins. Es brannte aber nicht
hell, und die Hoffnung auf weiteres Licht erfüllte sich nicht.— Nach
stundenlangem Umherirren kam er in einen Garten. Die Pforte dazu war geöffnet,
und so ging er hinein. Wie sein Fuss jetzt auf Rasen ging, wurde ihm wohler,
hoffte er doch, auch ein Haus anzutreffen und Menschen. Es fiel ihm aber nicht
ein, dass Menschen, so welche da wären, ihn garnicht wahrnehmen könnten. Er
fühlte sich noch ganz als Mensch, aber allein und einsam! —
Judas bei seinem Leichnam
Weiter ging der Weg. Er kam an einen Bach, bückte sich und griff mit den Händen
in das Wasser. Aber ein innerer Ekel hielt ihn ab, davon zu trinken. Immer
weiter ging er am Bach entlang. Viele Bäume standen hier — aber da! — was war
das?: Da hing ein Leichnam an einem. Baum! — Und er erkannte: seinen eigenen
Leichnam! „Judas!", ein hilfloser Schrei, so brach sein eigener Name hervor aus
gequälter Brust. Ein Grausen vor sich selbst packte ihn, und er sank wie tot
nieder! — —
Der Engel und Dismas sahen den regungslos daliegenden Judas. „Dies ist der erste
Akt in seinem Leben", sprach der Engel, „die Weiterentwicklung hängt von seinem
Erwachen ab!"
„Ja", sprach Dismas, „können wir ihm denn nicht helfen? Es brennt vor Schmerz in
meiner Brust; denn bei allem ist Judas ja tausendmal besser gewesen als ich. Und
doch ist mein Sein ein zufriedenes und geborgenes, ist doch deine Gesellschaft
für mich eine unvorstellbare Gnade!"
Sprach der Engel: „Lass nur gut sein, Dismas, der Herr hofft, dass du deine
Pflicht erfüllen und überhaupt alles tun wirst, um Judas zu retten. Du sagst:
dein Sein sei ein geborgenes! Weisst du denn auch, was Geborgensein heisst?
Höre: Anderen helfen!! Ihnen Heimat anbieten!! Ihnen dienen!!, — das heisst:
Geborgensein!! Und bedeutet: das Verbleiben im Herrn! — Darum übergab der Herr
dir diese Mission, dem Judas zu dienen und zu helfen mit allen deinen Kräften!
Beachte aber eines allezeit: Übe keinen Zwang! Erzwinge nichts! Nie! Hörst du?
Denn wir sind im freien Reiche des Geistes — und alle Unfreiheit ist Rückschritt
in der Entwicklung des geistigen Menschen! —
Eher lass jemand in die Hölle steigen, als dass du ihm gewissermassen die Flügel
seiner Freiheit beschneidest. Wenn du aber Letzteres tust, dann wird der Andere
wohl dort bleiben, wo du es wünschest; aber er wird unfähig sein, sich zu einem
neuen Standpunkt zu erheben, er wird sein wie ein flügellahmer gestutzter Vogel!
Wer aber im Vollbesitze seiner Freiheit in eine Tiefe stürzt, den kann diese
Freiheit auch wieder heraustragen, wenn er dort die nötige Reife erlangt hat. —
Nun pass auf: ich werde jetzt Judas anrühren, damit er erwache! Und dann wollen
wir im Namen des Herrn unsere neue Aufgabe erfüllen!" —
Der Engel berührte nun den wie tot daliegenden Judas an der Stirn und Brust, und
mit einem tiefen Atemzug erwachte Judas aus seiner Ohnmacht. Er griff sich genau
an die Stellen, die der Engel berührt hatte und sprach:
„Nun lebe ich immer noch das alte Sauleben - wäre ich doch tot! Denn nun bin ich
erst recht unglücklich, weil ich meinen Leichnam gesehen. Es ist fast nicht zu
glauben: Da hängt der Judas tot — und der wirkliche Judas lebt! — 0, hätte ich
doch Jesus nicht verraten! Es ist schon wahr, wenn der gute Meister immer sagte,
dass eine Dummheit die andere gebiert. Ach, hätte ich bloss meine Dummheit nicht
begangen, dann wäre auch die andere nicht erfolgt! Aber was nun? In Jerusalem
scheint das Feuer grösser zu werden. Mir ist, als wenn es etwas heller wird,
sehe ich doch die Umrisse des Tempels im Feuerschein. Aber was ist denn das? —
der Tempel selbst brennt ja und stürzt zusammen. O weh, der Tempel stürzt ein!
0, Jehova, Dein Haus geht in Trümmer! Ich will versuchen hinzukommen, vielleicht
treffe ich dort jemanden. Sagte nicht Dismas, der Meister sei nach dem Tempel
gezogen? O, da haben die verdammten Templer das Heiligtum selbst angezündet —
und der Meister ist vielleicht noch in dem Tempel! Ich eile schon, aber rasch,
vielleicht kann ich noch helfen." — Und Judas lief mit schnellen Schritten in
Richtung des Feuers. Die beiden folgten ihm, ohne dass Judas es bemerkte. — Sein
Weg war mühevoll, denn der Weg ward für ihn von der ewig fürsorgenden Liebe zu
einem beschwerlichen Weg gemacht, — um seinen gefassten Willen zu stärken! Aber
da Judas unentwegt seinem Ziele zusteuerte, wurde ihm geholfen, indem es etwas
lichter um ihn wurde. — Endlich kam er an der grausigen Stelle an, wo vorher der
Tempel gestanden. Das Feuer war inzwischen erloschen, es glomm nur noch
allenthalben. Nun ging er um die Trümmerstätte herum und suchte nach einem
Menschen. Aber er fand niemanden. Schon wollte er wieder gehen, da hörte er
Worte, und zwar Verwünschungen gegen Jesus von Nazareth. Über Trümmerhaufen und
verkohlte Balken hinweg, durch stinkenden Qualm und Rauch kletternd, kam er an
die Stelle, wo vielleicht früher ein Altar gestanden hatte. Hier kauerte ein
Mensch! Fetzen von Kleidern hingen an seinem zerschundenen und verbrannten
Körper, voller Mitleid richtete ihn Judas auf — um ihn aber erschreckt wieder
los zu lassen, denn er hatte in dem Menschen den obersten Hohenpriester erkannt!
—
„So, du hast also schon deinen Lohn, du Ungeheuer," sprach Judas langsam und mit
bebender Stimme. „Dir geschah ganz recht, warum hast du mich und den Meister
zugrunde gerichtet?" — Da versuchte der andere aufzustehen und antwortete: „Was
sagst du, ich hätte dich und deinen Meister zugrunde gerichtet? Wer bist du
überhaupt, dass du es wagst, mir etwas anzuhängen?" —
Sagte Judas: „Ich? Ich bin der Judas, einer der Jünger des Jesus von Nazareth,
und jetzt willst du mich nicht mehr kennen!? Hast doch selbst mich an deinem
Tisch mit einem auserlesenen Mahl und gutem Wein beglückt und als Lohn für meine
unselige Tat noch 30 Silberlinge bezahlt, und heute willst du nichts mehr davon
wissen! Weisst du, was ich am liebsten mit dir täte? — Dich mit meinen Händen
erdrosseln! Hast doch selbst gesagt, als ich noch in deinem stolzen Tempel
weilte, als ich noch meinen Fleischkörper trug, du möchtest, dass es jedem
Jesu-Nachfolger ergehen sollte wie mir, dem Verräter! O, Kaiphas, dich trifft
Gottes Gericht!"
„Was sagst du da, ich sei Kaiphas? Ich bin Etzasib, der Hohepriester, und bleibe
es trotz Kaiphas und dir! Und du bist also ein Jünger des Nazareners, dieses
ganz gemeinen Teufelsdieners, der meinen Tempel zerstört hat, den ich Hunderte
von Jahren recht und gerecht verwaltet habe! Ist dein Nazarener der, für den er
sich ausgibt, dann möge er kommen und mir meinen Tempel wieder aufrichten, mich
wieder zu Ehren und Ansehen bringen. Erst dann will ich ihn anerkennen als Herrn
und will vergessen, was er mir angetan hat, und dich anerkennen als meinen
Priester. Andernfalls aber hasse ich die ganze Nazarenerbrut und dich am
allermeisten, du gemeiner Verräter! Wisse, hättest du mich verraten - in den
tiefsten Kellergewölben, in Gemeinschaft mit Schlangen und Ottern, würde ich
dich halten und mich jeden Tag an deiner Qual weiden. Zwei Priester würde ich
beordern, die dir bei jedem Bissen Brot, den du zum Munde führtest, zuschreien
sollten: ‚Verräter!’ Wenn auch der Nazarener mir mein Haus zerstörte und alle
meine Pfleglinge fortführte, so habe ich doch immer noch meinen Willen und mit
diesem trotze ich, solange ich kann!" —
Judas erschrak über den Ausbruch von Wut und stammelte: „O, verzeihe mir, ich
habe dich verkannt, denn ich vermutete in dir den Kaiphas. Aber da ich dir doch
nichts zuleide tat, will ich dich ja überhaupt nicht gemeint haben. Übrigens
hätte ich solche Drohungen und Beschimpfungen von dir, der du doch ein Gesalbter
Gottes sein willst, am allerwenigsten erwartet. Nun über Jesus herzuziehen und
Ihn als Teufelsdiener zu bezeichnen, o, dies wird dir schwer werden zu lösen. —
Es ist wahr, ich habe schlecht gehandelt, aber trotz meiner grossen Gemeinheit
steht doch der Meister Jesus hoch über allem Schlechten. Merke dir dies eine:
Kein anderer als Jesus von Nazareth kann dir helfen! Ich, Judas, ein Einsamer
und Verlorener, sage dir, an wen du dich zu wenden hast. Nur Jesus hilft! Halb
und halb ist dir schon geholfen, da er dir deinen Tempel nahm. Alles, was du
auch immer willst, musst du dir von Ihm erbitten und musst tief bereuen deine
Schuld. Ich wollte, ich könnte bei Ihm sein." —
„Nun aber höre auf, du Trauerweib, du bist ja der Richtige", schrie ihn Etzasib
an. „Erst lieferst du deinen Herrn an das Kreuz, und dann willst du mich
belehren — dass nur Jesus mir helfen kann! Wenn du nicht bald fortkommst aus
meiner Nähe, dann werde ich dich belehren über deinen Herrn. Nenne mir ja nicht
mehr den Namen, denn hier bin ich der Herr und werde es auch bleiben. Wohl steht
der Tempel nicht mehr, aber ich bin noch, der ich bin: ein Hoherpriester von
Gottes Gnaden?!!—"
Judas wollte etwas erwidern, da ergriff Etzasib ein Stück verkohltes Holz und
schlug nach Judas, doch dieser sprang zur Seite. Der Hohepriester aber geriet in
noch grössere Wut und stürmte mit dem Holze auf Judas ein. Da sprang Judas über
die Trümmer davon und liess den laut schimpfenden Hohenpriester stehen. —
„O Gott, o Gott," sagte Judas zu sich, „das hätte aber gefährlich ausgehen
können. Nun bin ich froh, dass ich weg bin; doch leider bin ich auch um eine
Hoffnung ärmer. Wo wird der Meister hingezogen sein? Ja, ja, das habe ich davon,
ich wollte helfen, und Schläge sind der Lohn! Da bin ich ja besser daran, so ich
allein bleibe. Aber was nun, wohin? Es ist wenigstens etwas heller geworden, und
die ganze Gegend kommt mir bekannt vor — aber leider bin ich allein! Mich wurmt
es gewaltig, als Verräter hingestellt zu werden — aber der Meister hat mir
vergeben. Wie mache ich es nur, dass mir der Schandfleck abgewaschen wird, was
soll ich tun ? — — Ich mache mich jetzt auf und besuche mein Weib und meine
Kinder, denn ich habe ihrer schon ganz vergessen! Was werden sie wohl sagen? Ob
sie es wissen, dass ich der Welt schon gestorben bin? — Also, Judas, auf und ans
Werk! Suchen wir unser irdisches Heim auf. Jetzt hindern mich nicht Zeit und
Tagesstunden, denn ich bin ja kein Erdenmensch mehr und hänge nicht mehr an
irdischen Gesetzen!" —
Nun suchte sich Judas einen Stab, den er bald fand, weil der Enge! ihm einen
hingelegt hatte. Er wanderte gegen Abend hin und suchte und spähte, ob er nicht
noch einem Menschen begegnete. Aber die ganze Gegend war wie ausgestorben, nur
der Engel und Dismas begleiteten ihn unbemerkt. —
Offenbarungen des Engels über
Judas
Der Engel sprach unterdessen mit Dismas: „Siehe, solange Judas nicht die
geringste Nächstenliebe besass, und immer nur an sich dachte, sich's
wohlschmecken liess, wo es ihn nichts kostete, und in seinem Beutel immer soviel
trug, dass er hätte Not lindern können, stand er einsam und allein. Obschon er
sich alle Gnade verscherzte, da er seinem Erd- und Prüfungsleben selbst ein Ende
setzte, ist ihm Gott dennoch gnädig und gewogen. Denn Judas ist das Werkzeug,
von dem seit Hunderten von Jahren geschrieben wurde. Und hätte nur Judas in
seiner Not und seinem Jammer den Weg zum Herrn gefunden - nie hätte er zu leiden
brauchen, denn dann wäre für Luzifer kein Anstoss da gewesen, über den er hätte
Gott einen Vorwurf machen können.
