Heft 19. Erwachendes Gottesleben
Inhaltsverzeichnis ( Nummerierung in den Titel ist so im Büchlein )
01. I. Ursus und Paulus
02. II. Führungen durch innere
Welten
03. III. Jesus unser Vorbild
04. VI. Abschied von Bethanien
05. VII. Feiertage in Neu-Bethania
06. VIII. Auf der Heimreise nach Rom
07. IX. Erwachendes Gottes-Leben
08. Gott wohnt in uns (Otto-Hillig)
Gedicht
I. Ursus und Paulus
Da Ursus mit Demetrius vor ihrer Abreise nach Rom noch viele geschäftliche Dinge
in Jerusalem zu erledigen hatte, so lernte er auch bald den neuen Jünger Paulus
kennen, der mit seinem Feuereifer überall von dem auferstandenen Jesus, als dem
allmächtigen Herrn Himmels und der Erde, predigte, wie er selbst Ihn erlebt
hatte.
Da die Templer aber diesen Saulus arglistig zu fangen suchten, mussten die
Freunde ihn oft heimlich versteckt halten, und deshalb nahm Ursus ihn und die
Mutter Maria eines Tages mit nach Bethanien.
Sein zum Leben erwachter Geist trieb den Paulus immer mächtiger zur Arbeit für
den Herrn, und doch war Ursus etwas befremdet über seine feurigen Reden. Er
sagte sich: „Paulus ist wie ein starker Bergquell, seine Worte sind rein und
klar, aber oft auch wie ein brausender Wasserfall, der die jungen Saaten bis
aufs äusserste durchflutet; während Theophil nur Liebe ist, und gleich dem
Jünger Johannes auch ein vom Schicksal zerschlagenes Herz in sanfter Weise
wieder aufzurichten weiss." —
Bald schon fand sich eine Gelegenheit, wo Ursus ihn fragte: „Bruder, ist es für
dich so schwer, Jesus, den Auferstandenen, unsern heiligen Gott, als
liebevollsten Vater anzuerkennen und von Ihm allen deinen Zuhörern zu predigen?
Wohl ist dein Zeugnis von Seiner erhabenen Allgegenwart voll Leben, und dein
Eifer dabei für viele nachahmenswert; aber ich habe Jesum ganz anders geschaut,
anders kennen- und lieben gelernt! Siehe, in mir drängt alles Leben dahin, Jesum
zu verkörpern, am liebsten ohne Worte.
In meinem Herzen lebt Er wie eine Kraftquelle, welche die Eigenschaft hat, alle
meine Gedanken mit Kraft zu erfüllen und zu einen, der in mir meine Welt regiert
und dieselbe zu einem Himmel umstaltet.
„Lieber Ursus", antwortete Paulus sinnend, „ich möchte gern auf jeden eurer
Wünsche eingehen, aber siehe: was in meiner Wesenseigenart wie eingebrannt ist,
kann ich nicht beseitigen. Und ich glaube: wenn der Schöpfer mich so zubereitet
hat für Seinen Dienst, darf ich nichts daran ändern wollen - oder sollte ich
entgegen meiner Überzeugung wirken können? Alle eure Liebe aber tut meinem
Herzen so wohl, sie gibt mir oft Mut und Kraft zu neuer Ausdauer."
„O Paulus", rief Ursus lebhaft, „wenn unsere Liebe dir zur Stärkung dienen kann,
so sage mir doch, worauf gründet sich deine Liebe zu Ihm? Ist sie nur aus dem
Glauben an Ihn geboren, oder stammt sie direkt aus dem erwachten Heilands-Leben
in dir? Ihr Priester und Schriftgelehrten beruft euch immer auf den Glauben,
ohne den Schrift und Wort zwecklos wäre.
Es sei ferne von mir, an deinem Glauben rütteln zu wollen, denn glauben können —
ist Gnade, aber lieben können ist erst Leben! Glaube ohne Liebe ist kein
lebendiger Glaube, wie Liebe ohne Leben keine Kraft enthalten kann! Aber es gibt
da grosse Unterschiede in dem, was jemand glaubt, und wem sein Glaube gilt.
Ich möchte von mir nicht sagen, ich glaube an Gott von ganzem Herzen und von
ganzer Seele. Aber ich bekenne gern, dass mein ganzes Innere erfüllt ist vom
seligen Wissen: Ich gehöre meinem ewigen Vater!
Und als Kind Seiner erlösenden Liebe ist meine Innenwelt zu einem Tempel und
Gotteshause geworden. Seit dieser Zeit kenne ich nur einen wahren Gott — Jesus!
Denn Jesus ist mir zum lebendigsten Begriff der allerhöchsten Vollendung und
Vollkommenheit geworden. Sein Geist erst macht alles Gebundene und Enge in uns
frei, und wir sehen die Welt und alles, was in ihr geschieht, mit Seinen Augen
der Liebe an. Unser Herz wird zur Stätte Seines himmlischen Friedens, und was
nun aus solchem Herzen herausdrängt, kann und wird auch jederzeit wieder zu
Herzen gehen.
Gib mir keine Antwort, Bruder Paulus, denn Liebe kennt kein Recht-haben, nur das
Verlangen, frei und glücklich zu machen. Solltest du meiner Liebe bedürfen, wie
gern schenke ich sie dir! Und das grösste Opfer würde mir nur ,Dienst für meinen
Jesus' bedeuten."
Paulus war innerlich still geworden, dann sagte er noch: „O Ursus, ich danke
dir! Dein Zeugnis war, als hätte Gott zu mir gesprochen. Alle deine Worte will
ich im Herzen bewahren, deine Liebe aber möchte ich gleich in Anspruch nehmen,
indem ich dich bitte: Lasset mich bei eurer Heimreise mit euch ziehen, ich habe
Sehnsucht nach meiner Heimat, nach Sizilien."
Paulus blieb still und nachdenklich in innerer Einkehr. Er fragte sich: „Haben
denn diese Brüder in Bethanien einen anderen Begriff von Jesus als an anderen
Orten? Jesus ist Gott! Davon ist hier jedes Menschenkind überzeugt, während man
anderswo Jesus doch nur als den wahren Christus anerkennt."
II. Führungen durch innere Welten
In der Nacht verliess Paulus still das Haus und ging nach der nahen Anhöhe, wo
ein kleiner Säulentempel zur Einkehr lockte. Er merkte kaum, dass einer von den
grossen Wachhunden ihm folgte, doch als derselbe sich im Tempel zu seinen Füssen
niederlegte, streichelte er den stillen Begleiter, und es kam eine grosse Ruhe
über ihn, so dass seine Seele betete:
„O du mein Herr und Gott! Wie gut lässt es sich leben unter Deinem Schutz, und
selbst in dieser Einsamkeit meiner Seele stellest Du mir einen treuen Wächter
zur Seite! So wage ich es, Dich inbrünstig zu bitten: Hilf mir! Hilf mir in
diesen Zweifeln über Deine Wesenheit! Lasse mich tiefer noch hineinschauen in
Dein Wesen der Güte und Weisheit! Lasse es mich durch Deine Gnade erleben, ob
ich auf dem rechten Wege bin, um erfüllt zu werden von dem Heiligen Geiste, den
Du mir verheissen hast! Nur einen einzigen Beweis erflehe ich von Dir, du
gnadenreicher Gott und Herr, und freudig weihe ich Dir mein ganzes Leben!"
Ruhig war die Nacht, nur im matten Schimmer erglänzten die Sterne. — Da wurde es
plötzlich hell um ihn. Eine Lichtgestalt stand vor ihm und fragte: „Erkennest du
mich, Bruder Saulus? Gottes Gruss und Friede sei mit dir!"
Paulus war leicht erschrocken — er erkannte Stephanus; der sprach: „Die ewige
und erbarmende Liebe in Gott, die du noch nicht so recht erfassen kannst, hat
mich beauftragt, dir noch einiges näher zu erklären, da du um einen einzigen
Beweis geflehet hast. Siehe, ich bin der Beweis: Ich bin selig! Über vielerlei
Welten darf ich gebieten, die aber nicht ausser mir, sondern in mir liegen. Wenn
du willst, werde ich dich in eine meiner Welten führen, die, so ich es will,
nach aussen hin für andere sichtbar werden kann. Denn siehe, ist nicht jeder
Mensch eine Welt für sich? Und so du ihn in dein Herz aufnimmst, ihm Heimatrecht
in deiner, dir von Gott verliehenen Welt, gibst, bringt er dir auch seine
eigene, innere Welt mit. Und auch in dieser seiner Welt darfst du dann wirken
und vor ihm die Gnade und die Wahrheit Gottes bezeugen!
Wir, auf hoher geistiger Warte stehend, schauen ganz anders in die Welten
unserer Mitmenschen als ihr. Alles, was dich als Mensch entzückt in der Natur,
am Menschen oder am Tier, ist ja nur ein ganz schwaches Abbild dessen, was wir
hier in seiner innersten Schönheit als vielseitiges Leben erschauen dürfen.
Erkennest du nun schon etwas von meinen Welten?"
Antwortete Paulus: „Ich verstehe langsam etwas von deiner Sprache, aber ganz
fassbar ist mir ihr Sinn noch nicht. Wenn du willst, führe mich hin in eine
solche Welt deines Innern, damit ich die Wege zu meinem eigenen Heil besser und
klarer erkennen lerne!"
Stephanus aber antwortete ihm: „Nicht nur zu deinem Heile, sondern in der
Hauptsache zum Heile vieler anderer will der Herr dich mit Seinem Heiligen
Geiste erfüllen! Ich werde dich nun berühren, dann mag dein Leib hier ruhen,
bewacht vom treuen Wächter; denn nur in deiner unsterblichen Hülle wirst du mir
folgen können."
Im nächsten Augenblick schwebten beide als lichte Gestalten davon. — Von ferne
ward eine Stadt mit vielen Türmen sichtbar, umgeben von einer hohen Mauer. Sie
kamen näher und sahen ein kleines Tor. — Paulus dachte: Da müssen wir uns sehr
klein machen, denn sonst ist ein Hindurchgehen unmöglich.
Stephanus aber antwortete ihm: „Sorge dich deswegen nicht, denn aus der Ferne
sieht alles Grosse nur klein aus! Wir aber wollen., dass uns alles von aussen
klein Erscheinende recht gross und bedeutungsvoll werde! Siehe, das Tor ist
schon für uns geöffnet. Die Eingangstür in unsere geistige Welt, sonst von hohen
Mauern umschlossen, muss von höherer Hand geöffnet werden. Dann erst kann unsere
geistige Wesenheit, samt ihrem Führer, wohl einmal hineingehen und schauen, was
Gott uns hier erleben lassen will; doch müssen wir hintereinander hindurchgehen.
Gehe du nur voraus — ich folge dir."
Nach einigem Zögern ging Paulus hindurch, er hatte eine Stadt erwartet, sah aber
nur Bäume, einen Wald von Bäumen, und fragte Stephanus darüber. Dieser
antwortete: „Wir sind doch erst drei Schritte durch das Tor. Wundere dich dessen
nicht, was du hier siehest, denn auch dein Eintritt in diese Welt kann und muss
ja ganz deinem inneren Entwicklungs-Zustand gleichen.
Nun wollen wir weiter gehen, um zu schauen, was uns Gott in dieser deiner Sphäre
wohl zeigen will. Denn hier ist es wie überall auf Erden: Alles, was du auch
siehst oder erlebst, ist eine Sprache, ist eine bedeutungsvolle Sprache als
Offenbarung aus einer inneren Welt! Beachte dieses, und du wirst überall in die
geheimen Gemächer des Lebens hineinschauen lernen!"
Sie kamen nun an kahlen Hügeln vorüber, darauf dunkle Wesen hockten, die aber
die beiden Lichtgestalten nicht wahrnehmen konnten. Als sie an immer neuen
Hügeln mit solchen Wesen vorüber schwebten, äusserte Paulus den Wunsch, diese
Geistwesen zu belauschen. Sie traten ganz nahe heran und hörten grässliche
Verwünschungen von einem, der sich tüchtig aufgeblasen hatte. Von einem anderen
Hügel kamen einige Männer und redeten laut: „Überall, hier wie dort, nichts als
feuchter Boden, kein Brot, kein Dach über uns. Was nützte uns nun das Halten der
Gebote Mosi und die vielen Opfer?"
Sprach ein anderer: „Betrogen und verraten kommen wir uns vor, aber wenn es
vielleicht unsern Priestern auch nicht anders ergeht, sind sie dann Betrüger?
Wer hat uns das Gesetz als Bürde auferlegt? Wie müssen die glücklich sein, die
keine Gebote, keine Gesetze kennen!
Belehrte ihn ein anderer: „Wie kann denn eine Ordnung bestehen, wenn es keine
Gesetze zur Aufrechterhaltung der Ordnung gibt? Noch sorgen der Wald und die
Wiesen für unsere Nahrung, und vielleicht kommt auch noch eine Zeit, wo es
anders wird!"
„Hoffe nicht darauf", sprach wieder ein anderer, „denn Der uns bessere Zeiten
bringen wollte, den haben wir ans Kreuz geheftet! Es geschieht uns schon recht,
darum traget mit Würde dieses Schicksal!"
„Ist denen nicht zu helfen?" fragte Paulus voll Mitleid.
„Da bedarf es noch langer Zeit und vieler Not", erklärte Stephanus, „denn jene
liebten den Mammon mehr als alles andere. Siehe, hier um uns ist Licht, alles
darfst du schauen und hören. Aber bei all diesen armen Seelen wird die Nacht
solange bleiben, bis ihr Zorn verraucht ist und sie erkennen und gewillt sind,
demütig und geduldig ihr selbst verschuldetes Schicksal zu tragen. Dann erst
können Engel und Gottesboten kommen, um sie zu belehren und an hellere Orte
hinzuführen. Hier im Reiche der Ewigkeit muss sich alles im Rahmen der
Ur-Gesetze regeln, und kein Wesen kann übervorteilt, aber auch nicht
benachteiligt werden."
Jetzt kamen sie an Gräbern vorbei, worauf abgemagerte Gestalten hockten; wie
Tiere stierten sie nach dem Erdboden, als suchten sie Verlorenes. Stephanus
belehrte: „Hier ist jede Annäherung sogar gefährlich, es sind meistens Priester
aus der Tempel-Kaste, ihr hochmütiger Sinn beherrscht sie ganz. Doch es sei hier
genug! —
Wir werden nun nach einer anderen Richtung gehen, und wenn wir hier geistig
Höherstehende aufsuchen, wirst du ebenso feststellen können, dass sich alles um
sie genau ihrem Wesen gemäss gestalten muss, weil ihr innerer Zustand sich darin
spiegelt.
Lieber Saulus, es ist nicht ohne Grund, warum der Herr dich dieses alles erleben
lässt. Gottes-Boten müssen klar sehen, sollen in allem Geschehen Klarheit haben,
und dazu verhilft ihnen ja der im Menschen erweckte Gottesfunke. Im tiefsten
Grunde könnte deshalb jeder Erdenmensch schon diese Welten in sich selbst
erleben. Wer sich aber von seinen anerzogenen oder vom Verstande übermittelten
Begriffen nicht trennen kann, wird nie die Gnade erleben dürfen, in seiner
Innenwelt die wahre und ewige Geisteswelt schon auf Erden zu erschauen.
Sei dir bewusst: Der Herr kann alles - aber deine Innenwelt kann Er nicht
umstalten [=umgestalten]! Diese Umwandlung muss jeder Mensch in sich selber
vollziehen, und nur dazu hat er seinen so völlig freien Willen erhalten. Hier,
in der eigenen geistigen Welt steht jeder auf dem sich zu eigen gemachten Grund
und Boden und muss sich nähren von dem, was er sich als Mensch in seiner
Liebetätigkeit für diese Ewigkeit erworben hat."
Paulus fragte: „Was aber steht allen denen bevor, die da nichts von diesen
Wahrheiten glauben wollten? Diese Enttäuschung nach Ablegung des Leibes muss
schrecklich sein."
„Nur, was der Mensch säet, wird er ernten!" antwortete Stephanus. „Doch nicht
der Glaube ist dabei das Bedingende, sondern die gerechte Betätigung danach.
Berufene Gottesdiener aber müssen diese Gesetze erkennen können, und darum lasse
jetzt alles, was du hier schauen darfst, zu dir sprechen! Denn es wird dir mehr
zeigen, als ich dir erklären könnte!"
Beide eilten weiter und kamen an ein breites Wasser. Paulus dachte: „Ist dies
die Grenze einer anderen Welt? Aber wie kommen wir über diesen Strom?" Stephanus
antwortete darauf sogleich: „Ja, wir wollen hinüber, und so wir dieses bewusst
denken und wollen, wird der Herr uns auch schon Rat und Mittel dazu schaffen.
Fürchte dich nicht! Hier, im Reiche der Wahrheit und des Lebens ist alles
möglich dem, der nicht nur etwas glaubt, sondern es auch ernstlich will! Wir
wollen! — und siehe, dort kommt schon ein Schiffer mit einem Boot, als hätte er
nur auf uns gewartet."
Der Bootsmann winkte, und Stephanus stieg sogleich ein. Paulus aber sah den Mann
lange an und war betroffen, er musste ihn kennen — aber es lag wie Dunkelheit
auf ihm, er konnte sich nicht erinnern. Dann stieg auch er ins Boot.
Der Fremde gab Stephanus die Stange und sprach: „Lieber Freund, Ich werde am
Steuer bleiben, dann kann Ich euch am besten Orte landen."
Nach wenigen Stössen schon waren sie am anderen Ufer. Stephanus lud den
Bootsmann zum Mitkommen ein, und die drei stiegen auf eine Anhöhe mit weiter
Aussicht. Dort sahen sie in der Ferne eine Stadt. Eine goldene Kuppel überragte
alle Häuser, und Paulus wunderte sich: „Vor der grossen Mauer sahen wir auch
zuerst eine Stadt, und nun sieht man wieder eine Stadt in der ersten Stadt - mir
ist das unbegreiflich!"
Stephanus belehrte ihn: „Würdest du mit den Augen eines erwachten Gotteskindes
in all diese Herrlichkeiten unseres ewigen Vaters schauen, so würde dir nichts
mehr unbegreiflich erscheinen. Nun aber hält dich noch dein alter Gottes-Begriff
gefangen, und du bist erstaunt über all die Wunder, die sich dir hier
offenbaren!"
