Heft 17. Göttliche Führungen bei den ersten Christen
Inhaltsverzeichnis
01. Neue Pläne zur
Rettung gefangener Glaubensbrüder
02. Im Hause Bernharts
03. Achibalds Prüfung
04. Ursus in seinem Gottvertrauen
05. Göttliche Führungen
06. Die Hochzeits-Feier
07. Stephanus
08. Theophil bei Jonhannes
09. In Jerusalem
10. Der Harfenspieler
11. Jonas am Scheidewege
12. Heimkehr nach Bethanien
13. Besichtigung der
grossen Anlagen in Bethanien
14. Rechtfertigung der
göttlichen Führungen
Neue Pläne zur
Rettung gefangener Glaubensbrüder
Am anderen Morgen wurde ein allgemeiner Ruhetag angeordnet, um sich mit den
Gästen in innerer Freude noch näher kennenzulernen. Da aber der alte Vater
Eusebius ein wenig traurig aussah, fragte Cornelius teilnehmend, ob er einen
stillen Kummer in sich trage? Der Alte sprach: „Ja, ich fürchte, dass ich nun
bald einsam sein werde, wenn meine Tochter Ruth durch ihre Heirat mich verlassen
wird. Sie war mir Sonnenschein und Halt, wenn es in mir trübe und lichtlos war."
„Aber, alter Freund", unterbrach Cornelius ihn, „glaubst du wirklich, deine
Tochter zu verlieren? O nein, du erhältst noch einen Sohn dazu, dessen du dich
freuen wirst, so du ihn erst richtig kennengelernt hast. Siehe, als Knabe kam
Achibald zu uns und hat sich durch seinen aufrechten Charakter die Achtung und
Liebe aller gewonnen. Seit 15 Jahren leben wir zusammen, und ich hätte Ursache,
Kummer zu empfinden, denn ich verliere einen treuen Freund und einen meiner
besten Unterführer. Sein Glück aber ist auch mein Glück! Darum freue ich mich,
mit dazu beigetragen zu haben!"
Wie sich besinnend sprach Cornelius dann weiter: „Nun aber geht mir der gestrige
Auftrag des Engels nicht aus dem Sinn: „Erwerbet so viel Land wie irgend
möglich!" (Heft 16, Seite 68). Darum möchte ich heute noch mit deinen beiden
Söhnen, mit dem alten Elim und Achibald das umliegende Land deiner Besitzungen
besichtigen." — Und so geschah es. —
Nach stundenlangem Ritt kehrten sie befriedigt zurück, und Cornelius besprach
mit ihnen seine neuen Pläne, hier eine Kolonie zu gründen. Er schloss: „Und nun,
lieber Elim, sage uns deine Ansichten darüber; auf deinen weiten Reisen hast du
ja vielerlei Erfahrungen gesammelt."
Und Elim sprach: „Ja, meine Freunde, in diesem fruchtbaren Lande ist wohl noch
viel zu gewinnen an Getreide, an Ölbäumen und Früchten, aber es wird manche Mühe
und viel Geld kosten."
„An Arbeitern wird kein Mangel sein", warf Cornelius ein, „und die Kosten-Frage
lass meine Sache sein." —
Da entwarf Elim ein liebliches Zukunftsbild und gab auch die nötigen
Erklärungen, wie solcher Plan sich hier verwirklichen liesse.
Cornelius erklärte nun sehr ernst: „Wir wissen, dass die Templer aus Rachsucht
gegen die Lehre Jesu viele unserer Glaubensgenossen heimlich gefangen nehmen,
die älteren dem Tode des Verhungerns preisgeben, aber die jungen Männer und
Frauen als Sklaven zu verkaufen suchen. Diesen Verbrechen können wir Römer
leider keine Gewalt entgegenstellen, aber als Mensch und Christ ist es unsere
heilige Pflicht, diesen Unglücklichen zu helfen. Darum denke ich: Soweit dieses
Gelände noch besitzlos ist, übergebe ich dir das Land, wozu ich als Vertreter
des Römischen Kaisers das volle Recht habe; und aus meinen Mitteln, lieber
Achibald, lasse ich dir die nötigen Gebäude und Ställe errichten.
Dir aber, Elim, möchte ich, als dem Umsichtigen und Erfahrensten, das Amt eines
Verwalters übergeben als Dank für deine uns geleisteten Dienste. Wenn hier eine
Ansiedlung unter römischem Schutz entsteht, haben die Templer nichts zu sagen.
Dann legen wir noch eine militärische Besatzung hierher, die dem durchziehenden
Handel und besonders den Karawanen aus Jerusalem ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden
hätte. Ich bin gewiss, dass der Statthalter diese Unternehmungen freudig
begrüsst, weil sie die Würde und das Ansehen des Kaiserreiches heben!"
Und alle Zuhörer waren sogleich für den Plan gewonnen. Nach dem gemeinsamen
Mahle sprach Cornelius mit dem alten Eusebius und sagte: „Nun wollen wir einmal
Rat halten wegen deiner und deiner Kinder Zukunft. Sieh, das Alter hat deine
Kräfte geschwächt, du wirst nun ausruhen vom irdischen Schaffen und dich mehr
deinem Innenleben zuwenden.
Dein ältester Sohn Joseph wird dein Erbe übernehmen und möchte die Tochter
Bernharts als sein Weib heimführen.
Dein Sohn Joram wird mit Freuden zu Bernhart ziehen und dessen jüngere Tochter
ehelichen und so seinem Schwiegervater eine treue Stütze werden.
Für deine Ruth zu sorgen, nehme ich mir das Recht, indem ich als Vertreter der
Regierung Achibald alles angrenzende Land, soweit es noch keinen Besitzer hat,
übergebe. Aus meinen und Staatsmitteln wird die neue Ansiedlung errichtet, die
vor allem unsern verfolgten Glaubensbrüdern zu einer neuen Heimat werden möge.
Sorge dich nicht um die Kosten oder andere Dinge; was wir hier beginnen als
Römer, soll unsere Sache sein."
Inzwischen war auf dem Hofe eine Karawane angekommen, und der Anführer Asa
begrüsste fröhlich die ihm bekannten Männer: „Heil und Segen und der Friede
Gottes sei mit euch!"
Dann wandte er sich an Elim: „Im Auftrage eures Freundes Ursus bin ich zu euch
gekommen, um dir, als dem rechtmässigen Besitzer all dieser Wagen und Tiere,
dein Eigentum wieder abzuliefern. In diesem Brief von meinem Herrn, lieber Elim,
findest du alles Wissenswerte."
Elim dankte dem Asa und sagte bewegt: „O mein Freund, welch ein Unterschied in
diesen wenigen Wochen! Aus all der Welt des Hasses sind wir in eine Welt des
Friedens eingetreten, und welche Fülle von Leben offenbart sich hier!"
Und Asa bestätigte: „Ja, Elim, auch ich fühle mich glücklich, bin ich doch
seitdem der Freund und Vertraute von dem herrlichen Ursus, der auch bald hierher
kommen wird."
Elim nahm den Brief und überreichte ihn dem Achibald mit der Bitte: „Übernimm
du, lieber Freund, diese meine früheren Güter, du wirst sie für deine
Schützlinge noch gut verwenden können. Ich bitte dich, wehre diese meine Gabe
nicht ab, denn ohne deine Hilfe und die Gnade des Herrn lebte ich nicht mehr.
Jetzt aber erfreut mich mein Leben wieder, und gern will ich bei all den grossen
Aufgaben dein dir helfender Freund sein. Doch sollst du nicht der Beschenkte
sein, nur der Verwalter, der von der göttlichen Liebe erkoren ist, im rechten
Heilandssinn damit zu wirken und Freude zu schaffen!"
Tief bewegt sprach Achibald: „O Bruder Elim, wenn du so empfindest, darf ich
dich nicht enttäuschen; so bitte ich euch alle: Helft mit, damit es uns
gelinge!"
Asa bat dann Achibald: „Herr und Freund meines Herrn! Gib Befehl zum Ausladen
der Wagen; ein Verzeichnis der Waren wird in dem Brief vorhanden sein.
Achibald löste nun das Siegel des Schreibens, überreichte es aber dem Hauptmann
Cornelius, und dieser las laut: „Mein im Herrn mir neu gewordener Bruder Elim!
Die Liebe drängt mich, dir nochmals zu danken für deine tatkräftige Hilfe an
unseren Glaubensbrüdern, welche zu lebenslänglichen Sklaven verurteilt waren.
Mein Herz ist noch voll Jubel über das Gelingen dieses Befreiungs-Werkes und ist
voller Freude, weil du dich mit in die Reihen der Helfer eingegliedert hast.
Dein Eigentum ist dir hiermit zurückgegeben; das Eigentum des verirrten Assir
kann ihm nicht mehr zugestellt werden, da er inzwischen verurteilt ist. Darum
habe ich es im Sinne rechter Weisheit aus Gott in allerlei nützliche Gegenstände
für die Geretteten umgetauscht. Grüsse auch den lieben Vater Eusebius und sage
ihm, ich hätte mein Versprechen nicht vergessen. So entbiete ich dir, lieber
Elim, den rechten Gottes-Gruss und bleibe im Geiste dir verbunden. — Ursus! —"
Dazu sagte Cornelius noch: „Elim, du kannst dich freuen über dieses geschenkte
Vertrauen. Wahrlich, auch ich bin beglückt von dieser Löse!"
Beim Abladen der Waren gingen alle an die Besichtigung der vielen Schätze, die
Ursus sandte, und verwundert betrachtete auch Eusebius diesen Reichtum.
Bernhart wollte all das Gold und Silber, das Ursus ihm zugedacht hatte, nicht
annehmen, aber Cornelius sagte: „Freunde, nicht menschlich denken, sondern den
erhabenen Zweck im Auge behalten, denn all dieses vergängliche Gut kann doch
eine Hilfe zum Glücklichmachen sein, und Ursus hat ja alles in gerechter Ordnung
schon verteilt."
Im Hause Bernharts
Am anderen Morgen begleiteten Alle Bernhart nach seinen Besitzungen; nur Elim
war zurückgeblieben, um die Aufsicht im Hause des Eusebius zu übernehmen, für
den es eine Freude war, zu fühlen, wie es ist, befreit zu sein von allem
irdischen Getriebe.
Auch hier besichtigte Cornelius mit den Anderen die umliegenden Äcker und
Ländereien für neue Ansiedlungen und sagte dabei zu Bernhart: „Du bist ein Römer
und hast freie Hand hier, und die Vollmacht für den neuen Landbesitz erteile ich
dir noch! Siehe, so der Feind sich gross macht, um vernichtend zu wirken, müssen
wir unser Herz erheben, um mit noch grösserem Liebe-Willen an das Werk der
Rettung zu gehen.
Wisse: der Allmächtige kann uns ja nicht das Wollen dazu geben — weil dieser
Tat-Wille in uns selber geboren sein muss! Aber mit Kraft und Weisheit von Oben
wird jeder ausgerüstet, der seinen armen Mitmenschen wirklich helfen will. Was
du den Notleidenden an Hilfe bringen darfst, kann dir eigentlich nur Gott
schenken. Was uns aber von Gott gegeben wird, trägt tausendfachen Segen! Diese
Erkenntnis, mein lieber Bernhart, werde dir zum Leitstern, jetzt und allezeit!"
In Schweigen versunken, ritten sie nun zurück, und Bernhart bewegte die Worte
des Freundes tief im Herzen. Noch im Hause, trotz der erhöhten Tätigkeit, umgab
ihn innerlich eine so beglückende Weihe, dass er zu seinem Weibe sagte: „Elisa,
mit den Freunden muss auch der Herr bei uns eingezogen sein! In mir ist so
grosse Freude, dass ich alles um mich ganz anders ansehen lerne. Weib, noch
viele Unglückliche können Zuflucht bei uns finden, denn der Herr selber gab mir
gestern die reichen Mittel dazu in die Hand! Ja, ich ahne, was Gott eigentlich
von uns Menschen will! Noch ist es nur ein Ahnen, aber Cornelius hat mir die
Augen dafür geöffnet, nun tut nur noch not, dass ich auch mit meinem ganzen
Herzen dafür bereit bin."
Da sagte sein Weib: „Bernhart, du hast deine heiligen Aufgaben und deinen freien
Willen, sie auszuführen, aber lasse auch mir meine Sorgen und Mühen dabei, denn
Liebe ist ohne Besorgtheit undenkbar. Und wenn du uns noch hundert Menschen als
Hausgenossen bringst, so möchte ich doch gern für ihr leibliches Wohlergehen
besorgt sein!" Bernhart freute sich über ihr Verständnis für seine neuen
Aufgaben.
Als am Abend alle Hausgenossen zur Andacht versammelt waren, sprach Cornelius:
„Meine Freunde! In diesen Tagen ist uns grosses Heil widerfahren, indem nicht
nur beim Vater Eusebius, sondern auch hier bei euch ein neuer Geist lebendig
geworden ist, der sich in allem so beglückend auswirken will! Aus dem Munde
unseres Meisters und Seiner Diener wissen wir, dass dort, wo Seine Lehre und
Sein Leben verwirklicht wird, Er Selbst schon unsichtbar gegenwärtig ist. Darum
bitten wir Dich, o Herr und Vater, der Du segnend uns hier umgibst, stärke
unseren Glauben und schenke unserem Bemühen, noch vielen Armen zu helfen,
fröhliches Gelingen! Amen."
Tiefe Stille folgte — und heiliges Wehen durchströmte alle Herzen.
— Dann bat einer von den damals Geretteten, noch etwas von seinem Erlebnis mit
Jesus erzählen zu dürfen; und gern führte Bernhart ihn zum Cornelius, wo er
begann:
„Als Jesus einst mit den Seinen durch unsern kleinen Ort zog und viele
Neugierige sich herzu drängten, Ihn zu sehen, kam auch mich die Lust an, Ihm als
Heiland zuzuschauen. Nie habe ich grossen Wert auf Worte gelegt, die da nur
belehrend wirken sollten, und so suchte ich auch Jesu Nähe nicht, um Ihn zu
hören, sondern stand abseits. Doch was ich hier erlebte, war so gewaltig, dass
ich Ihn als den grossen Heiland erkennen durfte, ohne Sein Wort vernommen zu
haben.
Eine Mutter hatte ihr krankes Kind an der Hand. Bescheiden stand sie abseits,
während der Heiland von den vielen umdrängt ward und darum nicht sehen konnte,
wie die Mutter verlangend die Hände nach Ihm ausstreckte. Er ging vorüber — und
weinend sank die Mutter zur Erde. Da wandte sich Jesus um und sprach: „Nicht
Trauer, sondern Freude will ich zurücklassen! Darum freue dich, du armes Weib,
dein stilles Bitten sei erfüllt — dein Kind ist gesund!" Freunde — Worte können
nicht beschreiben, was da diese Handlung bei mir auslöste. Er kehrte um! — Er
fühlte im eigenen Inneren das Leid der armen Mutter! Seine helfende Liebe wurde
mir zum lebendigen Beweis Seiner wahren Göttlichkeit. Und ich glaubte von nun an
Seinen herrlichen Worten.
Wie oft gehen wir noch an der Not Anderer vorüber und sind vielleicht gerade in
Anbetung des grossen Gottes versunken. In unserer Gefangenschaft durch die
Schändlichkeit der Templer erlebten wir den Beweis, dass mancher sehr gut von
Gott predigen kann — und doch dem Widersacher dient.