Siehe, mit Judas ist es so: er möchte immer — aber es bleibt beim Mögen! — Hätte
er den Gesmas nicht verlassen, ruhig allen Spott ertragen und wäre er geduldig
geblieben, es stünde jetzt besser mit ihm. Ebenso war es auch hier bei dem
Hohenpriester. Hätte er allen Spott und sogar die Schläge erlitten, dann hätten
wir ihm beistehen können. Aber so flieht er gerade vor dem, was seiner Schwäche
und Eigenliebe den grössten Stoss versehen könnte. Doch der Herr ist geduldig,
wollen wir es ebenso sein — denn Judas ist eine Seele, die zu retten ist. Dem
Herrn aber sei Dank, dass Er uns befähigt, dieser armen Seele schulend zur Seite
zu stehen!" Indessen marschierte Judas unentwegt weiter gen Abend, und es
wunderte ihn nicht einmal, dass dort keine Strasse war, wo er wanderte. Über die
öden Steppen und Sandwüsten ging sein Weg. Und nun wurde er müde und legte sich
hin zum Ausruhen. Seine Gedanken aber waren bei seinem Weibe und seinen Kindern,
und Sorgen um diese machten ihm das Herz schwer. — „Ja", sprach er, „ich habe
fast gar nicht um sie gesorgt und war nur auf mich bedacht. Jetzt tut es mir
leid, dass ich diese Schande über sie gebracht habe." —
Judas aber konnte keine Ruhe finden und ging weiter und weiter. Endlich sah er
den Flecken Karivthomit — die Stätte seiner irdischen Behausung. Vor seinem
Hause war ein grosser Menschenauflauf. Neugierig eilte er hin, und ärgerlich
schlug er mit seinem Stabe zu. Aber ihn sah ja niemand, und seinem Schreien gab
niemand Gehör. Nun ging er in das Haus und vernahm, wie ein Templer schadenfroh
die Botschaft brachte, er, Judas, habe sich erhängt! —
Entsetzt hörten seine Angehörigen die Kunde, klagten und schimpften über ihren
Vater. Nur Judith, die jüngste Tochter, trat dem Templer gegenüber gefasst auf
und entgegnete ihm:
„Was unser Vater getan hat, mag er mit Jehova abmachen - uns steht es nicht an,
zu richten und zu rechten. Und ihr, die ihr Stellvertreter Jehovas seid, müsst
euch bis ins tiefste Herz hinein schämen. Denn Mutter und wir brauchen Trost und
Hilfe in dieser Prüfungszeit und nicht Hohn und Spott obendrein. Dass Vater aber
seinen Meister Jesus verriet um des schnöden Geldes willen, das wird Vater auch
mit Jesus von Nazareth abmachen müssen. Sind doch alle beide nun im Reiche des
Todes. Ich kenne Jesus von Nazareth um vieles besser als ihr, und ich sage dir
wie allen, die es hören wollen:
Meinem Vater wurde schon vergeben — ehe er das tat, denn er hat es getan um
falscher Ziele willen. Traurig für uns, dass uns das Gesetz verbietet, unsern
Vater zu beerdigen. Und wissen zu müssen, dass der tote Körper wilden Tieren zum
Frässe dienen soll — das ist für mich das Furchtbarste. Darum kehre wieder
zurück zum Tempel und lasse uns unsere Ruhe!" —
Mit offenen Augen und Ohren hörte Judas seiner Tochter Rede, die ihn in seinem
Herzen zutiefst beschämte. Er stellte seinen Stock in die Ecke und legte dann
beide Hände seiner Tochter Judith auf das Haupt. — Der Templer ging, einige
unverständliche Worte in seinen Bart murmelnd, und die Nachbarn wurden von
Judith hinausgedrängt. Darauf versuchte sie, die Mutter mit liebenden Worten zu
trösten. Sie wollte jedoch nichts davon wissen, der Schmerz und die Schande
waren ihr doch zu gross. Judith aber liess nicht locker, und in heisser
Kindesliebe sagte sie zum Schluss: „Ich mache mich auf, suche den Leichnam des
Vaters und werde ihn beerdigen, damit der Eindruck seines Todes in mir
verblasst! Denn mein Vater mag gewesen sein, wie er will, ich habe ihn lieb
gehabt und liebe ihn heute auch noch!" —
Für Judas bedeutete dies das grösste Wunder. Er kniete nieder und bat Jehova um
Schutz für das Werk seiner Tochter. Reuetränen rollten über seine Wangen, und
seine Lippen sprachen: „Herr und Gott Zebaoth, sei meiner Tochter und mir Armem
gnädig!" Zum ersten Mal gestärkt im Gebet, stand er vom Boden auf und setzte
sich vor dem Hause nieder, um auf seine Tochter Judith zu warten. — Endlich kam
sie. Sie trug in der Hand ein Körbchen mit Lebensmitteln und strebte dem
Ausgange des Dörfchens zu. Judas blieb dicht an ihrer Seite. Judith drehte sich
auch nicht nach den Nachbarn um und beachtete ihre Zurufe und Blicke nicht. Wie
blutete ihr Herz, weil ihre Mutter diesen Weg nicht erlauben wollte; so gerne
hätte sie die Hilfe eines Bruders angenommen. Aber nun eilte sie allein mit
schnellen Schritten vorwärts: Jerusalem zu! — „Wenn ich nur einen Jünger oder
einen Freund Jesu treffen würde", dachte sie, „vielleicht würde mir dann Hilfe!"
—
Da legte ihr der Engel, der zusammen mit Dismas die beiden begleitete, den
Gedanken ins Herz, doch erst nach Bethanien zu gehen und von dort aus nach
Jerusalem. —
Judas hätte gerne etwas von seiner Tochter Judith lernen mögen, aber es gelang
ihm nicht, da er viel zu sehr mit sich und seinem Zustand beschäftigt war. —
Dismas fragte deshalb den Engel und dieser antwortete ihm: „Siehe, mein Freund,
im Reiche des Lebens und der Geister lebt ein jeder in seiner eigenen Welt. Und
seine Gedanken bilden eigentlich den Grund und das Wesen dieser seiner Welt, in
der er lebt und sich bewegt. Als Mensch im Fleische ist das anders, weil ein
jeder mit seinen Füssen dort gebunden ist, wo er gerade steht, sich aber in
Gedanken an irgendeinem anderen Orte befinden kann. Für uns Engel, die wir nur
einen Willen kennen, den Willen des allmächtigen Gottes, ist es ja gleich, wo
wir weilen, da uns nichts bindet als allein dieser göttliche Wille. Und so bin
ich jetzt hier, und könnte im nächsten Augenblick Tausende von Meilen entfernt
sein. Denn so schnell, wie die Gedanken wechseln, so schnell kann ich auch eilen
an einen anderen Ort. Und ich könnte dabei tätig sein und dir schon im nächsten
Augenblick Beweise meiner Tätigkeit überbringen. Siehe: bei unserem Judas ist es
anders. Weil er nur an sich denkt und von aussen Hilfe erwartet, kann er sich
nicht trennen von seinem nächtlichen Grund und Boden, den seine Lichtlosigkeit,
Geiz und Ehrsucht ihm geschaffen. Darum zählt er zu den Ärmsten, die man sich
vorstellen kann, weil er, ohne ein inneres Ziel, völlig haltlos ist. Judas lässt
sich treiben von der Angst in seiner innersten Seele. Sobald ihm aber jemand
etwas erzählt, ihm einen Rat gibt oder einen Spiegel vorhält, wird er bösartig.
Darum kann er noch nicht in die Sphäre seiner Tochter schauen, die in
Kindesliebe bereit ist, sogar eine Sünde nach dem bestehenden Gesetze zu
begehen! — Er fühlt den Strom reiner Kindesliebe, und darum zieht es ihn an die
Seite seiner Judith. Wäre ihm daheim von seinem Weibe eine solche Liebe
entgegengebracht worden, so wäre er geblieben. Denn Geister dieser Art besitzen
keine Ahnung mehr von ihrer Urheimat: sind also Ausgestossene durch sich selbst!
Wenn sich nur irgend jemand findet, der sie erbarmend und liebend umgibt, so
ergeht es ihnen wie einem Wanderer, der in der Wüste in eine Oase kommt, wo ihm
überdies noch jemand ein Willkommen zuruft! — Die erbarmende Kindesliebe der
Judith, die ihrem Vater um jeden Preis helfen will, damit er Ruhe findet, wird
Judas zum Rettungsanker. Dies eine aber merke dir, Freund Dismas: Im
Geisterreiche ist nur dem geholfen, der ungeachtet aller Gegensätze anderen
hilft. Hier kommt es nicht darauf an, dass man etwas gern tun möchte, sondern
allein darauf, dass man etwas ernstlich und fest entschlossen will — und
zugleich vollbringt! Bei uns Engeln sind Wille und Tat eins, bei euch reifenden
Gotteskindern aber muss noch viel geläutert und gefestigt werden. Der Herr
jedoch hat noch niemals die Geduld verloren. Üben wir uns auch darin, geduldig
zu sein, damit es dem Judas zum Heile gereiche!" — Dieser aber schritt immer
noch Seite an Seite mit Judith. Doch sein Herz war wieder leer. All’ seine
Wünsche waren wie fortgeblasen. Auch seine Liebe zu Jesus war wie ein Strohfeuer
ausgebrannt. Das Mädchen aber hatte sich inzwischen entschlossen, zuerst nach
Bethanien zu gehen. — Ihre Gedanken eilten voraus zu den Freunden Jesu, und ihre
Sinne beschäftigten sich mit dem Heiland. Dabei wurde ihr das Wandern leicht.
Ihr war, als wenn himmlische Kräfte ihr beistünden, und ihr Herz war voller
Hoffnung! — — Langsam neigte sich der Tag, es ward Abend, und bis zum Ziel waren
es noch zwei Stunden.
Da betete sie: „O, lieber Meister Jesus, hilf mir, lass mich heute noch zu
Freunden .kommen, damit meine Unruhe gestillt wird, und ich meiner Liebe folgen
kann!"—
Da sah sie, wie ein Trupp Römer die Strasse gezogen kam. Der Anführer war zu
Pferde. Er holte das Mädchen ein und fragte: „Wohin des Weges? Der Tag neigt
sich, und hier ist weit und breit kein Unterkommen!“
„Bethanien ist mein Ziel", antwortete Judith, „denn der Herr jenes Grundes ist
Lazarus, der meinem Vater gewogen war. Ich brauche nämlich Hilfe und Beistand,
da mein Vater gestorben ist!" —
Der Römer sprach ihr, wie er dies hörte, einige Beileids- und Trostworte zu,
aber dann sagte er: „Höre Mädchen, nachts holt man sich von einem solch
entlegenen Orte doch keinen Beistand. Hast du denn keine Freunde in Jerusalem,
die dir helfen könnten? Warum wendest du dich nicht an eure Priester?"
„Herr", sprach Judith, „es handelt sich nicht um einen geldlichen Beistand,
sondern ich suche jemanden, der mir meinen Vater begraben hilft; denn dieser hat
in einer schwachen Stunde seinem Leben selbst ein Ende bereitet. Dies kann aber
nur heimlich geschehen, denn nach unserem Gesetz darf er nämlich nicht der Erde
übergeben werden. Seht, ich bin ein schwaches Mädchen, aber ich liebe meinen
Vater. Darum bitte ich euch, Herr, lasset mich meines Weges ziehen und haltet
mich nicht auf!" —
„Wer war denn dein Vater", fragte der Römer verwundert, „und wo hat er sich denn
entleibt?" —
Judith: „Mein Vater hiess Judas und gehörte zu der kleinen Schar von Jüngern,
die dem Heiland und Arzt Jesus folgten. Durch unselige Verkettung verriet mein
Vater seinen Meister an den Tempel, und Jesus musste am Kreuz auf Golgatha
sterben. Wie mein Vater aber sah, dass sich Jesus nicht auf wunderbare Art
befreite, wie er gehofft hatte, da fasste er den unseligen Entschluss, sich das
Leben zu nehmen. — Ein Priester überbrachte uns die Nachricht von seinem Tode,
aber in einer hässlichen Art, dass wir von Entsetzen gepackt wurden.
Schliesslich überwand ich alle Bedenken, und nun will ich den Leichnam meines
Vaters suchen, um ihn zu beerdigen! — Euch, Herr, darf ich es erzählen, weil ihr
kein Jude seid, und ich denke, ihr werdet mich auch nicht verraten wegen meines
Vorhabens!" —
Der Römer: „Nein, meine Tochter, nie werde ich dich an deinem Liebeswerk
hindern, im Gegenteil, ich werde es fördern. Doch sage noch einmal, wie hiess
dein Vater?"
Judith: „Judas, Herr, von Beruf ein Töpfer. Seit Jesus durch die Lande zog, war
mein Vater auch mit dabei. Wir haben daheim manchesmal Not gelitten und karg
leben müssen, doch hat uns Jehova immer so viel geschenkt, dass wir leben
konnten,"
Der Römer: „Höre, Mädchen, ich habe deinen Vater gekannt. Er war ein schlechter
Mensch, war habsüchtig und streitsüchtig und hat sich ungern der Ordnung
gefügt!" —
Judith: „Herr, es war mein Vater!"
Der Römer: „Ja, meine Tochter, es ist schön, in kindlicher Liebe an seinen Vater
zu denken und ihm ein gutes Andenken zu bewahren. Aber dein Vater ist dieser
Liebe nicht wert, darum lasse ihn liegen und kehre heim." —
Judith: „Nein, Herr, er ist mein Vater und bleibt es bis in alle Ewigkeit.
Jehova verlangt, Vater und Mutter zu ehren. Es steht nicht geschrieben von guten
Vätern und Müttern, sondern nur von Vater und Mutter. Darum versuche ich, so gut
ich kann, meinem Vater zu Hilfe zu kommen, damit er Ruhe finde!" —
Der Römer: „Höre, Mädchen, deine Liebe erinnert an die des göttlichen Meisters;
sag: bist du eine Anhängerin des Nazareners?" —
Judith: „Ja und nein! Ja, weil ich Ihn liebe!, und nein, weil ich bis jetzt
immer dem Tempel treu blieb — bis dieser uns nun den letzten Beweis seiner
Verkehrtheit geliefert hat. Nun ist es mir unmöglich, dem Tempel die Treue zu
halten. Ich möchte nach Bethanien ziehen für immer. Meine Mutter kann
nachkommen. Meine Brüder aber haben das Wanderblut unseres toten Vaters in ihren
Adern. Die werden ohnehin ihren Weg gehen!" —
Der Römer: „Da handelst du recht; übrigens ist Lazarus mein Freund, ich werde
dich hinbringen zu ihm. Wir wollen nämlich nach Jerusalem, und so kann ich dir
behilflich sein. Sicherlich bist du müde und hungrig?"
Judith: „Herr, den ganzen Tag bin ich gewandert. Gott gab mir bis hierher Kraft
und Er wird auch weiter helfen!"