Der Fremde zeigte auf Scharen von Menschen, die nach der Stadt pilgerten und
sprach: „Kommt Freunde, eilen auch wir dorthin, um uns zu erfreuen an ihrer
Freude!" Durch schöne, festlich geschmückte Strassen ging der Weg und endete an
dem grossen Weihe-Tempel. In den weiten Hallen knieten viele an den
Opfer-Altären und schauten betenden Herzens in die lodernden Flammen. Sie
fühlten sich in Andacht glücklich und lauschten und warteten, während ein zarter
Wohlgeruch durch die Hallen zog. Auf mehreren Kanzeln segneten Priester die
Menge - und heller loderten die Flammen als Zeichen, dass ihr Opfer von Gott
wohl angesehen war.
Nach längerer Betrachtung dieser Art des Gottesdienstes fragte Paulus: „Auf was
warten wohl diese Betenden noch? Es ist wohl ein erhebendes Gefühl, diese
Menschen in ihrer Andacht zu beobachten und auch die Schönheiten ihres Tempels
zu bewundern, aber wollen wir nun nicht weiter gehen?"
„Bruder", antwortete Stephanus, „schauen sie nicht die Gegenwart Gottes in
diesen kerzengerade aufsteigenden Opfer-Flammen? Wahrlich, reiner kann das Opfer
Abels auch nicht angesehen worden sein! In ihrem Erdenleben brachten sie
jährlich das grösste Opfer, um im Hause des Herrn — Ihn anzubeten! Hier nun, im
Reiche der Geister, hindert sie nichts mehr, sich ganz dieser Anschauung des
Gottes-Seins hinzugeben! Oder hattest du einen anderen Glauben?"
„O Stephanus, mahne mich nicht an meine verkehrten Vorstellungen von Gott", bat
Paulus, „ich sehe ein: mein Leben war ja ein einziger Irrtum, bis der Herr dem
ein Ende machte. Es ist mir unbegreiflich, dass ich nicht selber zu einer
besseren Erkenntnis unseres grossen Gottes gekommen bin!"
Paulus bemerkte einen so wehmütigen Zug im Gesichte des Bootsmannes und fühlte
auch auf einmal eine Traurigkeit in sich selber aufsteigen, darum fragte er:
„Lieber Freund, habe ich dich traurig gestimmt, weil ich diese Weiheandachten
nicht genug würdigte? O verzeihe mir!"
„Sei ohne Sorge", sprach Dieser nun, „siehe an, alle diese Betenden, sie waren
fromm und lebten streng nach den Gesetzen Mosis, aber sie können ihren von der
Erdenwelt mitgebrachten Gottes-Begriff hier nicht so leicht ablegen, um zu doch
viel nützlicherem Tun sich berufen zu fühlen.
Dass du, Saulus, dieses nun mit eigenen Augen schauen und mit fühlendem Herzen
miterleben darfst, ist eine Gnade, die nur wenigen zuteil wird!"
Paulus fragte: „Findet sich denn keiner, der ihnen die Wege zu höheren
Erkenntnissen über das wahre Leben ebnen könnte?"
„Oh, Tausende von Helfern warten auf diese Liebesdienste, aber siehe, keinen
Augenblick zu früh darf damit begonnen werden, sonst würde eher Schaden, als
Nutzen, für ihre Seelen angerichtet werden. Diese hier sind in ihrer Art selig
und ahnen eben noch nicht, dass die Seligkeit viele, viele Grade hat. Auch du
bist noch nicht ganz frei von deinen alten Begriffen und wirst auch schwer davon
frei werden, solange du nicht selber den Wunsch empfindest, dir noch höhere
Stufen der Vollkommenheit zu erringen!"
Noch einmal genossen die drei den herrlichen Rundblick von dieser geistigen
Anhöhe, dann kehrten sie mit dem Boot zurück. Beim Abschied bat Paulus den
Bootsmann: „Lieber Freund, nur Gnade ist es, dass ich in dieser Welt weilen
durfte; aber möchtest Du uns nicht weiterhin begleiten? Ich möchte gerne noch
mit Dir zusammen sein."
Stephanus mahnte, die wenige Zeit hier noch recht zu nützen, und so eilten die
drei dem Morgen zu. Auf einer Anhöhe blieb Paulus betroffen stehen, er bat:
„Freunde, lasst mich nicht weitergehen — dorthin gehöre ich nicht. Noch nie ist
mir in den Sinn gekommen, dass es solche Schönheiten gibt. Dort können nur
reinste Seelen leben!"
„Bruder Saulus", entgegnete Stephanus, „wenn du nicht mitkommen willst, so
müssen auch wir wieder umkehren, wir sind ja nur deinethalben hier. Ich aber
denke, so der Herr mich berufen hat, dir alles dieses zu zeigen, so hast du dich
dessen nicht unwürdig zu fühlen, denn der Herr verfolgt bestimmt einen heiligen
Zweck dabei. Aber wir wissen: verdient hat noch keiner den Himmel mit all seinen
Herrlichkeiten, es sind immer nur Geschenke der heiligen Liebe unseres Vaters,
und werden nur denen gegeben, die da Seine Kinder geworden sind. So frage ich
dich: dürfen wir dich weiter führen?"
„O Freunde, so führet mich denn! Wenn der alte Saulus noch manchmal in mir
vorherrscht, so mahnet mich, dass ich doch Paulus sein will."
„Lieber Saulus, so komm!" spricht Stephanus, „aber du musst dich hier nun ganz
von dieser Liebe, die dich rings umgibt, einhüllen lassen! Als rechter Paulus
muss alles in dir zur Liebe werden!
Siehe, jetzt kommen wir in sehr schöne Gegenden, und du wirst manchen finden,
dem du auf Erden Schweres zugefügt hast. Hier aber wird alles, was der Hass
einst bewirkte, mit selbstlos göttlicher Liebe vergolten werden! Bedenke aber
auch, dass diese Gnade, die du nun hier erleben wirst, ein Beweis für dich sein
soll: was alles dieser reinen Liebe möglich ist! (und so entstand später Kap.
13, im 1. Kor.-Brief)
Sie kamen an lieblichen Vorgärten mit bunten Blumenlauben vorüber, und die
Bewohner winkten ihnen lebhaft zu; doch grüssend eilten sie rasch vorüber. Schon
von weitem gewahrten sie einen grossen Platz mit vielen Menschen. Beim
Näherkommen sahen sie schöne lichte Gestalten in weissen Faltenkleidern mit
goldenen Gürteln geschmückt. Jubelnd wurden sie empfangen, alle wollten den
Paulus einladen in ihr Heim. Ein junges Paar drückte die Hände des mitgekommenen
Freundes an ihre Brust und bat: „Dürfen wir Dich mit dem Bruder Saulus und
Stephanus bei uns bewirten?"
„Ja, ihr dürft", antwortete der Freund und hielt dabei den Finger an den Mund.
Paulus bemerkte dieses wohl, aber er war so im Innersten ergriffen, dass er es
nicht weiter beachtete, denn diese beiden kannte er, sie hatten durch seine
Schuld, ihres Glaubens wegen, ihr Leben auf grausame Art hingeben müssen!
Da sagte der junge Mann: „Lieber Saulus, erschrecke nicht, dass wir uns in
dieser herrlichen Welt wiedersehen! Was einst auf Erden geschah, diente uns nur
zur inneren Vollendung. Und was jetzt hier geschieht, soll noch vielen
Erdenbürgern zur Reife verhelfen! Darum, geöffnet sind die Tore meines Herzens,
und die in mir wohnende Liebe bittet: Kommet in unsere Hütte, damit wir dich und
deine Freunde in himmlischer Weise bewirten können."
Tief erschüttert sprach Paulus: „Du bist Simon, und dein junges Weib ist Naeme.
Ich möchte vergehen, so ich an die Stunde denke, da ich selbst Hand an dich
legte — und jetzt willst du mich nach himmlischer Art bewirten? O Du heiliger
Gott! Was vermagst Du alles zu wandeln durch den lebendigen Geist Deiner Liebe!"
—
„Kommt Brüder, unsere Herzen brennen vor Freude, weil endlich unsere grosse
Sehnsucht erfüllt wird", sprach Simon und erfasste den Saulus mit der linken,
den Freund aber mit der rechten Hand, und sagte zu Naeme: „Bringe du den Bruder
Stephanus, damit unsere Freude vollkommen sei."
In wenigen Minuten erreichten sie ihr kleines Häuschen; die Blumen dufteten und
neigten ihre Kronen, als sie durch den Vorgarten schritten. An der Tür hielt
Simon inne und sagte: „Seid herzlich willkommen! Was Liebe nur erdenken mag,
soll euch beglücken! Unvergesslich möge uns diese Stunde bleiben, die uns der
Liebe höchste Offenbarung brachte!"
Paulus war erstaunt über die stille Schönheit hier; durch die Fenster war eine
weite Aussicht, und im Garten stand alles im Blühen und Reifen.
Simon hatte mit seinen Gästen am Tisch Platz genommen und sprach: „Heute haben
unsere Trauben ihre Vollreife erhalten! Komm, Naeme, und bringe uns davon, damit
wir unsere lieben Gäste recht beglücken!" Und Naeme brachte in ihrem Körbchen
zwei unwirklich grosse Trauben, die wie Gold glänzten, legte jede auf eine
goldene Schale und setzte sie auf den Tisch.
Simon schob nun dem Freunde eine Schale hin und bat Ihn: „O Du, der Du bis in
mein Inneres schauen kannst, Dein Kommen macht mich zum Glücklichsten in dieser
Welt! Und dass Du gerade den mitbringst, dem alle unsere Gebete gehörten, ist
Seligkeit für unser Herz! Ich bitte Dich, du Herzensfreund — segne diese Trauben!
Durch Dein Einkehren hast du mich und Naeme beglückt, o lasse auch Dich
beglücken von unserer Dankbarkeit und Liebe.
Und du, Bruder Saulus, der du am Tische eines Seligen sitzest, vergiss nie mehr
diesen Augenblick, wo viele auf uns schauen und mit uns die Freude empfinden,
alles uns einst zugefügte schwere Unrecht vergeben und überwunden zu haben. Ich
weiss, dass du nur durch besondere Gnade des Herrn bei uns weilen darfst, aber
nimm unsere Liebe, unsern Segen mit in deine Welt und stärke dich mit den
Früchten unserer Liebe aus unsern Herzen!"
Sprach der Freund: „Simon, und du Naeme, euer Heim ist wie eine Schatzkammer,
darin der König das Edelste und Beste aufbewahrt! Mein Herz ist erfüllt von
grosser Freude. Es ist aber nicht genug, so wir uns nur freuen, sondern dass wir
nie müde werden in der Arbeit, auch Andere zu erfreuen. Vergessest nicht, dass,
solange es noch Unglückliche, Verirrte und Abtrünnige gibt — euer Vater noch
Trauer empfindet. —
Somit segne Ich euch und diese Früchte. Nehmet hin — und esset davon! Sie
verkörpern die Liebe des Sohnes zum Vater und bewirken heilige Kräfte zum Helfen
an Armen und Geknechteten! Amen!"
Nachdem Paulus wie aus tiefem Sinnen erwachte, kostete er eine Beere, und dabei
durchdrang ihn ein so wohltuendes Gefühl, dass er beglückt ausrief: „Brüder!
wenn es alle auf der Erde wüssten, wie überherrlich die göttliche Liebe alles
Verkehrte in uns ordnet und dann erblühen lässt, wenn auch wir, wie hier, unsern
Feinden von Herzen vergeben! Wenn wir die segnen lernen, die uns fluchen, und
sie über ihre verirrten Begriffe zu belehren suchen, wahrlich, bald würden alle
harten Herzen schmelzen in der Sehnsucht: sich solchen Himmel schon auf Erden zu
schaffen!"
Sprach Stephanus: „Recht hast du schon, aber die Welt hat ihren eigenen Herrn!
Und solange die Menschen nicht den heiligen Gott als alleinigen Herrn auch über
ihre Welten anerkennen wollen, kann es bei ihnen nicht besser werden!"
Naeme stand auf und sprach: „Lieber Saul, ich habe noch eine schöne Traube von
einem anderen Stock; schon längst pflegte ich sie mit besonderer Freude für
dich, die will ich dir jetzt bringen!" —
Und Naeme kam mit einer wunderbaren Traube wieder herein und sagte: „Bruder
Saulus, in deine Hände lege ich diese Frucht, die verzeihende Liebe geheim für
dich reifen liess! Ich bin so glücklich, dir dieselbe nun überreichen zu dürfen,
weil ich sie direkt von unserm heiligen Vater für dich erflehte. Nimm — sie ist
dein!"
Erschüttert von diesem schlichten Tun ihres Herzens, fiel Paulus auf die Kniee
und bekannte laut: „O Gott! Du Liebe ohne Massen! Du Vater aller Seligkeiten!
Wodurch werde ich Dir je meinen Dank abtragen können? Jetzt hast Du mein
innerstes Wesen überwältigt! Lasse mich zurück zur Erde gehen, damit ich mein
ganzes Wirken für diese Deine Liebe einsetzen kann!"
Und dann bat er die Anwesenden: „Nun esset auch ihr von diesen Beeren, du Naeme,
damit du selber schmeckest, wie viel du mir damit gegeben hast, Du, lieber
Freund, weil Du mit uns hierher gegekommen bist, du Stephanus, weil du die
Aufgabe übernommen hast, mich hierher zu führen, und du Simon, weil dein Herz
das Tor in deine schöne Innenwelt für mich offen hielt."
Andächtig kosteten alle von dieser Traube Naemes. — Dabei wurde Paulus plötzlich
innerlich so erleuchtet, dass er beglückt ausrief: „O Freunde, jetzt erst
beginne ich zu erkennen, dass Du, lieber Freund, — der Herr Jesus Christus
Selber bist! — Der Du mich auf so gewaltige Art vom Wege des Verderbens
zurückgerissen hast!"
Sprach der Freund: „Solange nur dein Erkennen Mich für Den hält, wirst du nicht
frei von Zweifeln bleiben. Erst wenn du im Tiefsten deines Wesens davon
überzeugt bist: Ihm begegnet zu sein! — wird dein Herz die wahre Freude und
volle Gewissheit empfinden!
Denn: nur, was das Herz als höchstes Heiligtum festhalten kann, ist für ewig
dein, und nie kann der Feind des Lebens darauf Anspruch erheben. Was du aber nur
in deinen Verstand und in dein Wissen aufgenommen hast, kann dir mit der Zeit
wieder entgleiten. Wenn nur dein Verstand Mich für deinen Heiland und Erlöser
hält, ist es noch ein weiter Weg, bis in deine Herzenswelt zu gelangen. Mit
vielen Widerwärtigkeiten wirst du rechnen müssen, bis du dich ganz durchgerungen
hast, denn dein Verstandes-Glaube wird erprobt werden müssen bis zum letzten
Atemzug deines Erdenlebens!
Siehe diese beiden glückstrahlenden Brüder samt der Schwester an, sie sind
durchdrungen vom Geiste seliger Gewissheit. Ihr Vater ist der erste und letzte
Gedanke. Was dazwischen liegt, ist wahres, lebendiges Wissen, dass sie ohne Ihn
nichts können, mit Ihm und durch Ihn aber alles in allem sind.
Das Vorrecht der wahren Kinder bestehet eben darin, dass sie über allem Gesetz
stehen, und jenen herrlichen Geist in sich wirken und walten lassen, der alles
Gesetz erfüllt und die wahre, reine Liebe zum Urgrund alles Seins und Lebens
macht." —
„Und nun will Ich scheiden! — Wenn eure Herzen brennen vor Sehnsucht nach Mir —
komme Ich gern wieder!
Du, Naeme, hast Mir heute die reife Himmelsfrucht verzeihender Überwinder-Liebe
dargebracht! Du, Stephanus, kennst deinen Weg, und so vollziehe weiter Meinen
Willen. Dir aber, Mein Saulus, gebe Ich Meinen besonderen Segen! Er sei dir
Kraft zu deinem Werke, Trost in deinem Herzen und Licht in den Tagen, wo es um
dich dunkel werden will."
Beim Gehen schmiegte sich Naeme an den Freund und geleitete ihn hinaus. Saul
hörte noch, wie sie zum Scheidenden sagte: „Vater! heute hast Du uns eine
schwere Probe auferlegt, da wir Dich nicht gebührend nach unserer Liebe
empfangen konnten. Komme recht bald wieder!"
Stephanus sprach noch: „Saulus! — Saulus! — werde ganz Paulus, damit du an dir
selbst all die herrlichen Verheissungen erfährst, und der heilige Gott und Vater
alle Hoffnungen, die Er auf dich setzt, erfüllt sieht! Abschied brauchen wir
nicht zu nehmen, denn du lebst ja auch in unserer Welt, und wir nehmen grossen
Anteil an deinem Wirken für den Herrn.
So erwache nun in deinem Erdenleibe wieder, doch diese Rückerinnerung soll dir
bleiben durch des Herrn Liebe und Erbarmung! Amen!"
III. Jesus — unser Vorbild
Paulus erwachte. Er schaute um sich — alles war dunkel, nur die Sterne
verbreiteten ein schwaches Licht. Nun gewahrte er den Hund, der sich an ihn
schmiegte, und wie sich erinnernd sprach er: „Ein wunderbarer Traum — fast
müsste ich an seine Wirklichkeit glauben! Sollte mir Jesus, der grosse Heiland,
wahrhaft erschienen sein? Diese Ähnlichkeit! Nur die Augen schauten mich viel
milder an." —
Und noch stand Naeme vor ihm mit der Weinrebe. Ihre Worte: „Nimm hin, sie ist
dein, da verzeihende Liebe sie für dich reifen liess!" ertönen immer wieder in
seinem Herzen.
Eine seltsame Traurigkeit aber kam über ihn, als noch einmal die Worte in ihm
lebendig wurden, die der liebe Freund zu ihm sagte: „Wenn dein Verstand nur Mich
— für den Heiland und Erlöser hält, dann ist es noch ein weiter Weg — bis in
deine Herzens-Welt!"
Noch einmal liess er alle Begebenheiten an sich vorüberziehen und dachte: „Das
mit der inneren Welt bleibt mir doch ein Rätsel. Stephanus kann sich nicht von
mir trennen, weil ich — in seiner Welt lebe? Das ist mir dunkel. Ich muss mit
Lazarus darüber sprechen, nahm er sich vor, und Klarheit suchen, sonst kommen
mir immer wieder Zweifel."
Endlich tagte es, — Langsam erwachte alles Leben ringsum — und wie mit anderen
Augen betrachtete er seine Umgebung. Dann sah er Lazarus kommen, der seinen
morgendlichen Rundgang machte. Paulus ging auf ihn zu, grüsste und bat: „Darf
ich dich begleiten?" Lazarus antwortete froh: „So erlebe denn mit mir am frühen
Tage, wie herrlich es ist: nur Handlanger der ewigen Liebe zu sein!"