Jesus wollte uns nicht nur den Glauben an Gott lehren, nicht nur uns das
Herrliche Seines Reiches schildern und was Grosses von uns noch erreicht werden
kann, sondern Er möchte uns selber zu einem lebendigen Worte machen, wo jede
Handlung, jeder Blick, jeder Gedanke schon spricht von der Hoheit der ewigen
Wahrheit und der Heiligkeit der göttlichen Liebe! Darum — wo Jesus wahrhaft
lebet
— ist Freude! Und wo Gotteskinder wirken, sollte nicht weniger Freude sein!" —
Nach einer tiefen Stille, da das Wesen Jesu in allen Herzen noch lebendig
nachhallte, begaben sich dann alle zur Ruhe.
Achibalds´s Prüfung
Nur Achibald kam nicht zur inneren Stille. — Grauenhafte Bilder seiner
Vergangenheit zogen plötzlich an ihm vorüber und brennende Hütten und sterbende
Menschen wurden in ihm lebendig. Grässliche Tiere bäumten sich vor seinen
geistigen Augen auf und brachten sein ganzes Inneres immer mehr in Aufruhr. Wo
waren die herrlichen Eindrücke des vergangenen Tages? Wo war die segnende Hand
der erbarmenden Liebe? „O Jesus, hilf mir aus diesen Qualen, die meine Liebe zu
Dir zerstören wollen!"
Da nahte sich eine grosse Tiergestalt mit mächtigen Tatzen und Krallen, und das
Gesicht war das des Assyr; die Augen schillerten in Rot und Blau, und es schien,
als wollten sie sich auf ihn stürzen. „Mein Jesus, jetzt hilf - oder ich
unterliege! Lasse es nicht zu, denn ich gehöre ja zu Dir!" betete er heiss.
Da stand auf einmal ein lichter Mensch neben ihm, hielt die Rechte hoch und
sprach zu dem Untier: „Im Namen Jesu — des allmächtigen Gottes — zergehe, du
Trugbild und zeige dein wahres Ich, sonst wird dir werden, was du ihm antun
wolltest! —
Du aber, mein Freund, erlebe, wie Gott den richtet, der Anderen oft ein Richter
sein wollte! Fürchte dich nie! Gott hat mächtige Diener, und noch mächtigere
Kinder, um alle Feinde abzuwehren! Wisse: Ein Gedanke, aus reinster Liebe
geboren, ist eine geistige Kraft und kann alles Böse-Scheinende machtvoll
zurückweisen! Doch nun erschaue, wie dieses Ungeheuer, ganz Wut und Hass, ein
höllisches Feuer in sich selbst entzündet, mit dem es das in dir wachsende
Gottesleben vernichten wollte.
Denke aber nicht, nun bist du von deinen Widersachern erlöst. Sondern erlöst
bist du erst von ihnen, so du ihr Helfer und Retter geworden bist! Wie du dieses
anfangen wirst, ist deine eigene Sache, da das nur dein freier Liebes-Zug
ermöglichen kann!
Und merke dir: alles, was in deine Welt tritt, wird dir zu einem Angehör; darum
trage Sorge, dass es dir zu deinem Lebendiger-Werden diene und nicht zur
unerträglichen Last werde! Gestaltest du dein ferneres Leben im wahren
Jesu-Liebe-Geist, kann der Richter nicht länger in dir wohnen! Wie Jesus als
Heiland verzeihend und befreiend wirkte, so sei Sein herrlich Vorbild dir
Inbegriff alles Guten und Wahren!"
Ein Zeichen mit der Hand aufs Herz — und verschwunden war das lichte Wesen,
vergangen aber waren auch die Schrecken erregenden Bilder. Die Morgenröte der
aufgehenden Sonne erfüllte sein Herz mit Freude; nun konnte Achibald aufatmend
beten: „O mein Heiland! Mein Gott und Vater! Wie klein erscheine ich mir im
Angesichte Deiner grossen Gnade, die mir jetzt offenbar wird. Der Anbruch eines
geistigen Tages zeigt mir, wie voll Erbarmung Du sein musst, da Du geduldig mir
immer wieder zeigst, was Deines Kindes nicht würdig ist! Darum stärke mich,
damit ich meinem Vorsatz getreu bleibe und Du Freude an mir habest! Amen."
So erhob er sich vom Lager und ging nach den Ställen, wo die Leute schon die
Tiere versorgten. In aller Augen sah er ein Leuchten, einen Glanz von Frieden,
und durch sein Herz zog eine Welle von Glück.
Ruth sah ihn an und fragte, warum er schon so früh das Haus verlassen habe.
Achibald antwortete sinnend: „In dieser Nacht musste ich eine ernste Prüfung
bestehen, weil der Herr mir noch vieles aus meinem Innern zu offenbaren hatte.
Jetzt sehe ich ein: es fehlt mir noch viel, ein wahrer Christ zu sein, und ich
fürchte, ich werde es kaum erreichen, da noch zu viel von alten heidnischen
Vorstellungen in mir aufgespeichert liegen.
Erwiderte Ruth: „Warum übergibst du das noch auf dir Lastende nicht dem Heiland
Jesus? Was kümmert dich das Vergangene noch? O mein Achibald, schüttle ab, was
sich noch zwischen dich und die Heilandsliebe drängen will und beschäftige dich
mit dem, was dir neu geschenkt wurde! Er ist es wert und hat dich für Sein Werk
würdig gemacht. Glaube Ihm — und sei stark! Ich möchte dir immer in allen
Prüfungen helfend zur Seite stehen, denn wo Glauben an Seine Hilfe ist, wird der
Herr auch das Gelingen geben."
Inzwischen waren auch die anderen Gäste in der Stube erschienen, um am Frühmahl
teilzunehmen. Als Letzter kam Bernhart; feierlich und weihevoll übergab er dem
alten Eusebius den Vorsitz, und nach einer kleinen Stille sprach dieser:
„Freunde und Brüder! Der Herr ist zu uns gekommen, weil unsere Herzen Ihm
geöffnet sind. Möchte auch dieser neue Tag so verlebt werden, dass jede Stunde
ihren heiligen Zweck erfüllt, denn jede Gelegenheit, die verpasst wird, ist
nicht mehr gutzumachen! Dann wird jeder von uns am Abend sagen können: ,Herr,
nur mit Deiner gnädigen Mithilfe war es mir möglich, meine Pflichten in Deinem
Geiste zu erfüllen!'
Nun wollen wir uns mit den Gaben stärken, die Deine Liebe und Fürsorge uns
zugedacht hat, doch nur mit Deinem Segen gereichen sie uns zum Heile! Darum, o
Herr, wir sehnen uns nach Deinem Segen — so erfülle unsere Bitte um Deines
grossen Werkes willen! Wir wollen Deine Güte preisen und loben Deine Weisheit,
aber Deine Liebe wollen wir uns zu eigen machen! Amen!"
„Nun aber fühle ich in mir eine neue Kraft. Damit segne ich euch alle und dieses
Mahl, auf dass verherrlicht werde Sein heiliger Name! Amen!"
Cornelius hatte nachher noch mancherlei Vorschläge für die neue Ansiedlung zu
machen und schloss ernst: „Nach den letzten Berichten soll es in Judäa oft
grauenhaft zugehen; ein gewisser Saulus soll Tag und Nacht wüten, um Anhänger
der Jesu-Lehre in die Gefängnisse des Tempels einzuliefern. Darum soll alles
hier möglichst schnell fertig gemacht werden, um doch einigen dieser
Unglücklichen eine neue Heimat geben zu können."
Bernhart wies nochmals auf die vielen Kosten hin, aber Cornelius sagte: „Wenn
wir nur den festen Willen haben, den unschuldig leidenden Glaubensbrüdern zu
helfen, und alle Arbeit und Mühe dabei nicht scheuen, wird der Herr uns schon
den Weg dahin ebnen. Darum werde ich nach meiner Rückkehr veranlassen, dass dir,
mein lieber Bernhart, so viel Land wie nur irgend möglich zur Verfügung gestellt
wird und du eine römische Kolonie gründen kannst mit Mitteln und Arbeitern, die
dir von der Regierung gestellt werden.
Bernhart antwortete froh: „O Cornelius, ich bewundere deine grossen Pläne und
stehe dir ganz zur Verfügung."
„Ja", bestätigte Cornelius, „die Möglichkeit, hier ein neues Eden zu schaffen
für frohe Menschen, ist mir zur heiligen Lebensaufgabe geworden, und unser
Meister wird sagen: „Meine Kinder haben Mir eine rechte Freude bereitet! Mein
Segen soll sichtbar werden an allen denen, die mit Hand ans Werk legen und zum
Erfolg beitragen."
Ursus in seinem Gottvertrauen
Ganz unerwartet sprengte Ursus mit einigen Begleitern in den Hof und wurde von
seinen Freunden mit Jubel begrüsst.
Cornelius betrachtete den ihm noch unbekannten jungen Römer mit Wohlgefallen,
der ein so fröhlicher Kämpfer für Jesus und Seine hohen Ziele sein sollte.
Eusebius umarmte den Ursus sehr herzlich und sagte: „Mein Sohn! Die Liebe gibt
mir das Recht, dich so zu nennen, denn deine Grosstat der Hilfe bleibt uns
unvergessen!"
Nachdem alle begrüsst waren, überreichte Ursus der Mutter Elisa als besondere
Gabe einen grossen Ballen Tuch mit den Worten: „Damit du dich nicht zu sorgen
brauchst, du liebe Hausmutter, wenn arme, nackte Kinder zu dir kommen, deren
jetzt viele elternlos sind und eine wahre Mutter brauchen. In Jerusalem ist es
jetzt wie Gewitterschwüle. Es wagt sich fast kein Mensch mehr auf die Strasse,
denn überall belauern die Templer die armen Christen, um sie in ihre Kerker zu
werfen."
„O mein Gott", rief die Mutter entsetzt, „was haben sie denn verbrochen?"
„Nichts — als dass sie an Jesus, den grossen Heiland, glauben", antwortete
Ursus, „und erkannt haben, dass Er unschuldig hingemordet ward, dass Sein Leiden
und Sterben vom Tempel aus mit allen Mitteln erreicht ward — und Seine
Auferstehung von ihnen geleugnet wird! Dazu kommen jetzt die Grosstaten der
Apostel, die durch Handauflegen und Gebet viele Kranke heilen, so dass ich den
Eindruck erhielt, jeder zweite Mensch dort sei schon ein Christ.
Schlimm ist es, dass wir Römer tatenlos zusehen müssen, wie sich die Gefängnisse
füllen, und niemand fragen darf: Wohin sind nun die Christen gekommen? Als ich
beim Stadthauptmann Erkundigungen einholte und das eben zu euch Gesagte dort
vorbrachte, wurde mir der Bescheid zuteil, dass sie keine Handhabe hätten,
einzugreifen, denn nach dem jüdischen Gesetz ist ein jeder Verräter an seinem
Gott des Todes schuldig.
„Bring mir Beweise", sagte der Stadthauptmann, „dass die Templer den Kaiser oder
uns schmähen, dass sie unsere Abmachungen übertreten, und sie sind unsere
Gefangenen! Aber so sind mir die Hände gebunden, ja, ich muss ihre Gesetze und
ihre Handlungen noch schützen."
Cornelius nickte und sagte: „Ja, so ist es! Der grösste Schachzug der Templer,
den sie uns Römern abrangen, war ja der, dass wir ihre Religion schützen müssen
und solche, die gegen ihre Religion handeln, noch ihren Gerichten auszuliefern
haben. Darum muss unsererseits die grösste Klugheit angewendet werden, um mit
dem Hohen Rat auszukommen."
Elisa fragte: „Kann denn niemand den Christen in Jerusalem helfen?"
„Leider nicht! Die Bürger Jerusalems hätten zuvor römische Untertanen werden
müssen, aber sie haben kein Vertrauen zu uns und betrachten uns noch immer als
ihre Feinde, von denen sie der Messias befreien sollte. — Die erbarmende Liebe
Jesu zeigt uns aber jetzt ganz neue Wege zur Linderung dieser Leiden, und
unbewusst hast du, lieber Ursus, mir einen neuen Liebesgedanken offenbart, indem
du die Mutter Elisa schon zur Mutter für viele fremde Kinder erwählt hast. Wir
werden dort am Gebirge auch ein schönes Haus für verwaiste Kinder errichten,
damit wir die Schuld gut machen, die falsche Erkenntnis oder höllischer Eifer
verursacht haben.
Immer lebendiger ersteht in mir der grosse Plan zum Helfen. Immer eindringlicher
mahnt uns das Leben, nicht nachzulassen damit, auf dass ein Damm und Schutzwall
errichtet werde inmitten der Feinde Gottes. — Ich werde veranlassen, dass Tag
und Nacht die grossen Heerstrassen bewacht werden, und jede Handelskarawane sich
ausweisen muss, welche Güter sie befördert. Und wehe denen, die uns dann
wissentlich hintergehen wollen!"
„Tut es!" sprach Ursus lebhaft. „Auch ich überholte auf dem Weg hierher einen
Zug, der bestimmt Menschen als Gefangene transportierte. Die Verschlagenheit des
begleitenden Tempelpriesters war mir Beweis genug, aber ich hatte keine Handhabe
und auch keine Leute, ihnen Widerstand entgegenzusetzen."
In Cornelius reifte eine neue Idee — plötzlich stand er auf und sagte: „Lasst
uns hinausgehen, mir wird es hier zu eng!" Draussen sagte er zu Achibald:
„Willst du versuchen, diesen Gefangenen zu helfen? Noch bist du Soldat und
könntest handeln im Auftrage deines Vorgesetzten!"
„Gern — wenn es möglich wäre", antwortete Achibald, „doch habe ich hier nur
einige Kameraden zur Verfügung."
„Das genügt!" sprach Cornelius. „Du sollst auch nur versuchen, ihnen Hilfe zu
bringen, da der Erfolg stets von Gott abhängt. Veranlasse, dass ihr sogleich
abreiten könnt, mache aber kein Aufsehen. Ursus mag dir den Ort angeben, wo er
diese Karawane getroffen hat, doch gehe jedem Kampfe aus dem Wege!"
Achibald hatte bald seine Leute zum Abreiten bereit; auf zwei Packpferden wurde
Proviant verstaut, ein kurzer Abschied, und nun „mit Gott" hinaus in den
Nachmittag.
Cornelius und Ursus blieben bis zum Abend recht still, um nicht durch unnötiges
Reden den Möglichkeiten, die ihr ganzes Denken beanspruchten, die segnenden
Kräfte zu entziehen.
Nach dem Abendessen erzählte Ursus von seinen Erlebnissen, seit er von Eusebius
damals weiter gezogen war: „Grosse Freude erlebte ich an den Wächtern und dem
Priester, die in unseren Dienst traten. Nun sie wissen, dass ihre fernere
Zukunft gesichert ist und sie vom Tempel nichts zu fürchten haben, entwickeln
sie Fähigkeiten, über die ich staune! Aber an die Lehre Jesu können sie noch
nicht glauben; sie kommen über die Klippe nicht hinweg, dass der grosse Gott —
Seinem Sohne nicht den nötigen Schutz gewährte, um Ihm den Kreuzes-Tod zu
ersparen! Solche Zweifel aber sind nun für mich, wie auch für euch alle
Mahnungen zur rechten Geduld mit ihren Seelen, da sich Angeborenes und
Angeeignetes nicht so leicht umwandeln lässt.