Der Römer: „Nun, so komme du mit auf mein Pferd! Brauchst keine Angst zu haben,
dass du herunterfällst, ich halte dich fest, so kommst du eher nach Bethanien!"
—
Darauf gab der Römer seinen Soldaten noch einige Anweisungen, übergab das
Kommando einem anderen und befahl ihm, den Trupp nach Jerusalem zu führen. —
Er selbst ritt in schnellem Trab mit dem Mädchen nach Bethanien. Dort staunte
man nicht wenig, einen römischen Soldaten zu Pferde mit einem jungen Mädchen im
Arm anstürmen zu sehen. Da erkannte Lazarus in ihm einen alten Bekannten und
guten Freund, begrüsste ihn auf das herzlichste und hiess beide willkommen! Er
erzählte dem Römer, dass er schon viele Gäste habe, viele gemeinsame Bekannte,
darunter Pontius Pilatus, sowie fast alle Jünger Jesu und die Mutter Maria. Dem
Römer fiel ein Stein vom Herzen, wie er dies hörte, denn nun wusste er das
Mädchen gut aufgehoben. Er stellte nun Lazarus das Mädchen vor, und dieses
erzählte getreulich, wie sich alles zugetragen hatte. Auch Lazarus war ergriffen
von der Kindesliebe des Mädchens. Er führte es gleich in ein Schlafgemach, damit
es sich zur Ruhe begeben konnte. — Der Römer, der nur noch wenig Zeit hatte,
ging inzwischen zu der grossen Gesellschaft, erstattete dem Pilatus Bericht und
unterhielt sich lange mit dem Jünger Johannes. — Spät in der Nacht noch ritt er
pflichtgemäss weiter nach Jerusalem, ohne jedoch Judith noch einmal gesprochen
zu haben, da sie fest schlief. —
Frühmorgens war alles auf den Beinen. Da kam auch Judith in die grosse Stube, wo
alles beim Morgenmahle sass. Lazarus führte sie zu Maria, die das Mädchen in die
Arme nahm und ihr mütterlich die Tränen vom Gesicht küsste. Dabei sprach sie
liebe Worte zu ihr, Worte, die Judith in ihrem Leben noch nie vernommen hatte.
Gläubig schaute sie zu Maria auf, als sie hörte: „Siehe, Jesus, mein Sohn, unser
guter Heiland und Meister — lebt! Sei überzeugt, dass auch Judas, dein Vater,
lebt! Allerdings ist sein Zustand noch kein rechtes Leben. Doch wird ihm
geholfen, wenn er die rettende Hand der Ewigen Heilandsliebe ergreift und
festhält!"
Judas aber hörte und sah alles. Jeden Vorgang durfte er miterleben. Die Liebe
und Bereitwilligkeit seiner Tochter aber brachte sein Inneres in den grössten
Aufruhr! Nichts von Vorwürfen! Nichts von Verwünschungen! Das war Himmelsmusik
für seine bis auf den Tod verwundete Seele! —
Johannes teilte nun dem Mädchen mit, dass Lazarus die Beerdigung vornehmen
lasse, und dass Judas in Bethanien begraben werden solle. „Du brauchst das
Aufregende nicht mitzuerleben", sagte Johannes ihr, „heute Nacht holen wir den
Leichnam deines Vaters, und morgen um diese Zeit kannst du ihm am Grabe deinen
legten Liebesdienst erweisen!" —
In diesem Augenblick ersah Johannes den Judas, da sprach er zu ihm: „Mein Bruder
Judas, o, es ist eine harte, harte Probe für dich, der du doch alles so genau
wusstest, wie wir, aber immer glaubtest, Göttlich-Geistiges mit Materiellem
vermengen zu können. Siehe, dein Zustand ist die Folge deines Tuns. Ich mache
dir keinen Vorwurf, nur mir, dass ich in deiner schwachen Stunde nicht bei dir
blieb. Doch dir wird geholfen werden. Bleibe einen Tag mit deinem dir unsichtbar
dienenden Bruder Dismas hier in unserer Liebe — dann wird dir ein neuer Weg
werden. Doch beuge deinen Sinn in Demut vor dem Herrn. „Jesus mit dir!" „Jesus
mit Euch!" —
Staunend fragte das Mädchen: „Ja, sag lieber Freund, mit wem sprachst du eben?"
Johannes: „Mit Judas, deinem Vater, den du mit zu uns gebracht hast, und der
durch deine tatkräftige Kindesliebe aus den Banden seiner Nacht herausgehoben
wurde und sich nun an dich hält, als wärest du sein Gott. Freilich, du siehst
ihn nicht und kannst darum auch nicht mit ihm sprechen.
Aber das ist auch gut so, denn du könntest derlei noch nicht ertragen. Denn: wie
sein Zustand, so auch sein Aussehen. Freue dich aber, denn es geht dem
Lebensziel entgegen. Was dein Vater bis jetzt gelitten hat, ist unvorstellbar.
Was aber einmal erfasst wurde vom Geiste des Lebens, — das ist schon so gut wie
gerettet und empfindet schon eine kleine Wohltat als die grösste Seligkeit!" —
Darauf verabschiedete sich Johannes von Maria und dem Mädchen, um mit einigen
Brüdern und einem Knecht des Lazarus den Leichnam zu holen. Der Wagen, mit einer
längeren Kiste und ein paar grösseren Tüchern darin, war schon bereit, und so
fuhren sie nach Jerusalem, Judas mit ihnen. Ihm war, als wenn ein Magnet ihn zu
Johannes zöge. In dessen Nähe wurde ihm leicht, und um ihn Licht. Diesmal konnte
er auch die Umgegend gut erkennen und die Brüder, die es sich auf dem Wagen
bequem machten. Johannes allein wusste, dass Judas mit ihnen war. Darum enthielt
sich Johannes jeden Gespräches, um nicht an inneren Kräften zu verlieren. In
dieser Ruhe und Stille ging ein Strahlen von Lebenswärme auf Judas über. — Der
Engel und Dismas folgten ebenso, und es war gut, dass dieser Schutz den Brüdern
gegeben war. Denn der Gegner wusste wohl um diese Mission und versuchte zu
stören. Eine Karawane von Kaufleuten sollte aufhalten. Da ging der Engel wie ein
Sturmgewitter vorüber, und die Brüder beeilten sich, möglichst trockenen Fusses
nach der Herberge des Lazarus bei Jerusalem zu kommen. Der Pächter war erstaunt,
wie Johannes mit dieser Fuhre ankam. Als er aber den Grand erfuhr, war er sofort
dabei, ihnen behilflich zu sein, und schickte einen Knecht nach der Stätte, wo
sich Judas entleibt hatte. Seine Befürchtungen waren begründet, denn tatsächlich
hatte der Tempel dort einen Posten aufstellen lassen, um zu verhindern, dass der
Leichnam geholt wurde. — So erschraken die Brüder nicht wenig, als sie die
Botschaft hörten.
Johannes aber war zuversichtlich — denn er glaubte an die Kraft der Liebe! —
„Wir wollen kein Aergernis erregen", so sprach er, „aber nach Sonnenuntergang
holen wir ihn heim nach Bethanien. Wir könnten ja zu dem römischen Befehlshaber
gehen und uns bei ihm Schutz sichern; aber wozu weltliche Hilfe in Anspruch
nehmen, wenn uns geistige Hilfe zuteil wird! Sehet, Engel in grosser Zahl stehen
uns zur Seite, gilt es doch, den Wunsch eines Kindes zu erfüllen! Darum sorget
nicht, denn Jesus, unser treuer Gott und Vater, hat schon gesorgt!" — —
Judas litt Folterqualen in dieser Zeit, da er jetzt Vergleiche ziehen konnte
zwischen sich und seinen Brüdern. Tief bereute er sein Tun, aber sein Inneres
blieb leer, weil er immer noch nicht den Weg zu einem wahrhaften Bitten und
Danken fand! Johannes aber sprach wieder zu ihm über den rechten Begriff der
Hingabe und sagte: „Mein Bruder, siehe, Vergangenes können wir nicht ungeschehen
machen, wohl aber können wir die Folgen unseres verkehrten Tuns abwenden. Dir
wollen alle Brüder mit tragen helfen und dir beistehen, damit du aus dir heraus
Neues und Zukünftiges schaffen kannst. Denn am Vergangenen klebt der, der sein
Tun entschuldigt und gerne andere verantwortlich macht. Aber, das Künftige ist
ein selbständiges, freies Leben aus der Liebe zu Jesus, unserem Herrn, das in
unseren Herzen erstehen soll. Das stellt uns vor Aufgaben, denen wir manchmal
nicht gewachsen zu sein scheinen; aber im Glauben an und in Jesu Liebe finden
wir die Kraft, die wir brauchen, und einen wunderbaren Helfer. Du kommst nicht
von der Stelle, wenn du in deiner eigenen Lebensanschauung verharrst.
Verabschiede alle deine früheren Anschauungen und Grundsätze, wie du dich von
deinem früheren Leibe verabschiedet hast, und dir wird wohler werden und du
wirst frei in deinem Herzen. Darum werde ruhig und frei!"
Diese Worte taten dem Judas gut, doch sein Schmerz und Weh verblieben ihm, denn
er fasste noch immer nicht alles. —
Wie sich der Tag neigte, machten sich die Brüder auf den Weg. Der Himmel
umwölkte sich, ein Sturm kam auf, und in kurzer Zeit brach ein Gewitter herein.
Blitz folgte auf Blitz, und das drohende Rollen des Donners trieb die Templer
zurück in den Tempel. Bei dem Wetter wagten sie sich nicht wieder heraus; — Die
Brüder aber blieben trockenen Leibes und erlebten wieder die Herrlichkeit des
Meisters, der ihnen Licht und Schutz gewährte. Angekommen bei dem Leichnam,
lösten sie ihn von dem Strick, wickelten ihn mehrfach in Tücher und gingen dann
still, wie sie gekommen, wieder zurück. — Erst als sie Jerusalem hinter sich
hatten, liess das Gewitter nach. Allmählich kamen wieder die Sterne zum
Vorschein, und unter einem schönen Nachthimmel ging es zurück nach Bethanien.
Judas kauerte auf der Kiste seines Leichnams, der ihm vor ein paar Tagen ein
Greuel war. Heute kam ihm die bevorstehende Trennung mehr zum Bewusstsein, und
er empfand diese Stunden wie ein Geschenk seines Herrn! Mitten in der Nacht
kamen sie in Bethanien an. Lazarus hatte ein Grab auswerfen lassen, und die
intimsten Freunde erwarteten mit Judith gemeinsam ihr Kommen! — Nun ging es
sofort an die Beerdigung! Still und wortlos wurde der Leichnam der Erde
übergeben. Nachdem die Stricke gelöst waren, erteilte Lazarus den Segen, dann
die Brüder und zuletzt Judith, seine Tochter! Keine Träne, aber himmlische
Freude durchzog Judiths Herz, und so betete sie:
„0, Du guter Heiland Jesus! Du Helfer in Not! Du Befreier aus Angst und
Bangigkeit! — Dir will ich mich weihen von nun an bis in Ewigkeit. Lasse mich
lieber untergehen, aber hilf meinem Vater! Schenke ihm Ruhe, Trost und Frieden,
und lasse mich erkennen Deinen heiligen Liebewillen. Segne Du, denn ohne Deinen
Segen kann ich nicht mehr bleiben! Amen l"
Alle waren ergriffen. Judas aber brach unter der Liebe seiner Tochter zusammen!
—
Beim Fackelschein füllten Knechte das Grab mit Erde. Die Freunde und Brüder
mitsamt Judith waren in das Haus zurückgegangen. Judas aber blieb bei seinem
Grabe. In ihm war alles wie tot, und gleichgültig stierte er vor sich hin. In
diesem Zustande verblieb er, bis seine Tochter Judith am frühen Morgen an das
Grab kam, dort niederkniete und betete:
„0, Du grosser, heiliger Gott! Du Schöpfer aller Kreaturen! Du Herr über alle
Dinge! Siehe, hier im Staube der Niedrigkeit liege ich vor Dir, um Dich — Du
Allerbarmer — anzuflehen um Gnade und Erbarmen! Hier liegt mein Zeuger und
Ernährer, der seinen eigenen Willen missbraucht hat, um sein Leben zu zerstören,
und uns in Schande und Schmach zurückliess. O Herr! Du weisst alle Dinge, Du
allein kennst die Gründe seiner Tat, und darum flehe ich Dich an: O, lass Gnade
walten! Miss nicht mit dem Masse, mit dem mein Vater gemessen, sondern übe hier
an ihm Deine allzu bekannte Milde! Musst Du aber, um Deiner Gerechtigkeit
willen, das Mass der Strafe ausschütten, o, dann lass mich tragen das Los — lass
mich tragen diese tiefe, tiefe Schuld — und stelle mich an das rechte Leid —
damit ich sühnen — sühnen kann! Gib dem Herzen meines Vaters die ersehnte Ruhe,
und lasse mich als Ruhelose wandern, bis mich Deine Milde erkennen lässt, dass
die Schuld — die grosse — gesühnt ist. O Jehova, o Herr und Gott Zebaoth! Um
Deiner grossen Liebe willen lass mich tragen dies Opfer und verleih mir dazu
Kraft und Willen! Amen! Herr Jesus, Du Helfer und Heiland! Auch zu Dir rufe ich
aus kindlichem Herzen und bitte Dich: Trage nicht nach meines Vaters Schuld und
sei Du ihm gnädig und barmherzig um Deiner grossen Liebe willen! Amen!" — — Und
von innen gestärkt ging das Mädchen in das Haus zurück.—
Judas hörte jedes Wort, sah die Gebärden seines Kindes, und während er die Worte
vernahm, war es ihm, als greife ihm eine Hand in die Brust und zöge aus seinem
Herzen ein viele Meter langes, rotes Band heraus. Da duckte er sich immer mehr
und mehr zusammen. Da glühte auf einmal der ganze Himmel auf, und wie Goldregen
funkelte es um ihn; und um ihn und sein Grab wurde im Durchmesser von 7 Metern
eine Lichtschutzwand aufgerichtet, die immer höher wuchs! —
Dismas aber fragte den Engel über die Bedeutung dieser gewaltigen Erscheinung
und erhielt folgende Antwort: „Siehe, lieber Freund! Die grosse, erbarmende
Erlöser- und Gottesliebe wurde dir hier sichtbar, wie sie auch Judas
wahrgenommen hat. Sie wurde hervorgerufen durch das Gebet reinster Kindesliebe,
die, um ihren Vater glücklich zu machen, selbst alle Schuld auf sich nehmen
wollte. Was wir hier erleben durften, ist die Geburt einer wahrhaften Frucht vom
Baume des Lebens. Nachdem das Gelöbnis ausgesprochen und hinausgestellt worden
ist bis an das Herz des grossen All-Erbarmers, wurde diese Liebe zurückgesandt
als Wahrzeichen der Erhörung und als Wellenbrecher feindlicher Einflüsse! Was
wir hier erleben, ist eine allergrösste Seltenheit und steht fast einzig da!!