So schritten sie durch die Ställe und ins Gesindehaus, wo in den Küchen die
Frauen schon tätig waren, für die vielen Bewohner Bethaniens das Frühmal zu
bereiten. Lazarus erklärte dem aufhorchenden Paulus: „Hierher gehe ich am
liebsten, denn es ist mir eine liebliche Entsprechung, wie fleissige Frauenhände
sich betätigen, um die Schaffenden richtig zu stärken. So auch beim himmlischen
Vater. In Seiner Küche, wo alles tätig ist, alles darauf eingestellt ist, uns
tüchtig zu machen, fehlt aber auch garnichts! Es ist, als ob die ewige Liebe
Anweisung gegeben hätte, doch jedes Herz zu berücksichtigen, damit es fest und
tüchtig werde!"
Länger als sonst blieb Lazarus bei den Frauen, die sich über den Besuch herzlich
freuten. Seine Anweisungen waren nicht wie Befehle, sondern nur wie Ratschläge,
und Paulus wurde hierdurch erst gewahr, welchem Geiste in Bethanien Rechnung
getragen wurde.
Nach dem Morgenmahle im grossen Wohnzimmer sagte Paulus: „Bruder, mir ist, als
ob heute alle freudiger und herzlicher wären, ja, als wenn ein ganz neuer Geist
mich erfüllte, denn ich habe in dieser Nacht ganz unglaubliche Dinge erlebt, die
eigentlich ins Reich der Träume gehören."
Sprach Lazarus: „ Dies ist vielleicht jetzt deine Meinung, in Wirklichkeit war
es doch ein seltenes Erleben, wenn auch nur wie ein Traum, jedoch sind es
Tatsachen, die bestehen bleiben. Nur glauben muss man es können, und glauben
wollen, dann hat die göttliche Führung ihren Zweck erreicht.
Das leise Wirken und Weben der ewigen Liebe an unserer Vollendung ist ja nie
beendet. Es ist wie das der Tages-Mutter am Himmel. Alle, auch die gottfernsten
Seelen werden von ihr bestrahlt und beleuchtet, Tag für Tag, fort und fort, bis
in alle Ewigkeit, weil die göttliche Liebe ja das Bedingende ist für die
Erhaltung alles Geschaffenen.
Siehe, der Herr hat uns über alle Dinge unterrichtet und uns über nichts im
Unklaren gelassen. Auch dich wird Er ebenso und vielleicht noch tiefer
unterweisen, aber glauben musst du Seinen heiligen Führungen! Du glaubst nun
wohl an Jesus, da du von Seinem lichtvollen Sein und Leben überzeugt wurdest.
Doch ist es eben für uns, die wir den Meister so wahrhaftig erkannt haben, wohl
viel leichter wie dir, Ihn in Seinen göttlichen Absichten mit der ganzen
Menschheit zu verstehen. Denn: du bist wohl von Seinem Dasein überzeugt, wir
aber von Seinem in Ihm lebenden Liebe-Leben!"
Erwiderte Paulus: „Aber Bruder, das möchte ich ja gern erfassen, es ist jedoch
etwas in mir, das mich daran hindern will! Erlaube mir darum, dich zu fragen —
es ist nicht Neugierde: Du warst doch schon einmal gestorben und somit in eine
ganz andere Welt entrückt. Bist du dir noch aller Einzelheiten dort bewusst und
hältst du es für möglich, dass auch ich in dieser Nacht, ähnlich wie du, in eine
ganz andere Welt geführt ward? Ich habe ja weiter niemanden als dich, den ich
danach fragen möchte, weil du in Wirklichkeit doch irgendwo gewesen sein musst,
als dein Körper im Grabe lag."
„Bruder Paulus — du verlangst viel", sprach Lazarus, „und doch kann es mit
wenigen Worten gesagt sein. Was lag im Grabe? — doch nur die Fleischhülle, die
meinem Geist- und Seelen-Menschen Wohnung gab.
Der Vorgang des Sterbens ist ja nur ein Ablegen dieser schweren Hülle, aber
zugleich ein Hineinziehen in die eigene, innere Welt, die jeder Mensch in sich
ausbauen kann und soll durch die Tätigkeit seiner eigenen Liebe-Bestrebungen.
Ein böser Mensch kann, wenn er aufhört, Mensch zu sein, und anfängt, Geist zu
werden, in seiner Innenwelt keine anderen Produkte finden, als die, welche seine
egoistische Eigenliebe als Saat hineinlegte. Ein guter Mensch aber kann sich
schon im Kleinen einen Begriff machen, welches Leben ihn erwartet. Es gibt auf
Erden kein Mass von solcher Genauigkeit, wie eben das, nach dem jeder drüben
bemessen wird je nach seiner Liebe-Betätigung;
Gewiss kann ich mich noch lebhaft entsinnen, wo ich damals in herrlich schönen
Orten weilte — — und doch wieder zurückgerufen wurde zum weiteren Dienst auf
dieser Erde. Aber, lieber Paulus, nicht deswegen habe ich mein Leben dem Herrn
geweiht, weil ich von Seiner Göttlichkeit überzeugt bin, sondern weil Sein
Sterben und Sein Auferstehen mir einen ganz neuen Überwinder-Geist übermittelte,
der mich zum wahren Gottes-Kinde machen will.
Du selbst als Pharisäer musst zugeben: eure Moral, die ihr prediget, war gut,
aber euer Vorbild um so schlechter! Jesus aber brachte uns keine Moral, sondern
offenbarte uns ein von der wahren Göttlichkeit durchdrungenes Leben als Vorbild.
Bei Jesum von Nazareth war Alles Offenbarung Seines Innenlebens. Sei es Seine
Lehre, sei es Seine Arbeit, seien es Seine Wunder oder Seine Hingabe an Seine
Brüder - alles war vorbildlich, und wird auch Vorbild bleiben, solange die Erde
Menschen trägt.
Darum ist es unsere heilige Aufgabe, dass wir Sein Wort und Sein Leben wie einen
Leuchter auf eine erhöhte Stufe stellen, dass es uns allen als Vorbild voran
leuchte: Es bleibe uns Wegweiser auf dem schmalen Wege nach innen und
erschliesse uns das geheime Tor in unsere eigene Innenwelt, damit Jesus darin
der Herr und der König, der Priester und der Prophet werde, — und zuletzt als
der Herrlichste, Der Vater aller, Sich uns offenbare!
Entgegnete Paulus: „Bruder, ich glaube dir. Nachdem der Herr mich in dieser
Nacht so vieles aus der köstlichen Innenwelt der Menschen erleben liess, wird Er
mir auch die Gnade erweisen, mich mit Kraft und Licht zu erfüllen, um die mir
zugedachte Aufgabe für Sein Werk — in rechter Weise zu vollenden.
Lasse mich noch schweigen, bis alles Denken in mir geordnet ist, dann sollt ihr
meine wunderbaren Führungen erfahren."
„So sei es, Bruder Paulus!", sprach Lazarus fest; „Erst, wenn du dich ganz frei
fühlst und wie getragen von einem seligmachenden Geiste, dann magst du von den
Beweisen Seiner Liebe und Gnade reden, die dein Herz nun ganz erfüllt haben!“
Bei Demetrius und Ursus setzte nun eine grössere Tätigkeit ein, denn sie
rüsteten für die Heimreise nach Rom. Karawanen mit wertvollem Gut waren
gekommen, und bei allen Besprechungen wurde Jonas hinzugezogen, um seine
Fähigkeiten, ein Geschäftshaus in Damaskus zu leiten, zu beweisen.
In Pura vollzog sich, unsichtbar für alle Anderen, ein grosses Wunder. Sie hatte
etwas von dem neuen Leben ihres Gottes-Funkens schon erfasst, und die Mutter
Maria ward ihr zum Vorbild einer Helferin, die allen Leidenden nicht nur Trost,
sondern auch rechte Hilfe bringen konnte. Dazu war ihr die neue Heimat ganz
willkommen. Noch sprach sie zu niemanden davon, als nur zu ihrem Heiland; und in
den Stunden, wo sie mit ihrem Kinde allein war, hielt sie lange Zwiegespräche
mit Jesus.
Der Tag der Abreise ward festgesetzt und ein grosses Weihe-Fest sollte den
Abschluss bilden. Bei Ursus galt die Pflicht als höchster Gottesdienst, und als
alles Geschäftliche endlich bis ins Kleinste geordnet war, wollte er die letzten
drei Tage ganz in der Hingabe zu allen noch verleben. Er wusste, wenn er einmal
nach Rom zurückgekehrt war, würde eine Reise nach Judäa nicht mehr so leicht
möglich sein. So liess er am Tage vor dem Fest den Wagen anspannen und bat
Paulus, mit nach Jerusalem zu fahren, „wir können in wenig Stunden wieder zurück
sein."
„Das ist mir sehr lieb, du treuer Bruder", antwortete Paulus, „mit dir bin ich
weniger in Gefahr, denn Jerusalem ist jetzt heisser Boden für mich!"
O Bruder, warum witterst du Gefahr?" fragte Ursus unterwegs; „es sind doch nur
Menschen, vor denen du dich fürchtest, und vor Menschen habe ich noch nie Furcht
gehabt! Bist du, mit dem Meister fest geeint, nicht mächtiger als alle, die dir
schaden wollen? Siehe, deine Furcht ist Schwäche, und sie muss in dir überwunden
werden!
Solange wir noch Furcht vor den Menschen haben, sind sie unsere Feinde. Wenn
aber das Bewusstsein in dir lebendig wird: keiner kann dir schaden, keiner kann
dir Schmerz zufügen, wenn es die ewige Liebe in Gott nicht will, dann sind diese
Menschen in deiner inneren Welt nur arme, verirrte Hilfsbedürftige, und alle
ihre bösen Absichten gegen dich werden unwirksam, ehe sie dieselben ausführen
können."
Paulus überlegte diese Belehrung ernst und sagte dann: „Ursus, du hast meiner
Schwäche einen mächtigen Stoss versetzt, und darum muss ich noch darüber
nachdenken.
Du sagst: Wer mit dem Meister geeint ist, ist mächtiger als alle, die uns
schaden wollen! Ich glaubte und hoffte doch, ganz mit dem Meister eins zu sein -
dies bewiesen die Gnadenführungen und die Taten, die ich schon durch Ihn wirken
konnte. Doch zugleich meldet sich jetzt diese törichte Furcht vor dem Hass der
Templer in mir. Da bekommt mein Glaube ja einen gewaltigen Schlag. Irre ich mich
oder irrest du?"
Ursus antwortete: „Gut, dass du in dieser Sache noch einmal mit mir sprichst,
denn nichts ist schlimmer, als wenn solch ein Gedanke nicht geklärt wird, und
Jünger Jesu müssen in allen Dingen sehr klar denken. Du und ich, wir beide sind
verschieden im Charakter und überhaupt in unserer ganzen Wesenheit.
Dir haftet vor allem noch dein früherer Glaube an das Gesetz Mosi an, und
folglich nimmst du die Verheissungen der Propheten fast buchstäblich, während
ich ganz frei davon bin. Du lerntest, neben deinem Gott an Seinen eingebornen
Sohn glauben, und darin liegt vielleicht die Ursache deines inneren Zwiespaltes.
Bei mir sieht es anders aus.
Die Wesenheit Jesu Christi hat jede Faser in mir so durchdrungen, dass ich mich
ohne Seinen Geist, ohne Seine Kraft nicht zurechtfinden könnte. Ich bin von dem
Bewusstsein erfüllt, dass mein Leben ohne Jesus gänzlich wertlos wäre. Würde
aber dieser unser Jesus nur Gottes Sohn bleiben, dann müsste eben unser Bruder
Jesus in grossen, entscheidenden Dingen auch bittend zu Gott gehen, wie wir es
als rechte Gottes-Kinder auch tun müssen!
Nun aber hat sich in mir das Wunder vollzogen: Der Sohn ist mit dem ewigen Vater
verschmolzen, und ist, gleich wie Feuer und Wärme — eins! Und, Bruder Paulus,
ich sage dir: in der ganzen Unendlichkeit wird sich kein anderer Gott mehr
offenbaren können als Jesus Christus!
Obwohl Er Mensch war und irdisches Fleisch trug, ist Er doch in Seinem innersten
Wesen Gott geblieben. Wäre Er von einem Menschen gezeugt worden, so hättest du
vollkommen recht! So aber ist Seine Mensch-Werdung dasselbe Wunder, wie Er in
mir alles in allem werden konnte. Das Wunder Seiner grossen Liebe zu uns
Menschen ist eben das Unbegreiflichste!
Um deinetwillen, lieber Paulus, sagte ich dieses, und wer drängte mich dazu? Das
ist eben Jesus in mir. Jesus — unser aller Vater! Ohne den bin ich nichts, mit
ihm aber alles.
Paulus bekannte: „Zu all deinen Worten, lieber Ursus, kann ich nur sagen: ich
wünschte, es wäre bei mir ebenso! Nun erst kann ich es mir erklären, weshalb ich
in voriger Nacht im Traum Jesus nicht gleich erkennen konnte und Seine Worte
nicht verstand: Wer Jesum nur erst in seinem Verstande erfasst hat, bei dem hat
Er noch einen weiten Weg, bis in seines Herzens-Welt zu gelangen!"
„Sei getrost", entgegnete Ursus, der Herr durchschaut dein Inneres und sieht
dein Wollen und Wünschen! Er gibt dir trotzdem so viel Kraft, als nötig ist, und
so viel Weisheit, um in allen Dingen Sein Werk und deine Aufgaben daran zu
fördern.
Nur Liebe kann Er dir nicht geben, weil diese der Mensch Ihm darbringen soll.
Nach dem Masse deiner Liebe erst wächst Sein Ich in dir. So viel Er aber in dir
gewachsen ist, musst du folglich von deinem eigenen Ich abgenommen haben. Wir
wollen nun nicht weiter darüber reden, weil es ja jedes Gotteskind in sich
selber finden muss, wie es sich zur herrlichen Vater-Liebe einstellen will."
Ursus schwieg — und Paulus musste feststellen:, „Dieser Römer denkt wie Simon
und Naeme", und dabei wurden wiederum all die Erlebnisse im Traum lebendig.
Bald waren sie vor dem Hause Marias angelangt. Paulus trat ein, Ursus fuhr erst
zu dem römischen Hauptmann Benno zu kurzem Besuch. Paulus hatte bemerkt, dass
Maria schon zum Fortgehen gerüstet war und fragte: „Woher wusstest du, dass wir
kommen, um dich abzuholen?"
Lächelnd sagte Maria: „Lieber Bruder, darüber wundere dich nicht; denn schneller
als der Blitz erleuchtet uns der innere Funke auch die Vorgänge in der
Aussenwelt. Freilich, wer erst alles mit seinem Verstand erfassen will, kann von
dem Wehen des Geistfunkens wohl nur wenig in sich verspüren!
Nur wer in sich, in der wahren Gotteswelt, schon lebt, wird oft auch über die
Gedanken anderer Menschen unterrichtet sein. Dieses ist aber nicht eine Frucht
des blossen Glaubens, sondern ist die volle Einung des in uns wohnenden
Gottesfunkens mit dem Feuer des ewigen Ur-Geistes!
Werde ganz Liebe! Dann kannst du täglich solche Wunder erleben, die aber nur die
natürliche Folge des in dir sich regenden Gotteslebens sind.
Um dir dieses noch deutlicher zu machen, sage ich dir: In vergangener Nacht bist
du an vielen Seligkeiten vorbeigegangen, und darum betrachtest du all das
Erlebte heute nur noch als Traum. Überhaupt möchte ich dir noch sagen: Jeder
Vorgang, sei es bei Tag oder bei Nacht, ist eine Sprache, die nur das erwachte
Herz verstehen kann. Stelle dich auf den Boden reiner, wahrer Kindesliebe zum
heiligen Vater und du wirst nie geahnte Wunder erschauen!"
Da kam Ursus und holte die beiden ab nach Bethanien. Maria schilderte ihnen
unterwegs von den Gnaden-Vorgängen, welche die Brüder täglich erlebten, und auch
Ursus war ein stiller Zuhörer dabei.
Am Abend kam noch Johannes mit einigen Jüngern, und nach dem Abendessen bat
Lazarus den Paulus, ihnen etwas von seinen herrlichen Gnaden-Führungen in der
Nacht zu schildern, wozu Paulus auch gern bereit war. Und voller Andacht hörten
alle zu und erlebten mit ihm die Seligkeit der vergebenden Liebe von Naeme.
Am anderen Morgen sang David mit Salome in besonders jubelnder Freude das
Morgengebet, da Lazarus beide eingeladen hatte, mit der Karawane des Demetrius
nach Neu-Bethania zu fahren, wo Theophil schon als Gottesdiener wirkte.
Nach dem Morgenmahl erschien schon der Hauptmann Benno mit seinem Weibe Verona
und seinem Unterführer Herminius; und wie immer sah man herzliche Freude und
strahlende Gesichter.
Lazarus bat Paulus, sich zu diesen Römern zu gesellen: „Dort ist für dich eine
besondere Aufgabe, denn diese haben den Meister in Seinem Erdenleben auch nicht
gekannt."
Verona ging mit Maria zu den Schwestern des Lazarus und dann zu Pura, Miriam und
Ruth. Die Männer hatten sich in ein ernstes Gespräch vertieft über den neuen
Überwinder-Geist, der ihnen von dem Auferstandenen überkommen war, und Herminius,
der ein ernster Gott-Sucher geworden war, hörte sehr aufmerksam zu.
Dann kam die Rede auf die Herkunft des Menschen und die hohen Absichten Gottes
mit der Menschheit. Ursus erklärte: „Gewiss ist alle Rückerinnerung ausgelöscht,
aber mit dem Reifegrad, wo der Mensch sich erkennt und in innere Verbindung mit
seinem ewigen Schöpfer tritt, kommt der erwachende Gottesfunke unserm
Bewusstsein zu Hilfe und offenbart uns Dinge, die uns fast märchenhaft
erscheinen.
Mit diesen Offenbarungen aus unserer Vorwelt kommen natürlich auch Offenbarungen
für unsere künftige Mission, und dadurch erst erhält unser Erdenleben seinen
übergrossen Wert. Der Mensch weiss nun, warum und wozu er hier lebt. In ihm wird
es licht, und er fängt an, seine Gedanken-Welt zu ordnen und in eine innere Welt
zu umstalten, die ganz sein Eigentum wird, da sie ja aus dem Produkt seiner
Liebe-Neigungen entstanden ist.
Lebt Gott in dir, wenn auch nur nach deinen engen Begriffen, nie wird Er Sich
dir anders nahen können, als eben diesen deinen Vorstellungen gemäss. Sehet,
dieses ist das ganze Geheimnis mit wenig Worten dargestellt, und doch langt bei
den meisten Menschen ihr Erdenleben nicht aus, um dieses zu fassen und sich
darnach einzustellen.