Auch Andere, die vielleicht einmal das Glück hatten, Jesus als Mensch zu sehen
und zu hören, sind jetzt, seit die Kunde die Lande durcheilte, Er sei am Kreuze
gestorben, kaum noch von Seiner hohen Sendung zu überzeugen; und Seine treuen
Apostel haben das schwere Amt, Vertrauen und Aufklärung dorthin zu tragen, wo
der Tempel mit der Verfolgung der neuen Lehre einsetzt.
Als ich durch Samaria zog, um unsere Niederlassungen zu besuchen, erlebte ich
folgendes: Eine kleine Gemeinde der Jesu-Lehre, die sich an Vorsabbathen
regelmässig zusammenfand, wurde von einem alten Bruder geleitet, der aber dem
neuen Priester dort nicht gewachsen war und nun erleben musste, wie der Wolf im
Schafspelz grossen Schaden an den Seelen seiner Gläubigen anrichtete. Der Wirt
meiner Herberge erzählte mir, dass der alte und an inneren Erfahrungen so reiche
Führer dadurch den Boden seiner Glaubens-Sicherheit fast verloren habe und nur
noch bete und flehe, Gott solle helfen, während sein Gegner, der neue Priester,
den Kopf immer höher trage.
Bald darauf kam dieser Alte zu uns in die Herberge, und ich liess mir seine
Leiden und Enttäuschungen noch einmal erzählen. Hierbei erlebte ich die treue
Liebe eines Leiters für seine Gemeinde, der aber in seiner Sorge um die ihm
anvertrauten Seelen die hohe Pflicht vergass: Vorbild zu bleiben für seine
Getreuen!
Um seiner Not abzuhelfen, fragte ich nach den Kranken im Ort — es waren ihrer
viele — aber ein Heiler und Helfer fehlte, da keiner wagte, durch Händeauflegen
und Gebet diesen heiligen Liebesdienst auszuüben, weil dieses Apostel-Amt sei!
Ich bat: „Kannst du veranlassen, dass deine Gläubigen morgen vormittag mit ihren
Kranken in die Synagoge kommen? Ich würde gern euren Priester kennen lernen, um
ihm zu beweisen, dass Jesus auch heute noch lebt, und dass Er Seinen Getreuen
auch jetzt noch helfen will!"
Der Alte ward unsicher — dann aber, als ich ihm klar machte, dass der stets
helfende Heiland solche Dienste von uns fordere, versprach er, sein Möglichstes
zu tun.
Am anderen Morgen war der neue Priester freudig überrascht über die vielen
Zuhörer; er wählte den Psalm 74 zu seinem Text, und legte ihn so aus: dass nun
endlich Gott Seine Widersacher, die Nazarener, strafen werde, um an die
Aufrichtung Seines Reiches zu gehen, und zeigte an Beweisen, wie töricht es sei,
einem Betrüger und Volksverführer länger zu glauben.
Die an den Heiland glaubten, wurden unruhig, die anderen aber schwelgten in
Freude, weil endlich ihr Priester die rechte Sprache gegen die Tempel-Feinde
gefunden hatte. Mich aber durchdrang ein Weh; in meiner Hand schmerzte das Mal,
ich betete um Kraft, um Erleuchtung, und wie von Himmelskräften getragen erhob
ich mich und erbat mir Gehör. Der Priester holte mich selbst an seine Seite, mit
Recht vermutete er in mir einen Römer und gestattete mir zu sprechen.
„Meine Freunde", begann ich, „ich spreche hier zu euch, weil es mich innerlich
dazu drängt. Wir haben soeben ein Zeugnis gehört von der Macht und Hoheit eures
ewigen Gottes, der sich Seiner Feinde zu entledigen weiss und die mit Ruten
züchtigen will, die sich an Seinem Heiligtume vergreifen. Bin ich euch auch ein
Fremdling dem Äusseren nach, so aber innerlich doch euer Freund. Ich habe wohl
viel Leid, aber noch viel mehr Freude erfahren; das Schönste aber war: ich
lernte euren Gott kennen, einen Gott, der heilig, aber auch gerecht und weise
ist! Ich kenne euren Moses und eure Propheten! Ich kenne eure göttlichen Gesetze
— aber auch eure innere Lauheit!
Euer Gott, der da ist heilige Erbarmung mit allen Sündern, sandte Seinen Sohn,
den Messias, zu allen Verirrten, um den Glauben an Ihn aufs Neue zu stärken und
das Vertrauen auf Seinen Beistand wieder zu beleben. Viele waren beglückt von
Seiner Lehre: Der Liebe zu Gott und zum Nächsten, und erkannten in Ihm die
Erfüllung aller Verheissungen. Wer aber nicht glauben konnte oder wollte, waren
eure Priester und Gottesdiener."
Hier unterbrach mich der junge Priester erregt: „Bist du gekommen, den Frieden
dieses Hauses zu stören? Oder welche Absicht hast du, da du mich in meiner Würde
verletzt? Ich stehe hier an heiliger Stätte, an Gottes Statt, und habe das Recht
und die Pflicht, die Ehre dieses Hauses zu wahren!"
„Es ist gut, dass du mich erinnerst, dass du Priester bist", anwortete ich. „Der
Frieden in diesem Hause ist auch mir heilig. Da ich aber euren Gott auch zu
meinem Gott erwählt habe, kann ich nicht begreifen, dass ihr den als Feind
betrachtet, der Ihm dienen will, und den grossen Heiland Jesus, der doch nur
Liebe zu Gott und allen Menschen predigte, samt Seiner Lehre vernichten wollt.
Darum helft mir, Freunde! Hilf du mir, der du Berufener dazu bist, wie soll ich
mich herausfinden aus diesem Widerspruch, damit ich nicht irre werde an eurem
Gott? Doch nur Tatsachen können mir Beweise sein!"
Es folgte ein Schweigen — dann sagte ich laut: „Wie einst Elias sich nicht
anders der Feinde erwehren konnte, als seinen Gott zu bitten, dass er Seine
Macht allen sichtbar offenbare, so dürfen auch wir hier unsern Gott bitten, Sich
in Seiner grossen Macht und Güte sichtbar zu offenbaren, um die Seinen zu
beschützen!
Wenn euer Gott Wohlgefallen hat an der Vernichtung Seiner Feinde, wie dieser
Psalm uns heute belehrte, muss Er grössere Freude haben, so Er Seinen Getreuen
sich als Helfer erweisen kann. Hier sind mehrere Kranke! Darum — im Angesicht
der Heiligkeit Gottes — und der Gegenwart Seiner Gemeinde hier fordere ich dich
auf, der du als Stellvertreter Gottes hier stehest, deinen Gott zu bewegen,
diesen Kranken zu helfen! Gott, der sich in tausendfachen Beweisen eurem Volke
als der ewig Treue bewährt hat, wird dir den rechten Beistand und die Kraft und
Erleuchtung dazu nicht versagen, so du dich als Seinen Diener bewähren willst!"
—
Ganz erbost rief der Priester: „Herr! nimm dein Wort zurück! Wir sollen Gott
nicht versuchen! Dieses frevelnde Spiel mache ich nicht länger mit! Wenn Gott
Leiden gibt, wird Er auch Kraft zum Tragen geben!" —
„Oh — Frevel nennst du, so ich für die Ehre meines Gottes eintrete und von Ihm
ein sichtbares Zeichen gegen Seine Widersacher erwarte? Da kennst du ja den
grossen Gott noch schlecht — und doch wagst du, den heiligen Glauben an Seinen
Gesandten zu bekämpfen?" — (Ich wusste: nur weil ich ein Römer war, konnte mir
nichts geschehen, darum fuhr ich fort:) „Siehe, wie mein Gott diesen Kranken
jetzt helfen wird, so könnte Er dich strafen. Aber der Allmächtige ist geduldig
und von grosser Güte, und Seine Langmut mit allen Irrenden kennt keine Grenzen.
Durch Jesus ist uns Seine Liebe als Vater zu uns, Seinen Kindern offenbart. Er
wollte alle unsere Krankheit heilen und gebot uns, ein Gleiches zu tun. Darum
bitte ich euch, jetzt eure Kranken hierher zu bringen, damit unser Gott Sich als
der grosse Helfer erweisen kann und als gütiger Vater gegen Seine leidenden
Kinder."
Zaghaft kamen sieben, behaftet mit Übeln aller Art, und kniend erwarteten sie
das Kommende. —
Da trat ich vor diese Kranken und fragte laut: „Glaubet ihr, dass Gott allein
euch wahrhaft gesund machen kann, so antwortet mir!" — „Ja — wir glauben das!"
antworteten sie ernst. —
„Ihr wisset, nicht ein Mensch kann euch heilen", sagte ich bewegt, „doch Gottes
Güte will sich heute an euch offenbaren — und so sage ich zu euch: Im Namen
Gottes, des ewigen Vaters, und Seines Sohnes Jesus Christus — seid gesund! — Er
allein hat euch geholfen! Nun lobet und preiset Seinen heiligen Namen! — Amen!"
Die Kranken standen auf — sie waren gesund, geheilt durch die Kraft des
Glaubens! Gesund, weil Er sich verherrlichen wollte als Der, welcher in allen
Himmeln verherrlicht wird! Laut jubelten die Gläubigen. Dankend und lobend
verliessen die Geheilten den Raum. —
Ich aber trat noch einmal zu dem Priester und sagte: „Wer ist nun ein Freund
Gottes — du — oder ich? Beide können wir es nicht sein, sonst wären wir einer
Gesinnung. Gott und Seine Engel und Seine Freunde wollen nur Gutes, wollen nicht
nur geliebt werden, sondern mit verzeihender Liebe auch andere hinführen zu dem
grossen Gott der Liebe und Erbarmung. Dieses tat Jesus von Nazareth! — Was tatet
ihr? Sehet zu, dass Seine Hand euch nicht strafe." — So verliessen wir den Raum,
trafen uns aber später in der Herberge wieder.
Gespannt und bewegten Herzens hatten alle Anwesenden den Worten des Ursus
gelauscht, und er fuhr fort: „Seht, liebe Freunde, die Zeiten sind nicht
vorüber, wo Jesus sichtbar hilft, sondern Er möchte uns rechte Gelegenheiten
geben, zu jeder Zeit aus Seiner Kraft von Seiner helfenden Liebe, Weisheit und
Erbarmung für Ihn zu zeugen. Darum gehet auch ihr der Arbeit für Jesus nicht aus
dem Wege, sondern suchet sie! Denn auf die Schultern Seiner Kinder legt Er jetzt
das Amt, welches seit Ewigkeit Seinen Engeln zugedacht war. - Erobert die Herzen
eurer Mitmenschen, dass auch sie an den grossen Jesus glauben, dann habt ihr Ihm
eine Stätte bereitet, von der aus Er sichtbar wirken kann! Sein Segen und die
Kraft Seiner Liebe sei euer Teil! — Amen."
Nach einer längeren Stille sagte Elisa: „Lieber Ursus! Deinen Glauben möchte ich
auch besitzen! Dieses klare Bewusstsein: ,Gott ist mein Teil!' — muss doch ein
anderes Wissen sein denn unseres, weil wir bei unseren Bitten doch oft keine
Erhörung erleben. Nie würde ich mich getrauen, vor versammelten Leuten zu sagen:
Der Herr wird dich jetzt gesund machen! Wenn nun diese sieben krank geblieben
wären, und Gott hätte deinen Mut nur erproben wollen, was hättest du dann
getan?"
„Mutter Elisa", entgegnete Ursus, „jetzt hast du deinem in dir wohnenden Gott
keine grosse Ehre gegeben! Denn entweder vertraust du der grossen Güte deines
Gottes und kannst dich fest auf Ihn verlassen, oder du kennst Gott nur — wie du
mich vielleicht kennst. Siehe, auch ich musste ringen, bis das eigene Ich zum
Schweigen kam, wodurch erst Gottes Stimme mir deutlich vernehmbar ward. Alles
Reden und Predigen, alles Hoffen und Bitten, um diese klare Stimme in sich zu
hören, ist meist ergebnislos, solange das stets sich vordrängende eigene Ich mit
all seinen Wünschen nicht schweigen lernt!
Du kannst den Heiland Jesus lieben und innig zu Ihm beten, du kannst allen
Seinen Worten Glauben schenken, so sind die Bedingungen zum Auswirken göttlicher
Heilkräfte doch nur erst halb erfüllt.
Kannst du aber eingehen in Seine hohen Liebes-Absichten, in den in allen Seinen
Worten uns so offenbar gemachten Geist, dann wirst du ergriffen von Seinem
heiligen Leben und kannst Ihn durch dich wirken lassen. Bedenke: Nicht ich
wollte dort reden und zeugen, sondern Sein Geist in mir drängte mich zum Zeugnis
für Ihn! Es war der Heilige Geist, der allen verheissen wurde durch den Meister,
ehe Er sichtbar die Erde verliess, und, liebe Elisa, Seine Worte: Wenn Ich nicht
mehr hier sein werde, wird der Geist der Wahrheit zu euch kommen und euch die
rechte Weisheit lehren! gehen sicher in Erfüllung!
Ich erlebe im Innern Sein Wort! Sein Wort aber macht mich frei von allen
Hemmungen. Es macht mich stark und lebendig. Es macht mich zum Diener Seiner
erbarmenden Liebe.
Wenn meine Gedanken hinaufschweifen zu den herrlichen Sternen-Welten oder hinein
in die Tiefe der wogenden See oder in das bunt bewegte Leben und Treiben der
Menschen, so sage ich zu mir die Worte: Du herrlicher Vater, das alles sagt mir
doch nur wenig von ihrem inneren Leben. Aber nun ich Dich gefunden habe in mir,
erzählen mir all diese sichtbaren Dinge so viel von den Wundern Deiner Grösse
und Weisheit, denn alles offenbart sich jetzt meinem Geiste als heiliges Leben
aus Dir. Dieses lehren mich meine Erfahrungen. Doch kann dieses Leben nur
erkannt werden aus dem ganz Neuen Geiste, den Jesus uns geschenkt hat.
Wenn nun du und andere diese Erfahrungen noch nicht erlebt haben, so liegt es
nur daran, dass das sich vordrängende eigene Ich euch dieses innerste Leben aus
Gott noch verdecken kann. Gott lebt in jedem, aber je nach unserem Glauben und
Verlangen offenbart Er sich uns."
Die Mutter Elisa entgegnete: „Aber mein Bruder, ich verstehe nicht, dass es an
mir liegen soll, wenn Gott mir nicht gibt um was ich bete. Ich kann doch auch
nur bitten, wie du und andere beten, und doch — wie oft bleibt unser Gebet
unerfüllt."
„Meine liebe Mutter und Schwester Elisa! Hier liegt noch ein Geheimnis
verborgen, dessen Dunkel erst gelichtet werden muss, ehe du meine Art zu beten
verstehen kannst. Der ewige Gott ist nur Einer an Macht und Herrlichkeit, aber
in dir kann Er nur sein — was deine Seele aus Ihm macht.