Darum soll das Denkmal kindlicher Liebe für alle Unendlichkeit leuchten - und
zum Altar werden! Wir Engel und Diener Gottes aber neigen unser Haupt, beugen
die Knie und beten an!
Nun ist Judas gerettet! Was er aus sich selbst nicht vermochte, wird ihm nun
leicht gemacht aus dem freien, kindlichen Gottesleben seiner Tochter, Und die
herrliche Erlöserliebe hält mit neu erschlossenen Gnadenmitteln schon weiter
beide Hände hin! Darum habe acht auf alles, denn des Judas Wachstum, ist auch
das deine!!" (und auch das unsrige).
Judas richtete sich auf und sah wie in grosser Ferne das Licht, das herrliche,
goldene! Und nun sprach er zu sich: „O, wie tat meinem Herzen deine Rede wohl —
du liebes, gutes Kind, und wie schlecht komme ich mir nun vor. O Judith, du
möchtest tragen Strafe und Schande für mich! O Gott, kann es denn solche
Menschen geben? Kann es keine Möglichkeit geben, doch noch einen Ausweg zu
finden? Ach, wenn ich doch Jesum, den Meister, finden würde! Auf den Knien will
ich Ihn bitten solange, bis ich die Gewissheit habe, dass meinem Kinde diese
Liebe gelohnt würde und es nicht meine grosse Schuldenlast zu tragen braucht!
— Nun will ich ins Haus gehen und Judith suchen, damit ich ihr danken kann, wenn
sie es auch nicht bemerkt. —"
Und er ging in das Haus, und seine Lichtsäule mit ihm. Hier fand er Judith und
lehnte sich an sie, er gab ihr einen lieben, innigen Kuss und betete: „O, Jesus,
Du lieber, guter Meister! Erhalte dieses Kind in Deinem Herzen und lass mich
Dich finden in meiner Not, damit mir geholfen werde!" —
Darauf ging er zurück an das Grab. Dort traf er eine Rotte finsterer, verwegener
Gesellen, die da eifrig die Erde aufwühlten. Voll Neugier verfolgte er ihr Tun.
Ihre Reden liessen ihn erkennen, dass sie hier in dem frisch aufgeworfenen Hügel
— Gold oder Schätze vermuteten, und wie sie eifrig bemüht waren, recht bald auf
den Grund des Grabes zu kommen. Wie sie nun endlich soweit waren, fanden sie
statt Gold und Schäden natürlich Judas' Leichnam und waren arg enttäuscht. Da
sah einer von ihnen den Judas und rief:
„Da, Genossen, sehet, dort steht der Eigentümer dieses Leichnams, uns lässt er
aber graben und uns plagen. Ha, komme einmal näher! Wer bist du denn eigentlich?
Dich müsste man ja kennen! Komme nur und drücke dich nicht, denn du bist ja der
Töpfer Judas, der Betrüger und Dieb und, wie wir hörten, auch noch ein Verräter!
Kommt Genossen, er mag büssen seine Neugierde, uns zugesehen zu haben!"
Und so umringten sie ihn mit finsteren Mienen. — „Na, willst du nicht reden, du
Verräter und Lump, du Erzgauner du, heraus mit der Sprache!"
Sprach Judas: „Was habe ich euch getan, dass ihr mich schmähet und mir droht?
Wohl bin ich Judas und habe verraten meinen Herrn, aber dafür bin ich schon
jetzt genug bestraft. — Heute noch könnte ich bei Jesus, meinem Meister, sein
und könnte Seligkeiten geniessen. So aber bin ich einsam und allein und bin mir
nicht einmal bewusst, wie lange ich schon im Geisterreiche bin!"
Sprach einer der Genossen: „Hör auf, du Verräter, uns grosse Geschichten zu
erzählen, denn wo du gewesen bist, kümmert uns nicht. Dass du uns aber arbeiten
liessest, wo für uns kein Gewinn herausschaut, dies muss gestraft werden. — Also
los, schaufle schnell dein Grab zu, sonst geht es dir schlecht. Wir aber werden
weitergehen, denn wir wollen sehen, dass wir bald zu Gold und Silber kommen!" —
Judas schwieg, nahm eine Schaufel und füllte das Loch wieder zu. — Als er fertig
war, legte er die Schaufel beiseite und sprach zu ihnen: „Ja, wo wollt ihr denn
hin? Wir sind doch Geistwesen und benötigen nicht mehr Gold und Silber. Was wir
benötigen, ist eine Heimat, ein Ort, wo wir bleiben können!" —
Ein allgemeines Gelächter schallte dem Judas entgegen! — Sie sprachen: „Wir
Geister? Und kein Gold mehr brauchen? Du musst ja allen Verstand verloren haben!
Hast du denn bemerkt, dass unsere Welt eine andere geworden ist als die
materielle? Müsste sie bei einem Verräter anders sein, unsere ist immer noch die
alte! —"
„Liebe Männer", sprach Judas, „hört auf mich: Ich war ein Jünger des Jesus von
Nazareth. Seit ich hier nur einige elende Stunden hinter mir habe, ist mir ein
Licht aufgegangen über mein vergangenes Leben. Tief bereue ich mein verkehrtes
Tun, welches aus meiner verkehrten Gesinnung hervorgegangen war. Auch ich war
ein Streber nach Geld, Gut und Ehre. Wie oft musste ich aus dem Munde des Herrn
hören: dass alles Gold und alle Schäle der Erde zu nichts nütze sind, und wir
alles verlassen müssen, wenn wir unseren Leib ablegen. Ich habe es jetzt erst
erfahren müssen, dass ich der Allerärmste war und noch bin. Ihr müsst es gewiss
zugeben, dass ihr ebenso arm seid wie ich, und dass alles, was ihr Geld und
Reichtum nennt, nur in eurer Phantasie lebt. Wie auch diese Welt, in der wir nun
leben, — nur eine Schein- und Phantasiewelt ist. Ich kann euch den Beweis
erbringen, dass diese eure jetzige Welt keinen Bestand hat. Kommt mit mir nach
Jerusalem, dort liegt der Tempel in Trümmern, der seit 100 Jahren vom
Hohepriester Etzasib mit seinem Anhang beherrscht und bewohnt war. Weil der
Meister den Bewohnern dieses Scheintempels helfen wollte, liess Er dieses
Schein- und Truggebäude zusammenstürzen. Während alle dann den Worten des Herrn
glaubten und sich von Ihm auf einen neuen Weg des Lebens führen liessen, blieb
der Hohepriester hartnäckig und lebt noch dort in den Trümmern! — Kommt,
überzeugt euch selbst von meinen Worten. Und wenn ich gelogen habe, dann könnt
ihr mir soviel antun, wie ihr nur wollt, dann will ich alles geduldig ertragen.
Habe ich aber die Wahrheit gesagt, dann dürft ihr mir auch weiter glauben, dass
euer Scheinleben ein verlorenes ist!" —
Ein weiteres Gelächter erfolgte, aber der Anführer sprach: „Höret, die Sache
wäre zu überlegen, wir versäumen nichts. Und sollte Judas recht haben, dass der
schöne und stolze Tempel in Trümmern liegt, dann wäre für uns eine grosse Beute
zu erwarten, denn der Tempel birgt grosse Reichtümer!"
Dieser Vorschlag gefiel; und dann sprach der Anführer weiter: „Freue dich aber,
Freundchen, wenn du uns belogen hast, dann zerstückeln wir dich!"
Unter Gröhlen, Schreien und Fluchen ging es fort, der Judas aber wurde in der
Mitte gehalten.
Wehmütig schaute sich Judas nach Bethanien um und schickte im Herzen Segen um
Segen und Bitte um Bitte zu seiner Tochter Judith. Manchen Spott musste er
hören, aber wenn er etwas sagen wollte, musste er schweigen. — Nach langer,
mühseliger Wanderung erblickten sie von ferne Jerusalem. Aber keine Tempelzinnen
leuchteten ihnen entgegen, sondern, wohin sie sahen, stand eine dunkle
Rauchwolke. — Da sprachen sie untereinander, ob Judas wohl recht habe ? — In
kurzer Zeit waren sie bei den Trümmern des Tempels angekommen und gingen um die
Brand- und Trümmerstätten herum. — Die Genossen hatten jetzt keinen Sinn mehr
für Judas, sondern fingen an, bei und unter den Trümmern nach Schäden zu suchen,
soweit es Rauch und Hitze erlaubten. Judas sah sich unterdessen nach dem
Hohepriester um und dachte, ob er wohl noch hier sein würde? Wie er aber auf dem
weiten Trümmerfeld suchte und herumkletterte, kamen aus einem Kellerloch der
Hohepriester mit noch einigen Priestern heraus und fielen über Judas her,
stiessen und schlugen ihn, bis er bewusstlos niederfiel. Doch zuvor rief er
noch: .Herr Jesus, hilf mir!" Das hörten die Genossen. Wie sie sahen, was
geschehen war, eilten sie dem Judas zu Hilfe, und der Sprecher namens Josef
fragte voll Wut: „Warum schlägst du Judas? Was hat er dir getan?"
Voll Erbitterung schrie der Hohepriester: „Euch wird es auch gleich so ergehen
wie diesem Verräter da. Erst verrät er seinen Meister, dann mich, und jetzt
führt er sogar eine Meute Verbrecher hierher, um Rache zu nehmen, weil ich ihm
drohte, ihn zu vernichten!" —
„Elender Heuchler du", antwortete Josef, „runter mit deinem Heuchlerkleid, wir
werden dich Rache nehmen lehren — von wegen Verbrecher! Merke dir, mit keinem
Wort hat Judas dir Schaden zufügen wollen. Er führte uns nur hierher, um uns zu
beweisen, dass wir im Jenseits sind! Und nun sehen wir: Judas hat recht, hat uns
nicht belogen, darum steht er unter unserem Schutze. Du aber hast deine
Herrlichkeit jetzt ausgespielt in deinem Lügenreich. Kommt Brüder, angefasst,
mit diesem Gauner auf nach Golgatha, ans Kreuz, wohin er gehört, damit er
niemandem mehr schaden kann!"
In diesem Augenblick kam Judas wieder zu sich, Josef ging hin zu ihm, stützte
ihn und sprach: „Hat er dir eins ausgewischt? Er soll dafür büssen! Komme nun
hoch, damit dir wieder besser wird." —
Und nun war Judas wieder auf den Beinen und sah, wie sie den Hohepriester
ausgezogen und an den Beinen gefesselt hatten. Da fragte er: „Warum tut ihr das?
Er hat euch doch nichts zuleide getan."
Sagte Josef: „Uns nicht, aber dir, und das ärgert uns! Wäre er ein Wegelagerer
wie wir, so könnten wir das verstehen, aber er ist ein Gottesdiener. Darum büsse
er, er wird gekreuzigt auf Golgatha! Kommt, anfassen, es geht los, und du,
Bruder Judas, hältst die Leichenrede, dieweil wir ihn kreuzigen!"
Judas: „Haltet ein, so nicht, wir wollen nicht noch grössere Schuld auf uns
laden, wollen vergessen, dass er Schlimmes mit uns vorhatte. Kommt, lasst ihn
los, es wird bestimmt euer Schade nicht sein. Euch hat er nichts getan, und ich
bin froh, endlich einmal Gelegenheit zu haben, nach dem Willen des Meisters
handeln zu können. Er sagte: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!
Deshalb helft mir, seine Bande zu lösen. Bleibt er dann in seiner
Halsstarrigkeit und Wut, nun so möget ihr mit ihm machen was ihr wollt. Ist er
aber geneigt, anders zu werden, dann soll er frei sein; denn, Brüder, er ist in
unserer Hand, wir brauchen ihn doch nicht zu fürchten!"
Darauf wandte Judas sich an Etzasib und sprach: „Nun, lieber Freund, du hast
alles mit angehört. Wie gedenkst du dich zu verhalten? Willst du weiter toben,
oder willst du, wie wir, jetzt Ruhe und Frieden halten? Du hast gehört, was dir
jetzt blüht, überlege nicht lange und bitte die Brüder um Verzeihung!" Da lösten
die Männer tatsächlich, ohne dass einer widersprach, die Fesseln von dem
Hohepriester. Nun war er frei, und Judas erbarmte sich des nackenden Etzasib,
zog seinen Mantel aus und legte ihn dem frierenden Mann um. —
In diesem Augenblick kam Dismas und hing dem Judas auf Geheiss des Engels einen
neuen Mantel um. — Da erkannte Judas den Dismas. Voller Freude umarmte er ihn
und sprach: „O, dass du wieder da bist, nun trenne ich mich nicht mehr von dir,
ich habe bittere Zeiten erlebt!"
Da antwortete Dismas: „Lass gut sein, Bruder Judas, ich weiss um alles, ich war
immer mit dir und fühlte all dein Leid und Weh. Hätte ich nicht die Verheissung
gehabt, dass dir geholfen werde, ich wäre vor Schmerz vergangen. Aber nun,
Bruderherz, beschäftigen wir uns nicht mehr so viel mit uns selbst. Denn unsere
Aufgabe heisst: „Helfen! und soweit du anderen hilfst, wird auch dir geholfen
werden!"