Glaube, so du es zu glauben vermagst. Kannst du es nicht, so warte ruhig den
Zeitpunkt ab, bis der Herr dir die rechte Reife dazu anzeigen wird."
Paulus ging auf Ursus zu und sagte: „Ich danke dir, mein Bruder! Deine Worte
waren an mich besonders gerichtet — mit einem Schlage hast du jeden Zweifel
hinweggerissen. Nun sehe ich klar! Sehe meine Aufgaben mit anderen Augen und
kann mich ruhig dem Wirken der erlösenden Heilands-Liebe überlassen. Ursus, ich
sehe ein, je mehr wir noch nach Worten suchen, um so weiter entfernen wir uns
von Seinem Leben in uns. Wenn ich aber ganz stille in mir werde, dann wird Er
der Herr in meinem Hause sein!"
Die Tische waren gedeckt, und Lazarus lud alle zum gemeinsamen Mittagsmahle ein.
Zwanglos unterhielten sich die Gäste, und David und Salome schufen die
Weihe-Stimmung durch Harfe und Gesang.
Zum Schluss sprach Lazarus: „Heute sind wir alle von der Liebe unseres Bruders
Demetrius geladen. Seinem Herzen war es Bedürfnis, noch einige schöne Stunden
mit uns zu verleben, die an nichts als nur an Himmlisches erinnern sollen. Bald
werden die römischen Freunde aus Jerusalem kommen, und ich bitte alle: So, wie
unser herrlicher Meister zu allen Menschen gleich gut und liebevoll war, so
wollen auch wir es sein!
Demetrius, du unser treuer Bruder, freue dich dessen: deine Gäste sind auch
unsere Gäste, und deine Freunde sollen auch unsere Freunde sein. An diesem Abend
möge ein Licht von der in uns erstrahlenden Liebe hinaus in andere Sphären
dringen und die Kunde geben: Der grosse Herr und Heiland ist unser Licht und
Liebe-Leben."
Darnach gingen alle voll dankbarer Freude in die schönen Gärten. Nur Ruth war
etwas ängstlich geworden und bekannte ihrem Ursus: „Wenn doch dieser Tag erst
vorüber wäre! Als Gastgeberin soll ich die fremden Gäste begrüssen? Ursus,
weisst du, was es bedeuten will: Hier — war ich Kind, nun soll ich gleich einer
Herrin — würdevoll erscheinen? Erspare mir diese Aufgabe, ich bin nicht fähig
dazu!"
„Aber Ruth", rief Ursus ernst, „bist du nicht das Weib eines Römers und die
Tochter des Kaufherrn Demetrius? Du willst doch Vater nicht betrüben, wenn er
seine Freunde heute zu seinem Abschiedsfeste einladet. Du hast deine Eltern,
hast Lazarus und Maria um dich, alle sind da, um dich zu stützen. Und, meine
Ruth, bedenke: auch der Welt gegenüber — musst du deine Pflichten erfüllen!
Bleibe einfach und schlicht und sei dir bewusst, dass es viel besser ist, so man
Brücken baut zu den Herzen der Fremden, als sich von ihnen zurückzuziehen!
Lazarus will dieses Fest weihevoll gestalten. Dies kann aber nur möglich werden,
wenn aller Herzen dafür eingestimmt sind.
Sorge dich nicht: vor unsern Gästen, Freunden und Geschwistern bist du heute
Herrin — doch vor unserm liebenden Jesus-Vater bist und bleibst du Kind!"
Auch Maria lächelte um dieser Sorge willen, sie sagte: „Ach Kind, einmal musst
du doch zu repräsentieren anfangen, denn Gotteskinder hier auf Erden sollen
Stellvertreter Gottes werden!
Sei dir deiner Würde als Gotteskind bewusst, damit auch du eine bleibende Statt
in den Herzen der Freunde erhältst! Wir sind doch noch in Bethanien, wo sich
alle freudig als herrliche Gottesgemeinschaft bekunden."
Schon kamen die ersten Gäste, Kaufherren mit ihren Frauen in festlicher Tracht,
und immer neue Wagen kamen angefahren.
Demetrius und Ursus, sowie Ruth, bewillkommneten dieselben und machten die
Fremden mit den Angehörigen des Hauses bekannt. Diener brachten Erfrischungen
und führten die Gäste in die schattigen Gärten und Plantagen.
Der Mittelpunkt ihres Interesses aber blieb Ruth. Alle ihre Scheu war plötzlich
überwunden. Ihre Würde und zarte Schönheit rief Bewunderung hervor; und doch war
sie selbst voller Freude und Heiterkeit, so dass Enos und Miriam über ihre junge
Tochter im Stillen erstaunt waren.
Lazarus war Stütze des Demetrius und die Seele des ganzen Festes. Seinen Augen
entging nichts, denn es galt, den Stand der Christen vor den Römern zu erhöhen -
und dabei der Gastfreundschaft doch voll gerecht zu werden.
Im grossen Saale wurde zum Festmahl gerichtet. Demetrius staunte selbst über den
Reichtum des Lazarus und sagte: „O Bruder Lazarus, ich bewundere diese Pracht!
Woher stammt denn diese Überfülle von Gold- und Silbergefässen?"
„Sei ohne Sorgen", antwortete Lazarus, „dieses alles gehört nicht mir, sondern
dem Herrn, der es mir einst zur rechten Verwendung überreicht hat. Nur bei
festlichsten Anlässen, ganz um der Liebe willen, lasse ich die Truhen öffnen und
dies auf die Tafeln bringen. Mit diesem Vorgang aber mache ich nun auch den
Herrn zum Gastgeber, und ich bin nur Sein treuer Diener.
O Demetrius, so wir beide nun gemeinsam, den Herrn als unsern Gastgeber
anerkennen und Gebrauch von Seinem Angebot an köstlichen Schätzen machen, dann
ist ein Teil unserer Mission erfüllt, und wir machen Seinem Vaterherzen Freude."
Gegen Abend sagte Lazarus: „Nun, lieber Demetrius, rufe deine Gäste und führe
sie in den Speisesaal — alles ist bereit."
Als alle versammelt waren und auf Anweisung ihrer Plätze warteten, erklärte
ihnen Demetrius: „Meine Freunde, hier in Bethanien gibt es keine Rang-Ordnung;
bitte, betrachtet euch wie Brüder und nehmet Platz ganz nach eurer Wahl."
Wohl stutzten die Fremden, aber sie kannten doch Demetrius und Ursus und
achteten stets ihre oft besonderen Anschauungen; und als Ursus und Ruth schon
mitten im Saal ihren Platz eingenommen hatten, setzten auch sie sich.
Alle waren still erstaunt über die Pracht, die aufgewendet war. Goldene Leuchter
brannten auf allen Tischen, goldene Geschirre, kleinere und grosse goldene
Becher und silberne Krüge funkelten im Kerzenglanz.
Demetrius erhob sich, schaute alle Anwesenden freundlich an und sagte: „Meine
Freunde! Ich habe euch gebeten, heute meine Gäste zu sein in dem Hause, wo ich
selber nur Gast bin. Ihr seid gekommen und habt mir eine rechte Freude damit
gemacht. Dieses Fest soll eine Abschiedsfeier sein und soll den Zweck haben, uns
alle in bleibender Erinnerung zu behalten. In zwei Tagen sind wir schon auf dem
Wege nach unserer Heimat, nach Rom, und wer weiss, ob und wann wir uns auf Erden
noch einmal begegnen.
Ihr wisset alle, dass ich und die Meinen hier in Judäa ein grosses, echtes Glück
für unsere Seelen gefunden haben, und dieses verdanken wir dem grossen Nazarener
Jesus, den ihr fast alle dem Namen nach kennt. Er lebt nicht mehr als Mensch in
unsern Reihen, aber in unsern Herzen ist Er eine lebendige Persönlichkeit.
Darum möchte ich nicht, ohne Seiner zu gedenken, ja ohne Seine geistige
Gegenwart und Seinen göttlichen Segen dieses Mahl beginnen. Ich bitte euch
darum: Erhebet euch von euren Plätzen, damit ich Seinen Segen und Seine
Gegenwart erflehen kann!"
Alle waren aufgestanden — dann betete Demetrius: „O Jesus, du Herr und Vater
aller Menschen! In Deinem Geiste und in Deiner Liebe habe ich meine Freunde hier
geladen zu einer Abschiedsfeier. Du aber machest uns das Mahl erst zu einem
Liebes-Mahl und unser Beisammensein zu einem heiligen Feste! So bitten wir Dich:
O komme, und sei Du unser liebster Gast, und segne mit Deiner Liebe alle unsere
Herzen und alle Gaben um Deines grossen Werkes willen! Amen!" —
„Ich danke euch allen, meine Freunde, und nun stärket euch mit dem, was unsere
Liebe euch bereitet hat." Man setzte sich. — Lautlos reichten die Diener die
Speisen; Brot und Wein stand schon auf den Tischen, und so griffen alle gern zu.
Doch ganz erstaunt schauten sie einander an und bekannten: „O welch ein
köstlicher Geschmack! So etwas Herrliches haben wir noch nie gegessen!"
Jetzt erhob sich Ursus von seinem Platze, nahm einen gefüllten Becher in die
Hand und begann: „Meine Freunde, Brüder und Schwestern! Unsere Liebe hat euch
geladen zu diesem Feste, welches Der uns weiht, der ,die Ewige Liebe' ist! Mir
ist es ein Bedürfnis, euch dieses zu verkündigen, und euch zu bitten, mit mir
von diesem von unserm göttlichen Vater besonders gesegneten Wein zu trinken.
Darum stimmet in euren Herzen mir bei, wenn ich sage: „O du gütiger und heiliger
Vater aller Menschenkinder! Dein ist die Liebe, Dein ist alle Kraft und die
Herrlichkeit, die wir durch deine Gnade jetzt und immerdar empfangen! So wollen
wir alle von diesem, von Deiner Liebe gesegneten Wein trinken mit dem Wunsche:
dass das zarte Band, das Deine Vaterliebe um uns webt — ein bleibendes werde!
Amen!"
Die fremden Gäste waren betroffen, taten aber nach seinem Wunsch und fühlten
sich sogleich von dem köstlichen Trunk so beschwingt, dass ein stilles Verlangen
in allen erwachte, noch mehr von dieser Göttergabe zu geniessen!
Darnach erhob sich ein Römer, ein Hüne von Gestalt, aber in seiner Stimme lag
ein wunderbarer Klang, als er sagte: „Mein Freund Demetrius — und du mein lieber
Ursus, ich muss vor euch eine Beichte ablegen und scheue mich nicht, vor diesen
deinen Freunden und Gästen es zu tun. Ich kenne euch als tüchtige Kaufherren,
habe euch aber doch manchmal bedauert und auch geäussert: O diese
Liebes-Schwärmer — welche Enttäuschungen werden sie noch erleben!
Heute nun muss ich euch um Verzeihung bitten, heute habt ihr diese meine
Meinungen besiegt. Was eure Worte nicht vermochten, hat dieses Mahl, hat vor
allem dieser Wein erreicht. Ich kenne jeden Wein — aber diesen noch nicht! Darum
glaube ich nun euch beiden und muss somit auch an den glauben, der euch diesen
Wein gedeihen liess. Und ich bekenne gern: Ja, bei solch einem Vater — muss man
sich als Kind wohlfühlen können! Zum Zeichen nun, dass ihr mir alles verziehen
habt, bitte ich euch beide, trinket mit mir, ihr lieben und doch so seltenen
Menschen, aus meinem Becher!"
Demetrius erhob sich und antwortete froh: „Lieber Benito! wie gern erfüllen wir
dir solchen Wunsch! Aber wir möchten noch unsern Bruder Lazarus einladen zu
dieser unserer Verbrüderung, denn er ist ja der Hüter und Herr Bethaniens, und
der vollkommene Willens-Ausdruck unseres Meisters Jesu! Komm, lieber Lazarus und
schliesse diesen Bund mit uns um der himmlischen Liebe willen!"
Lazarus kam und brachte einen grossen goldenen Becher mit, gefüllt bis zum Rand,
und sagte: „So, wie wir nun aus diesem Becher trinken wollen, um uns an der Güte
dieses gesegneten Weines zu erfreuen, so wollen wir eins sein und bleiben in der
Liebe zu unserem guten Vater! Darum segne Du, o Herr, diesen Trunk noch
besonders, und ebenso diesen unsern Bund!"
Lazarus trank und reichte den Becher dem Römer; dieser genoss langsam und mit
Andacht von diesem kostbaren Wein — reichte ihn dem Demetrius und dieser dann
dem Ursus.
Als Ursus den Becher an Lazarus zurückgab, sagte dieser: „Meine Brüder! Einen
Bund haben wir beschlossen, der gültig sein soll bis in Ewigkeit. Dir aber,
meinem neuen Bruder Benito, schenke ich diesen Becher zum Gedenken an diese
Stunde. So oft du aus diesem Becher trinken wirst in dankbarem Gedenken an den
grossen Geber Jesus, sollst du diesen Himmelsgeschmack wieder spüren!"
Ganz überrascht fragte der Römer: „O meine Brüder! Womit hätte ich dieses
überaus kostbare Geschenk verdient? Denn dieser Becher ist ein Meisterwerk,
wahrlich, etwas Ähnliches habe ich noch nicht gesehen."
Antwortete ihm Lazarus: „Bruder Benito! Dieser Goldbecher möge dir ein
sichtbares Geschenk der himmlischen Liebe bedeuten, die mich dazu aufforderte,
als du deine geringe Achtung vor uns Nachfolgern Jesu bekanntest und sie jetzt
in aller Öffentlichkeit in Hochachtung für unsern Glauben an die Macht
göttlicher Liebe umgewandelt hast. Damit ehrtest du uns und die Liebe unseres
Gottes."
Benito betrachtete schweigend und aufmerksam den schweren, goldenen Becher, und
fragte nach einer Weile: „Was bedeuten diese Gravierungen?"
Da erklärte Lazarus: „Ich will es dir ganz kurz andeuten, wenn du Musse dazu
hast, wirst du noch viel mehr darin finden. Hier dieser Abschnitt zeigt die
Erschaffung des ersten Menschen, und wie er mit seinem Weibe in Harmonie mit
allem Geschaffenen im Garten Eden glücklich lebt.
Der nächste Abschnitt zeigt den Menschen im Kampf mit seinen Brüdern, und wie er
dadurch sein Höchstes, seine Gott-Ähnlichkeit, verliert. Hier dieser Abschnitt
zeigt die ,Mensch-Werdung' Gottes, wo Tiere zum Zeugen und Engel Verkünder an
einfache Hirten werden, ob dieses aussergewöhnlich grossen Welt-Geschehens!
Der letzte Abschnitt zeigt ,die Kreuzigung', als Werk des Hasses, und dann ,die
Auferstehung' Jesu als göttlicher Meister! Also eine Geschichte der Menschheit
in ihrem Werden, ihrem Abfall von Gott in Irrtum und Wahn, und ihre Erlösung
durch die Macht der Jesus-Liebe.
Danke nicht uns, sondern dein Danken möge ein Dienst an deinen Menschenbrüdern
werden! Frage auch nicht nach dem Künstler, denn wenn Gott diese Erde, Sonne,
Mond und alle Sternen-Welten geschaffen hat, wird Er wohl auch imstande sein,
diesem sieben Pfund schweren Becher ein Dasein zu geben. Nun sei er dein! —
Behalte ihn in treuem Gedenken an Jesus, und benutze ihn im Dienste Seiner
Liebe!"
Der starke Römer war erschüttert — endlich sprach er laut: „Ich danke Dir, Du im
Geiste hier weilender Meister Jesus! Lasse Dich auch von mir erkennen, damit ich
mich Deines wunderbaren Geschenkes würdig erweisen kann."
Diese Szene hatten alle Anwesenden miterlebt, und alle möchten nun auch diesen
Becher genauer betrachten.
Benito möchte am liebsten alle aus diesem Becher trinken lassen, fragte aber
erst Lazarus darum. — Dieser antwortete ihm: „Was könnte dich daran hindern? Ist
nicht Wein genug da, um alle zu erfreuen? Für uns in Bethanien gibt es keine
grössere Freudebetätigung, als unsere Mitmenschen so recht zu beglücken."
So lässt Benito den Becher füllen und spricht zu allen: „Liebe Freunde! — Fast
möchte ich sagen: Liebe Brüder! Dem Herrn und Meister Jesus zu Ehren trinket
alle aus diesem Becher, damit auch euer Herz sich erfreuen lerne an dem, was
alles uns von Ihm geschenkt wird! Ihm sei Ehre und Preis!" —
So tranken alle daraus — die Stimmung wurde immer gehobener, und die Gäste
unterhielten sich in Gruppen von diesem göttlichen Meister Jesus.
Benito hatte erfahren, dass die Mutter Jesu hier anwesend sei, und bat, sie
kennenlernen zu dürfen, um sich ein Bild von ihrem Sohn machen zu können.
Maria aber sagte freundlich: „Lieber Freund — und nun in Seinem Geiste — auch
Bruder! Schaue hier auf diese Brüder, sie verkörpern ganz Sein Wesen. Du kannst
dich mit jedem einzelnen unterhalten und jeder wird dir geben, was dir auch
Jesus geben würde.
Siehe, du hast den Wunsch ausgesprochen, Ihn näher kennen zu lernen. Mit Jesum
ist es aber eine eigene Sache, denn ich lerne Ihn nicht kennen — wenn ich mich
von Ihm, Seinem Wesen, Seinem Tun und Wirken unterrichten lasse, sondern wenn
ich Sein grosses Wollen, Sein heilig Werk, zu meiner Sache mache, und Seinem
Heiligen Geiste mein Herz und meine Innenwelt erschliesse.
Wenn ich an Seine Erdenzeit zurückdenke, möchte mich wohl Wehmut erfassen, weil
wir Seine Sache nicht gleich zu der unsrigen machen konnten. O welch ein
Gegensatz war manchmal zwischen unserm alten Glauben und Ihm, bis wir endlich
doch einsehen mussten: Er war im Recht! Hatte Er doch schon manche Schwächen in
sich überwunden, was uns zu tun unmöglich erschien, und vor Seiner herben
Offenheit musste uns oft bange werden. So sind wir Stufe um Stufe gewachsen, bis
die Gewissheit kam: Er ist mehr — denn ein Mensch! Ja, was in Ihm lebt — und
ringt — und kämpft — ist Gott!
Als die Zeit kam, wo Er Seine göttliche Sendung frei und öffentlich bekannte,
war die Zahl Seiner Freunde natürlich nur sehr klein, der Gegner Seiner Lehre —
aber sehr gross!