Dein Glaube ist vielleicht grösser als der meine, aber ob dein Gott in dir so
herrlich, so übervoll von Liebe und Erbarmung ist wie der Gott in mir, kann
nicht beurteilt werden, da dieses tief verschlossen im Herzenskämmerlein liegt.
Nur in der Auswirkung Seiner göttlichen Fülle durch uns wird dieses erst
offenbar!
Darum freue dich Deines Gottes, wie ich mich stets an Ihm erfreue! Einem ist es
gegeben, für zehn zu sorgen, dem anderen für tausend. Doch darum keinen Neid
untereinander, denn alles, was wir geben, muss zuvor von Ihm empfangen sein. Je
herrlicher mein Gott in mir lebt, um so herrlicher die Hinausstellung Seines
Lebens durch mich! Je begrenzter Gott im Menschen, um so geringer das Ausleben.
Je herrlicher die Auffassung Seines Liebe-Geistes, umso grösser Sein
Macht-Bereich in der Brust Seines Kindes."
„Bruder Ursus, höre auf", rief Elisa erregt, „mich überwältigt die Herrlichkeit
deines Vaters! Dagegen sind unsere Begriffe doch nur recht klein. Aber du hast
mich belehrt über die Grösse deines Gottes im Menschen, und dafür danke ich
dir!" —
Göttliche Führungen
Inzwischen ritt Achibald mit seinen Kameraden auf schlechten sandigen Pfaden
nach Osten und sagte zu dem ältesten seiner Leute: „Dies ist mein letzter
Dienst, und so überlasse ich dir schon heute die Führung!" Er wollte seine
Gedanken sammeln, um wach zu sein und aufzumerken auf die göttlichen Führungen
in sich. Nach einigen Stunden scharfen Rittes lud eine kleine Herberge zum
Einkehren ein. Achibald bat um etwas Brot und Wein, und da der Wirt seine Gäste
selbst bediente, fragte er ihn, wie weit die nächste Ortschaft noch entfernt sei
— „ich vermute, wir haben einen falschen Weg eingeschlagen."
„Grössere Orte gibt es hier im weiten Umkreis nicht, nur kleine Ansiedlungen",
antwortete der Wirt, „weil früher nach Syrien fast kein Verkehr bestand. Erst
seit einigen Monaten kommen öfter Handelszüge aus dem Innenlande hier vorbei;
doch konnte ich nie erfahren, mit welchen Waren sie eigentlich beladen waren."
Achibald horchte auf, er überlegte und fragte dann: „Wann sind wohl die letzten
Wagen hier vorbei gezogen?"
„Eben heute erst fuhr eine Karawane vorbei, doch nur der Anführer, der ein
Templer war, kehrte bei uns ein."
Achibald stand plötzlich auf, eine Ahnung sagte seinen wachen Sinnen, dass er
auf dem gesuchten Wege sei, und ritt mit seinen Begleitern eilig den Wagen nach.
Schon nach einer Stunde bemerkten sie in der Ferne eine Gruppe von Menschen in
dieser einsamen Gegend, und beim raschen Näherkommen sahen sie, wie zwei junge
Gefangene von anderen Männern grausam durchgepeitscht wurden.
„Halt!" rief Achibald empört. „Was geschieht hier? Wer gab euch den Befehl
dazu?"
Ein trotziges Schweigen folgte, dann sagte einer der Gefangenen: „Herr, ein Gott
muss euch gesandt haben! Wir sind Gefangene, und mein Weib wollte man schänden,
da setzten wir uns zur Wehr, und deswegen diese Strafe!"
„Ist das euer Recht", fragte Achibald streng, „zwei Wehrlose so hart zu
bestrafen? Rasch, fesselt diese Peiniger!" gebot er seinen Begleitern, die schon
darauf gewartet hatten. Und sich zu den Geschlagenen wendend, erfuhr er, dass
ihre Karawane mit anderen Gefangenen schon vorausgefahren sei, um bald zu
lagern. So zogen die Reiter mit den Gefangenen ihnen nach und hatten dieselben
auch bald erreicht.
„Bist du der Verantwortliche dieses Zuges?" fragte Achibald einen finster
aussehenden Templer. „Hast du den Befehl gegeben für die Durchpeitschung der
beiden?"
Dieser war erschrocken beim Anblick der Römer, sagte dann aber trotzig: „Ja, ich
bin es! — und es ist mein Recht, so ich strafen lasse, wie ich es für nötig
halte. Diese Verbrecher verdienen keine Nachsicht, weil sie sich gegen meine
Befehle vergangen haben."
Sprach Achibald: „Meines Wissens darf niemand, der den Auftrag hat, Güter oder
Menschen von einer Hand in die andere zu bringen, eigenmächtig Strafen
verhängen, sondern er hat erst am Ziel das Vergehen seiner Behörde zu melden.
Ich aber habe die Aufgabe, gegen solche Führer einzuschreiten, die wissentlich
unsere römischen Gesetze übertreten! Da du eigenmächtig diese grausame Strafe an
den beiden Gefangenen ausführen liessest, erkläre ich dich deines Amtes
enthoben!"
Und er befahl seinen Begleitern: „Rasch, bindet ihm Hände und Füsse, ich werde
ihn unserem Hauptmann ausliefern!" Sogleich war der Befehl vollzogen. Es standen
aber noch 10 Wächter abseits, die sich vor den Römern fürchteten. Diesen befahl
Achibald: „Bringt eure Waffen hierher! Es geschieht euch nichts, so ihr ein
reines Gewissen habt, doch vorläufig seid auch ihr unsere Gefangenen."
Nun wandte er sich zu den unschuldig Gefangenen und fragte: „Warum seid ihr
gefesselt? Was habt ihr verbrochen?"
Sprach einer: „Lieber Herr, weil die Templer uns überraschten bei einer
Abend-Versammlung, wo wir dem grossen Heiland Jesu Loblieder sangen und an
Seinen Worten unseren Glauben an Ihn stärken wollten, nahmen sie viele von uns —
ohne jeden anderen Grund gefangen und haben uns und noch andere gefesselt auf
diese Wagen geladen; doch unsere Zukunft ist uns unbekannt."
Achibald liess sogleich alle Gefangenen befreien und sagte: „Ihr seid frei! Denn
nach unserem Gesetz habt ihr nichts verschuldet, das euch aus der Heimat
verbannt!" — Tränen standen in seinen Augen, als er die vor Freude jauchzenden
Männer als seine Freunde begrüsste; dann sprach er weiter: „Doch überlegt euch
nun, wohin wollet ihr ziehen?"
Und einer sprach: „Unsere Heimat ist uns verschlossen, darum wäre es uns gleich,
wohin wir gehen, nur nicht wieder zurück nach Judäa!"
Da sagte Achibald: „So werde ich für euch sorgen."
Dann ging er zu den beiden Geschlagenen, die von den anderen gepflegt wurden,
und fragte: „Wo ist dein Weib? Warum sind die Frauen nicht zu uns gekommen?" Er
erhielt zur Antwort: „Herr, du musst ihnen verzeihen, die Frauen sind fast alle
ihrer Oberkleidung ledig und schämen sich, vor die Augen fremder Männer zu
treten."
„So besorgt ihnen ihre Kleider", gebot Achibald; und ging zurück zu seinen
Kameraden. Er liess den gefesselten Templer und die Wächter auf die Wagen
bringen und ihre Füsse anketten, wie sie früher ihre Gefangenen behandelt
hatten. Inzwischen kamen die Frauen, mit leichten Tüchern bekleidet, und dankten
ihm mit Tränen der Freude für ihre Befreiung aus schwerer Not.
Achibald sagte zu seinen Leuten: „Sehet hier — wenn die Gelegenheit zum
Beglücken Notleidender benutzt wird, wie schön kann dann das Leben sein! — Ich
habe mir nun überlegt, es ist am besten, wir bleiben in dieser Nacht hier, und
frühmorgens bringen wir den ganzen Wagenzug zu Bernhart; dann mag unser
Cornelius über alles Weitere entscheiden." Dann verhandelte er mit dem Besitzer
der Wagen und Tiere, und sie einigten sich über die Umkehr zum Hause Bernharts.
Bald loderten, die Kochfeuer, die Tiere grasten, und alle suchten dann die Ruhe
nach diesem so ereignisreichen Tage.
Schon gegen Morgen wurde aufgebrochen; es ward ein beschwerlicher Rückweg — doch
endlich, als die Sonne sich schon neigte, kamen sie müde aber froh auf dem
Grundstück Bernharts an.
Cornelius war erschüttert über das Elend der jungen Christen, und Ursus und
Elisa sorgten teilnehmend für deren Unterbringung. Alle waren nach den
ausgestandenen Leidenstagen ungemein dankbar für die ihnen erwiesene Liebe, denn
solche Fürsorge hatten sie noch nicht erlebt.
Um all den Erlebnissen dieses Tages noch einen weihevollen Abschluss zu geben,
machte Ursus den Vorschlag, gemeinsam im Freien zu lagern, damit sich die Seelen
an der grossen Liebe Jesu erquicken möchten; und so erzählte er ihnen von seiner
ersten Begegnung mit dem auferstandenen Jesus.
Tief beeindruckt von diesem besonderen Geschenk beschlossen alle diesen schönen
Abend in Andacht und Lobpreisung all der weisen göttlichen Führungen.
Der neue Tag brachte mancherlei Entscheidungen. Eusebius zog mit seinen Kindern
zurück ins Haus. Cornelius und Ursus nahmen Abschied von den Freunden, und alle
freuten sich auf ein Wiedersehen bei den Hochzeiten.
Die Gefangenen kamen unter strenger römischer Bewachung nach Kapernaum zur
Aburteilung.
Die aus schwerer Not Geretteten wurden vorläufig in die Gemeinschaft des Hauses
Bernhart eingegliedert, um sich später auch in der neuen römischen Kolonie
anzusiedeln, und konnten somit in eine friedliche Zukunft schauen.
Die Hochzeits-Feier
Im Hause Eusebius herrschte erhöhte Arbeitsfreude. Nach Elims Angaben wurden auf
dem neu erworbenen Land sogleich Strassen und Wege angelegt. Viele Arbeiter und
Handwerker waren beschäftigt und liessen ein Haus nach dem anderen erstehen, und
sichtbar ruhte der Segen Gottes auf solcher fröhlichen Tätigkeit.
Im Hause Bernharts wohnte jetzt Achibald, um die Arbeiten für die neue römische
Kolonie zu beaufsichtigen. Cornelius hatte aus Staatsmitteln grosse Karawanen
mit Bauleuten und all dem nötigen Material gesandt, und nach drei Monaten schon
konnte gemeldet werden, das grosse Werk gehe seiner Vollendung entgegen.
Der Hochzeitstag konnte festgesetzt werden. Cornelius und Ursus erhielten die
Einladung. Und dann rüstete Mutter Elisa mit ihren Töchtern zur Abreise zum
Vater Eusebius, und Achibald begleitete sie.
Einen Tag vor der Feier kam der Hauptmann Cornelius mit verschiedenen römischen
Beamten, die zwar seine Freunde, aber noch keine Anhänger Jesu waren, begleitet
von einem römischen Priester, der den Christenglauben angenommen hatte und die
drei Trauungen vornehmen sollte.
Cornelius besichtigte eingehend die neue Ansiedlung und drückte dem Elim dankbar
die Hand für all seine Mühe und Umsicht dabei.
Inzwischen waren neue Gäste angekommen und zwar Ursus mit einer Karawane aus
Bethanien, da viele Brüder und Schwestern von dort sich ein eigenes Heim in der
neuen Ansiedlung Achibalds begründen wollten.
Als besondere Überraschung war Maria, die Mutter Jesu, mitgekommen, ebenso
Lazarus mit seiner Schwester Maria und zur grössten Freude aller auch die beiden
Jünger Johannes und Petrus. Ruth war sehr glücklich, die Mutter Jesu kennen zu
lernen; die Männer scharten sich um die beiden Apostel und hörten andächtig von
ihren Zeugnissen aus dem Erdenleben Jesu, die auch auf den römischen Priester
tiefen Eindruck machten.
Für das neue Heim seines Achibald hatte Cornelius selber die ganze Ausstattung
übernommen, es sollte sein Hochzeitsgeschenk sein, und deshalb sollte es keiner
von ihnen vorher besichtigen.
Als sich am anderen Morgen nach dem Mahl alle Hochzeitsgäste versammelt hatten,
zogen sie unter fröhlichen Lobgesängen nach dem neuen Hause Achibalds, wo alle
Feierlichkeiten stattfinden sollten. An der Spitze des Zuges ging der alte
Eusebius zwischen Cornelius und Bernhart; ihnen folgten die drei jungen Männer
Achibald, Joseph und Joram. Zwischen den beiden Marien schritt die Mutter Elisa
und hinter ihnen die drei Bräute in festlich geschmückten Kleidern, dahinter
Ursus mit den beiden Aposteln und dann die anderen Gäste.
An der Grenze der Ansiedlung bis zum neuen Heim hatten sich römische Soldaten
aufgestellt, die Waffen blitzten in der Sonne, und erhobenen Armes grüssten sie
den Hochzeitszug. Am Eingang des Hauses wartete Elim mit zwei römischen Herolden
auf die Ankommenden; und auf sein Zeichen kamen von rechts und links je fünf
Fanfarenbläser und begrüssten die Gäste.
Elim bat um das Amt, das neue Heim jetzt aufschliessen zu dürfen, und dann
traten als erste die drei Väter in das Haus. Überrascht schauten die Gäste in
die Schönheit eines grossen Saales und auf ein hohes, mit Blumen geschmücktes
Elfenbein-Kreuz, hinter dem sieben brennende Leuchter standen. — Die Herolde
baten, Platz zu nehmen. —
Aller Augen waren nun auf den kaiserlichen Beamten gerichtet, der den jungen
Ehemännern die römischen Urkunden überreichte mit weitgehenden Vollmachten über
ihre Ansiedlungen; und die Mutter Elisa ward zur Vorsteherin des neuerbauten
Waisenhauses ernannt.
Darnach nahm der Priester nach dem römischen Ritus die drei Trauungen vor, und
mit Gebet und einem Segensspruch aus den Psalmen wurde diese schlichte Feier
beendet.
Der Priester bat nun den Apostel Johannes, diesem Fest noch die rechte Weihe zu
geben, und Johannes ging mit Petrus an den Altar und begann: „Meine geliebten
Freunde, Brüder und Schwestern! Durch dieses seltene Fest, das uns die göttliche
Liebe geschenkt hat, sind wir hier zusammengeführt und haben als
Hochzeits-Gemeinde den Segen unseres grossen Gottes, unseres wahren Vaters von
Ewigkeit her, empfangen. Wir, als berufene Zeugen Seines Sohnes, unseres
Meisters Jesus Christus, haben euch in dieser geweihten Stunde noch ein
allergrösstes Zeugnis Seiner Liebe zu Seinen Menschenkindern zu überbringen, und
so bitte ich euch: Reichet einander die Hände, schliessen wir uns zu einer
innigen Vereinigung zusammen, damit der heilige Strom Seiner Liebe-Kraft uns
alle durchdringe!" (Alle reichen sich die Hände, bilden somit eine Kette
untereinander, und lauschen erwartungsvoll auf das nun Kommende.)
„Jesus, der gütige Heiland aller Menschen, liebt uns so innig, dass Er Selbst in
dieser Stunde durch Seine sichtbare Gegenwart dieses euer Fest weihen will, um
den heiligen Herzens-Bund mit euch allen zu erneuern und für die Prüfungen des
Lebens zu festigen!"