Sprach Judas: „Ist gut, dass du mich daran erinnerst. Bin doch immer noch der
alte Judas!" Er nahm nun Dismas' Hand, führte ihn zu seinen Gefährten und
sprach:
„Hier sehet ihr meinen Freund Dismas, der mir die erste Hilfe in dieser Welt
gebracht hat. Ich hatte ihn verloren, aber Gott sei Dank, jetzt habe ich ihn
wiedergefunden, und nun verlassen wir uns nicht mehr. Und zwar wir alle nicht!
Einverstanden? Wir bleiben zusammen!!" — Der Hohepriester stand abseits und
sprach kein Wort. Aber Josef, der Älteste der Genossen, ging auf Dismas zu und
sprach:
„Ja, Freund, wir kennen uns doch, wo kommst du denn her? Wir haben dich ganz aus
den Augen verloren seit dem Gefecht, wo uns die Römer so zugesetzt haben — dich
hatten sie ja erwischt! Wir sind im Kampf gefallen. Es war ja auch zu ungleich,
und jetzt treffen wir uns wieder!"
Dismas erkannte seinen alten Kameraden und sprach: „Ja, lieber Josef, die Zeiten
ändern sich schnell. Ich wurde verurteilt und mit Gesmas zusammen am Kreuze
erschlagen. Mit uns wurde zugleich der grosse Nazarener gekreuzigt. Dort im
Todesringen habe ich auf die einzige Bitte hin, die mir aus tiefstem Herzen kam,
eine helfende Hand ergreifen dürfen, und zwar — die rettende Hand des Jesus von
Nazareth. Nur Ihm danke ich mein Sein und habe Gnadenbeweise über Gnadenbeweise
erleben dürfen von der erlösenden Liebe Jesu, des Heilandes! Nur Dankbarkeit
kennt mein Herz, Dankbarkeit für solch grenzenlose Liebe und Dankbarkeit dafür,
dass ich gewürdigt bin, zu helfen! — Sagt, Brüder, verabscheut ihr nicht euren
gegenwärtigen Zustand ? Habt ihr nicht Lust, ein Leben voller Glück und
Zufriedenheit zu führen? Dies wird euch und allen zuteil, die aufhören, nur auf
sich selbst zu sehen. Denn hier im Reich der Geister wird anders gewogen und
anders bewertet als im irdischen Sein! Fraget doch diesen armen Menschen, den
Hohepriester, wie lange er sich schon in dem sogenannten Jenseits befindet — und
wie weit er schon bis jetzt gekommen ist. Hätte die erbarmende Jesuliebe ihm
nicht seinen Scheintempel genommen, dann wäre er in tausend Jahren immer noch
der Schein-Hohepriester! Nur der Liebe aus Jesus hat er es zu danken, dass er
jetzt des Judas Mantel trägt!" —
„Ach, Dismas ", unterbrach Josef seinen alten Kampfgenossen und Anführer, „was
erzählst du uns alles?! Wir hatten doch gar keine Sehnsucht danach, anders zu
leben und zu werden. Freilich, ich glaube nun euch beiden, und die Frage wäre
jetzt die: was gedenkt ihr eigentlich mit uns zu tun ? Wie ich sehe, seid ihr
eben solch arme Teufel wie wir. Dass uns Gold und Silber nichts mehr nützen
können, sehe ich nun ein. Aber wohin mit uns? Blut klebt an unseren Händen, Raub
und Brandstiftung war unser Leben!! Jetzt auf einmal soll das alles vergeben und
vergessen sein ? Kaum glaublich! Wo uns nun offenbar wird und auch alles wahr
ist, was uns in unserer Jugend gelehrt wurde, z. B. dass es nach dem Tode ein
Weiterleben gibt, so wird auch das kommende Gericht Wahrheit sein, dass wir alle
verloren sein werden! Du selbst warst doch vom gleichen Schlage wie wir, auf wen
und auf was willst du dich denn berufen, wenn das Gericht kommt?
Von jenem Nazarener sprichst du, wie auch schon der Judas. Aber hat denn der die
Macht und das Recht, Sünden zu vergeben? Und kann er ohne weiteres über Menschen
verfügen, die dauernd das Gegenteil taten von dem, was er lehrte? — Da sieh
einmal den Judas an, an dessen Händen klebt weder Blut noch Raub. Er war lange
Zeit bei dem Nazarener, zog mit ihm als ein Jünger durch die Lande und war doch
sozusagen sein Freund! Hier ist aber Judas ebenso schlecht bestellt wie wir.
Sein Jesus hat ihn schön im Schlamm sitzen lassen. Wir hätten ihn zerstückeln
können, als er in unsere Hände fiel, und auch der Hohepriester hat ihn
bewusstlos geschlagen. Und kein Jesus ist gekommen, ihm beizustehen. Nein,
Dismas, wenn du uns zu deinem Standpunkt verhelfen willst und kannst, musst du
uns klaren Wein einschenken und dein Recht beweisen!"
Hier stutze Dismas, und wie er keine Antwort wusste, ging er ein paar Schritte
zurück zu seinem Engelsführer und bat ihn, ihm doch beizustehen. Der Engel
nickte mit dem Kopfe und sprach:
„Ja, mein Freund, wenn du mich bittest, dann darf ich dir auch helfen und tue es
gerne. Aber warum wendest du dich in deiner Not nicht an Jesus, den Herrn! — in
deinem Herzen? Weisst du denn überhaupt, ob mich deine Freunde anerkennen und
auf mich hören werden? Frage sie zuvor, ob sie auch damit einverstanden sind!"
Da ging Dismas wieder zurück und sagte zu Josef: „Höre, hier ist noch jemand in
der Nähe, der schon lange ein Bewohner des Geisterreiches ist, der kann uns auf
alle Fragen den rechten Bescheid geben und uns auch über Jesus das rechte Licht
zeigen. Wollt ihr ihn anhören an meiner Statt ?"
„Mag er kommen", antwortete Josef, „die Hauptsache ist, dass er uns Klarheit
gibt und geben kann. Wir sind bereit, ihn anzuhören!" —
Da trat der Engel hinzu und sprach: „Seid mir gegrüsst, liebe Freunde, ihr
bittet mich um Aufschluss über Jesus. Sehet, ich bin ein uralter Bewohner dieser
Geisterwelt und kenne ihre Ordnung wohl. Ich bin ein Diener meines Herrn und
Gottes und bin auch nur hier, um Seinen Willen zu erfüllen — und der lautet:
Demjenigen Hilfe zu bringen, der um Hilfe bittet! Demjenigen Wahrheit zu geben,
der danach verlangt! Nun frage ich euch, wollt ihr mir Glauben schenken oder
achtet ihr mich wie einen, der aus Rechthaberei spricht?" —
Da antwortete ihm Josef: „Wir kennen dich nicht, und doch nennst du uns ‚liebe
Freunde'; weisst du auch, wer wir sind? Es ist gefährlich, mit uns zu verkehren,
denn wir sind Räuber und vielfache Mörder. Zwar waren wir Soldaten, aber das
vergossene Blut hat uns immer gieriger gemacht. Darum ist es nicht gut, sich mit
uns abzugeben. Denn, wenn es uns schlecht geht, so können wir nicht dafür
garantieren, dass es nicht auch dir schlecht ergehen könnte. Wir haben schon
viele Erfahrungen gemacht und glauben daher auch unserem Anführer Dismas nicht
so ohne weiteres. Weil du uns aber ,liebe Freunde' nennst, müssen wir dich schon
um deiner selbst willen lieber fortschicken, denn, wie gesagt, bei uns ist nicht
gut sein!"
Da lächelte der Engel dem Josef zu und sprach: „Freunde, sorgt euch nicht um
mich, denn ich bin ein Diener Gottes und brauche nichts zu fürchten. Nur weil
Jesus, meinem Herrn, eure Rettung am Herzen liegt, bin ich hier. Ihr schimpft
wohl auch auf Ihn und zweifelt, weil Judas noch fern von Ihm ist. Ich aber sage
euch: Wohl ist Judas noch fern von Jesus, wie auch ihr noch fern von Ihm seid.
Jesus aber ist euch nahe und ist euch allezeit am allernächsten. Es liegt also
nur an euch, euch zu Ihm hinzuwenden und Ihn mit eurer ganzen Liebe
festzuhalten! Aber hier im Geisterreiche geht die ganze Entwicklung langsamer
vonstatten als im Erdenleben, weil jeder in seiner eigenen Welt lebt und nur mit
denen zusammentrifft, die mit ihm gleichen Geistes und Sinnes sind. Es kommt im
allgemeinen niemand zu ihm, der ihm ein Licht anzündet! Vielmehr muss alles von
innen heraus geboren werden, nämlich: aus euren eigenen Herzen — und das ist ein
langer Weg! — Aber ihr sahet Judas in seiner Not und Armut und durftet mit ihm
zusammentreffen. Sehet, dies wollte Jesus — da ihr alle mit Judas und Dismas
eines Geistes seid. Weil Dismas nur auf seine Bitte einen Führer bekam und sich
nun rasch zum Lichte entwickelt, so seid ihr auch dieser Entwicklung mit
angeschlossen, wenn ihr nur wollt und willens seid, mit ihm eins zu bleiben. Die
Pflege übernimmt Dismas für Judas, und dieser eure Pflege, aber zuvor muss die
rechte Willenseinheit hergestellt werden. Sobald ihr in Liebe und Eintracht euch
die Hände reicht, seid ihr imstande, eine Stufe höher zu steigen auf dem Wege
zur Vollkommenheit. So bittet vorerst Judas und Dismas um Verzeihung, da ihr
ihnen mit eurem Spott über Jesus von Nazareth sehr weh getan habt. Der Meister
hat es ohnehin euch schon vergeben, weil ihr es aus Unwissenheit getan habt!"—
Da antwortete Josef, der in seinem Herzen den Engel schon sehr lieb gewonnen
hatte: „Ja, höre, du Gottesdiener, du kommst jetzt mit ganz anderen Dingen, als
wir gedacht haben. Wir erwarteten von dir Beweise, dass wir verkehrt gelebt und
gehandelt haben und noch verkehrt leben und handeln. Du aber sagst nichts davon
und willst nun, dass wir Judas und Dismas um Verzeihung bitten sollen. Wir
kennen bis jetzt nur Gewalt und geben diese auch ohne weiteres nicht aus der
Hand. — Brauchten wir nicht Gewalt, um Judas aus der Hand des Hohenpriesters zu
retten, wäre es ohne Gewalt überhaupt möglich gewesen? Da müssen wir wohl auch
noch den Hohenpriester um Verzeihung bitten?" —
„Meine lieben Freunde", sprach der Engel, „den Hohenpriester braucht ihr nicht
zu bitten, da ihr ja in eurer Hilfsbereitschaft zu Judas euch habt hinreissen
lassen. Er aber wird euch noch mit dem Herzen um Verzeihung bitten müssen, da er
es bisher nur mit dem Munde getan!" —
Hier trat der Hohepriester im Mantel des Judas vor und fragte:
„Was, ich soll nochmals um Verzeihung bitten? Erst werden meine Kleider nicht
beachtet, die doch das Zeichen meiner hohepriesterlichen Würde waren. Dann
werden sie mir vom Leibe gerissen, und schliesslich werde ich beleidigt bis zum
Tod! Und das nennst du seinwollender Gottesdiener Fortentwicklung? Wenn ich nur
könnte, wie ich wollte, ich würde es euch allen beweisen!" —
„Etzasib, schweige vorerst", rief ihm der Engel zu, „du beharrest auf deinem
Standpunkt und auf deiner dir eingebildeten Würde. Ich aber sage dir: wärest du
Jesus gefolgt, als er dich einlud, und hättest Seinen Worten geglaubt, so wärest
du nun voller Freude und Wonne, und dein Tempel stünde jetzt noch zum Segen für
Arme und Verirrte. — Euch allen sage ich nochmals: dass wir eines Sinnes werden
müssen, ehe es zu neuen Wegen weitergeht. Harmonie muss zwischen uns sein, und
das geht nur auf der Grundlage der Verzeihung! —
Oder wollt ihr es weiter treiben wie bisher? -- Sehet, Judas gab euch den
Beweis, dass ihr nicht mehr auf der Erde lebt, deshalb seid ihr ja auch mit ihm
gegangen. Und da ihr nun diese Gewissheit habt, dass ihr als Geister lebt, so
müsst ihr logisch folgern und endlich anfangen, bewusst ein geistiges Leben zu
führen. Denn Jesus hat gesagt, dass, wer Seiner Lehre nachfolgt, auch leben
wird! Ihr müsset zugeben, dass ihr lebt, aber es ist ein Leben voller Jammer und
Angst. Werdet ihr aber nach Jesu Worten handeln, dann werden Frieden und Freude
und Erfüllung euer sein! So frage ich euch: Wann habt ihr in dieser Welt
eigentlich das letzte Mal gegessen und getrunken, und wann seid ihr denn das
letzte Mal mit anderen Menschen zusammengekommen?" — —
Hier schaute Josef seine Freunde an und sprach:
„Ja, freilich, dass wir noch nicht daran gedacht haben! Wir haben weder gegessen
noch getrunken, haben aber bis jetzt auch weder Hunger, noch Durst verspürt.
Getroffen haben wir auch noch niemanden - ausser euch, mit denen wir jetzt hier
beisammen sind!" —
„Da habt ihr schon viel zugegeben", sagte der Engel, „und so habt ihr auch
wieder einen Beweis, dass euch Judas die Wahrheit gesprochen. Nun weiter! Auch
habt ihr von Jesus, dem Heiland, gehört. Wie kommt es, dass ihr keine Lust habt,
Ihn kennen zu lernen? Ich will euch sagen: Ihr habt in euren Herzen wohl ganz
gut geahnt, dass ihr dann hättet euer Handwerk lassen müssen, denn Jesus ist
Liebe und Gerechtigkeit. Diese legte fürchtet ihr und scheut euch deshalb, mit
Ihm zusammenzukommen! Ihr wisset genau, dass dies die Wahrheit ist, aber ich
sage euch: Solange euch noch Furcht ankommt vor Ihm, und ihr Ihn flieht und
meidet durch euer Tun wie bisher, solange kann auch euch nicht geholfen werden!