Überblicke ich heute Seine Sendung, so muss ich sagen: O Jesus! Du hast nicht
umsonst unter deinen Menschenkindern gelebt, und Dein Sterben war ja nur das
Alarm-Zeichen für Dein heiliges Erlösungs-Werk. Nun aber, wo wir alle erlebten,
dass Du auch den Tod überwunden hast und Sieger über alles Leben geworden bist,
wissen wir, dass wir unser Leben an Dein Leben ketten dürfen."
Benito suchte alles in sich aufzunehmen, so neu es ihm auch erschien, dann
fragte er noch: „Maria, würdest du von Jesus auch so sprechen, wenn Er nicht
dein Sohn gewesen wäre?"
Antwortete Maria: „Dass ich hier Seine Mutter sein durfte, wird wohl erst in der
Ewigkeit voll und ganz seine Erklärung finden, hat aber mit meinem Zeugnis für
Ihn nicht das Geringste zu tun.
Mit Seiner Auferstehung ist ja auch zwischen mir und Ihm ein ganz anderes
Verhältnis eingetreten, denn von dieser Stunde an — bin ich nicht mehr seine
Mutter, sondern ,Kind' wie du! Ich muss bemüht sein, jede Gelegenheit
wahrzunehmen, um mich nicht ablenken zu lassen, sondern durch Seine Sprache im
allerinnersten Herzenskämmerlein stets mit Ihm in Verbindung zu bleiben.
Und jeder, der die Bedingungen dazu: ,Liebe Gott über alles und deinen Nächsten
wie dich selbst!' gern und freiwillig erfüllt, wird bald mit Ihm in nähere
Beziehungen treten. Denn Gott kann nur da wohnen und wirken, wo Ihm die
Herzens-Welt erschlossen ist."
Sprach Benito ernst: „Dein Zeugnis von Jesus genügt mir vollkommen, liebe Maria.
Und wenn Menschen wie Demetrius und Lazarus ihr Vermögen und ihr Leben in Seinen
Dienst stellen, und sich dabei nicht ärmer, sondern sichtlich immer glücklicher
fühlen, so weiss ich jetzt, was ich Seinen Feinden zu antworten habe."
Lazarus brachte ihm jetzt den Becher zurück. Benito stellte noch einige Fragen
über dessen Herkunft, und so erzählte Lazarus: „Wie lange dieser Becher schon in
den Truhen bei dem anderen Goldgeschirr liegt, kann ich nicht sagen. Ja es kommt
mir vor, als hätte ich denselben heute zum ersten Mal in Händen. Bei den grossen
Gnadengeschenken durch den Herrn oder Seine Engel ist man auch nicht begierig,
jeden Gegenstand richtig in Augenschein zu nehmen; denn oft haben Engel im
Augenblick alles zum Mahl geordnet. Heute, als ich den Becher betrachtete,
sprach der Herr in mir: „So dich dein Herz drängt, einen Beweis Meiner Liebe zu
geben, so wird dieser Becher der rechte sein." Siehe, so tat ich nach dem
Geheiss des Herrn, der in mir lebt, und dem ich alles danke."
„Lazarus, davon musst du mir noch mehr erzählen! Aber nicht heute, sondern ich
hole dich einmal in mein Haus, um in Gegenwart meiner Familie und einiger
Freunde von eurem Jesus und deinen Erlebnissen mit Ihm zu hören."
„Dieses tun wir gern, Bruder Benito, denn jede solche Bitte ist mir wie ein
Gottes-Ruf! Wenn du aber mit der Mutter Maria und den Brüdern in die rechte
Unterhaltung über Jesus gekommen bist, erübrigt sich vielleicht alles andere.
Siehe, hier bei uns wird nicht Wissenschaft und Kunst gepflegt, hier ist keiner
mehr und keiner weniger, sondern wir bemühen uns alle, jedem zu geben, was die
ewige Liebe für ihn in steter Bereitschaft hält. In diesem Bemühen lässt uns der
Herr auch nie allein, und Sein Wort: Siehe, Ich bin bei euch alle Tage, hat sich
bis jetzt immer bewahrheitet! —
Aber nun kommt unser Sänger und möchte auch seine Liebe zu Gott vor allen
bezeugen!" David hatte seine Harfe bereitgestellt, und seine Hände liessen so
reine Töne aus ihr erklingen, dass alle schwiegen. Lauter jubelten die Saiten —
und er sang zu seinem Spiel ein Loblied auf die grosse Liebe Gottes zu allen
Menschenkindern. Dann schloss er:
„Drum Freunde, möcht ich bitten euch von ganzem Herzen,
vergesst die Stunde nicht, wo ihr beim Herrn geweilt!
Durch unsre Reihen ist Er ja geschritten,
als uns zum Trunk der Becher ward gereicht. — Halleluja — Amen."
Von allen Seiten wurde ihm Dank gesagt. David aber meinte: „In meinem Herzen
singt es immer fort, seit ich die Liebe unseres Herrn erlebte." Es baten nun
einige der römischen Gäste um noch ein Lied — er gab seiner Tochter einen Wink,
und beide sangen in ihrer herrlichen Art den Psalm 23: Der Herr — ist mein Hirte
—. Waren die vielen Gäste zuerst erstaunt über die schönen Stimmen, jetzt waren
sie vom göttlichen Hauche berührt, und ihre Herzen waren zubereitet für ein Wort
aus der Höhe.
Demetrius gab bekannt, dass der Jünger Johannes zu allen sprechen wolle aus dem
Geiste der Gottesliebe, den David eben besungen hatte, und Johannes begann:
„Schwestern, Brüder, und ihr lieben Freunde! Die Liebe hat uns zu diesem Feste
geladen und wir sind gern gekommen. Darum war es nicht nur ein irdisches
Vergnügen, dass wir uns hier in Bethanien kennen lernten, sondern es war die
hohe Absicht Gottes, mit einem zarten Bande der Liebe alle unsere Herzen zu
vereinigen. Keiner von Euch ist ohne Belehrung über Göttliches geblieben, und es
ist auch keiner unter uns, dem Gott nicht schon begegnet wäre!
Aber die meisten von uns werden dieses kaum beachtet haben und ihren göttlichen
Führungen vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt haben. Gott aber, als
die ewige Vater-Liebe, grollt jedoch deswegen nicht, sondern sucht nach immer
neuen Mitteln, Sich in Seinen unendlichen Liebe-Absichten allen Menschenkindern
offenbaren zu können!
Heute ist uns allen ein neuer Beweis Seiner grossen Liebe gegeben, doch auch
heute würde mancher achtlos an diesen zarten Schwingungen seiner Seele
vorübergehen, wenn Seine Kinder euch nicht so liebevoll daran gemahnt hätten!
O meine Freunde und Brüder! Sollte je ein Mensch in der grössten Gottes-Ferne,
ja im tiefsten Schlamm der Sünde sich befinden — auch dorthin eilt Sein
erbarmender Liebe-Geist und wartet auf die freiwillige Umkehr der Verirrten!
Der Herr ist wohl Seiner Person nach von uns gegangen, aber Sein Heiliger Geist
ist bei uns geblieben, und ist der Schlüssel zu allen Himmeln, zu allen
Seligkeiten!
Dieser Heilige Geist, so Er in eine Seele einziehen darf, bewirkt den Freispruch
von allem Falschen und Verkehrten! Und dieser Sein Geist ist zugleich die
Triebkraft, die mahnt und drängt: nur Seinen heiligen Willen zu erfüllen: ,Liebe
Gott — über Alles! Deinen Nächsten aber — wie dich selbst!'
Tun wir dieses, dann sind die Bedingungen erfüllt, und unser ewiger Gott und
Vater kann bei uns weilen und die Gaben Seiner Liebe und Seines Segens, je nach
dem Masse unserer Liebe, an uns austeilen. Darum freuet euch alle, ob Seiner
Liebe zu uns, und liebet euch wahrhaftig untereinander, denn Er hat uns zuerst
geliebet! Sein heiliger Frieden — sei mit euch allen! Amen!"
Tiefe Stille lag über den Versammelten. — Leise sang David noch einen kurzen
Psalm als Abschluss, und dann schloss Demetrius diese Feierstunde: „Freunde,
bald scheiden wir nun aus diesem Lande, wo wir die grösste Gnade Gottes erleben
durften: den ewiggütigen Herrn und Vater aller Menschen in dem Meister Jesus
Christus kennen zu lernen.
So habet auch ihr alle, meine Gäste, heute einen Vorgeschmack von dem erhalten,
was allen denen bereitet wird, die mit diesem Vater durch ihr Erdenleben
pilgern, und sich zu Trägern Seines Geistes der himmlischen Liebe und zu treuen
Bewahrern Seines heiligen Wortes machen wollen.
So sage ich euch nun frohen Herzens zum Abschied: Dort, in der Ewigkeit, sehen
wir uns sicher wieder, und dort erleben wir, was wir hier gesäet haben! Bewahret
mir und meinen Kindern in euren Herzen ein treues Gedenken, wie wir es euch
bewahren werden! Alles andere wird der Herr ordnen in Seiner unendlichen Liebe
und Erbarmung mit uns!
Du aber, Herr und Vater in Jesus Christus, bleibe allezeit bei uns! Lasse Deine
Augen leuchten über uns, und Deine Gnade sei uns stets das Geschenk Deiner
Liebe! Amen."
Lazarus liess noch Früchte, Wein und Brot reichen. Der Geist der Bruderliebe
hatte in allen Herzen Eingang gefunden, und diese innere Beschwingtheit
spiegelte sich auf allen Gesichtern.
Was sich in den frühen Morgenstunden beim Abschied abspielte, ward allen ein
unvergessliches Herzens-Erlebnis — denn es ward ein Treue-Gelöbnis für Zeit und
Ewigkeit! —
IV. Abschied von Bethanien
Am anderen Tage hatte Lazarus noch eine letzte Unterredung mit dem alten Enos
und seinem Weibe Miriam. „Ihr meine Freunde! Nur Liebe und Fürsorge ist es, so
ich euch noch einmal den Vorschlag mache:
Benutzet die gute Gelegenheit und ziehet mit der Karawane des Ursus zu euren
Kindern nach Neu-Bethania! Bedenket, eure Tochter Ruth geht mit ihrem Manne nach
Rom, Jonas und Pura ziehen nach Damaskus, Salome und David — kommen nicht wieder
zurück, und euer Sohn Theophil verwaltet schon sein Amt in Bethania. Bedenket,
ihr würdet euch hier sehr einsam fühlen und würdet trauern um die, die da jetzt
scheiden müssen.
Lieber Enos, der Geist drängt mich, dich zu bitten: Ziehet mit dahin! Sage
nicht, du bist alt und müde geworden. Des Herrn Leben in uns ist ja das
Erhaltende und Stärkende. Um des grossen Werkes willen bitte ich euch: willigt
ein, denn du bist dem Herrn eine rechte Stütze geworden, auf die Er noch grosse
Hoffnung setzt! Dort erhält euer Leben einen neuen Inhalt, und ihr kommt über
die Trennung von Ruth leichter hinweg.
Auf diese dringlichen Bitten antwortete Enos endlich: „Lieber Lazarus! Auch ich
habe in den letzten Tagen schon viel darüber nachgedacht, wie einsam es hier für
uns werden wird, und so meine ich, es wird schon das Rechte sein, so wir deinen
Rat befolgen und von hier Abschied nehmen. Und auch Miriam wird sich meiner
Meinung anschliessen."
„O Bruder Enos und liebe Mutter Miriam", sprach Lazarus erfreut, „ihr werdet mir
noch fehlen, denn ihr seid mir und den Meinen lieb geworden. Aber es geht nicht
um uns, sondern um die Sache des Herrn! Hier ist gesorgt in der Seelsorge für
die Brüder und Schwestern. Auch wenn noch viele hinzukommen, ist immer
Gelegenheit, dass alle mit der geistigen Kraft gesättigt werden können.
Aber dort in Neu-Bethania, besonders im Waisenhause, braucht Mutter Elisa noch
mancherlei Hilfe bei der rechten Erziehung der Kinder in unserm Geiste der
helfenden Liebe. Eure Arbeit wird euch viel Freude machen, und dankbare Herzen
werdet ihr um euch sammeln, das ist heute schon meine Überzeugung!
Also werde ich mit Demetrius und Ursus darüber sprechen und heute noch alles zu
eurer Übersiedlung besorgen. Ihr aber besuchet inzwischen noch einmal die Alten
und die Kleinen hier."
Sehr schnell verging dieser Tag. Es lag Abschiedsstimmung über allen Herzen, und
doch musste noch an vielerlei gedacht werden, sollte die Reise glatt vonstatten
gehen. So wurde es Abend. —
Aus Jerusalem kam eine Abteilung römischer Soldaten unter der Führung des
Herminius, der bestellte: Der Hauptmann Benito betrachte es als seine Pflicht,
seine römischen Freunde mit ihrem grossen Wagenzug sicher zu geleiten, denn er
traue den Templern nicht! Dem Lazarus wurde es bedeutend leichter ums Herz, und
er dankte im Stillen dem Herrn für Seine gütige Vorsorge.
Die Glocke rief zum Abendessen — und zur Abschiedsfeier. Die Tische prangten in
ihrem Schmuck wie gestern beim Fest. Weihevoll gestaltete sich diese letzte
Andacht ihres Beisammenseins, indem Johannes die Fortziehenden noch einmal
segnete: „Bleibet getreu! damit die Welt euch nichts raube von dem, was der Herr
euch schenkte als neues Leben!
Du, Bruder Enos, und du, liebe Miriam: wohl ist es bei euch schon Abend
geworden, aber des Herrn Liebe und Kraft ist ja euer Teil. Deine früheren
weltlichen Begriffe von einem Gottesdiener sind dir, lieber Enos, durch die
erbarmende Liebe unseres Meisters nun als sehr verkehrt offenbar geworden. Darum
gib der irrenden Welt von deinem jetzigen Leben mit Gott zurück, damit sie
erfahre: wie man Gott in Wahrheit dient!
Gib allen, die zu dir kommen mögen, von diesem Lichte, und viel Segen wird aus
eurem Tun hervorgehen! Eure Liebe möge sein wie ein kühler Tau, der alles Müde
und Matte zu neuem Leben erquickt."
„Du, Bruder Demetrius und Ursus, eure Sehnsucht ist verwirklicht. Es sieht aus,
als ob die Liebe euch überschüttet mit ihren Gaben, und doch sage ich euch:
Gross und ernst sind eure Aufgaben, die ihr in Rom noch zu erfüllen habet!
Hier kennen wir alle den Herrn, den Meister und liebenden Vater, aber dort, wo
ihr nun wohnen werdet, sollen die Menschen Ihn durch euch erst kennen lernen.
Fürchtet euch nicht vor diesen heiligen Pflichten, denn der Herr wird auch
hierbei das A und das O sein! Der Lenker und Leiter und auch der Vollender.
Ein neues Leben soll erstehen! Ein neues Geschlecht soll erfüllt werden mit dem
Geiste aus den Himmeln! Darum Treue — um Treue! Liebe — um Liebe! Und reichster
Segen wird eure Arbeit krönen, euch allen zum Heile!
Und du, Ruth, bist gedungen, über diesen Geist der Liebe zu wachen, weil du dir
diese Aufgabe erbeten hast."
„Mein Jonas, und du, Pura! Vor euch liegt nun ein Leben voll neuer Aufgaben! Ihr
habt der Liebe Wunder wirkende Kraft erlebt. O denket daran, dass es noch viele
irrende Menschenkinder gibt, denen ihr Wegweiser und Stütze werden sollet!
Auch euch rufe ich zu: Bleibet Ihm treu! Irret nicht ab vom Wege der helfenden
Liebe, dann seid ihr geborgen für Zeit und Ewigkeit beim Herrn als eurem gütigen
Vater!"
„Du, Bruder David, und du, meine Salome: gleich einem Quell fliesset aus euch
der Liebe höchstes Gut, um alle Seelen zu beglücken und zu beleben. Bleibet
immer in dieser lieblichen Tätigkeit und in Seinem heiligen Dienste! Ihr habt so
manches arme Herz reich gemacht. Ihr seid traurig gewesen, und habt doch so
manchen beglückt! Tut es fortan ebenso, und liebet und pfleget jedes neue
Leben!"
„Zu dir, Bruder Paulus, sage ich: Wer wie du die grosse Erbarmung und Liebe des
Herrn in so besonderer Weise erfahren hat, kann nur noch die eine Aufgabe
kennen: allen Menschen die grosse Wahrheit über Gottes erlösende Liebe-Absichten
zu offenbaren!
Nach dem Masse deiner Liebe zu allen Seelen wird dir Kraft zufliessen! Nach dem
Grade deiner vollen Hingabe an Gott, Licht und Klarheit! Sein Heiliger Geist
erfülle dein ganzes Wesen, damit dein Aussen-Leben wie deine Innen-Welt nur
Jesus Christus verkörpere! Des Herrn Segen — und Sein heiliger Friede sei mit
euch allen! Amen!"
Ganz still war es unter den Versammelten — dann bat Johannes noch: „Bruder
Lazarus, nun sprich du den Segen! — Du, als Hausvater, stehest als
Stellvertreter Seiner ganzen Wesenheit unter uns! Und dein Wort soll sein — als
segne der Herr Selbst uns alle!"
Lazarus erhob sich — betete im Innern — dann breitete er die Arme aus und
sprach:
„Der Herr segne euch und behüte euch!"
„Der Herr lasse Sein Angesicht leuchten über euch und sei euch
gnädig!" „Der Herr erhebe Sein Angesicht über euch und gebe euch Seinen
Frieden!" Amen! — Amen! — Amen!" —
In der Frühe des nächsten Tages, als das Morgenmahl bereitet war, alle sich noch
einmal im grossen Wohnzimmer vereinten, und Lazarus den Segen sprechen wollte,
kam der Hauptmann Benito in den Hof geritten. Er schaute nach seinen Reitern von
gestern aus, die sich mit ihren Pferden hinten in den Ställen beschäftigten,
dann stieg er ab und betrat das Haus.
Lazarus und Ursus begrüssten ihn herzlich und luden ihn ein, an ihrem Morgenmahl
teilzunehmen, das fast schweigsam eingenommen ward; denn diese Trennungsstunde
war schwerer, als man gedacht hatte.
Benito sagte zu Lazarus: „Lieber Freund, ich wollte euch alle gern noch einmal
sehen — und dann habe ich noch ein paar sehr zuverlässige Leute mitgebracht, die
ich hierlassen möchte, solange du von hier ferne bist, denn ich traue den
Templern nicht, weil sie wissen, dass Paulus hier bei euch weilt."