Hierauf ging Petrus einen Schritt nach links, und zwischen den beiden Aposteln
ward allen die leuchtend weisse Gestalt Jesu sichtbar! —
In Andacht tief ergriffen schauten aller Augen auf Ihn! Keiner konnte sich der
Heiligkeit dieses Augenblickes entziehen. Nach einer weihevollen Stille sprach
dann Johannes weiter: „Wenn auch Sein Mund schweigt, obgleich wohl jeder gerne
Worte von Ihm, dem Herrlich-Gegenwärtigen, zu vernehmen wünscht, so sei doch
Sein Wille uns Gesetz!
Sein heiliger Wille aber ist: mit Seinen wahren Kindern nur in ihrem Herzen zu
verkehren! Wie gern will Er, als die reinste Liebe, mit jedem Menschenkinde
sprechen, sobald es sich entschliesst, in Wahrheit in einen innersten
Herzens-Bund mit Ihm einzugehen!"
Segnend hob jetzt der Herr Seine Hände — in diesem Augenblick wurden alle von
einem starken Strom göttlicher Kraft und Klarheit ergriffen. Ein jeder fühlte
die segnende Hand des grossen Erlösers auf sich ruhen. Doch nach einem
Augenblick lautloser Stille — war Seine sichtbare Gestalt entschwunden. —
Minuten vergingen — dann sprach Johannes weiter: „Als gnadenvolles Geschenk
unseres gütigen Meisters darf ich euch nun künden: Nie in eurem Leben werdet ihr
diesen heiligen Anblick vergessen können! Und so jemals Schweres über euch
kommen sollte zur Probung eures Gottvertrauens, dann denket an diese Stunde, wo
Jesus sichtbar einen Bund mit euch aufrichtete zum Beweis Seiner steten
Gegenwart, die uns mit göttlicher Kraft durchströmen will, so wir uns Seiner
helfenden Liebe bewusst bleiben! —
Und nun höret weiter: Du Achibald, Joseph und Joram — ferne sei euch von nun an
jede Furcht! Durchdrungen vom schöpferischen Sieger-Geist will Sein herrlicher
Beistand mitwirken bei all eurem Tun, unsichtbar für die Welt, doch offenbar
soll Sein Segen werden allen Gläubigen.
Euch drei jungen Frauen soll die Gabe werden, den Kranken und seelisch
Bedrängten Hilfe zu bringen. Sein heiliger Liebe-Wille möge euren Herzen immer
offenbar machen, inwieweit Hilfe angebracht ist. Was eure Hände segnen, soll
gesegnet sein! —
Euch, liebe Festgemeinde, sage ich: Kein Tag möge vergehen, wo ihr nicht bewusst
etwas austeilet von dieser segnenden Liebe, die euch Jesus heute schenkte. — Nun
mag Bruder Petrus weiter reden als treuer Zeuge der erlösenden Jesus-Liebe."
Und Petrus begann: „Liebe Brüder, liebe Freunde! Diese Stunde war ja für uns
alle ein neues Glied in der Kette Seiner Gnaden-Beweise. Jesus, der Sich auf
Golgatha opferte für die von Gott abgefallene Menschheit und als Sieger über den
Tod auferstanden ist, hat uns, Seine Jünger, zu Trägern Seines Erlöser-Geistes
gemacht, um alle Irrenden und Verirrten zurückzuführen zum wahrhaft göttlichen
Sein und Leben.
Keiner sage: ich kann und darf mich Ihm nicht nahen, da ich zu tief in das
Weltliche versunken war, sondern ein jeder sei sich bewusst: diese Erkenntnis
Seiner Erlösungs-Absicht sei uns ein Ansporn, auch etwas von diesem
Erlöser-Geiste in uns zu erwecken! Doch nicht, um ihn nur zu besitzen, sondern
um ihn zu verwirklichen am Nächsten und Jesus dadurch zu verherrlichen.
Das strahlende Licht in Seiner Lehre soll uns neue, leuchtende Wege weisen zur
Betätigung unserer Nächstenliebe, und Sein Beistand wird uns die Klarheit und
Kraft zu jeglichem Gelingen geben. Was die wahre, selbstlose Liebe durch euch
will, ist, als wenn Gott es will, und trägt den Stempel göttlichen Segens schon
in sich.
So nehmet nun hin das Geschenk dieser grossen Freudigkeit zur Betätigung eurer
Liebe am Nächsten und traget dazu bei, dass auch in Anderen solche
Herzens-Freude am freiwilligen Helfen erwache! — Amen."
Darnach bat Cornelius die Anwesenden, das Festmahl einzunehmen, und führte sie
nach oben, wo eine Hochzeitstafel angerichtet war, wie sie noch keiner gesehen
hatte. Weissgekleidete Diener harrten der Gäste und wiesen ihnen die Plätze an.
Auf einer Erhöhung sassen zwei Harfenspieler und begleiteten die Feststimmung
mit zartem Gesang.
Cornelius stand auf, faltete die Hände und sprach: „Meine Kinder, Freunde und
Brüder! Vor meinem inneren Auge wird die Gestalt Jesu wieder lebendig. In Seinem
Sinne des liebenden Dienens liess ich dieses Festmahl für euch bereiten, und nun
wollen wir Ihm danken, der Sich so liebreich uns offenbarte, und so stimmt mit
mir ein in die Bitte: „Herr! Du hast wieder in reichem Masse Deine Liebe
ausgeschüttet und willst uns mit Deinen Gaben beglücken und hast überreich auch
diesen Tisch gedeckt! Darum danken wir Dir aus der Tiefe unseres Herzens und
bitten Dich: Sei gegenwärtig! •— Sei unser Gast! — Und segne auch diese Gaben,
wie Du uns gesegnet hast! — Amen."
Die Harfensänger liessen ihre Weisen ertönen, und es wurde für alle ein
freudiges Mahl.
Zum Schluss bat Elisa die Mutter Maria, aus der Kindheit Jesu noch einiges zu
erzählen, und so rollten Szenen aus dem täglichen Leben bei Seinen Eltern vor
ihnen ab, wie es noch keiner kannte. Maria schloss: „Es gibt keinen Tag im Leben
Jesu, an dem Er Seine heilige Aufgabe, Sein grosses Ziel vergessen hätte!
Was ich damals nicht erkennen konnte, leuchtet mir heute als Sein ernstes
Streben zur Einigung mit Gott entgegen. Was waren alle unsere Sorgen, Kämpfe und
Ängste um Ihn? Nichts weiter als zu wenig Glauben und Vertrauen. Während Jesus
mit inneren Versuchungen rang und sich nach Liebe und Verstehen sehnte, hielten
wir uns mehr an das, was der Tempel als das Rechte lehrte und wollten Ihn
belehren.
Doch hörten wir nie einen Vorwurf von Ihm über unser Nichtverstehen Seiner hohen
Absichten. Und litt ich unter dem Zwiespalt unserer verschiedenen Ansichten, da
fand Er stets das rechte Trostwort, und wie Balsam war Sein zartes Verstehen für
unsere Unzulänglichkeit. Hoch erhaben stand Er über unseren menschlichen
Schwächen, aber für alle war Er der Helfende und Erlösende! Für alle der ewig
uns Beglücken-Wollende!
Nicht bin ich selig, weil ich Seine Mutter war, o nein, selig sind alle, die Ihm
liebend ihr Herz als Wohnstätte zubereiten und nur die eine Sorge haben: Ihn nie
zu betrüben, sondern freudig bereit sind, für Ihn zu leben, und wenn es gilt,
auch für Ihn zu sterben! Welch eine ungeheure Liebe Er zu Seinen Brüdern hatte,
geht aus Seinem Wort hervor, da er sterbend zu mir sagte: ,Siehe, das ist nun
dein Sohn!' Dieses Vermächtnis erst hat mir meine Aufgaben klarer zum
Bewusstsein gebracht! Denn in jedem Menschenkinde sehe ich nun das Verlangen
nach rechter, verstehender Mutterliebe!
Liebe Freunde! Die Welt wehrt sich wohl noch gegen diesen selbstlosen, ja sich
opfernden Geist der verstehenden Liebe. Aber es kommt noch einmal die Zeit, wo
dieser Geist allen zerstörenden Mächten Einhalt gebieten wird, um Sein
Friedens-Reich ganz zu verwirklichen. Freuet euch, ihr Lieben, die ihr alle
berufen seid, mitzuarbeiten an Seinem grossen Werke! Denn von nun an gibt es
keinen höheren Liebesdienst und keine grössere Freudigkeit, als seinem Nächsten
zu helfen und Jesus als den Allerhöchsten anzuerkennen."
Maria schwieg — mit heiligem Empfinden war jedes ihrer Worte aufgenommen — aber
nun wollten gerade die noch mehr wissen, die Ihn am wenigsten suchten. Maria
aber erklärte ihnen: „In der dienenden Liebe zu eurem Nächsten kommt Sein Geist
euch schon entgegen. Erfahret dieses erst einmal, und auch eure Begriffe von
Seiner Wesenheit werden sich erweitern."
Cornelius ordnete nun eine Ruhepause für alle an, doch am Abend wollten sie
diesen festlichen Tag mit einer gemeinsamen Andacht beschliessen. Die Männer
besichtigten gern Haus, Hof und Garten; und Elim, als berufener Verwalter, hatte
viel zu erklären.
Lazarus versprach, noch manche brauchbaren Leute zur Hilfe herzusenden, die er
so reichlich hatte, weil Bethanien eine Zufluchtsstätte für so viele Verfolgte
geworden war.
Die Mutter Maria hatte sich zu den Frauen gesellt. Elisa fühlte sich wie ein
Kind in ihrer stillsegnenden Nähe.
Der Vater Eusebius hatte noch nie so viel Liebe erfahren wie heute und sagte in
frohem Ton zu seinem Freunde Bernhart: „Mein Bruder, wie hat der gütige Gott die
Schreckensnacht von damals so umgewandelt in grössten Segen! Wir dürfen uns wohl
ewig darüber freuen."
Als es Abend ward, luden die Diener die Gäste wieder in den grossen Speisesaal.
Johannes sprach den Segen und schloss: „Du schauest in unsere Herzen, in unsere
Gedanken, und diese künden Dir unseren innigen Dank, den wir als Deine Kinder
Dir nun darbringen wollen. Dein Wille geschehe allezeit! Denn Dein ist das Reich
und die Kraft und alle Herrlichkeit! — Amen."
Die Harfensänger stimmten leise feierliche Weisen an, und nach dem Mahl beschied
Cornelius die Gäste auf das Dach des Hauses zu einer Abend-Andacht. Elim hatte
für alle bequeme Plätze besorgt, der Altar vom unteren Saal stand jetzt hier
oben, und die sieben Leuchter brannten schon.
Die Harfenspieler an jeder Seite des Altars leiteten mit leisen Akkorden den
Abendsegen ein, und Ruth wollte einen Psalm singen vom Leid und von der grossen
Freude über die Errettung. Sie begann mit schöner Stimme, begleitet von beiden
Harfen: Psalm 126, der uns auch heute noch zeigen kann, wie wir aus der
Gefangenschaft unserer irrtümlichen Begriffe, vom Egoismus und vom Eigenwillen
befreit werden durch all die göttlichen Führungen in unserem Leben.
Als Ruth sich wieder auf ihren Platz neben Achibald setzte, erhob sich Johannes,
ging an den Altar und sprach: „Verklungen sind die Töne, verklungen unser
Loblied, aber weiterlebend wirken Töne und Lob als Schwingungen in unseren
Herzen. Ein grosser Tag, ein Tag der Freude und der Erfüllung vieler Wünsche
liegt hinter uns, aber wichtiger noch: ein Tag, der uns mit dem Herrn innig
vereinte!
Meine Freunde, wir, als Seine Jünger, haben die Aufgabe, von allem zu zeugen,
was unsern Herrn und Meister Christus Jesus verherrlichen kann, denn Er ist der
alleinige Herr aller Welten! Aus Liebe zu Seinen verirrten Geschöpfen wurde der
allmächtige Schöpfer Selbst ein Mensch in Jesus. Er wollte diese Erde und ihre
Bewohner freimachen von all den Fesseln der Eigenliebe und Gott-Entfernung, die
alles Leid verursachen. Immer wieder zeigte uns Jesus den grossen Schöpfer als
Vater und Seine herrlichen Absichten mit der Führung der Menschenseelen bis zu
ihrer Vollkommenheit hin. Aber die Bewohner dieser Erde vergassen oft ihres
Schöpfers und Erhalters und wollten sich nach eigenen Gesetzen ihr Zusammenleben
einrichten. Wie klar enthüllte Jesus uns das wahre Wesen der Gottheit und ihre
Absichten mit der Erschaffung dieser Erde. Es wäre Pflicht jedes Menschen
gewesen, Seine Offenbarungen wenigstens zu prüfen und ihre Wahrheiten dann
anzunehmen — oder nicht. Aber wenige nur gaben sich die Mühe, Seine hohe Mission
zu begreifen, um etwas von der Wesenheit Gottes zu erfassen, und diese wurden
Seine Freunde. Alle anderen aber lehnten ohne Bedenken diesen wahrhaft seltenen
Menschen ab — und wurden Seine erbittertsten Feinde. Wie nun Jesu Grösse, Seine
Macht und die Herrlichkeit Seiner Lehre zunahm, wuchs auch der Vernichtungswille
Seiner Feinde. Und dieser wahre Freund und Heiland aller Armen und Kranken liess
scheinbar diese Feinde über Sich triumphieren. Doch wollte Er uns dadurch einen
neuen Weg zeigen: wie jeder Mensch durch Kampf und Leid seine Eigenliebe
überwinden lernt, um selbst seine Feinde noch segnen zu können und dadurch Gott
ähnlicher zu werden. So offenbarte Er uns ,die Herrlichkeit des Reiches Gottes'
in unserer eigenen inneren Welt. Und darum sollt ihr heute einen Augenblick
hineinschauen in einen solchen Menschen, in den wir sonst nicht hineindringen
dürfen, der aber in unser äusseres Erdensein doch hineinragt. Somit sage ich nun
nach dem Willen des Herrn — ,Hephata!' — tue dich auf!" (Markus 7, 34. In der
geistigen Entsprechung gibt uns diese Heilung den Hinweis, wie Jesus unsere noch
verschlossenen inneren Sinne erwecken kann und will, dass wir aufmerken auf die
Stimmen in der Natur und jubelnd vernehmen die Sprache unseres Schöpfers und
nicht taub und stumm an ihren Offenbarungen vorübergehen)
Stephanus
Lichte Wolken umfangen die Zuhörer — ein anderes Licht fängt an zu leuchten, und
in dieser Helle liegt plötzlich eine schöne Landschaft vor aller Augen. In der
Ferne wird ein Tempel sichtbar, es ist, als wenn er auf sie zukäme. Goldig
glänzen die Kuppeln, und jetzt ist die offene Tempeltür schon so nahe, dass sie
in die Innenhalle schauen und auch sogleich hineintreten. Ihr Ziel ist erreicht,
sie alle sind nun Besucher dieses Tempels. Durch einen anderen Eingang kommen
viele weissgekleidete fröhliche Menschen herein, doch sehen diese die
Erdenmenschen noch nicht. Sie nehmen ganz vorn Platz, links die weiblichen,
rechts die männlichen Besucher. Auf einer Galerie steht ein Chor von Kindern
neben der Orgel, auf der ein Jüngling spielt, und mit hellen, frohen Stimmen
beginnen sie ein Lied von Lob, Dank und Anbetung zu singen.