Höret aber weiter: Jesus lebt! Sein Leben ist Majestät! Macht! Und
Vollkommenheit! Er weiss alle Dinge! Er weiss auch, dass wir jetzt von Ihm
reden! Er kennt alle eure Not und hat mich ausgesandt, euch helfend zur Seite zu
stehen! — Meine Heimat ist Licht — und ein Sein — voll tätigen Lebens!
Die Erde ist nur ein Prüfungstal — nur eine Schule! Dort kann sich der Mensch
auf steinigen oder dornigen Wegen zu den Höhen seines Herzens emporringen und
sich eine bleibende, freie und selbständige, ewigbleibende Welt erbauen; und
sich dort aus einem Geschöpf zu einem göttlichen Wesen neu gebären!! — Ihr
stecket noch tief in den Sphären eurer Erdenwelt. Ehe ihr aber nicht werdet
wiedergeboren sein, solange werdet ihr in diesem elenden Zustande verbleiben! —
Wir Diener Gottes haben die Aufgabe, denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen
und die den Vater im Himmel anrufen, der unser Gott und König ist von Ewigkeit!
Aus meinen Worten vernehmt ihr, dass sie einem heiligen Ernst entstammen. Wohl
habe ich alle Macht über euch und könnte euch zerstreuen, dass ihr wieder allein
wäret; — jeder für sich! Aber das will die Gottesliebe nicht, und so könnt ihr
alle, wenn ihr aus freiem Willen folgt, einem besseren Sein entgegengehen!!“ — —
Da wandte sich Josef an seine Genossen und sprach: „Ihr alle habt gehört, was
uns der Fremde erzählt hat. Er ist bestimmt in keiner schlechten Absicht zu uns
gekommen, und ich habe in meinem Herzen ein grosses Vertrauen zu ihm gewonnen.
Meine Ansicht ist die: folgen wir ihm, weg von hier, je eher, desto besser!
Meint ihr nicht auch, dass es das Beste ist?" —
Alle sechs gaben ihm recht, aber einige flüsterten untereinander und fragten
sich, ob es nicht in ein Strafgericht gehen könnte?! —
Da kam der Engel und sprach zu ihnen:
„Liebe Freunde, ich hörte eure Sorgen wohl, obwohl geflüstert! Mir ist nichts
von und vor euch verborgen. Aber ich verstehe euch und versichere euch deshalb,
dass es mit der Strafe für ewig vorbei ist, wenn ihr mir folgt! Nur gutmachen
müsst ihr, was ihr verbrochen! Denn eure Schuld fordert hier keine Sühne mehr,
nur Reue, Busse und Opferwilligkeit, d. h. einen neuen liebevollen und dienenden
Sinn!! — Wenn ihr nun wollet, könnt ihr euer jetziges Leben eintauschen — gegen
ein Leben der Freude!"
Jetzt antwortete Josef dem Engel: „Höre, lieber Freund, deine Rede klingt
lieblich, ein Reiz liegt in deinen Worten, sodass ich nichts mehr dagegen sagen
kann I — — Kommt, Brüder, lassen wir das alte Leben hier, wir folgen gern, und
nun sage du uns, was zu tun ist." — Da wandte sich der Engel um, und nun
erblickten alle in nicht zu weiter Ferne ein niedliches kleines Haus, das an
einem Hügel stand. „Dorthin folget mir, damit wir uns stärken, und ihr einmal
ein wenig schmeckt von der Liebe Jesu, die euch diese Freude bereitet!" —
Der Engel ging voran, und die sieben folgten ihm. — Judas blieb stehen. Darum
wartete auch Dismas und fragte ihn:
„Bruder, willst du nicht mitgehen?"
„Doch", antwortete Judas „aber siehe, ich bin nicht eingeladen, und zudem steht
auch Etzasib noch hier. Soll ich den Armen wieder verlassen?"
Da fragte Dismas den Etzasib, ob er nicht auch mitkommen wolle, und wie dieser
bejahte, da war auch Judas zufrieden, und nun eilten die drei den anderen nach.
— —
Wie sie am Hause ankamen, öffnete ihnen ein alter ehrwürdiger Mann mit gütig
dreinschauenden Augen die Türe und hiess sie herzlich willkommen. Er führte sie
dann in das Zimmer, in dem sich der Engel mit den sieben schon befand. Ein
grosser langer Tisch mit Bänken stand in dem grossen, schönen und gastlichen
Raum.
„Hier bringe ich noch drei Nachkömmlinge", sagte er, „und nun nehmet Platz und
macht es euch recht bequem, ich bringe unterdessen Brot, Salz und Wein!"
Der Engel begrüsste Judas und sagte zu ihm:
„Höre, Freund, dass ich dich nicht eingeladen habe, hat seinen Grund darin, dass
du ein Wissender bist und aus dir schon frei handeln kannst. Du hast recht
gehandelt, dass du gekommen bist, und besonders, dass du Etzasib mitgebracht
hast. Darum sollst du auch die Freude erleben, was es heisst, geliebt zu haben!"
—
Der alte freundliche Wirt kam und deckte den Tisch mit Brot, Salz und Wein und
ermunterte sie, kräftig zuzugreifen. — Und zum ersten Male nahmen sie im
Geisterreiche Speise und Trank zu sich. Nachdem sie sich recht gesättigt hatten
und sich wieder gestärkt fühlten, fing Judas zu erzählen an und sagte: „Liebe
Brüder! Dieses Mahl war wieder einmal so wie damals, als ich noch bei Jesus
weilte auf der Erde und an Seinem Tisch sass. Es mochte noch so wenig
erscheinen, was auf dem Tische war; satt wurden wir immer Alle - und wenn wir
noch so viele waren. O, wie wäre es doch schön, wenn der Meister wieder in
unserer Mitte weilen würde! Wo mag Er nun sein? Könnten wir nicht zu Ihm gehen
und bei Ihm bleiben?" —
Der Engel aber antwortete: „Mein lieber Judas, so konntest du als Mensch wohl
sagen: wir wollen hingehen, wo der Meister weilt. Doch jetzt sind wir im
Geisterreiche, und Jesus ist in Wahrheit überall. Du musst Ihn in deiner eigenen
Welt erst gebären. Dies geht nur vor sich durch innere grössere Liebe zu Ihm,
die sich in immer grösserem Dienen ausdrückt!! Das sind Bedingungen, die nötig
sind, Ihn zu finden und die Wege, die zu Ihm führen! — Siehe, du hast noch ein
Versäumnis gutzumachen, denn ein Irrender wartet auf dich: Gesmas auf Golgatha!
Ein gangbarer Weg zum Herrn ist das Empfinden in dir, dass ein Hilfesuchender
nach dir verlangt. Gesmas wäre froh, wenn er dich zur Gesellschaft hätte, denn
die Langeweile, die er erlebt, ist eine furchtbare Strafe. — Längst bereut er,
dass er seinen Spott mit dir getrieben hat, darum gebe ich dir den guten Rat,
eile hin nach Golgatha. Bringe Gesmas hierher, damit sich alles wieder
zusammenfinde!" — —
Die anderen bestürmten Judas, sie möchten mitgehen, aber der Engel sagte: „Nein,
liebe Freunde, Judas geht allein, denn er hat diese Mission zu erfüllen. Es sei
denn, er bittet jemanden, ihn zu begleiten!" — Da bat Judas den Dismas,
mitzugehen, weil er sich nicht mehr von ihm trennen wollte. — So gingen die
beiden nach der Richtstätte Golgatha. Nun konnte Judas alles erkennen, denn es
war abendlich hell, und voller Freude unterhielt er sich mit Dismas. — Sie
sprachen über alles, was sie bisher gemeinsam erlebt, und Judas musste oft über
die Weisheit des Dismas staunen. Aber er ärgerte sich nicht darüber, sondern
gewann ihn noch lieber. — Wie sie nun bald angekommen waren, sagte Dismas: „Hier
handelt es sich nicht allein um Gesmas! Es handelt sich auch um uns und viele,
viele andere, die genau so eingestellt sind, wie wir es waren. Denn nicht nur
auf der Erde leben die Menschen im Hochmuts- und Geldgiergeist, sondern auch
hier im Geisterreiche! Denk' mal an den Hohepriester Etzasib! Die Templer wollen
uneingeschränkt herrschen und dulden niemand an ihrer Seite. Gott kennen sie
überhaupt nicht — nur Sein geschriebenes Wort. Und auch dieses nur von aussen,
und sie verkünden es so, dass dabei immer nur für sie selbst Erfolg und Vorteil
daraus erwächst. Darum war ihnen Jesus verhasst, weil Er einen Weg gezeigt hat,
der zu Gott führt ohne Mittler. Er war ihrer Herrschsucht im Wege, und deshalb
haben sie Ihn ans Kreuz geschlagen. Siehe, auch du warst ihnen als Werkzeug
recht. Aber als sie ihr Ziel erreicht hatten, stiessen sie dich beiseite. Jetzt
aber wollen wir Werkzeuge sein in der Hand Jesu. Da dürfen wir aber die Geizigen
und Hochmütigen nicht bekämpfen, wie mich der Engel belehrt hat, sondern müssen
in der Habsucht und im Hochmut Wunden und Krankheiten sehen, die wir heilen
wollen durch Demut, Hingabe und freudiges Dienen!! Nur was wir bei anderen
gutmachen können, ist zurückgewonnenes Gut! Nur, was wir bei anderen
ausgleichen, wird bei uns ausgeglichen sein! Und bedenke, dass uns mächtige
Engel zur Verfügung stehen, wo unsere Kräfte nicht ausreichen!" — Judas bejahte
das alles aus offenem Herzen. Nun wurden beide still und gingen schweigsam ihren
Weg. Nach einer geraumen Weile sahen sie schon den Hügel Golgatha, und endlich
kamen sie bei Gesmas an. Er kauerte auf dem Holzbalken, der Judas und ihm bald
zum Verhängnis geworden wäre, und murmelte vor sich hin:
„Es ist doch so, wie ich mir schon hundertmal vorerzählt habe; keine Seele lässt
sich mehr blicken, mit der ich abrechnen könnte. Das Schlimmste ist die
Finsternis. Eine Ewigkeit lange Nacht. So kann ich warten, wie ich will, und
wenn schon jemand käme, so würde ich ihn nicht sehen. O, Jammer, es ist ein
grausames Elend hier in der Geisterwelt. Zahllos viele Menschen sind doch schon
gestorben!!, und mir ist nicht einer begegnet!! Wäre ich doch mit Judas
gegangen, dann hätte ich wenigstens jemanden. Hm, ja, es ist, wie ich schon oft
sagte: Als Mensch gehetzt wie ein Tier, und als Mensch im Geisterreiche
verlassen und vergessen. Wenn das allen so ergeht, dann kann ich den Nazarener
nur bedauern. O, Du armer, dummer, guter Mensch, auch Dich hat man gehetzt bis
hierher an das Kreuz, und jetzt wirst Du vergessen sein und in Nacht
schmachten?!—"
Wie er so sprach und zum ersten Male ohne Wut, sogar mitleidsvoll, des
Nazareners gedachte, da war es ihm, als zöge jemand einen Vorhang von seinen
Augen. Er konnte wieder sehen. Zwar war es noch nicht richtig hell, aber er
erkannte doch, dass die beiden Männer vor ihm standen. — Nun trat Judas vor ihn
hin und sprach:
„Mein Freund Gesmas, ich, Judas, bin wiedergekommen, um dir zu helfen. Ich habe
Gottes Gnade erfahren und habe dir noch einen Freund mitgebracht. Wenn du
willst, kannst du mit uns gehen, denn auf dem Hügel Golgatha wollen wir doch
nicht bleiben! —"
Gesmas jubelte vor Freude! „Du Judas - und du, Dismas! O, erzählt, wo kommt ihr
her und wo wollt ihr hin? Ja, nehmt mich mit, aber schnell, ehe es euch gereut!
Konntet Ihr nicht eher kommen ? Hier werden Jahre zu Ewigkeiten! Du warst doch
schlauer, Judas, du gingst fort und hast nun den Dismas wiedergefunden, während
ich hier seit damals auf Menschen warte. Aber es ist keiner gekommen, niemand.
Vielleicht ist die Welt besser geworden, weil niemand mehr gekreuzigt wurde nach
uns! Aber Dismas, sage, wie war es bei dem Nazarener im Paradiese ? Warum hast
du Ihn verlassen? Wo, ach, ich bin ganz verwirrt, das kommt wohl von dem langen
Warten und von meiner Freude jetzt!" —
Antwortete ihm Dismas :
„Lieber Bruder, rede nicht so viel und sei geduldig. Wir helfen dir gerne, aber
dafür müssen wir die Gewissheit haben, dass du deinen Hass- und Rachegedanken
hier lassen wirst. Denn mit kindlichem Herzen kannst du uns nur folgen, wohin
wir gehen! Dort gelten nur Liebe, Erbarmung und Opfersinn. Und so musst du schon
einen guten und fest entschlossenen Willen haben! Nun, magst du mitkommen mit
uns?" — Gesmas: „Ja, meine Freunde, freilich will ich, ich folge überall hin, wo
es schöner ist als hier. Um aber ehrlich zu sein, sage ich gleich, dass ich
meine Wut und meine Rache nicht so ohne weiteres ablegen kann. Du tust ja
gerade, als wenn ich meine Rache wie einen Rock oder Mantel nur auszuziehen
brauchte, um ihn hier liegen zu lassen. Nein, so schnell geht es nicht, da müsst
ihr schon etwas Geduld mit mir haben. Aber ich gehe mit, wenn ich darf. Du wirst
mich doch nicht wieder verlassen, Judas ? —"
Judas: „Mein Gesmas, du kommst mit, aber es ist nur unter der einen Bedingung
möglich, die du von Dismas gehört hast." —
Da sprach Dismas weiter: „Wenn du dich wahrhaft von Grund auf ändern willst,
wollen wir dir gerne beistehen und dir helfend zur Seite gehen. Denn wenn du
mitgehst, wirst du dich bequemen müssen, denen zu dienen, die dich erschlugen.