„Bruder", sagte Lazarus bewegt, „mit deiner Fürsorge kommst du meinen Wünschen
zuvor, nun kann ich auch nach aussen hin beruhigt sein. Doch an des Herrn Segen
ist ja alles gelegen!"
Beendet war das Mahl. — Noch einmal sprach Johannes, durchdrungen vom Geiste der
Liebe: „Fürchtet euch nicht, meine Geliebten, vor den Augenblicken, wo ihr von
Bethanien scheiden werdet, denn des Herrn heiliges, alles durchdringende Leben
pulsiert in uns und macht uns frei von allem Bedrückenden. Ihr alle bleibet uns
unvergessen, denn der Herr ist das uns Verbindende. Aus diesem ,Leben' ruft der
Vater euch zu: Kindlein, ziehet fröhlich eure Strassen, geleitet von Meinen
Engeln, geleitet von Meinen Segens-Kräften, die euch jede Schwere überwinden
helfen, und geleitet von den Segenswünschen Derer, denen ihr hier so viel Gutes
erwiesen habt!
Ziehet hin in Meinem Frieden! Ich Selbst ersehne die Zeit, wo ihr, getragen und
getrieben von Meinem Geiste, das Fundament zu einer neuen Zeit legen werdet,
einer Zeit, wo alle Menschen den gerechten Gott als den liebenden Vater erkennen
sollen! Wie ihr Meiner Liebe Leben erfahren und erlebt habet, so lasset auch
eure Mitmenschen einen Anbruch dieses ganz neuen Lebens erfahren!
Seid besorgt um die euch anvertrauten Seelen, dann wird euer Tun und Lassen von
herrlichen Früchten gelohnt sein. Bleibet tätig in Meinem Geiste, so wird der
Himmel in euch und auch um euch eine Stätte des Friedens schaffen für alle, die
ihr liebet. So nehmet hin Meinen Segen — Meine Gnade — und Meinen heiligen
Frieden! — Amen, Amen, Amen!"
Noch eine volle Stunde dauerte es, dann hatten sie allen Abschiedsschmerz
überwunden und sich in die bequemen Wagen gesetzt. Demetrius mit Enos und
Miriam; Ruth mit Pura, Jonas und dem Kinde, während David mit Salome und Paulus
einen Wagen für sich zurichteten, da sie zusammenbleiben wollten.
Ursus und Lazarus ritten mit Benito nebenher, um den langen Wagenzug in Ordnung
zu halten.
Es waren aber schon einige Wagen mit Begleitpersonal vorausgefahren, die mit den
Anforderungen solcher Reisen vertraut waren; und den Schluss bildeten die
römischen Soldaten, die den ganzen Zug sicherten. Nach zwei Stunden nahm
Hauptmann Benito Abschied von Ursus, Lazarus und Demetrius, empfahl seinen
Leuten Wachsamkeit, und ritt still nach Jerusalem zurück.
VII. Feiertage in Neu-Bethania
Das Wetter war schön, und das Reisen machte Allen Freude, da jeder Tag neue
Abwechselung brachte. Die grosse Karawane, welche all die kostbaren Waren in
Obhut hatte, fuhr stets zwei Stunden voraus, und die Begleitmannschaften
sorgten, dass die Zelte schon aufgebaut waren, wenn Ursus mit seinen Lieben am
Abend rasten wollte.
Nach einem allgemeinen Essen wurde dann mit Gesang und Harfenspiel noch eine
Andacht gehalten, an der alle gern teilnahmen.
So vergingen acht Tage, als man am Meron-See die Zelte bezog. Hier teilten sich
die Wege, der grosse Wagenzug sollte direkt nach Damaskus fahren und nahm Jonas
und Pura gleich mit. Die Anderen fuhren zu Bernhart und hofften, in fünf bis
sechs Tagen nachzukommen. Die Nacht war schön, Paulus hielt die Andacht, und
seine Worte klangen aus in dem Psalm: „Sehnsüchtig habe ich auf den Herrn
geharrt, da neigte Er Sein Ohr zu uns und erhörte unser Bitten und zog uns aus
der Irre und aus dem Verderben! Nun stehen wir auf dem festen Grund und Er ist
unser Heil geworden! Dies sollen alle sehen, damit auch sie loben und preisen
können die Gnade und die Liebe des Herrn — ewiglich! Amen."
Am anderen Morgen nahmen sie Abschied, und Ursus zog mit den Seinen in der
Richtung zu Bernhart weiter, wo gegen Nachmittag von weitem schon Neu-Bethania
zu sehen war.
Alle Herzen waren voll Freude bei der unerwarteten Ankunft. Lächelnd sagte
Lazarus, in Beziehung auf Enos und Miriam: „Bruder Bernhart, eine kleine Bürde
musste ich dir auf deine Schultern legen, denn die Eltern Theophils hätten sich
in Bethanien jetzt sehr einsam gefühlt." —
Bernhart aber unterbrach ihn: „O Lazarus, du Lieber, sage nicht ,eine Bürde',
sondern es wird uns noch grosse Freude bereiten, so Beide bei uns bleiben; denn
Theophil ist oft tagelang nicht anwesend, und geistige Arbeiten im Dienste des
Herrn gibt es hier genug."
Auch Mutter Elisa war hocherfreut, in Mutter Miriam eine rechte Hilfe bei der
Erziehung ihrer Waisenkinder zu erhalten.
Theophil war nicht anwesend; seit einigen Tagen schon weilte er in der Siedlung
des Achibald. Bernhart wollte am anderen Morgen einen Boten zu ihm senden, aber
Enos meinte: „Ich habe die Ahnung, dass er bald kommt, denn unsere Sehnsucht
nach ihm — müsste er doch empfinden. —
Als man am Abend am grossen Tische sass, bat Bernhart alle, mit ihm dem Herrn
für dieses Beisammensein zu danken. Dann segnete er das Mahl und schloss: „Herr!
Du Vater unser aller! Du Geber aller Freude! mit lebendigen Herzen danken wir
Dir, weil Du in Deiner heiligen Liebe in unsere Herzen eingekehrt bist. So
wollen wir nur noch eines erstreben: Dir danken zu lernen — mit wenig Worten,
aber mit grösseren Werken. Dein Wille werde allezeit in uns zur Tat! Amen." —
Nun entzündete Bernhart die Leuchter und lud alle ein: „Geniesset mit Freude,
was der Herr uns gegeben, dass es in euch werde zur Kraft im neuen
Gottes-Leben."
Nach dem Essen wollte David seine Harfe holen — da trat Theophil ins Zimmer. Er
war derart erstaunt über all den Besuch — dass er zuerst nichts sagen konnte.
Endlich ermannte er sich, umarmte seine Mutter und rief überglücklich:
„O Lazarus! Dies ist das Werk deiner Liebe! Keinem Anderen wäre es gelungen,
Vater und Mutter von Bethanien fortzubringen. O lasse deine Liebe weiterwirken,
dass Beide für immer hierbleiben, es wäre für uns alle wie ein Geschenk aus den
Himmeln!"
Lazarus aber sprach: „Lieber Theophil, jetzt sind wir hier und bleiben einige
Tage beisammen, dann wird sich schon eine Löse hierfür finden. Es gilt ja, in
allem nicht unsern Willen, sondern Gottes Willen in die rechte Tat umzusetzen!
Du bist hier ein Diener Gottes und deiner Mitmenschen und darfst nur eines
kennen: Gehorsam! Alles andere aber wirket Gott, unser liebevollster Vater!"
Diese weisen Worte machten ihn ruhig. Nun erst konnte Theophil alle begrüssen
und ging zu seinem Vater, seine Braut Salome drückte er bewegt an sein Herz.
Den Bruder Paulus sah er lange an — dann sagte er: „Mir ist, als ob ich dich von
früher her kenne, aber es ist lange her, und aus einer Zeit, die ich gern
ungeschehen machen möchte. Aber da du nun mit hierher gekommen bist, wirst auch
du den allein wahren Herrn und Gott gefunden haben."
Paulus antwortete: „Bruder, aus den Erzählungen deiner Eltern habe ich deinen
Werdegang genügend kennengelernt. Ja, auch ich habe den Tempel verlassen. Mein
Leben gehört nicht mehr mir, sondern Dem, der mich errettet und erlöst hat:
unserm Meister Jesus Christus! Ihm darum alle Ehre!" —
Am anderen Morgen, die Sonne hatte längst ihre belebenden Strahlen der Erde
zugesandt, machte Bernhart mit Demetrius, Lazarus und Ursus einen weiten Ritt in
das umliegende Gelände.
Theophil zeigte inzwischen Vater, Mutter und Salome die Gebäude und Ställe der
neuen Siedlung und begrüsste froh die bei der Arbeit weilenden Schwestern und
Brüder.
Die nächsten Tage sollten ganz der Ruhe und Behaglichkeit gewidmet sein, darum
wurden erst zum Sabbath die Kinder des Eusebius eingeladen, um dann zugleich die
Eheschliessung Theophils im Kreise seiner Lieben zu feiern; Priester waren ja
Enos und Paulus.
Der Mutter Elisa schienen diese Tage für all die Vorbereitungen zu einer schönen
Hochzeit zu kurz, doch Lazarus sagte ermutigend: „Schwester, warum so viel
Sorgen und Mühen? Es ergibt sich alles, so du genügend Hilfe hast, und auch ich
trage meine Gaben bei, die wir von Bethanien mitbrachten. Freilich gehört dazu
ein festes Wollen! Wer aber erfüllt ist vom rechten Vertrauen auf Den, der
allein die beste Hilfe ist, dem gelingt auch das unmöglich Scheinende."
David war innerlich beglückt, als Bernhart ihm für Zeit seines Lebens eine
Heimat in seinem Hause anbot, denn Salome würde mit Theophil manchmal bei den
Anderen weilen.
So ward es Sabbath. Sehr zeitig schon kam Achibald mit seinem jungen Weibe Ruth
von ihrer Siedlung. Sie umarmte Salome überaus herzlich und bat sie innig, recht
bald ganz bei ihr zu wohnen, da sie sich oft so allein fühle.
Eine Stunde später kam der alte Eusebius mit seinen Kindern Joseph und Joram und
ihren Frauen. Die grosse Wohnstube im Hause Bernharts war weihevoll geschmückt.
Zur Eheschliessung war ein Altar errichtet, der mit Blumen und Leuchtern einen
festlichen Eindruck machte.
Salome aber weinte, während Mutter Elisa mit Miriam sie bräutlich schmückten,
weil ihre Mutter diese Liebe und Freude nicht miterleben könne.
Miriam tröstete sie: „O Kind, heute ist dein Freuden-Tag! Wisse, dass deine
liebe Mutter genau so um dich ist wie wir! Segnend will sie dich umgeben, und
mit noch viel mehr Liebe als sonst beim heiligen Gott und Vater ihren Dank
darbringen für deine glückliche Zukunft."
Bei Beginn der Feier schritt Paulus mit Theophil ganz vorn an den Altar; dann
kam Salome, geführt von Enos und Lazarus. Dahinter David, begleitet von
Demetrius und Ursus, dann die anderen Väter und Geschwister und zuletzt die
Einwohner der Siedlung, soviel noch Platz war.
Dem Bruder Paulus war das Amt übertragen, die Trauung vorzunehmen, und mit
beredten Worten legte er die Gnade und die Liebe des Herrn Jesus Christus zu
allen Menschen dar. Dann mahnte er, doch bewusster noch in diesem Jesu-Geiste zu
wirken und zu schaffen, um sich Seiner Gaben würdig zu erweisen und Seine Nähe
immer fühlbarer zu erleben. „Dadurch wird die Erde uns zum Himmel, in welchem
heute ein neuer Bund der Herzen für Zeit und Ewigkeit geschlossen werden soll.
Somit frage ich euch — Theophil und Salome — im Angesichte unseres Gottes und
Herrn und in Gegenwart eurer Väter und Geschwister: Seid ihr bereit, eines zu
werden in Freude und Leid, in guten, wie in trüben, Tagen, und immer daran zu
denken, dass ein so heiliges Bündnis euch viel mehr Pflichten als Rechte
auferlegt, so antwortet mit einem ehrlichen Ja!" —
Beide antworteten „Ja." —
„Auf diese Antwort hin seid ihr nun vor Gott und den Menschen ein Ehepaar!
Und so nehmet hin noch ein Wort aus unsern Psalmen zum Geleit (143, V. 8): ,Lass
mich immer Deine Gnade hören, denn auf Dich vertraue ich! Tue kund mir Deinen
Willen, und lass mich schauen den Weg, darauf ich gehen soll; denn zu Dir, o
Herr, erhebe ich meine Seele! Amen.' Und nun seien euch Sein heiliger Segen und
all unsere guten und von Herzen kommenden Wünsche zu eurem neuen Ehebund das
erste Geschenk! — Amen."
Minutenlang war Schweigen -— jeder betete im Stillen — dann ging Lazarus an den
Altar und sagte: „Mein lieber Theophil, und du, Salome, und ihr alle, die ihr
als Zeugen hier weilet! Im Namen und im Sinne Jesu, unseres Herrn und Meisters,
überbringe ich euch Seine Grüsse und Seinen Segen. Es ist für uns Menschen stets
etwas Grosses und Heiliges, ja Himmlisches, wenn wir im Glauben ein Wort von Ihm
vernehmen dürfen. Sein Wort ist es, nicht das meine. Sein Leben ist es, das wir
hier in uns erleben; denn weil Er uns beglücken will, sollen wir etwas von
Seinem Leben und Seiner Freude spüren.
Meine Schwestern und Brüder! Wir alle sind schon durch Leid und Schmerzen, durch
bitteren Kampf und grosse Bedrängnis gegangen. Er aber, der Grosse und
Herrliche, weiss und kennt jede Sehnsucht nach Glück und Frieden und bietet uns
volle Erfüllung an. Doch: diese kann uns nur werden, wenn auch wir Seinen
heiligen Willen erfüllen und Seine Liebe-Gesetze anerkennen. Und so sage ich
euch in Seinem Namen: Bereitet eure Herzen zu einem weihevollen Tempel, dass auf
dem Herzens-Altar die Flamme auflodern kann, die aus dem Gottes-Funken Seiner
erlösenden Liebe erst wächst und genährt wird!
Wie Er als Jesus unser Heiland und Erretter Christus geworden ist, zu unserm und
aller Menschen Heil, so soll auch Seine heilige Liebes-Flamme in uns uns zum
Erlösten — und Erlöser machen, damit wir dann den ,Christus' in uns offenbaren
dürfen, der in allen Herzen wachsen und zunehmen will. Dann senkt der Himmel
sich zur Erde nieder und spendet Kräfte, die auf der Erde einen neuen Himmel
entstehen lassen, der aber in den Herzen Seiner Getreuen sein Fundament haben
muss.
Wie Jesus allen Bittenden gern zu Hilfe kommt, um sie zu beglücken, so wollen
auch wir immer tätig sein in unserer Liebe. Wir wollen bauen am Reiche des
Herrn, der uns dazu segnet und Seine Gnade täglich neu erleben lasset! — Amen."
Nun ging David an seine Harfe, spielte ein sanftes Vorspiel — und dann, immer
stärker in die Saiten greifend, jubelte er sein Lieblingslied, einen Psalm. Als
die Töne leise verklangen — sagte er noch: „Meine Brüder, glücklich können wir
uns preisen, da alle Sorge, alles Leid sich in reinste Freude gewandelt hat!
Doch wir wollen in dieser Freude nicht lau werden, denn wir sind stets von
unsichtbaren, lauernden Mächten umgeben, die Vernichtung anstreben. Stehen wir
aber in steter Bereitschaft, Ihm zu dienen, Ihm zu danken, dann halten wir in
unsern Herzen den Zugang für himmlische Mächte offen, die unsere Erhaltung
wollen!
Darum wollen wir brüderlich über uns wachen. Und was uns in der Folge zur
Prüfung auferlegt wird, soll uns nur noch inniger einen. Dann wird alle Freude
zur doppelten Freude, während aller Schmerz zum halben werden wird. Du aber,
mein Sohn Theophil — nimm hin meinen Vater-Segen! Er sei dir Kraft zu deinem und
deiner Lieben Heil! Gelobt sei Jesus Christus! — Amen."
Die Feier war beendet. — Mutter Elisa sagte noch: „Nun wollen wir die Tische
decken, denn ein Liebes-Mahl soll diese schöne Feier, an die wir noch lange
denken werden, beenden."
Für die Knechte, Mägde und Soldaten war im Gesindehaus gerichtet, und in der
Wohnstube wurde nun genügend Platz.
Lazarus hatte von Bethanien köstlichen Wein mitgebracht und Bernhart gebeten, zu
diesem Mahl nur von diesem Wein zu reichen.
Als alle Platz genommen hatten, und die Krüge gefüllt waren, sagte Bernhart:
„Liebe Geschwister! Ehe wir mit diesem Mahl beginnen, wollen wir nach altem
Brauch die Gegenwart und den Segen des Herrn durch den Ältesten, unsern lieben
Bruder Eusebius erbitten."
Dieser stand auf, segnete die Tische mit den Speisen und Getränken, segnete alle
Anwesenden — und dann betete er: „Heiliger Vater! Wir sind hier in Deinem Geiste
vereint, sind gesegnet aus Deiner Kraft und wollen geniessen, was Deine Liebe
uns so reich gegeben hat. Darum bitten wir alle Dich: Komme Du in unsere Mitte
und segne noch einmal, was Kindesliebe schon gesegnet hat. Amen."
Nach dem Essen blieben alle noch lange an der Hochzeitstafel sitzen; nur der
alte Enos, Miriam und Eusebius begaben sich zur Ruhe. Erst, als der neue Tag
schon graute, mahnte Lazarus zum Aufbruch: „Wollen wir nicht draussen die
Schönheiten der aufgehenden Sonne in uns aufnehmen? Es gibt nichts Köstlicheres
nach solchen fröhlichen Feierstunden als die Allmacht der Natur, die uns alles
wieder in einem anderen Lichte zeigt."
Inzwischen wurde es heller, und man ging gemeinsam der Sonne entgegen, die durch
sanfte Röte am Himmel ihren Aufgang bekundete. „Meine Lieben", sagte Lazarus,
„den Anbruch eines neuen Tages liess der Meister sich nie entgehen! Oft bin ich
allein mit Ihm gegangen, und wir haben in voller Andacht den Durchbruch des
Lichtes und den immer höher steigenden Sonnenball beobachtet.
Wir wechselten keine Worte — jeder erlebte in seiner inneren Welt einen
besonderen Vorgang. Und so wollen auch wir heute uns in das vom Morgentau
benetzte Gras setzen und ganz still nach aussen wie auch nach innen schauen, und
wir werden Wunder Seiner Liebe erleben!"