Nun kommt ein Priester, es ist Stephanus, der von Tempelschergen gesteinigt
wurde. Sein erster Blick gilt grüssend den Besuchern von der Erde, und so
spricht er zu ihnen: „Brüder und Schwestern, die ihr heute durch die Gnade
Gottes in dieser meiner jetzigen Welt weilen dürfet, ich grüsse euch! Was ich
als Mensch nicht ahnen, nicht hätte fassen können, hier ist es Wirklichkeit! Es
ward mir schwer, in diese Schönheiten, in diese unaussprechliche Pracht mich
einzuleben, während noch ein Alpdruck vom Irdischen her auf meiner Seele
lastete, aber mein Jesus führte Selber mich in diese Welt, als meine Heimat ein.
Als ich fragte: Wie viele solcher schönen Himmel gibt es wohl? da sagte Er:
,Diese gibt es ohne Zahl! — aber deine Welt gibt es nur einmal, weil alles, was
du hier findest, du ja selbst durch deine Liebe zu Mir und zu deinen Nächsten so
schön gestaltet hast. Es ist Mir eine grosse Freude, dass du deine Welt mit
denen teilen willst, die um Meines Namens willen auch ihr Erdenleben verlassen
mussten, und ihnen eine Heimat schaffst, die Meiner wahren Kinder würdig ist.' —
So denke ich nur noch in Wehmut meiner Erdenbrüder, die noch seufzen unter der
Schwere der Sorge und des Leidens und nicht ahnen, was ihrer einst wartet. Die
grösste Wonne ist ja die Sorglosigkeit, in der wir hier alle leben, da wir die
weisen Absichten Gottes mit allen unseren Führungen jetzt erkennen. Hier findet
der leise Gedanke oder Wunsch in kürzester Zeit schon seine Erfüllung.
Freilich arbeiten und schaffen wir auch hier, aber es macht uns nicht müde,
sondern nur kraftvoller und froher. In dieser meiner Welt fühlen wir alle uns so
frei und glücklich, weil nicht mehr der geringste Zug zum Niederen das eigene
innere Leben beengt. Schauet umher, überall Ordnung und Harmonie, und in diesem
Strahlenglanz offenbart sich uns der grosse Gott als die Quelle allen Lichtes
und Lebens.
Aus Liebe zu euch — ersteht jetzt in meinem Herzen der Wunsch, euch einen Beweis
dieses Erlebens in eure Erdenwelt mitzugeben. Darum will ich jedem von euch
einen Trunk reichen, der euren inneren Geist stärker machen wird, und immer
sollt ihr den köstlichen Geschmack wieder empfinden, so wir aneinander denken
und uns auf geistiger Ebene begegnen.
Stephanus rief einen Namen, darauf kam ein Jüngling mit einem Kruge und Becher
aus durchsichtigem Gold. Stephanus nahm beides und reichte jedem, zuerst der
Mutter Maria, den gefüllten Becher. Bei jedem sprach er kurze Segensworte, doch
alle sahen: der Krug wurde nicht leerer. „Ein Gnadengeschenk der ewigen Liebe
ist es", sagte er zum Schluss, „ich darf austeilen, soviel ich will, im
Augenblick ist es ersetzt, sei es Brot, sei es Wein, seien es Früchte - die
Vorratskammern sind immer gefüllt.
O meine Brüder! Vergesset nie diese heilige Stunde, da ihr im Himmel eures
Bruders weilen durftet. Ich sehe noch Fragen in euch; so sage ich zum Trost:
Nicht nur im Himmel ist der ewige Vater zu Hause, sondern ebenso bei Seinen noch
ringenden Kindern auf eurer Erde; und es macht Ihn glücklich, so sie den Kampf
um das Höchste nicht scheuen. Ihr werdet Ihn in euch finden, so eure Herzen in
Liebe entflammen. Lasset euch noch segnen von mir: Sein Geist komme über euch!
Er sei euer innerer Führer und gebe eurem Geist das Zeugnis, dass ihr Seine
Kinder seid! —Amen!"
Durch diese Worte des Stephanus an seine Erdenbrüder wurden die anderen
Anwesenden im Tempel erst davon unterrichtet, und so sahen sie nun auch diese
Besucher, die, obwohl in ihrem astralen Leib, doch genau so aussahen wie im
Fleische lebend. Es waren ja auch Bekannte von ihnen darunter, so die Mutter
Maria, Lazarus, Johannes und Petrus, und es entstand der Wunsch in den
Abgeschiedenen, mit ihnen zu sprechen.
Da sagte Stephanus: „Es ist auch der Wunsch unseres Heiligen Vaters, dass ihr
mit euren Erdenbrüdern Worte tauschet, darum ist vor dem Tempel alles
vorbereitet. Ein jeder Zug der Liebe zueinander soll seine Erfüllung finden."
Und so war die Feier beendet.
Stephanus hatte sich zu Eusebius gesellt und sagte: „Bruder, wer hier ins
Jenseits eintritt, lernt erst die unendliche Liebe des Herrn erkennen. Aber es
ist schwer, zu euch davon zu sprechen, denn unsere Worte kommen aus dem
Geistes-Leben und sind auch nur für euren Geist verständlich. Sobald er
durchglüht ist von dem hier herrschenden geistigen Leben, dann kommt der Drang
zum Schaffen und dadurch zu immer neuen Herrlichkeiten. Darum nützet eure
Erdentage recht, denn jeden betätigten Liebes-Gedanken findest du hier als
köstliche Frucht; und aus ihr entsteht eine neue Schöpfung in deiner eigenen
ewigen Welt.
Begrüsse nun dort dein Weib, die sich mit deinen Kindern unterhält; bedenke
aber, dass diese Stunde ein köstliches Geschenk der grossen Gnade Gottes ist!"
Eusebius eilte hin, wo seine Kinder und Achibald sich mit einem lieblichen Wesen
unterhielten. Es kostete ihn Mühe, auch nur ein Wort zu sagen, aber sein Weib
begrüsste ihn: „Eusebius! Freue dich dieser Gnaden-Stunde, die ich oft
herbeisehnte, um dir zu beweisen, wie Gott lohnt. Unser gemeinsames Leben ist ja
nicht zu Ende, sondern nur unterbrochen, um in ein höheres Sein überzugehen. Ich
freue mich schon, wenn wir wieder gemeinsam Seinem grossen Werke dienen werden."
— Und zu Achibald sagte sie: „Dir aber, meinem Sohn, der du dich heute zu deinem
von Gott dir gegebenen Weibe bekannt hast, sage ich: Behaltet euch lieb aus dem
Geiste Jesu, der nur glücklich machen will, dann liegt Segen auf eurem Leben.
Ihr aber, Joseph und Joram, nehmet auch diese Worte an, dass sie euch Hinweis
seien zu jener Liebe, die auch sterben kann für Jesus!"
Johannes nahm nun Stephanus bei der Hand und sagte: „Bruder, diese Zeit hier ist
um, der Herr ruft uns wieder zurück auf die Erde. Deine Liebe aber wird uns
unvergessen bleiben."
Langsam verschwinden die Schönheiten dieser Welt, langsam gehen die Gedanken
wieder in die irdische Wirklichkeit zurück, und als wenn ein Schleier zerreisst
— sehen sich alle wieder auf dem Dache vereint. —
Nach einer langen Stille, als aller Augen auf Johannes gerichtet waren, sprach
dieser: „Wenn wir die Wichtigkeit dieses Tages und dieser Stunde ganz erfassen,
dann erst werden wir inne werden, wie ein göttlicher Vater uns als Seine Kinder
zu erziehen sucht. Wir haben der Seele und dem Geiste nach in der Sphäre unseres
dahingegangenen Bruders geweilt und haben seine Welt geschaut und haben die
Kraft der Liebe erlebt, die uns solches erleben lassen konnte, um freudiger alle
an uns herantretenden Aufgaben zu verwirklichen."
Und Johannes sprach weiter: „Jetzt sehe ich den Herrn zu uns kommen! Über Seinen
Augen ist ein Leuchten, und Er spricht jetzt zu euch — durch mich: ‚Nicht ohne
Grund habe Ich diese Erde gewählt und lebte hier als Mensch, und nicht ohne
Grund verweile Ich noch suchend, helfend und erlösend auf dieser Erde, wie diese
Stunde euch allen den Beweis gibt. Wohl bin Ich für eure Augen dem Irdischen
entrückt, und mancher bittet: ,Wenn ich Dich nur einmal sehen könnte!'
Mein Vaterherz möchte wohl gern jede Bitte erfüllen, aber Meine Kinder sollen
sich frei entfalten in ihrem Glauben und in ihrer Liebe. Sie sollen aus dem
eigenen Wollen sich ihre Innen-Welt erbauen. Meine Kinder sollen Mein Leben in
sich tragen, Mein Ich verweben mit dem eigenen Ich, um aller Welt zum Vorbild
schon auf Erden Himmelsbürger zu sein.
Darum heiliget euch noch mehr, um gefestigt zu sein, wenn der Feind alles
Innen-Lebens immer wieder versucht, Mich und euch zu entheiligen!
Kindlein! Die Welt fordert euren Einsatz, fordert das Letzte, um euch des
Herrlichsten zu berauben! Aber sie macht euch reif dadurch für Meine Gnade.
Darum machet euch frei von der alten Liebe zu allem Vergänglichen, um das
Höchste Meines Lebens in euch zu entfalten! Doch nur soviel kann euch davon
gegeben werden, als ihr den Anderen opfert. Lebet ihr aber in Meiner Liebe und
in der gerechten Ordnung, so wird Mein Segen sichtbar — aller Welt durch euch
offenbar werden. — Amen!'“
Dann hob Johannes seine Hände und sprach: „So nehmet hin nach Seinem heiligen
Willen Seinen Segen, damit ihr lebendiger werdet in der Liebe zu Ihm und zu
euren Nächsten! Bleibet in Ihm, damit Er auch in euch verbleiben kann! Amen.
Amen. Amen."
Beendet war die Feier! —
Und tief bewegt wanderten alle Gäste nach dem Hause des Eusebius zurück.
Am anderen Morgen begleiteten Cornelius, Ursus und Bernhart das junge Paar in
ihr neues Heim und somit in ihr neues Leben.
Elim und der Priester erwarteten dort Achibald als den neuen Herrn und Besitzer,
und Elim sprach: „Die Ordnung aus Gott gebietet mir, dir die Schlüssel zu deinem
Hause jetzt zu überreichen. Ich werde stets ein treuer Freund und gerechter
Verwalter sein. Die Gnade des Herrn und Sein Segen sei mit euch!"
Dann erschienen die zur neuen Ansiedlung gehörenden Arbeiter mit ihren
Angehörigen, und auch diesen wurden feierlich, der Ordnung wegen, die Schlüssel
zu ihren Heimstätten übergeben, obgleich sie schon darin wohnten.
Achibald begrüsste jeden und sprach dann zu ihnen: „Meine Freunde und
Hausgenossen! Ich bitte euch alle: helfet mir bei diesem beginnenden Werke der
Nächstenliebe, um vielen Unglücklichen eine neue Heimat aufzubauen. Der
Leitgedanke unseres Zusammenlebens sei: ,Treue um Treue!' Keiner verlasse den
Anderen in Freude, noch im Leid, dann wird Jesus, als der Herr des Himmels und
der Erde, auch unsern Bund sichtbar segnen."
Ruth blickte voll Liebe auf ihren Achibald, dann sagte sie zu allen: „Das
liebevolle Walten unseres Gottes hat mich an die Seite eures Herrn gesetzt, der
euch Allen Bruder und Vater sein will. Ich bitte euch: Lasset uns in rechtem
Vertrauen zueinander stehen, wie der Heiland uns lehrte. Kommet ruhig zu mir,
wenn die Liebe euch treibt, ich möchte so gerne euch Allen Schwester und Mutter
sein!"
Theophil bei Johannes
Bethanien war immer noch der einzige Zufluchtsort, wo allen Verfolgten wahrer
Trost und rechte Hilfe gespendet wurde. Lazarus war durchdrungen von der Kraft
heiliger Liebe zu allen Menschen, und fühlte sich innerlich geeint mit Dem, der
ihn so reich und über alles Kleinliche erhaben machte, denn kein Tag verging, an
dem ihm nicht neue Beweise göttlicher Liebe und wunderbarer Führungen offenbar
wurden.
Eines Morgens, als Lazarus mit einigen Knechten nach Jerusalem fahren wollte, um
Öl und Früchte dort zu verkaufen, kam Theophil und bat, mitfahren zu dürfen, um
einige Stunden bei den Jüngern zu verleben.
Unterwegs sagte Lazarus: „Lieber Theophil, es freut mich, einmal allein mit dir
zu reden. Du weisst, ich habe vor kurzer Zeit durch Ursus neue Freunde im Norden
Galiläas kennengelernt. Die Art ihres Wirkens gleicht der unsrigen, nur fehlt
ihnen noch die weitere Unterweisung in unsern Glaubens-Lehren. Hättest du Lust,
mit einigen Gleichgesinnten von uns dich dort als Lehrer und Priester zu
betätigen? Ich weiss, es wird viel Materielles getan von Seiten der römischen
Freunde, aber es kommt letzten Endes doch darauf an, dass die Gemeinde in das
tiefere Verständnis der Jesu-Lehren eingeweiht wird. Und so denke ich, du seiest
die richtige Persönlichkeit dazu."
Theophil überlegte — dann sagte er ernst: „Lieber Lazarus, was du mir hier
anratest, ist, als spräche es der Herr zu mir. Darum danke ich dir von Herzen
und will den Herrn bitten, mich dieses Dienstes in Seinem Namen wert und würdig
zu machen. Ordne du selbst alles Nötige dazu an und bestimme die Brüder, die mit
mir gehen sollen, denn das Wichtigste ist, dass wir alle vom rechten Jesu-Geist
durchdrungen sind, damit das heilige Gotteswort belebend auf ihre Herzen
einwirke und die Begriffe Seiner Lehre immer realer und herrlicher sich im
Irdischen auswirken können."
Lazarus war erfreut über die schnelle Zustimmung, und erklärte noch: „Ich erlebe
es oft an den neu Hinzugekommenen, dass sie, obwohl sie Jesus nicht gekannt
haben in Seinem Erdenleben, doch noch ganz menschlichen Vorstellungen von Ihm
Raum geben, die einst zu grossen Irrtümern führen können.
Heute, wo seit Seinem sichtbaren Fortgehen von uns der Herr und Meister rein
vergöttlicht ist, darf sich Sein Menschliches nicht in den Vordergrund unserer
Begriffe drängen, da dadurch Sein ewiger Vater-Geist verhüllet würde. Darum,
mein Theophil, diese meine Vorsorge für die neuen Ansiedlungen unserer Freunde."
„Ich verstehe dich vollkommen, lieber Lazarus", antwortete Theophil, „und wenn
du überzeugt bist, ich sei der Rechte dazu, dann kann mir mein Fortgehen von dir
nicht mehr schwer fallen. Ich fühle einen Beweis göttlicher Gnade darin, in
dieser Weise meinen Brüdern, und auch unserm Jesus, nützen zu können."