Und wirst diejenigen, denen du Arges tatest, bitten und dich ihnen beugen
müssen, damit dir verziehen werde. Ich sage dir ganz ernstlich, dass es mit dir
viel schlimmer steht, als du denkst! — Wo wäre ich jetzt, hätte mir Jesus Seine
Gnade vorenthalten, und wo wärest du, wenn Jesus, Der Allerbarmer, Sich nicht
deiner erbarmt hätte! — Denn wisse: dort, wo der Tempel in Trümmern liegt, da
ist so mancher Hochmut und Hass begraben. Und so würdest auch du unter den
Trümmern deiner eigenen Welt begraben liegen, und Ewigkeiten würden vergehen,
ehe du dich selbst wiederfinden würdest. Darum sei willig - und folge gerne;
denn noch ist es nicht zu spät!" —
Da fasste Gesmas nach der Hand des Dismas und sprach: „Freund und Bruder, deine
Worte sind wie ein Schwert, aber auch wie ein Balsam zugleich. Ich will nach
deinen Worten tun, so gut ich kann — aber helft mir, Brüder, ich habe ja gar
keine Hilfe ausser euch! O, hätte ich den Nazarener nicht gekränkt, als Er
zwischen uns hing und litt — das ist mein neuer Kummer! Ich will Ihn um
Verzeihung bitten, wenn ich Ihn treffen sollte!"
Wieder wurde es heller um ihn, da sagte Dismas: „Mein Bruder, der Heiland hat
dir schon vergeben, weil du Ihn im Herzen darum gebeten hast. Wenn du nun Seinen
Anweisungen durch uns getreulich folgest, wirst du die Herrlichkeit Seiner Güte
und Erbarmung bald erleben! Nun kommt, lasst uns gehen, es warten viele auf uns!
— Du aber, Du gnädiger Gott, sei uns weiterhin gnädig und barmherzig, damit wir
Deine Wege wandeln können! Amen!"
Darauf gingen sie den Berg hinunter, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Doch plötzlich blieb Judas stehen und sprach: „Liebe Brüder, wartet hier einige
Minuten auf mich, ich habe etwas vergessen!" —
Gesmas aber erwiderte: „Etwas vergessen?, du hast ja garnichts, was du vergessen
könntest. Aber wenn es dem Dismas recht ist, so gehe ich mit zurück und helfe
dir suchen!" —
Dismas aber hielt ihn fest und sagte: „Bleib du bei mir, bis Judas wieder kommt.
Denn solange er uns nicht braucht, können wir ja hier warten, und ich glaube, er
will allein sein".
Judas aber eilte schnell zurück, richtete dann das am Boden liegende Kreuz, an
dem Jesus gehangen, mit vieler Mühe auf und nahm es auf seine Schultern.
Ungeheuer schwer drückte ihn diese Last. Mühsam und keuchend kam er bei den
wartenden Brüdern wieder an. — Gesmas wusste vor Staunen nicht, was er sagen
sollte. Dismas aber weinte vor Freude und Ergriffenheit und lobte und dankte
Gott laut für die wunderbare Gnade, die er an Judas erleben durfte. Nun wollten
sie dem Judas tragen helfen, er aber lehnte jede Hilfe ab. —
„Ich kann ja ausruhen, wenn es zu schwer wird", sagte er, „aber mich dünkt, es
wird mit jedem Schritt leichter". —
Dismas gab ihm recht und sagte: „Ja, Bruder Judas, die Furcht vor dem Kreuz löst
Qualen aus, die schwerer zu tragen sind als das Kreuz selbst. Wer aber in Liebe
und Vertrauen auf die Kraft und Erbarmung Gottes das Kreuz, welches ihm
auferlegt ist, trägt, der wird wahrlich die Kraft fühlen, die ihm tragen hilft!
Wer aber freiwillig ein Kreuz trägt, um anderen zu dienen und zu helfen im
rechten Geist wahrer Demut, dem werden ungeahnte Kräfte zur Verfügung stehen,
und das schmachvolle Kreuz wird zu einem Zeichen der Verherrlichung und
Verklärung werden!! Judas, Judas, jetzt hast du das Leben erfasst. O, der
ungeahnten Wonnen und Seligkeiten, seit du nun das Zeichen deiner Schuld, allen
sichtbar, trägst! — Nun wird es soweit kommen, dass denjenigen, der dich
schmäht, das Kreuz an deiner Statt drücken wird! Wer aber gleich dir das Zeichen
seiner Schuld offen tragen wird, mit dem wird Gott Selbst sein, und die Fülle
Seiner Engel wird tragen helfen!!"
Wie sie schliesslich an ihrer kleinen Herberge ankamen, wollten sie in das Haus
eintreten, aber Judas merkte, dass das Kreuz nicht durch die Tür ging. Da wollte
er draussen bleiben, denn er mochte sich nicht von dem Kreuze trennen, ehe er es
an den Bestimmungsort gebracht hatte. — Der alte Wirt aber brachte eine Bank
heraus, sprach: „So ruhe hier aus, bis die Brüder kommen" und verschwand wieder
im Hause. Und nun kamen die anderen alle, und jeder trug etwas in der Hand für
Judas. — So reichten sie ihm einen Labetrunk und etwas Brot.
Judas nahm es gerne und dankte ihnen herzlich. Nachdem er sich gesättigt hatte,
wandte er sich an Dismas und sagte: „Lieber Bruder, ich benötige deinen Rat,
denn ich möchte das Kreuz dahin tragen, wohin es eigentlich früher sollte. Aber
der Tempel ist doch zerstört, und nun bin ich hier und möchte nicht auf halbem
Wege stehen bleiben. Bitte, sieh zu, ob du mir recht raten kannst, denn diese
Sorge drückt meine Freude. Sonst siehe, wo dein Engelsfreund ist, vielleicht
kann der mir raten!"
In diesem Augenblick kam der Wirt mit dem Engel aus dem Hause.
Judas verneigte sich vor dem Engel und sprach: „O, du treuer Diener des Herrn,
unseres Gottes, kannst du mir nicht den Willen des Herrn bekunden, wohin ich das
Kreuz tragen soll? Ich möchte meine Aufgabe zu Ende führen, aber mir ist bange,
weil der Tempel nicht mehr steht." —
Da antwortete ihm der Engel: „Judas, du bist völlig frei, denn würde ich dir
sagen: Der Herr will dies und das, so wärest du ja ein Knecht und müsstest tun,
was der Herr verlangt. Aber weil du von selbst umgekehrt bist und das Kreuz aus
eigenem Antrieb geholt hast, ja sogar die Hilfe deiner Brüder abgelehnt hast, da
rate ich dir als dein Bruder aus Gott: gehe in dich, erforsche dich - und tue
nach deinem Herzen. So wirst du frei von aller Sorge werden. Übertreibe aber
nichts - und würdige diese Gnadenzeit nicht zur Alltäglichkeit herab. Vollende
dein Werk, damit in dir Gott das Seine vollenden kann! Friede sei mit dir!
Amen!" —
Da nahm Judas Abschied von den anderen, nahm das Kreuz auf seinen Rücken und
machte sich allein auf den Weg. —
„Gott mit dir, bis wir uns wiedersehen", riefen die anderen ihm nach. — Judas
aber eilte, so schnell er konnte, mit seiner schweren Last nach Jerusalem. Jetzt
erkannte er viele Gestalten, die ihm verwundert nachschauten. Wie ein Lauffeuer
drang die Kunde voraus: „Judas, der Verräter, bringt das Kreuz seines Meisters."
Er hörte das wohl, störte sich aber nicht daran. — Es wurden immer mehr und
mehr, die ihn angafften, und etliche folgten ihm nach. Die meisten aus
Neugierde, einige aber hatten Mitleid mit ihm und standen ihm bei. Andere wieder
verhöhnten ihn, doch wurden diese Spötter von den Einsichtigen zur Ruhe
gebracht. —
Judas aber hatte keine Furcht, ihm war, als hörte er die sanfte Stimme seines
Meisters, der ihn stärkte. Und von dem Kreuz schien eine Kraft auszugehen, die
den Schreiern den Mund stopfte und Ehrfurcht in ihre Herzen flösste. Zwar musste
Judas öfter absetzen, aber je weiter er ging, um so leichter wurde ihm die Last,
und endlich war er am Ziel — dort, wo der Tempel stand! —
Inzwischen war sein Anhang sehr gross geworden. Es mochten über Tausend sein,
die ihm gefolgt waren, beiderlei Geschlechts. — Wo der Altar gestanden hatte,
war eine Erhöhung, und grosse Steinblöcke machten ihm das Aufstellen des Kreuzes
möglich. —
In seinem Herzen war Ruhe und Frieden. Er räumte auch noch einige Trümmer
beiseite, sodass das Kreuz überall gut zu sehen war. Darauf wischte er sich den
Schweiss von der Stime, stellte sich neben das aufrechtstehende Kreuz und sprach
mit lauter Stimme zu den Anwesenden:
„Liebe Freunde und Brüder, ihr habt meine Kraft und Ausdauer bewundert und
möchtet wohl wissen, warum ich, Judas, dieses Kreuz hier aufgerichtet habe.
Höret, ich habe es von Golgatha geholt. Es ist das Kreuz, an dem Jesus von
Nazareth, mein und nun auch euer Meister gestorben ist — durch meine grosse
Schuld! Diejenigen unter euch, die mich Verräter gescholten haben, waren im
Recht. Aber wisset, Jesus Selbst hat mir vergeben! Darum habe ich das Kreuz als
das Zeichen meiner Schande, das der Meister zum Zeichen Seiner Liebe und
Erbarmung erhöht hat, hierher getragen. Doch nicht aus eigener Kraft, sondern Er
Selbst hat mir ungesehen tragen geholfen. Hier, wo der Altar des alten Tempels
stand, soll dieses Kreuz von Liebe und Erbarmung zu uns sprechen! Ich will, so
gut ich kann, aus der Stätte des Grauens eine Stätte des Friedens und der
Einkehr machen. Saget nicht, dass es unmöglich sei.
Des Herrn Wille an mich lautet: „Vollende dein Werk!" — und ich weiss, dass es
gelingen wird, wenn ich nur recht ernstlich will. Sehet dieses Kreuz an. Wenn
ich müde und verzagt bin, so wird ein Blick darauf genügen, mich zu stärken. Das
Kreuz ermahnt mich an das Leiden meines und auch eures Herrn. Er hat gelitten um
meinetwillen! So will ich eifern, um meine Schuld gut zu machen!" — — — Bei
diesen Worten fing das Kreuz an zu leuchten und strahlte in mildem Lichte, und
Judas rief: „Sehet selbst, Der Herr bestätigt meine Rede!" — — Da kniete Judas
nieder und betete laut um Kraft und Stärkung. — Wie die anderen das sahen,
packte sie eine mächtige Rührung und sie fielen auf ihre Knie! Da rief Judas
laut: „O, Herr Jesus, Du Heiland und Erbarmer! Ich bin am Ende meiner Kraft!
Deine Gnade und Liebe zersprengen mir mein Herz! O komm und hilf uns allen aus
unserer Not Komm Du selbst, stärke uns und hilf auch diesen, gleich mir armen
Seelen, wir brauchen Dich! Wohl zeigte ich, o Herr, ihnen Dein Kreuz, aber was
kann ich ihnen geben? Nur einen kleinen Funken, sie aber brauchen Dich! Nur Dich
allein! Dein Wille geschehe! Amen!"
Da sah Judas auf einmal wieder die Lichtsäule über sich stehen, wie damals, als
Judith für ihn betete. Sah, wie die Lichtsäule sich mit dem Kreuz verschmolz und
wie das Kreuz immer heller und heller leuchtete. Als er sich umschaute, war er
in einem neuen Lande, und hoch am Himmel stand die Sonne. — Judas befand sich in
einem grossen Garten. Im Hintergrund erblickte er einen kleinen Tempel. Beim
Kreuz aber stand eine Gestalt, streckte ihm beide Hände entgegen und sprach:
„Judas, Mein Bruder, komm an Mein Herz. Ich will dich erquicken! " Da eilte
Judas an die Brust seines Meisters, und eine ganze Weile herrschte heilige
Stille! — Dann sprach Jesus weiter:
„Siehe, alles, was um dich erstanden ist, ist die aus deiner Demut geborene, dir
eigene Welt! Alle, die dir gefolgt sind, sind arme, heimatlose Seelen, wie auch
du ehemals heimatlos warst. Judas, Ich sage dir, du warst verloren durch dich
selbst, aber die grosse Liebe deiner Tochter Judith hat dir diesen Gnadenweg
bereitet. Denn alle deine Blindheit und Schuld hat sie auf sich genommen, damit
du selig werdest! Da habe Ich Mich Selbst aufgemacht in Meiner persönlichen
Wesenheit und habe ihr ihre Last abgenommen! Aber nun lass dich vom Vergangenen
nicht mehr bedrücken, sondern freue dich der Gegenwart — und überlasse die
Zukunft Mir!!“
Judas war überglücklich, und wie er nach oben schaute, erblickte er zahllose
Scharen von Engeln und hörte einen gewaltigen Lobgesang! „O, Jesus, du endlos
guter Meister !" rief er, „verlasse mich nimmer. Bleibe bei uns, vollende Du das
Werk! Damit ich nicht mehr dazu komme, etwas zu zerstören." Da antwortete ihm
Jesus:
„Nie werde Ich dich verlassen, wenn du Mich nicht verlässest. Aber um deiner
Entwicklung willen darf Ich nicht immer sichtbar bei euch verbleiben. Doch noch
eine Weile will Ich dich in deine neue Welt geleiten und dich in deine Ämter als
Hausherr einsetzen, doch schweige noch vor den Anderen darüber, wer Ich bin.
Komm, lass uns in dein Haus gehen, wovon du dachtest, es wäre ein Tempel!" —
Da wandte sich Judas zu den Anderen und sprach: „Freunde, und nun auch Brüder!
Gott ist uns gnädig und hat aus den Trümmerstätten alter Lug- und Trugbauten
einen rechten Grund geschaffen — wie ihr ihn hier in diesem schönen Garten
erkennen könnt. Dort hinten seht ihr ein Haus, gleich wie ein Tempel. Doch ist
er nicht nach menschlicher Art erbaut, sondern auf himmlische Weise! Dieser
gute, liebe Freund, welcher zugleich der Besitzer dieser Herrlichkeit ist, gab
mir den Auftrag, euch alle einzuladen, hier bei Ihm zu bleiben! Euer Zweifel,
dass in diesem Meinen Tempel nicht Raum genug sei, wird bald zunichte werden.