Und so geschah es; — immer heller brach die Morgenröte hervor — doch den
Betenden war durch die Gnade des Herrn ihre Innenwelt schon erschlossen. Eine
volle Stunde durften sie hier verweilen, dann brachte das Geräusch des Alltags
ihre Seelen wieder in die Aussenwelt zurück.
Beim Morgenmahl fragten einige, was die Anderen erlebt hatten? Paulus war mit
Stephanus zusammengewesen; Ursus hatte mit seinem Schutzengel eine Zwiesprache;
David aber hatte den Herrn geschaut, inmitten vieler armer Menschenbrüder; die
Anderen hatten Dinge erlebt, die noch viel mit dem Irdischen in Verbindung
standen.
Enos bat: „Mein lieber David, möchtest du uns wohl dein Geschautes erzählen? Es
kommt mir bedeutungsvoll vor, dass nur du allein den Herrn gesehen hast."
„Dazu bin ich gern bereit", sprach David, „und so höret: Ich war allein — und
schaute mich um nach meiner Harfe. Nur dunkel erinnerte ich mich noch, dass wir
den Sonnen-Aufgang erleben wollten, denn ich sah vor mir einen breiten Weg, der
durch viele Wagenspuren gekennzeichnet war, und etwas drängte mich, diesen Weg
entlang zu gehen. Da war mir, als wenn die Landschaft nur so an mir vorüber
fliege, und auf einmal war ich wie in Bethanien.
Ich ging in das Wohnhaus, aber o Wunder, ich trat in die Wohnstube meiner
Eltern, doch niemand war da; ich rief, niemand hörte. In einer Ecke stand unsere
alte Truhe. Ich sah, dass sich darin etwas bewegte, ging hin — und jetzt ging es
mir wie der Königstochter am Nil, als sie Moses fand — ein kleines Kind, ein
Knäblein lag darin. —
Da kein Mensch zu erspähen war, sagte ich voll Mitleid: „Du armes Kind, haben
alle dich verlassen? Dann komm, ich bringe dich heim zur Salome." — Ich wickelte
es ein und nahm das Knäblein auf den Arm. Da kam ein Mann zur Tür herein. Ich
entschuldigte mich: „Sei mir nicht böse, weil ich das verlassene Kind zu meiner
Salome bringen wollte."
Der Mann sprach gütig: „O, es gibt der verlassenen Kinder so viele, darum freut
es Mich, wenn du Mitleid hast und für dieses Kind sorgen willst."
Wie zum Dank reichte Er mir die Hand — da erschrak ich, ich sah eine tiefe Wunde
von einem Nagel-Mal und fragte: „Ist es nicht sehr schmerzhaft, diese offene
Wunde?"
„O nein", antwortete Er, „schmerzhaft ist es aber, so Ich täglich sehen muss,
wie die Menschen sich selber immer neue Wunden zufügen!"
Ich sagte: „Aber lieber Mann, ist nicht jeder Mensch meist selber schuld an
seinen Leiden?"
„Nein, Mein Freund! Mancher ist durch fremde Schuld oder irgendeine
geheimnisvolle Verkettung von Umständen tief in Elend und Not gestossen worden,
und für diese Opfer schlägt Mein immer sorgend Vaterherz! Wer aber nur auf die
sichtbaren Leiden der Anderen achtet, geht an ihren bekümmerten Herzen leicht
vorüber."
Dabei wurde mir klar, dass auch ich — nicht auf mein Herz geachtet hatte, und
bat: „O verzeihe mir — mein Vater, dass ich Dich nicht gleich erkannt habe! Eine
innere Stimme sagte mir schon: „Du bist der ewig gute Vater aller Kinder!" Wie
gern möchte ich Dich erfreuen und mit sorgen für Deine von aller irdischen Liebe
verlassenen Kinder!"
„Ja, Mein Sohn, tue das!" antwortete der Herr; „aber darüber wollen wir nicht
erst viele Worte machen, denn die Zeit ist ernst, und der Feind holt schon zu
neuen Schlägen aus! Darum muss Ich alle die suchen und stärken, die helfen
wollen bei Meinem Werk der Erlösung — aus aller Lieblosigkeit.
So wie dieses Knäblein Pflege und Nahrung braucht, um zu gedeihen, so braucht
auch das Leben des Gottesfunkens in Meinen Kindern Pflege — und Nahrung! Denn
wahres Leben kann sich nur am Leben entzünden, wie es sich nur durch Wahrheit
erhalten kann.
Darum, Mein Sohn, schaue Mir in die Augen, daraus dir Leben und Wahrheit
entgegenstrahlt! Und immer, so du Mich in dir erschauest, sollen dich Meine
Augen stärken und sollen dir verkünden: dass Ich mit Meinem Leben dich erhalten
will, damit du Meine Wahrheit zu deiner Wahrheit machst! —
So nimm dies Kindlein an dein Herz." — Ich schaute auf das Kind — da war der
Herr verschwunden. — Ich wollte das Kind an meine Brust drücken, da erwachte ich
— und hatte leere Hände."
Alle Anwesenden waren dem David dankbar, denn in ihren Herzen flammte eine neue
Liebe auf zu allen Verlassenen. „Eigenartig", sprach Eusebius, „wie verschieden
doch die Offenbarungen des Herrn sind." „Ja", antwortete Lazarus, „sehr
verschieden! Wie die Menschenkinder — so auch die Gnaden-Gaben, aber doch immer
das Rechte für jeden.
Wichtig für mich war das Wort: Wir sollen nicht viel reden über das, was wir
vorhaben, da der Feind schon zu neuen Schlägen ausholt! Darum will ich nun auch
bald zurückkehren nach Bethanien."
Im Laufe des Tages entschlossen sich Lazarus, Demetrius und Ursus, schon morgen
nach Damaskus zu reisen. Im Schutze der römischen Soldaten wollte Lazarus dann
auf dem Rückweg noch beim alten Markus im Heilbade einen Tag ausruhen, um von da
nach Bethanien zurückzukehren.
Ruth blieb noch bei den Eltern, die sich jetzt freuten, der Anregung des
Lazarus, hierher zu ziehen, gefolgt zu sein.
Nach einigen Tagen kamen Demetrius und Ursus schon zurück; die Geschäfte waren
zur vollen Zufriedenheit erledigt, und Jonas hatte sich als Handelsherr schon
gut eingelebt. Pura war dankbar für den neuen Beruf ihres Mannes und hatte
Tränen im Auge, als die drei Brüder unter vielen Segenswünschen wieder Abschied
nahmen.
Noch einmal besuchten die Reisenden Eusebius und Achibald, dann kam der Tag der
Abreise, doch alle bemühten sich, dass keine trübe Abschiedsstimmung
vorherrschend war.
Ruth gab sich Mühe, stark zu sein um ihrer Eltern willen. Diese aber und
Theophil waren wie in ernster Feierstimmung.
Bernhart meinte: „Wir wollen recht dankbar sein für diese festlich schönen Tage
unseres Beisammenseins. Und ich hoffe und wünsche, euch alle noch einmal
wiederzusehen."
Die letzte Abendandacht hielt Ursus, der mit lebendigen Worten die Gnadenstunden
schilderte, die er hier mit dem Herrn erleben durfte, und schloss: „Morgen gehen
wir nun wieder zurück in unsere Heimat, nach Rom, die nun auch Ruths Heimat
werden soll. Wir haben nicht allein nach unsern eigenen Wünschen gehandelt,
sondern sind dem erkannten Gottes-Willen entgegengekommen.
Darum danke ich Dir, Du mein treuer Jesus, Du mein Gott und Heiland, für alle
Deine Liebe und Gnade und bitte Dich: Erhalte uns in Deiner Wahrheit und in
Deinem Segen, und schenke uns Deinen Frieden zur Kraft und Stärkung im Verkehr
mit der Welt. — Amen."
VIII. Auf der Heimreise nach Rom
Frühzeitig hatte Ursus mit seinen Leuten alles zur Abreise hergerichtet. Als das
Morgenmahl beendet war, wurde Abschied genommen, und bewegt fühlte auch er die
Schwere dieses Scheidens, als er mit Ruth nochmals den Segen der Eltern empfing.
Als sie aus dem Hause traten, kamen noch all die anderen Brüder und Schwestern
der Siedlung, um ihnen die Hände zum Abschied zu reichen, und dieser Strom von
Liebe nahm alle Schwere des Augenblickes fort.
Nun hatten sie Platz genommen, und Ursus gab das Zeichen zur Abfahrt. Er blieb
im Wagen und hatte Ruth fest in seine Arme genommen — ein letztes Winken noch —
— und dann waren sie den Blicken der Zurückbleibenden entschwunden.
Durch schöne Landschaften und hohe Gebirge ging der Reiseweg, doch zeigte Ruth
wenig Sinn für all die Schönheiten der Natur. Zu schwer lastete noch der
Abschied auf ihrem jungen Gemüt, und Ursus musste warten, bis sie sich selber
durchgerungen hatte.
Paulus aber freute sich, seine Vaterstadt und seine Lieben wiederzusehen. Als
man die grosse Heerstrasse erreichte, die nach Sidon führt, wurde in einer
Herberge Rast gemacht.
An diesem Abend gelang es Paulus durch die Gnade des Herrn, den ältesten Sohn
des Wirtes von seiner Besessenheit zu befreien, an der er schon lange litt.
Beglückt über die Heilung blieben alle noch gern beisammen und sprachen über die
Offenbarungen der Liebe des Heilandes Jesu. Und Paulus versprach, bei seiner
Rückreise bei ihnen wieder Einkehr zu halten.
Am anderen Morgen mahnte Ursus zeitig zum Aufbruch, und gegen Mittag war das
Stadtbild von Sidon schon in Sicht. Hier besass Demetrius ein grosses
Geschäftshaus am Hafen, und unter herzlichen Freudebezeugungen der Angestellten
vollzog sich der Einzug des jungen Paares.
Paulus reiste schon am anderen Morgen nach Antiochia weiter, da gerade ein
Schiff dorthin fuhr. Sehr herzlich war der Abschied — keiner glaubte an ein
Wiedersehen. Im Buche des Schicksals jedoch war es anders verzeichnet.
Demetrius und Ursus hatten noch vielerlei Geschäfte hier zu erledigen. Ruth
verlebte diese Tage in grösster Stille. — Sie wollte allein sein, um die letzte
Schwere des Abschieds von der Heimat zu überwinden.
Als Ursus dann sagte: „Übermorgen fahren wir auf einem grossen Kriegsschiff nach
Rom", da leuchtete es in ihren Augen auf, und sie gestand ihm: „Hier könnte ich
mich niemals glücklich fühlen, mir ist, als ob mich hundert Hände festhalten
wollten! Wie froh bin ich, von hier fortzukommen nach deiner Heimat, nach Rom."
Nun wusste Ursus, ihre Seele hatte den Abschied überwunden, und beglückt sagte
er: „Meine Ruth, nie sollst du bereuen, mir dorthin gefolgt zu sein! Nun steht
unserm Glück nichts mehr im Wege!" Ruth
aber wusste, bei ihrem Ursus war jetzt ihr Platz, ihr Halt und ihr Trost!
Auf dem weiten Wasserwege hatte das Schiff meist gutes Wetter — und endlich war
die Heimat nahe. „Morgen um diese Zeit landen wir in Rom", verkündete Demetrius,
und damit war die Eintönigkeit dieser letzten Wochen vergessen.
Als sie das Schiff verlassen hatten, musste Ursus erst die ihm gehörigen
kostbaren Güter in die Lagerräume schaffen lassen. Ruth aber wollte lieber
vereint mit ihm ihre neue Heimat betreten, während Demetrius sich nach seinem
Hause fahren liess, um alles für den Empfang würdig vorzubereiten.
Als all die Kisten und Truhen vertrauten Händen übergeben waren, sagte Ursus
ernst und doch glücklich: „Nun lasse dich führen, meine Ruth, in unser Heim!
Liebe — erwartet dich! — und Liebe — wird von dir erwartet!"
Als sie vor dem schönen Hause standen, sagte er feierlich: „Siehe, deine neue
Heimat! Möge dein Schritt über diese Schwelle uns allen Segen bringen! — Jesus —
gehe Du mit uns hinein!"
An der Tür stand Demetrius, nahm Ruth in seine Arme und sagte bewegt: „Viel
Segen von Oben sei mit dir, mein Kind! Möge dein Eintritt in unser Haus uns
allen viel Freude bringen! — Dazu verhelfe Du uns, lieber Heiland Jesus! Amen."
—
Und Ruth schaffte sich hier ein neues Daheim. Sie nahm es ernst mit ihren
Pflichten und ernst mit ihrem Gelöbnis: Nicht abzuweichen vom Wege zum Herrn
trotz all der weltlichen Schönheiten in der reichen, grossen Kaiserstadt.
Ursus war geschäftlich viel unterwegs, auch ihm war strenge Pflichterfüllung
heiliges Gebot. In ihren römischen Bekanntenkreisen wurde das junge Ehepaar
recht geachtet und gern gesehen, denn von Ursus und Ruth ging eine Sphäre von
Liebe und Segen aus, die jeder angenehm spürte. Sie sprachen auch oft von ihrem
Glauben an Jesus, und so wurde nach und nach ihr Heim eine Andachtsstätte für
nach Wahrheit suchende, oder nach Liebe verlangende Menschen.
Doch es fehlte auch nicht an Kampf. Heidnische und jüdische Priester waren sich
auf einmal einig, diese harmonische Verbundenheit ihrer Gläubigen mit den jungen
Christen zu stören, ja zu vernichten, und benutzten dazu die verwerflichsten
Mittel.
Ursus empfand wohl ihre versteckten Gehässigkeiten und offenen Verleumdungen,
aber er bekümmerte sich nicht viel darum, besass er doch ein so starkes
Vertrauen zu Jesum, das ihn immer sicherer machte, trotz mancher Anfeindungen.
Öfter schon hatte Demetrius gemahnt: „Man stellt dir nach — man will dein
Unglück. Lieber Ursus, sprich weniger von unserm Glauben an Jesus, sei stiller.
Er hat ja tausend Mittel, Seine Gegner zu bezwingen!"
Ursus aber sagte kühn: „Lieber Vater, aus diesen Worten spricht nur die Sorge um
mich und um Ruth, aber nicht das unbedingte Vertrauen zu unserm Jesus. Sollen
wir uns wirklich zurückziehen und unsern Widersachern den Platz räumen? Nein,
Vater! Wir wollen als Seine Kinder uns hier bewähren, und jedem nach Wahrheit
Suchenden gerne helfen, auch den Weg zu Jesus im Innern zu finden. Ich bin so
von Glück erfüllt durch den Geist des Herrn, dass Er mich immer zuversichtlicher
macht im stillen Widerstand gegen alle Feinde!"
Fragend erwiderte Demetrius: „Ursus — ist es wirklich Sein Geist von Oben, oder
ist es dein eigener Kämpfer-Geist, der dich so unbekümmert macht?"
„Vater, der Heiland Jesus ist ja unsere Liebe!" beruhigte ihn Ursus, „Sein
heiliges Leben in uns ist das grösste Gnaden-Geschenk! Darum sorge dich nicht,
wir sind Sein Eigentum. Und auch Er, unser Gott und Vater, trägt ja Sorge, dass
uns nichts Böses schaden kann. Mit keinem Gedanken möchte ich je meinen ewigen
Vater betrüben, indem ich Angst oder Furcht vor Menschen hätte!"
So blieb Ursus mit dem Heilands-Leben immer lebendig verbunden und konnte allen
nach Gott Fragenden immer neue Beweise von der frohen Botschaft unserer Erlösung
aus allem Irrtum durch den Mensch gewordenen Gottessohn Jesus Christus geben.
IX. Erwachendes Gottes-Leben!
In den Lagerräumen des Kaufherrn Ursus war grosse Aufregung. Ein Knabe von etwa
12 Jahren wurde von einer schweren Kiste, die von einem beladenen Wagen
herabfiel, schwer verletzt, und diesen Unfall benutzten seine Feinde zu argen
Beschuldigungen gegen ihn.
Ursus aber war schon seit zwei Tagen abwesend und konnte die gehässigen Anklagen
nicht sogleich zurückweisen, die vom Vater des verunglückten Knaben überall
ausgestreut wurden. Als er zurückkam, war es zu spät, all diese Gerüchte gegen
ihn verstummen zu lassen, und im Nachforschen erfuhr er, dass dieser Vater ein
jüdischer Priester sei, dessen Absichten schon immer waren, die Christen zu
beschuldigen, dass sie mit dem Beelzebub im Bunde seien.
Ursus ging selbst zu dem Priester, der den Namen Elias trug, und forderte eine
Aussprache mit ihm, die aber höhnisch abgelehnt wurde, aus Furcht — dadurch mit
,dem Bösen' in Berührung zu kommen. In zynischer Weise betonte Elias noch, dass
er keinen anderen Wunsch habe, als auch Ursus so schwer zu verletzen, wie sein
armer Sohn durch ihn unglücklich geworden sei!
Es blieb Ursus nichts anderes übrig, als auf Den zu vertrauen, der ja die
höchste Geduld und Nachsicht mit allen Bösen ist. Doch die Hetzereien gegen ihn
wurden immer lauter, und Ursus litt bitter unter diesen hässlichen Umständen.
Nach einer Nacht — die er im tiefen Herzensgespräch mit seinem Jesus verbrachte
— ward ihm volle innere Klarheit! Er suchte den ihm bekannten Stadtrichter auf
und legte ihm sein Anliegen offen vor.
Der Stadtrichter, ein alter, ernster Römer, war ehrlich erstaunt, dass Ursus
keine gerechte Anklage anstrengen wollte, sondern nur eine öffentliche
Aussprache verlangte.
Ursus begründete dies: „Um wirkliche Klarheit zur schaffen, müssen wir irgendwo
öffentlich zusammenkommen, dass alle erfahren können, von welchen so
verschiedenen Begriffen über Gott und über das wirklich Böse Elias und ich
beseelt sind. Es geht hier nicht um die Ehrenrettung meiner Person, sondern um
die heilige Wahrheit: Wer ist der wahre, lebendige Gott? Wer kennt Christus,
Seinen Gesandten zu uns Menschen? Aus welchem Geiste leben und wirken Seine
Nachfolger? Und was sind die bösen Mächte?
Der Stadtrichter versuchte es, Ursus von diesem heiklen Thema abzubringen, aber
Ursus bekannte kühn: „Mit Jesum siege ich über alle Seine Feinde, die nicht
mich, den Menschen und Kaufmann, sondern unsern Christus-Glauben vernichten
wollen!"