Von weitem sahen sie Jerusalem. Der Verkehr war auf dieser Seite besonders
lebhaft, und Lazarus fiel es auf, dass viel mehr Soldaten des Tempels zu sehen
waren als früher. „Dies ist nicht ohne Bedeutung", sagte er darum zu Theophil,
„der Tempel macht Anstrengungen, um sein Ansehen zu wahren! Man muss auf alles
achten, was in unserer engeren, wie weiteren, Umwelt vor sich geht. Nach aussen
schützt uns wohl das römische Recht, aber wenn etwas innerlich in uns vom
rechten Leben abweicht, stärkt es immer den Gegner.
Es ist wohl richtig, ganz durchdrungen zu sein von dem Bewusstsein: ich stehe
unter dem Schutze des Allerhöchsten! Aber dieses Wissen setzt doch die grösste
Vorsicht voraus. Je mehr der Tempel rüstet, umso klarer müssen wir im Innern
sein! Dann sind die Bedingungen erst erfüllt, wo Gott, unser aller Vater, Sein
Wort und Seine Verheissung einlösen kann: ,dass Er uns nicht verlassen noch
versäumen will.'
Was ist in dem letzten Jahre nicht alles an uns herangetreten; und du weisst es,
mein Theophil, alles Leid hat immer eine herrliche Lösung gefunden."
„Du hast recht, lieber Lazarus. Aber wenn wir an alle denken, die um Jesu willen
leiden und irgendwo in den Gefängnissen schmachten, was sollen wir nun
eigentlich dabei tun? Mit Gewalt lässt sich nichts ausrichten, und unsere Gebete
bringen ihnen auch nicht die ersehnte Freiheit." —.
„Mein lieber Theophil", sagte Lazarus ernst, „verlasse den Boden nicht, auf den
dich die ewige Liebe gestellt hat! Hast du nicht an dir selber erfahren, dass
Gott sehr viele Mittel und Wege hat, um Seine Getreuen zu erretten? Wohl retten
unsere Gebete keinen Bruder aus den Gefängnissen der Templer; aber Kraft geben
wir ihnen, damit sie ruhig und vertrauensvoll werden - und dann kann Gott, als
wahre Erlösung bringende Liebe, helfen. So schmerzlich es ist, Glaubensbrüder in
Gefängnissen zu wissen, so ist aber für die in Drangsal Lebenden ein jeder gute
Gedanke ein Licht, ein Sonnenstrahl. Um wieviel mehr wird das Herz mit Kraft
erfüllt, so ich weiss: ich bin nicht verlassen, Gott ist mit mir!
Denke immer daran: Alles hat seinen weisen Grund und muss der Entwicklung nach
Oben und Innen dienen. Je mehr du dich ganz in diesem Sinne deiner heiligen
Lebensaufgabe hingibst, desto klarer wird auch dein Blick, und du überschaust
die Dinge in ganz anderem Lichte denn früher. Die Zeit ist vorüber, wo Jesus als
Mensch noch besorgt war um unser Wohlergehen, um unsere Ruhe und Sicherheit.
Jetzt, wo wir die Mittel kennen, die Er uns schenkte, und da wir Seinen Geist
als wahren Tröster und inneren Führer in uns tragen dürfen, sollen wir selbst
durch unser inneres Verhalten unser Schicksal und künftiges Sein gestalten.
Es ist eben unserm Herrn und ewigen Vater die grösste Freude, so ein Kind Seiner
Liebe von all den Gaben, die uns frei, froh und stark machen, völligen Gebrauch
macht. Alle Gewalten der Tiefe zergehen dabei schliesslich in nichts, und alle
Anfeindungen werden fruchtlos. Dieses ist mein Glaube und mein Wissen, mein
Trost und meine Zuversicht."
Theophil sah Lazarus lange an, dann sprach er: „Bruder, wer dich reden hört, ist
auch überzeugt von der Wahrheit deiner Wort - sie sind Leben und geben uns
Leben."
Darauf antwortete Lazarus: „Lieber Theophil, ich habe mir angewöhnt, so wenig
wie nur möglich zu sprechen. So ich aber rede, verfolge ich stets einen
bestimmten Zweck, und dieser kann nur erreicht werden, so ich aus überzeugtem
Herzen rede. Denke in Zukunft immer daran, welche herrlichen Aufgaben dir
gestellt sind! Denn ein jedes Menschenherz ist berufen, eine Wohnstätte für den
Herrn und eine Zufluchtsstätte für arme, suchende Seelen zu sein. Die Jünger
werden dir heute auch darin noch manches offenbaren, damit dein Geist sich
freier bewegen lernt, um das Herrliche des inneren Lebens wahrzunehmen. Und
siehe, dieses kann dir nicht wie von aussen offenbart werden, da dir nur durch
die Betätigung deiner Liebe dein inneres Erleben erschlossen werden kann!"
Beide schwiegen — dann kamen sie in die Stadt, wo Lazarus bekannt war bei Jung
und Alt und manchen Gruss erwiderte.
Theophil stieg vom Wagen und eilte in das Haus der Maria, welches früher sein
Elternhaus war. Nur die Mutter Jesu und Johannes waren anwesend. Nach der
herzlichen Begrüssung bat Maria ihn besorgt: „Lieber Theophil, wenn du es
möglich machen kannst, komme nicht mehr so oft nach Jerusalem! Hier ist es
gefährlich für Alle, die bekannt als Anhänger der Neuen Lehre sind. Nur wenn es
die Notwendigkeit ergibt, und dann nicht allein, immer möglichst zu dreien auf
die Strasse gehen, denn Vorsicht, mit der nötigen Klugheit gepaart, ist
Lebens-Notwendigkeit. Am Abend gehen die Jünger überhaupt nicht mehr aus, um
nicht ihr Leben zu gefährden!"
„Aber liebe Mutter", entgegnete Theophis ungläubig, „so schlimm kann es doch
nicht sein, der Tempel hüllt sich doch gern in den Schein der Frömmigkeit."
Doch Maria erklärt ihm: „Glaube einer Mutter, die das Schwerste vom Tempel
erfahren hat, es ist jetzt ungeheuerlich in der Stadt Gottes! Menschen
verschwinden — niemand weiss wohin; die Angehörigen können sich an alle
Obrigkeiten wenden - sie erfahren nichts.
Erst vor einigen Tagen waren zwei junge Frauen bei mir, um Trost für ihren
Kummer zu holen, ihre Männer sind von einem Ausgang nicht mehr zurückgekehrt.
Alles Fragen war nutzlos, der Tempel selbst wollte alles Mögliche tun, um Licht
in das Dunkel zu bringen; aber ich weiss: es ist nur heuchlerische Redensart.
Nikodemus war hier, alle seine Ämter hat er niedergelegt, weil er sich
mitschuldig fühlen muss an diesen schlimmen Zuständen."
Theophil fragte nun Maria und Johannes über verschiedene Bekannte, die er gern
einmal besucht hätte, aber es wurde ihm geantwortet, dass sie keinerlei Verkehr
mehr pflegen können.
Johannes sprach: „Bruder, es wäre unverantwortlich, wollten wir unser Haus als
Versammlungsort benutzen. Wohl stehen wir unter römischem Schutz, aber wir
werden schärfer überwacht als Diebe und Räuber, darum mag nur kommen, wen die
Liebe oder die Not treibt.
Wie oft werden wir gefragt: ,Ja, wie kann der Herr wohl solches alles zulassen?'
Dann kann ich nur immer wieder sagen, dass der Herr wohl stets bei uns ist und
vollen Anteil an unseren Geschicken nimmt. Aber: dadurch, dass Er uns durch
Seine Lehre auf eine erhöhte Stufe der Erkenntnis und Freiheit stellte, kann Er
nicht sichtbar alle Entwicklungen hemmen oder fördern. Nur wer in sich geeint
ist mit Seinem Heiligen Geiste und all die daraus sich entwickelnden Vorzüge
schon erfassen kann, der kann auch sich selber schützen, da ihm jede Anfeindung,
jede zugedachte Schädigung zuvor durch die innere Stimme offenbar wird.
,In den Wegen des Herrn wandeln', heisst: nicht nur im äusseren Sinne ein
frommes und gerechtes Leben führen, sondern auch sehr achtgeben auf den
göttlichen Funken in uns selber, der uns Licht und Klarheit gibt, der da Warner
und Richter, ja sogar uns zum Führer wird und stets unsere freie Selbständigkeit
zu fördern sucht. Wer sein Leben betrachtet als ein von der Gnade Gottes
geschenktes, wird ein viel grösseres Verantwortlichkeitsgefühl tragen als einer,
der nur lebt, weil er eben ein Mensch ist. Siehe, seit wir unser Erdenleben als
Gnade aus dem allerhöchsten Sein betrachten, ist unser Geist schon viel reger
geworden und ist besorgt, sich ein immer reicheres Innenleben zu schaffen. Darum
sehe ich mit ruhigem Herzen und klaren Augen auf die jetzige Zeit, die dazu
bestimmt ist, dass jeder Nachfolger des Herrn seinen inneren Wert erst in
Prüfungen bewähren muss!
Bruder Petrus war gefangen, mit Ketten angeschmiedet, aber am anderen Tage
predigte er von der Macht des Herrn, die sich an ihm offenbarte, zum Schrecken
seiner Peiniger, die nicht wussten, wie er dem Gefängnis entronnen sei. (Apostelgesch.
5.) Es ist der Beweis erbracht durch dieses Geschehnis, dass die Feinde alle die
mehr fürchten, die mit dem Herrn eins geworden sind, als umgekehrt.
Darum mein Rat, lieber Theophil: handle bewusst nur nach den Anregungen deines
in dir lebenden Geistes! Freue dich der grossen Gnade und freue dich noch mehr
der herrlichen Aufgabe, die dir durch Lazarus angetragen worden ist!"
„Bruder Johannes, ich staune, wie schon so oft, über deine Kenntnisse aller
Dinge und befürchte fast, vor all denen nicht bestehen zu können, welchen ich
etwas sein soll. Freilich, nach deinen Worten ist jede Furcht unnütz, da ja des
Herrn Geist einem jeden gibt, was da nötig sein wird."
„Lieber Theophil, sorge dich um nichts, auch nicht darum, dass du deinen
Schwestern und Brüdern etwas Ausserordentliches geben sollst; sondern all deine
Erfahrungen, deine eigenen Erleben sind ja übergenug. Dazu erlebst du täglich
die Gnade und die Liebe Gottes aufs neue. Mit dem Gedanken: nur zu dienen und
nur zu erfreuen, gibst du ja dem rechten Geiste aus Gott Raum und schaffst Ihm
Möglichkeiten, immer Grösseres und Herrlicheres zu geben aus der Quelle, die
wiederum Sein Allerinnerstes ist.
Darüber wollen wir aber nicht sprechen, weil du die Wahrheit alles dessen selbst
in dir finden wirst. Ich halte es mit der Liebe, die nur frei und glücklich
machen will, und in dieser Liebe ist mir der Herr der Allernächste. Trägst du
des Herrn Geist als Höchstes und Wertvollstes in dir, hat auch die ewige Liebe
wunderbare Mittel, dein Leben hier zu erhalten!"
„O lieber Johannes", rief Theophil begeistert, „ich wollte, ich könnte so sein
wie du, so stark, so klar und gut! In deiner Nähe ist man hochbeglückt. Wie aber
ist dir, wenn du allein bist?"
„Ich bin nie allein, da ich in meiner Seele doch mit so Vielen verbunden bin —
durch die Nächstenliebe. Ist doch ein jeder gute Gedanke das wahre Lebens-Brot
für einen, der in meiner Seele, oder wie der Herr immer sagte, der in unserer
eigenen Welt lebt, und es sind deren wahrlich viele. Je mehr der Licht-Geist
Lebensraum in uns erhält, je vergeistigter wird das in deiner Seele Lebende. Je
weniger an Niederem in dir lebt, je mehr tritt dein Geist in freie Tätigkeit. So
ersiehst du, dass ich jederzeit mit dem Himmel verbunden bin, obwohl ich noch
hier auf Erden lebe. Es ist so schön, dieses Doppel-Leben und zu wissen: Ich
werde geliebt und ich darf lieben."
Die Mutter Maria brachte einige Erfrischungen, dann verabschiedete sich
Theophil, um sich in der Herberge mit Lazarus zu treffen.
Johannes sprach vorausschauend: „Lieber Theophil, mir ist, als müsste ich dir
sagen — bleibe hier! Lazarus rechnet nicht mit deinem Kommen."
Theophil aber sagte: „Mir ist es, als ob ich zu ihm müsste, als wenn jemand auf
mich warte —"
„So gehe in des Vaters Namen, und Seine Gnade und Sein Segen sei mit dir!"
Auch Maria segnete ihn im Geiste — und mit einem „Friede sei mit euch" verliess
er frohgemut das Haus.
In Jerusalem
Eilend ging Theophil durch die Strassen, von manchem erstaunt erkannt. Plötzlich
reichte ein Mann im Priestergewand ihm freundlich die Hand und fragte: „Bist du
wirklich Ruben? — Oder irre ich mich?"
„Ja, ich bin es", antwortete Theophil, erfreut, den früheren Freund Jonas
erkennend. „Wie du aber schon an meiner Kleidung ersiehst, gehöre ich nicht mehr
zum Tempel, sondern bin durch die grosse Gnade Gottes jetzt ein freier Mann. Es
geht mir über Erwarten gut und meinen Eltern ebenfalls."
„Ruben! Seit fünf Jahren habe ich dich nicht gesehen, weil ich in Persien
arbeiten musste. Was mag vorgefallen sein, dass du dich vom Tempel trennen
konntest? Du warst doch einer seiner gehorsamsten Diener."
„Mein lieber Jonas, dies lässt sich nicht auf der Strasse besprechen. Willst du
aber mit mir kommen nach der Herberge des Lazarus, dort können wir uns ungestört
aussprechen."
„Gern, Ruben, der Tempel überlässt ja seinen Dienern die freie Zeiteinteilung."
Und bald sassen beide dort in einem Zimmer allein. Theophil erzählte: „Ich bin
nicht nur der Kleidung nach ein anderer, sondern auch der Gesinnung nach" und
schilderte dem aufmerksam zuhörenden Freunde die Erkenntnis seines toten
Glaubens, seine schweren Leiden darnach und seine Erlösung aus allen Gefahren
durch die wunderwirkende Heilands-Liebe.
Darüber vergingen Stunden; zum Schluss ergriff Jonas seine Hand: „Also Theophil
ist jetzt dein Name! Ich danke dir für deine klare Darstellung über Jesus, aber
verstehen kann ich das alles noch nicht. Was haben wir mit dem Nazarener zu
schaffen? Er ist für uns tot, und für den Tempel bleibt Er tot! Ich hänge ja
ganz vom Tempel ab, mein Unterhalt ist gewährleistet für Weib und Kind, und das
ist doch auch wichtig."
„Lieber Jonas, das ist deine Auffassung vom äusseren Leben; aber ich sage dir,
ich kenne erst ein glückliches Leben, seit ich mich vom Tempel trennen konnte.