Denn ich ahne, wir werden bei weitem nicht genug sein, um ihn zu füllen! Ein
jeder kann wieder umkehren, wenn es ihm nicht gefällt. Vor allem aber soll jeder
freiwillig kommen. Nun kommt und tut, wie ihr denkt!" —
Darauf ging Jesus Hand in Hand mit Judas zu dem Hause, und alle folgten ihnen
nach. Wie sie ankamen, erwartete den Judas eine neue Überraschung. Denn noch
jemanden hatte der Vater geholt, und so war die Freude gross, als Dismas die Tür
öffnete und Judas herzlich willkommen hiess in seinem neuen Heim! —
Jesus nahm sie nun beide bei der Hand, und so zogen sie ein in die Hallen des
Friedens. Beim Eintritt erweiterte sich alles wie von selbst!! — Sie befanden
sich in einem prachtvollen Spiegelsaal, wie sie dergleichen noch nicht gesehen;
er war riesengross. In zwei Reihen waren grosse Tafeln mit Liegesesseln und an
den Wänden bequeme Bänke aufgestellt. So lud alles schon von selbst zum
Platznehmen ein. Nach einer Weile hatten alle Platz genommen, und doch war noch
Raum für viele!
Jesus aber sprach unterdessen mit Judas: „Nun beschaue dir deine Welt, die Ich
aufs neue dir erschlossen. Völlig zu deinem Eigentum wird sie in ihrer Fülle
erst werden, wenn du alles heimgebracht haben wirst in die Hütten des ewigen
Friedens. Schalte und walte mit deinen Brüdern, die es lernen werden, dir
dienend zur Seite zu stehen. Nun aber wollen wir Speise und Trank zu uns nehmen,
und die Bedürftigen stärken! Danach gehen wir nochmals nach draussen, damit du
auch dort in allem unterrichtet wirst." —
Mitten unter den anderen nahm der Herr mit Judas Platz, und nun waren von Dismas
und den anderen Brüdern die Tafeln mit verschiedenen Speisen, Früchten, Brot und
Wein besetzt, wovon sie in den Vorratskammern eine reichliche Fülle antrafen. —
jetzt sah Judas auch Josef mit den anderen Brüdern und dann Eljasib an ihrem
Tisch und begrüsste sie herzlich. — Dann bat Judas den Meister: „O Herr, sei
hier nicht nur unser Gast, sei uns allen Vater! Segne Du das Mahl und lade zum
Essen ein!" —
Da erhob Sich Jesus und sprach: „Meine lieben Freunde, die ihr in freiwilliger
Liebe und nach dem Zuge eures Herzens Judas und Mir gefolgt seid: Ich heisse
euch alle herzlich willkommen in diesem Hause! Es ist ein Haus, worinnen die
Liebe wohnt! Ein Haus, wo jeder Kummer und Schmerz Linderung erfahren soll, und
ein Haus, das niemand zu verlassen, braucht, so es ihm darin gefällt! Aber es
ist auch ein Haus von grösster Ordnung aus Gott, und wenn der eine oder der
andere nicht in der Ordnung verbleibt, so wird er sich wieder in der vorigen
Gegend befinden! Stärket euch nun und lasset euch dieses Mahl wohl schmecken!" —
Von allen Seiten hörte man Bewunderung und Dank. Aber nachdem sich der Herr
gesetzt hatte, fingen alle an zu essen. Dann aber erhob sich einer von den
Vielen und ging dorthin, wo Jesus und Judas sassen, und brachte seines Herzens
Dank dar mit den Worten;
„O, wie lange ist es her, dass ich eine solche Wohltat erhielt, wie lange, dass
ich solch' gutes Brot und solch' guten Wein erhielt, und dazu wird uns Allen ein
Palast als bleibende Wohnstätte angeboten! Wie dürfen wir euch danken? Wie
sollten wir etwas zurückgeben können? Wir sind arme Seelen, besitzen nichts als
das nackte Leben. So bleibt mir vorerst nichts Anderes übrig, als im Namen aller
meinen und unseren Dank nur mit Worten auszusprechen !" —
Nun verneigte sich der Dankende und wollte sich entfernen. Aber da gab Jesus dem
Judas einen Wink; und Judas stand auf, reichte dem Sprecher die Hand und sagte
zu ihm:
„Weil dein Herz dich trieb, zu danken, so will ich dir sagen, dass wir uns
darüber freuen. Bei uns kommt es aber nicht auf äussere Formen an, auch nicht
auf den Dank mit dem Munde: wir sehen nur auf das Herz! Uns ist eure Freude
schon der allerbeste Dank! Lasset euer Herz voll Liebe und Demut schlagen für
eure Nächsten! Dann vergeltet ihr recht. Einer lehrte uns dies im Erdenleben so
wunderbar; und Dieser hiess: Jesus von Nazareth — ein Sohn des Allerhöchsten!
Den nur die Liebe zu uns Menschen trieb! — Und dieser Jesus — ist unter uns ! Er
ist es, der euch willkommen geheissen hat in diesem Hause: es ist Sein Haus, von
Ewigkeit! — Nun aber, da wir alle in Seinem Hause leben, lasst uns unserer armen
Brüder nicht vergessen, die den Heimweg noch nicht wissen. Unser Dank soll sein:
Hinaus zu ziehen in die Nacht, um Arme und Verirrte zu suchen und ihnen unser
Herz voll Liebe anzubieten. Unser Herz, welches uns nun nicht mehr selbst
gehört, sondern Dem, Der in übergrosser Liebe für uns am Kreuz auf Golgatha
gestorben ist. Darum habe ich das Kreuz hierher getragen und vor dem Hause
aufgestellt, damit es ein Wegweiser werden soll und zugleich ein Mahner und ein
ewiges Mahnmal der unvergänglichen Gottesliebe! — — Nun wisst ihr, wie sich
alles verhält. Wer bleiben will, der bleibe — aber zu gemeinsamer Arbeit und
Freude! Wer aber gehen will, der gehe in Frieden! Dich aber, Jesus, bitten wir
um Kraft, Ausdauer und Segen ! Amen!!"
„Wir bleiben, Bruder und Freund", riefen sie an den anderen Tischen, „und fügen
uns gerne ein. Hier ist Wohlstand und Frieden! Und wenn wir nur dienen dürfen,
dann ist es schon überaus gut!" —
Da erhob sich ein Anderer vom Platze, kam zu Jesus an den Tisch und sprach:
„Höre, guter Freund und Herr dieses Besitztums; höre auch du, Judas, und ihr
alle, ihr lieben Freunde! Wenn ich nun an mein vergangenes Erdenleben
zurückdenke, wird mein Herz unruhig und ängstlich. Denn ich war ein Diener des
Tempels und bin mit vielen anderen mit Ketten und Stricken ausgezogen — um Dich,
Jesus, zu fangen! Allerdings hat jene Mission ein klägliches Ende gefunden, weil
wir alle bei einem Sturm auf dem Meere den Leibestod fanden. Bisher habe ich
meine Teilnahme an dem Unternehmen wohl bedauert, aber nicht um Deinetwillen,
sondern nur wegen meines selbst dabei erlittenen Unglücks. Und viele sind hier
am Tische, die damals mit uns dabei waren. Jetzt, wo ich Dich kenne, o Herr,
bereue ich meine damalige Absicht tief und bitte Dich, zugleich für alle meine
Genossen, um Vergebung! Wenn Du uns vergeben und hier behalten willst, so wollen
wir Dir jeden Dienst erweisen. Wo aber nicht, so nimm unseren Dank für die
genossene Gastfreundschaft an!" —
Da erhob sich Jesus und antwortete:
„Komme her zu Mir, wer mühselig und beladen ist! Bei Mir findet ihr Verstehen
für euer Leid. Und wer auch immer Mir offen und aufrichtigen Herzens sich nahet,
dem soll Frieden und Heil zuteil werden! Und wenn die Last der Sünden in's
Riesengrosse stieg, so höret meinen Ruf: Kommet!!
Die sich von euch nicht getrauen, da sie unreinen und schwer beladenen Gewissens
sind, denen sage ich: Kommet!!! Wer noch glaubt, Ich vergelte Gleiches mit
Gleichem, zu dem sage Ich auch: Kommet und erlebet die Macht Meiner Liebe!!! — —
Denn: was auch immer ihr gefehlt habt - einer mehr, einer weniger -, das ist mit
dem Augenblick gelöscht, so ihr mit demütigem Herzen zu Mir kommt und in Meiner
Liebe bleiben wollt! Ich will, dass ihr alle gleich Mir glücklich und vom Joch
der Sünde und Schuld entbunden seid, Darum reiche Ich euch in väterlicher Huld
und Weise Meine Hand und Hilfe!! — — Du aber, der du Mich erkannt und Mich
gebeten hast, dir deine Schuld zu vergeben, komme und trinke mit Mir aus diesem
Becher!! Und künde dann allen deinen Brüdern, wie Meine Liebe und Mein
Entgegenkommen schmecken!!" — Klopfenden Herzens, doch das Auge fest auf den
Meister gerichtet, nahm er den ihm dargereichten Becher und trank einen Schluck
daraus. — Dann rief er: „O, meine Freunde, noch nie habe ich solche Wonne
verspürt, wie nun. O, liebster Herr, habe Dank und gestatte mir, dass ich den
Becher weiterreiche, damit noch mehrere daraus trinken können l" —
Jesus gestattete es ihm, und der Becher ging nun von Mann zu Mann, ohne dass er
leerer wurde. Aber niemand wunderte sich mehr darüber, alle staunten nur über
die Köstlichkeit des Weines! Wie Balsam floss es in ihr Herz, und es entstand
eine Stille im Saal: ein jeder empfand das wohltuende Geborgensein. Zuletzt
durfte der Sprecher noch einen Schluck nehmen, und Jesus lud ihn ein, an Seinem
und Judas' Tisch zu bleiben. Jesus wandte Sich dann zu den anderen und sagte
ihnen, dass Er eine Zeitlang mit Judas in den Garten gehen würde. Der Herr
grüsste alle freundlich, darauf gingen beide hinaus! —
Am Kreuze blieben sie stehen, und Jesus fing an zu sprechen: „Mein Judas,
endlich, endlich bist du überzeugt von der Liebe und Güte deines Gottes und
Vaters! In väterlicher Weise habe Ich dich gezogen bis hierher, und ein
gewaltiger Abschnitt deines Lebens findet hier sein Ende. — Du hast das Kreuz
bis hierher getragen, um es im Grunde für Mich zu tun. Siehe: es soll leuchten
weit und breit! Und allen, die in Nacht und Finsternis vorüber gehen, soll es
Wegweiser zur Einkehr in dein Haus sein! — Ich werde nun vorerst nicht länger
sichtbar bei dir bleiben, um dich und deine Brüder nicht in der weiteren
Entwicklung zu stören. Du weisst genau, was nötig ist, um des Lebens höchste
Güter zu erlangen: um eins zu werden mit Mir!
Du weisst auch, was noch im Wege steht und erlöst werden will. — Darum verlasse
Ich dich und euch der Erscheinlichkeit nach — um wiederzukommen, wenn ihr Mich
in euren Herzen geboren und euch Mir gleichgestellt habt! Auch du musst, wie
alle anderen, noch gefestigt werden, denn nur das bleibt für ewig dein Eigentum,
was aus dem heiligsten Lebenskampf hervorgegangen und somit selbst erworben und
in sich geboren ist! — Du bist Bewohner Meines ewigen Reiches, doch auch
Bewohner einer eigenen Welt! O, Judas, wandle weiter in Meinem Sinne, setze fort
das Werk, und errichte Heimstätten für deine noch auf der Erde weilenden Brüder!
Dann wirst du Mich wieder bei dir sehen, ehe du es dich versiehst, und Ich werde
dir selbst Meinen Rat und Beistand geben! Wenn du aber Ruhe brauchst und nicht
weisst, wo aus und ein, dann Judas, du Mein lieber Sohn, komme hierher an das
Kreuz, lehne dich an und lasse dein Inneres ganz durchwehen von dem Geist, der
Meines Herzens Wille ist und Der Sich für euch geopfert hat! — Hier am Kreuz
wirst du heilige Ruhe und Geborgensein finden und wirst gestärkt in dein Haus,
in deine Welt, zurückkehren können! — Lass die Liebe dir als höchstes Ziel
leuchten, sei In Demut stets bereit, — auch dem Geringsten alles zu geben, was
dir dein heiliger Vater so überreichlich bereitet hat! —
Nun gilt es, an die Arbeit zu gehen! Denn bisher waren die Kammern gefüllt durch
Meine Liebe — so soll nun eure Liebe sie füllen! Wenn Ich fort bin, dann bist du
Herr dieses Hauses und Landes. Sei ein guter Herr. Dismas steht dir als nächster
Bruder zur Seite. Für die nächste Zeit soll euch der Engel, der euch bisher
geleitet hat, noch weiter führen und mit Rat und Tat helfen! Lass Häuser bauen
für die vielen Arbeiter in deinem Lande und hüte Meine Ordnung wohl! Nun nimm
hin Meinen Segen! Meine Erbarmung werde dein Leben und deine Kraft. Wachse und
reife zu deinem Heile und zum Segen der ganzen Schöpfung! Amen, Amen, Amen!!"
Verschwunden war der Herr! Judas war allein, aber um das Kreuz strahlten in
herrlicher Pracht leuchtende Diamanten in hellem Feuer! Voll Ergriffenheit
lehnte Judas sich an das Kreuz, weinte laut vor Glück und schluchzte: „O Jesus,
o Jesus! Was hast Du denen bereitet, die Dich lieben! Jetzt erst habe ich Dich
erkannt — wer Du eigentlich bist!! Ja, lieben will ich Dich mit der Glut alles
Lebens! Lieben will ich Dich mit der ganzen Kraft meiner noch schwachen Seele!
Lieben will ich Dich mit der Reinheit, die kein Dunkel mehr zulässt! — Jesus
Christus! Du unser guter Vater, Du! Du Ewige Liebe! Du Schöpfer der
Unendlichkeit ! Verherrlicht durch dieses Kreuz! Lass' mich Dein bleiben
ewiglich l Amen!" — — —