Als der Richter auf den Knaben hinwies, der immer elender würde, antwortete
Ursus voll Zuversicht: „Nur der grosse Heiland Jesus Christus könnte hier
helfen!" Dann führte Ursus seine Pläne über diese Angelegenheit noch weiter aus
und schloss: „Du, als oberster Richter, kannst den Priester Elias auffordern,
seine hässlichen Beschuldigungen gegen mich öffentlich zu wiederholen und den
Beweis zu liefern, dass wir, als Christen, wirklich mit bösen Mächten in
Beziehung stehen."
Sprach der Ober-Richter: „Gut — heute in acht Tagen werde ich nicht nur dich und
Elias laden, sondern jeder, der da will, darf dabei zugegen sein, um zu
erfahren: ,Lebt euer Jesus, als der allmächtige Gott, wirklich in den
Nachfolgern Seiner Lehre, oder stehet ihr mit bösen Mächten in Verbindung?'"
Dann setzte der Richter noch zweifelnd hinzu: „Doch Ursus, bedenke: ,Wenn deines
Glaubens Kraft — versagt? Wie willst du dann noch bestehen vor deinen Freunden?
Es war mir stets eine Freude, von euch zu hören, wie harmonisch sich euer Umgang
mit den verschiedensten Glaubens-Freunden gestaltete. Versagt aber dein Jesus
hier, so würdest du wohl viele von ihnen verlieren.'"
Ursus lächelte und sprach: „Ich hoffe, dass auch du bald ein Freund meines
Glaubens sein wirst und deine vielen Götter — als Irrtum beiseite schiebst! Denn
durch ein Erlebnis mit Jesum kommen wir der grossen Wahrheit über Gott, als dem
Schöpfer und Erhalter aller Menschen, immer näher. Und dadurch erfahren wir
erst, was wir als Menschen alles leisten könnten, wenn wir dem Gottesleben in
uns Raum zum Wirken geben wollen."
In diesen acht Tagen blieb Ursus viel allein. — In ihm war eine grosse Stille
eingetreten. Er ersehnte nichts und wollte auch nichts als nur ein reines Gefäss
für das Heilands-Leben sein, welches nun vor dem Forum der Öffentlichkeit den
Beweis der ewigen Wahrheit über ,göttliches Leben' im Menschen zu erbringen
hatte.
In einem grossen Hain ausserhalb der Stadt, der zu einem heidnischen Tempel
gehörte, war die öffentliche Auseinandersetzung vorgesehen. Der Stadtrichter
musste den Priester Ellas, dessen Weib und den kranken Sohn erst mit Gewalt
dahin bringen lassen, weil er, als Jude, einen heidnischen Tempelort nicht
betreten wollte.
Ursus und Demetrius kamen gern, und viele Juden, Griechen und Römer hatten sich
eingefunden und warteten mit Spannung auf die Dinge, die hier zur Aussprache
kommen sollten, denn dem Aberglauben huldigten die Juden wie alle Heiden.
Ursus begrüsste seine Glaubens-Brüder und empfing dabei den Segen ihrer Liebe
und Kraft. Er dankte seinem heiligen Vater und spürte noch deutlicher einen
warmen Strom göttlicher Allkraft durch sein Herz ziehen.
Ja, er hörte im Innern: „Freue dich, dass du berufen bist, die Wahrheit deines
Glaubens und deiner Liebe hier zu beweisen! Aber verurteile nicht die Anderen,
deine Gegner, denn auch auf sie alle — wartet noch die Vater-Liebe!"
Der Richter eröffnete die Versammlung und führte aus, dass dies ja eigentlich
eine Gerichtssitzung sein sollte, aber Ursus und sein ganzes Haus wolle nicht
Kläger sein, sondern wünsche nur, dass Klarheit geschaffen werde, und dass sich
das feindliche Verhalten des Gegners in ein freundschaftliches Verstehen
umwandeln möge.
Dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Der allen bekannte Kaufherr Ursus führt
mit Recht Beschwerde, dass von ihm gesagt wird, er sei schuld an dem Unfall des
Knaben, weil er mit bösen Geistern in Verbindung stehe. Und somit hat nun der
Priester Elias, als Vater des kranken Knaben, zuerst das Wort."
Der Priester blickte finster um sich — dann sprach er von seiner Arbeit unter
den Juden in Rom, und wie er von allen geschätzt sei, und keiner etwas gegen ihn
zu klagen hätte. Doch seit kurzem versuche Ursus, als Heide, in seiner
Israelitischen Gemeinde viel Schaden anzurichten, und mit schönen Worten alle,
die noch etwas wankelmütig seien, in seinen Bann zu ziehen. Mit lauter Stimme
schloss er: „Dadurch bin ich fest davon überzeugt, dass sich hierbei offenbar
der verheerende Geist des Beelzebub bekundet, der auch das grosse Unglück meines
Sohnes bewirkt hat!" —
Eine eisige Ruhe setzte nach diesen Worten ein. — Dann forderte der Richter den
Ursus auf, diese Rede, die eine schwere Anklage gegen ihn enthalte, zu
entkräften.
Ursus begann: „Freunde! Ich segne diese Stunde! Gilt es doch, ein Zeugnis
abzulegen, das nicht mich entschuldigen soll, sondern den Geist Dessen
verherrlichen, der überall nur sonnenhelle Erkenntnis und neues Leben erwecken
will!
Es ist wahr, dass in den Reihen meiner vielen Freunde manche, die einst dem
Elias als dem Verkünder ihres Gottes gläubig angehörten, heute nicht mehr zu ihm
stehen. Dieses ist aber nicht mein Verschulden, sondern liegt an Elias selbst,
denn er bekennt keinen anderen Gott als Den, der ihm von Jerusalem
vorgeschrieben ward. Und dadurch ist er zum erbitterten Feind aller Christen
geworden.
Aber ich, der ich mit dem vom Tode auferstandenen ,Jesus' in engste Berührung
gekommen bin, habe durch Ihn den grossen, lebendigen Gott kennen gelernt, der
voll Liebe und Erbarmung allen Irrenden helfen will, und die Ihm Nachfolgenden
mit Mut und Kraft ausrüstet, um von solchem Seinem göttlichen Leben unter uns zu
zeugen!
Ist es da verwunderlich, dass ich im Bewusstsein meiner Sendung als Mensch
reichen Gebrauch von all den Gaben mache, die mir täglich durch das Leben Jesu
in mir zufliessen? Und nicht nur ich, sondern alle, die gleich mir Ihm und
Seiner Lehre ihr Herz öffnen und Seinem grossen Erlösungs-Werke dienen wollen,
können von Seinem rein göttlichen Liebe-Leben etwas erfahren!
Es tut freilich weh, wenn diese Himmels-Gaben von Anderen verlacht, verspottet,
oder gar, wie Elias es tut, bis ins Reich des Beelzebub verurteilt werden. Und
gegen solche Verleumdungen will ich jetzt in aller Öffentlichkeit Stellung
nehmen.
Durch alte Überlieferungen wissen wir: Die ganze Menschheit stammt von Gott, als
dem Inbegriff alles Guten und aller Schönheit ab. Und jeder Mensch trägt deshalb
in sich einen Funken Seines göttlichen Lebens, der bei seiner rechten
Entwicklung die Menschen fast wie zu Göttern machen könnte. Durch verkehrtes
Denken und Begehren aber (schon durch unsere Vorfahren) ist dieser lichtvolle
Gottesfunken im Menschenherzen verdeckt. In solcher zunehmenden inneren
Geistes-Nacht ist der Sinn Seines göttlichen Wortes an uns völlig unkenntlich
geworden.
Gott aber, als der Allgütige, der alle Seine Geschöpfe liebt, und dessen Sorge
es ist, uns Menschen von den überhandnehmenden irrigen Begriffen über Ihn zu
erlösen, wurde Selber ,Mensch' — in Jesum Christum —, um uns die hohen
göttlichen Absichten mit der Menschheit zu offenbaren.
Durch Sein weithin leuchtendes Vorbild als Mensch und Seine klaren, einfachen
Lehren über unsere Liebe-Betätigung will Er uns den Weg zeigen, um diesen
verdeckten Gottesfunken wieder zu beleben und ihn zur Freudigkeit gottähnlicher
Liebe-Dienste weiter zu entwickeln.
Elias behauptet nun, dieser Gottesgeist im Menschen, der in allen Nachfolgern
Jesu wieder zum Leben erwacht, und von dem ich hier zeugen will, der sei es, der
seinem Knaben den Schaden zufügte; während ich bezeugen muss, dass schon eine
solche Absicht in einem Christen-Gemüt ganz unmöglich ist. Denn ein Mensch, als
Träger dieses Jesu-Geistes, wird nimmer seine Pflichten versäumen. Er wird
fröhlichen Herzens allen weltlichen und göttlichen Gesetzen gehorchen und sich
bemühen, in allem ein Vorbild für seine Umgebung zu sein!
Als Träger dieses Heilands-Lebens bin auch ich mir bewusst, eine
aussergewöhnliche Verantwortung auf mich zu nehmen. Denn durch richtiges Handeln
nur kann ich das Ansehen meines Jesus verherrlichen und meinen Mitmenschen
nützen.
Als Träger dieses Geistes bin ich aber auch verpflichtet, Gebrauch von all den
Erkenntnissen und Kräften zu machen, die mir durch den täglichen Umgang mit
Seinem Geiste zufliessen. Aber nicht, um mich zu bereichern oder feiern zu
lassen, sondern um vielen Leidenden zu helfen und Irrende auf den rechten Weg zu
Ihm zu führen.
Jesus lebt. — Er lebt durch die Fülle Seiner Liebe und Gnade unter uns. Und wer
Ihn ernstlich sucht, wird Ihm begegnen!
Es gibt ja nur ein wahres göttliches Leben in unserm Innern, alles andere ist
nur ein Schein-Leben in der Aussenwelt und kann nicht mit göttlichen Kräften
wirkend werden. Und dieses ‚erwachende Gottes-Leben' im Menschen kann und will
sich durch uns offenbaren, so wir darum bitten!
Nun, Elias, frage ich dich: Kennst du schon etwas von diesen wahrhaft göttlichen
Lebens-Kräften im eigenen Herzen? — Dann bitte deinen Gott und Herrn um die
Gnade, Sich durch Seine helfende Liebe uns zu offenbaren und wie ein wahrer
Heiland die Macht des Bösen zu vernichten, um deinen kranken Sohn wieder gesund
und froh zu machen!
Und siehe: alle Kränkung und Beschuldigung von deiner Seite müsste ich als
rechtlich durch das Wirken deines Gottes anerkennen! Ja, diese ganze Versammlung
rufe ich hiermit zu Zeugen auf, und zu meinen Worten stehe ich, denn ich bin
nicht nur ein Christ — sondern auch ein Römer!"
Lauter Beifall erscholl — — dann sprach der Richter: „Elias! Du hast gehört, was
Ursus dir sagte. Das Zeugnis, das er von seinem Jesus als Gott der Liebe hier
gab, ist nicht von der Hand zu weisen, wenn es vorläufig auch nur mit Worten
geschah!
Also, Elias, schreite zur Tat und bitte deinen Gott, dass Er sich uns offenbare
— indem Er die von dir beschuldigten ,bösen Mächte' zu vernichten weiss!"
„Nie und nimmer werde ich den heiligen Gott damit versuchen!" erwiderte Elias in
selbstgerechtem Stolz; „Ursus ist und bleibt in meinen Augen nur einer, der
durch schöne Worte seine Zuhörer zu betören versteht." —
Jetzt trat Ursus dicht vor Elias hin und sprach sehr ernst: „Elias! Du bist
verblendet! — Bleibe es denn — so lange du willst, aber du sprichst dir dein
Urteil selber damit! Wir sollten uns doch finden können wie zwei Brüder, die
einen Vater haben! Nun aber sehe ich keinen Anderen Weg mehr für dich als den
der bitteren Erfahrung! —"
Wie gebannt schaute der kranke Knabe schon lange mit grossen Augen auf Ursus und
dazwischen auf seinen Vater. — — Da trat Ursus zu ihm hin, reichte ihm die Hand
und fragte: „Sag, Knabe, bist auch du mir böse?"
„Nein, du guter Herr, alle Anderen sind böse!" In sanftem Ton sprach Ursus: „Die
Anderen sind auch nicht böse. Wenn du aber wieder gesund würdest, dann mache
keine Dummheiten mehr, damit nicht grösseres Unglück geschieht!"
Der Knabe bat flehentlich: „Ach Herr, ich möchte so gerne wieder gesund sein und
ein ordentlicher Mensch werden! Dieses Unglück — war ja nur meine Schuld. Ich
wollte mich hinter der Kiste verstecken, um die anderen Knaben zu erschrecken -
da hat es mich getroffen."
Ursus sah ihn freundlich an und sprach beruhigend: „Weil du deine Schuld nun so
freimütig eingestanden hast, wird auch Gott dir gnädig gesinnt und bereit sein,
dir zu helfen! Willst du mit mir zu Ihm beten?"
Als der Knabe weinend nickte, ergriff Ursus seine Hände und betete laut: „O
Jesus! — Du unser aller Heiland und Erretter! Du grosser Gott, wir danken Dir
für Deine Gnade und Liebe und bitten Dich, o hilf uns Allen aus Irrtum und
Nacht, und heile Du dieses junge Menschenkind von seinem Leiden, dass es
durchdrungen werde von Deinem Geiste, von Deiner Wahrheit und von Deinem Sein!
Segne uns — und alle hier — und lasse Deinen Frieden uns zum Leitstern unseres
Lebens werden! Amen."
Der Knabe atmete tief auf — reckte und streckte sich — und stand langsam auf. —
— Jubelnd umarmte ihn seine Mutter — doch Elias rief befehlend: „Lasst diese
Komödie, das alles ist ja doch bloss Hexerei!"
Jetzt sprach der Richter zu den Versammelten, die mit grossem Erstaunen all
diesen Vorgängen gefolgt waren: „Freunde! Hier hat doch sichtbar der Gott des
Ursus gewirkt! Noch nie in meinem langen Leben habe ich solches erlebt, und ich
muss annehmen, Ursus hat uns allen einen Weg zeigen sollen, den zu beschreiten
es sich lohnen wird, um neue Wahrheiten über Gott kennen zu lernen!"
Dann wandte sich der Richter an den Priester und sprach ernst: „Elias — gehe
heim! — Dein kalter Verstand hat dich gerichtet!" —
„Mein Urteil lautet: Ursus! Von jeglicher Anklage hier — spreche ich dich frei!
Du hast dich als würdiger Vertreter deines Gottes erwiesen! Und öffentlich bitte
ich dich hier um Verzeihung, dass auch ich deinen Ansichten über ,göttliches
Leben im Menschen' nicht recht Glauben schenken konnte. Ja, ich empfinde den
Wunsch, dich zu bitten: Lass auch mich noch mehr von einem solchen Gott
erfahren, damit es in mir Licht werde über viele Zweifel und Fragen!"
Voll Freude antwortete ihm Ursus: „Nicht nur du, sondern jeder, der da will,
kann kommen! Mein Heim steht für alle Suchenden offen, und jeder darf die
grossen Wahrheiten über diesen ewig lebendigen Gott erfahren.
Denn allein nur die Wahrheit über das göttliche Leben im Menschen kann uns frei
machen von all den alten, engen, falschen Vorstellungen und irrigen Begriffen,
damit es in uns und um uns Licht werde über die Himmels-Gesetze, und damit echte
Herzenswärme uns alle beselige zur Freude und Ehre unseres Gottes, der uns allen
— ein so gütiger ,Vater' sein will! Amen."
Nach diesem seltenen Erlebnis kamen bald viele von den Anwesenden zu Ursus, um
von seinem Gott und dessen Wahrheiten noch weitere Aufklärungen zu erhalten.
Sie alle spürten den Segen seines Hauses, und mancher Kranke erfuhr die Gnade,
geheilt zu werden. Doch das Herrlichste war, wie jeder Suchende hier belehrt
wurde, dass all dieses Walten von Liebe, Güte und rechten Verstehens doch nur
ein kleiner Abglanz von den Freuden sein konnte, die der ewige und heilige Vater
aller Menschen Seinen Kindern Selber schenken will, so ihre Herzen nach Ihm
verlangen!
Und so entstand hier allmählich ein neues Bethanien, wo manche Sehnsucht nach
Wahrheit gestillt, manches irdische Leid gemildert, und vielen ehrlich Suchenden
nach Gott — der Weg in die Innen-Welt geöffnet wurde.
Der Weg, der da führt — durch das eigene Herzens-Erlebnis hin — zum grossen
Vater-Herzen!
Amen!
Gott wohnt in uns! OTTO HILLIG
Was ist's, Mein Kind, das Ich dir noch soll geben,
was ist's, dem all dein Sehnen gilt?
Erhielt'st aus Mir du doch Mein Leben,
dass deine Kindesbrust es füllt! —
Wohl lebst du jetzt noch wie aus Meiner Hand,
und nimmst, wie äusserlich, die Kost entgegen,
die deine Seel' in Meinem Worte fand,
um deinen inneren Lebenskern zu pflegen!
Du bist aus Mir ,Mein Wort' geworden,
trägst mehr in dir — als: „äusseres Wort",
das zu euch floss durch Himmels-Pforten
nach deinem irdischen Lebens-Ort.
Ich lebe doch! obwohl Ich starb für euch,
Mein Leben gipfelt jetzt im Kindes-Herzen.
Im Kinde liegt darum Mein heilig Reich,
dort wird's geboren erst durch Opfer-Schmerzen.
Was Ich zu euch dereinst gesprochen,
sollst finden du nun selbst in dir!
Drum lausch' auf deines Herzens Pochen
und öffne still die Pforten 1) Mir,
dass Ich von innen reich' dir Meine Hand
und kann aus deinem Innern zu dir reden!
Dann wirst zum Engel du, zu Mir gesandt
durch einfach kindlich lebens-wahres Beten.
Dann hab' Ich dir nichts mehr zu geben!
Verharre betend, liebend, still. —
Ich will als Jesus in dir leben,
damit Mein Plan sich ganz erfüll'!
Mein ew'ges Reich euch zu eröffnen — war Mein Tod,
damit auch Sünder konnten wieder leben.
Kannst fassen du's, wird's Mir ein Morgenrot,
weil wiederfand im Kinde — Ich ,Mein Leben'.
Ich gab euch Kindern — Mich gefangen,
,Mein Gottes-Funke' zeugt davon,
den Ich in eurer Seel' lass prangen,
wo Ich noch — als Gefangener wohn'!
Gebt, Kinder, ihr nun Meinem Geist Gehör
und öffnet Ihm in eurer Seel' die Tore,
fliesst auch zur äusseren Welt Mein Liebe-Meer,
und Sieges-Hymnen jubeln Mir im Chore.
1) Diese Pforten bzw. das Erwachen unserer geistigen Sinne für geistige Vorgänge