Wohl ist mein Wirkungskreis jetzt reicher an Verantwortung und inneren
Pflichten, aber wie reich auch an Frieden und Freude. Lieber Jonas! du hast
Jesum von Nazareth nicht kennengelernt, hast vielleicht nur von Ihm, Seinen
Lehren und Taten gehört und wirst zweifelnd gedacht haben: Solange ich es nicht
selbst erlebe, glaube ich nichts.
Wisse: seit Jesus, der vom Tode Auferstandene, in mein stolzes, kaltes Leben
handelnd eingriff, mir bis auf den tiefsten Grund meiner Seele schaute und nur
Liebe, Hilfe, Kraft und Frieden uns brachte, fühle ich mich mit Ihm innig
verbunden! Dieser Jesus hat nach Seinem Tode als geistig unzerstörbare
Licht-Wesenheit allen Seinen Jüngern und Anhängern den Beweis erbracht, dass
nicht nur Er, sondern auch Seine grosse Liebe und Barmherzigkeit weiter wirken
werden bis in die Ewigkeit. Darum bitte ich dich, den Geist in Bethanien einmal
zu prüfen und das Leben all derer, die an Jesum als den Auferstandenen glauben
und Ihm ihr ganzes Leben anvertrauen."
„Ruben, hör mich an, ich möchte dir wohl glauben, aber heute kann ich nur sagen:
ich werde deinen Vorschlägen nachgehen. Wohl habe ich manches von Jesum von
Nazareth auch in Persien gehört, aber ich war ja gebunden durch meinen Eid an
den Tempel-Glauben, und wir Juden hatten dort kein Recht, über Andersgläubige zu
richten. Aber ich danke dir von Herzen, — für heute ist es genug. Grüsse deinen
Vater Enos, aber schweigen wir beide gegen jedermann über diese Unterredung."
Und mit einem festen Händedruck schieden die beiden Freunde.
Jonas ging eilends fort, ohne in das Gastzimmer einzukehren, Theophil wartete
sinnend noch eine geraume Zeit, dann ging er zum Pächter und fragte nach
Lazarus. Doch wurde ihm Bescheid, dass Lazarus längst weitergefahren sei; er
solle bei Mutter Maria übernachten, aber ja nicht allein nach Bethanien kommen.
Lazarus hatte schlechte Nachrichten erhalten und rate zu grosser Vorsicht.
Theophil ging in die Gaststube, eine Magd brachte ihm eine Schüssel Gemüse und
ein Stück Brot, sowie einen Becher Wein. Beim Essen beobachtete er die Gäste,
fast alles Fremde, aber keine Templer. Er war froh und dankte innerlich dem
Herrn für diese Gnade. Da Theophil auch andere Sprachen verstand, hörte er
heraus, dass wiederum eine grosse Hetze gegen Nazarener stattgefunden habe und
viele in einer heimlichen Versammlung überrascht, gefangengenommen und
eingekerkert seien. Theophil hätte wohl gerne noch Näheres erfahren, aber die
eindringlichen Worte des Pächters: „Lazarus mahnt zu grosser Vorsicht", liessen
ihn bald die Herberge verlassen, um ins Heim der Mutter Maria zu gehen. Immer
noch vertieft in die Reden der Fremden, gewahrte er nicht, wie ihm in geringer
Entfernung zwei Männer folgten. Und als er durch eine Gasse ging, um für Maria
etwas zu kaufen, betrat er ahnungslos einen Laden, um sich die grössere Auswahl
anzuschauen. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, ihm drohe Gefahr, und als er
sich wandte, erhielt er von den beiden Männern harte Schläge auf den Kopf, dass
er bewusstlos zusammenbrach.
„Das wäre geglückt", sagte der eine zu dem Verkäufer, „niemand hat etwas
gemerkt! Rasch in den Keller mit ihm, dass wir keine Ungelegenheiten haben!" In
wenigen Minuten lag Theophil auf einem Bündel alter Lumpen im Keller und ward
seinem Schicksal überlassen.
Als er nach langer Zeit wieder erwachte, schmerzte sein Kopf, er griff um sich
und musste sich erst besinnen, was mit ihm geschehen war. Er wollte sich
aufrichten, aber er fühlte sich zu schwach; so legte er sich wieder hin und
schlief weiter.
Es kam die Nacht. — Im Hause Marias war man der Hoffnung, Theophil sei in
Bethanien — und in Bethanien glaubte man Theophil bei Maria und den Brüdern in
gutem Schutz.
Aber Ruth war innerlich so unruhig; längst war Schlafenszeit, da ging sie zu den
Schwestern Maria und Martha und klagte ihre Besorgnis über Theophil. Maria
suchte ihren Bruder auf und bat: „Lazarus, komme doch einmal zu uns. Ruth ist
nicht zu beruhigen, sie meint, dass Theophil ein Unglück geschehen sei."
Ohne ein Wort zu verlieren, folgte Lazarus seiner Schwester und war, wie er Ruth
sah, auch sofort überzeugt davon, dass dem Theophil ein Leid geschehen sein
musste. Doch beruhigend sprach er: „Liebe Ruth, behalte deine Sorge still für
dich, damit deine Eltern und die Anderen nicht auch beunruhigt werden, du kannst
dich nur dem Herrn anvertrauen. Doch morgen in der Frühe will ich nach der
Stadt, um Gewissheit zu holen. Unser Leben liegt in Gottes Hand; ohne Seinen
Willen kann uns allen, und auch Theophil, kein Haar gekrümmt werden. Solltest du
aber richtig fühlen, dann Kopf hoch - und alle Kräfte einen, um das Böse
unwirksam zu machen."
„Lieber Lazarus", entgegnete Ruth, „deine Worte sind gut gemeint, aber sie
dringen nicht in mein Herz, weil Schmerz für Theophil darin lebt."
„Liebe Ruth", antwortete Lazarus zuversichtlich, „glaube an des Heilandes Liebe,
Macht und Herrlichkeit, dann wird alles gut! Der Herr prüfet keinen umsonst und
hat Helfer in Überfülle, die Ihm zu Diensten sind. So du aber zweifelnd stehest
vor des Herrn Macht, dann freilich hat der Gegner leichtes Spiel, weil wir, als
Menschenkinder, Willens-Träger unseres Gottes und Vaters sind. Weiche mit keinem
Gedanken von dem Wissen ab: Der Herr ist im Geiste bei uns und bei allen denen,
die Ihn lieben und gläubig auf Ihn schauen! Gehet nun zur Ruhe — morgen wird uns
Aufklärung werden."
Lazarus ging — und in seiner Kammer angekommen, schaute er noch lange in den
Sternenhimmel und betete: „O mein Jesus, Du meine Liebe! Wann wird das Leid ein
Ende nehmen? Immer grösser wächst der Hass, und grösser wird Deine Gegnerschaft
und Du willst nicht zurückschlagen, wo nach den Deinen geschlagen wird. Wann
wirst Du wahrhaft über Deine Feinde triumphieren können?"
„Mein Bruder", klingt es in ihm zurück, „für Mich gibt es keine Feinde mehr, da
Ich in Meiner Liebe so weit gegangen bin und habe Vorsorge getroffen, dass sich
noch alle bei Mir einfinden werden. Die Menschen sind sich selber Feind, doch
Ich will nur ihr Gutes! Wolle du dasselbe! Dies sagt dir die ewige Liebe, die
keinen Feind, sondern nur noch Verirrte kennt."
Schon am frühen Morgen war Lazarus mit zwei Knechten unterwegs nach Jerusalem,
seine Ahnung war recht: Theophil war nicht im Hause Marias, und der Wirt der
Herberge sagte ihm, dass Theophil nachmittags um die dritte Stunde weggegangen
sei, um in Marias Heim zu gehen.
„Sollte Jonas, der mit dem Theophil im oberen Zimmer zusammen war, Schlechtes
vollzogen haben?" fragte Lazarus zweifelnd.
„Ich denke nein", antwortete der Wirt zuversichtlich, „denn Theophil zeigte
rechte Genugtuung über die Unterhaltung mit seinem früheren Freunde. Auch kenne
ich Jonas noch von früher und weiss, dass er ein guter Charakter ist."
Lazarus verabschiedete sich; in ihm drängte die Sorge um Theophil. So eilte er
nach der römischen Kommandantur und traf auch den Stadthauptmann an, mit dem er
schon seit längerer Zeit befreundet war. Dieser versprach wohl, sich nach dem
Verschwundenen umzusehen, aber er bezweifelte den Erfolg, da die Tempelkaste und
die Stadtverwaltung sich heimlich unterstützten.
Bedrückt kam Lazarus endlich wieder heim, weil er keine guten Nachrichten
mitbringen konnte. Miriam und Ruth waren innerlich gebrochen, während der Vater
Enos ruhigen Tones sagte: „Warum denn verzagen, da Gott uns Seine Hilfe doch
nicht entzogen hat? Wir wissen wohl, mein Theophil ist noch nicht
zurückgekommen, aber dies ist auch alles. — Ich habe des Herrn Wort erhalten:
,Ich bin Erlösung — und Rettung!’ Und was Er mir sagte, gilt auch anderen. Darum
warte ich ruhig, bis die Zeit der Erfüllung gekommen ist."
Lazarus war erstaunt über diese Glaubens-Grösse und sagte lobend: „Enos, bleibe
bei deinem Glauben! Der Herr lohnt es dir, und du wirst dich noch freuen
können."
So vergingen einige Tage; auch die anderen litten unter dem Verschwinden des
Theophil - ein Beweis, wie lieb er allen geworden war. Ruth war ruhiger
geworden, sie pflegte ihre Mutter, die vor Aufregung krank war, aber diese Ruhe
war etwas Starres.
Es war am Vorsabbath, da kam Jonas ahnungslos nach Bethanien und wollte Theophil
und Enos besuchen; er wusste, um diese Zeit arbeitet niemand mehr auf dem Felde
oder im Garten. Lazarus sah ihn von weitem kommen, ging ihm entgegen und
begrüsste ihn freundlich.
„Herzlichen Dank für deinen Willkommengmss", sprach Jonas, „ich weiss, ich bin
Templer und in Bethanien nicht gern gesehen, aber ich will meine früheren
Freunde Enos und seinen Sohn Ruben, jetzt Theophil, besuchen, denn ich suche Rat
und Aufklärung bei ihnen."
„Dann bist du uns recht", antwortete Lazarus, „aber Theophil ist seit dem
letzten Beisammensein mit dir nicht zurückgekehrt - ich hatte sogar dich im
Verdacht, beim Verschwinden des Theophil mitschuldig zu sein."
Jonas war tief erschrocken und sprach: „O Freund Lazarus, mit grosser Hoffnung
lenkte ich meine Schritte nach Bethanien, denn mir wird das Leben hier plötzlich
unerträglich. Seit Theophil mir die Augen öffnete und mir manches sagte, woran
ich früher nie dachte, habe ich ehrlich mit mir gekämpft und alle Vorurteile aus
mir herausgeschafft und habe als innerlich freier Mann das Leben und Treiben im
Tempel beobachtet. Es schreit zum Himmel, was alles jetzt unternommen wird!
Saulus von Tarsen ist von tiefstem Hass gegen alle Nazarener erfüllt und
verfolgt sie grausam (siehe Apostelgesch. 8). Er hat die Rechte dazu vom Tempel
aus erhalten, und alle loben seinen Eifer. Ich suche Rat und Beistand bei euch,
aber nun ist das Leid auch bei euch eingekehrt." —
Antwortete Lazarus: „Lieber Jonas, deswegen bleibt Bethanien doch eine
Zufluchtsstätte für suchende Herzen, und du bist uns genau so willkommen, als
wäre bei uns kein Unglück hereingebrochen. Enos stehet dir sofort zur Verfügung,
aber ich bitte dich, ihn vor neuer Aufregung zu bewahren; seine Seele ist bis
jetzt ruhig und voller Zuversicht." Beide gingen in das Haus, um Enos zu
benachrichtigen, dass ein lieber Freund gekommen sei.
Jonas sprach noch, überrascht von dem freundlichen Empfang: „Lieber Freund
Lazarus, dein Empfang tat meinem Herzen so wohl! Obwohl ich als Priester komme,
hast du mich begrüsst wie einen Freund, doch wahrlich, der Tempel hat nicht das
Beste mit dir vor."
„Eben deswegen sind mir alle, die vom Tempel zu mir kommen, so lieb, weil ich
dadurch immer neue Beweise von der grossen Gnade Gottes erhalte. Wärest du mit
schlechter Absicht gekommen, wärest du nicht hier, meine Hunde hätten dich gar
nicht durchgelassen."
„Hunde? — Ich habe keine gesehen", antwortete Jonas, „möchtest du mir schon
etwas darüber berichten? Merkwürdig, im Tempel haben sie noch kein Wort davon
gesagt."
Antwortete Lazarus: „Du wirst sie sehen — aber du wirst auch schweigen! — weil
sie ein Geschenk des Herrn Jesu waren, als Er bei einem Besuche hier weilte."
Enos kam, begrüsste den früheren Freund Rubens herzlich und sprach: „Jonas, was
treibt dich als Priester zu dem Verräter? Willst du uns Vorwürfe machen, oder
treibt dich die Liebe zum Freunde?"
Jonas sprach: „Mein alter, treuer Enos, nichts von beiden — sondern die Not
meines Herzens. Dein Sohn hat mir die Binde von den Augen gerissen, und nun
stehe ich vor wichtigen Entscheidungen. Entweder ich bleibe, was ich bin und
habe mein gutes Auskommen, oder ich mache es wie du: kehre dem Tempel den Rücken
und werde ein freier Mann."
„Jonas, bei aller Freundschaft kann ich dir nur raten, entscheide dich zu
letzterem!" sprach Enos. „Wir haben viele römische Freunde, die dir gerne die
Wege ebnen zu einem neuen Beruf."
Jonas erzählte: „Die letzten Tage waren für mich schwere innerliche Prüfungen,
und wohin sollte ich mich wenden um einen klaren Rat? Denn zu Jesum, eurem
Heiland, finde ich allein noch nicht."
Antwortete Lazarus: „Auch wir können dir nur den inneren Weg zu Ihm zeigen und
dieser fordert: Liebe deinen Nächsten, und hilf ihm in allen seinen Nöten!
Erst, wenn du durch solche betätigte Liebe zur klaren Einsicht kommst, was Gott
von uns Menschen will, kommt dir der Herr und Heiland entgegen! Freilich nicht
als sichtbarer Mensch, sondern in deinem eigenen Herzensgefühl als Freude,
Friede und ungeahnte Wonne. Aller Anfang ist wohl schwer, doch ohne den freien
und ernsten Willen nicht möglich. Für uns ist Jesus das vollkommenste Leben. Wir
sind Seine Freunde, und Nachfolger Seiner Liebes-Lehren. Bedenke meine Worte —
und komme gern wieder. Aber der Meister kann nur zu denen kommen, die Ihn im
vollen Ernste suchen!"
„Es ist genug, liebe Freunde", sprach Jonas, „eure Liebe ist bekannt bei allen
in Stadt und Land, und was ihr mir ratet, will ich befolgen."
Die Schwester Martha brachte reife Feigen, Brot und Wein, dass der Gast sich
stärke, dann aber wollte Jonas wieder zurück nach Jerusalem und sprach: „Mir ist
in eurer Nähe bedeutend friedlicher geworden; aber wenn du willst, zeige mir
noch deine Hunde, sie interessieren mich." —
Als Lazarus und Enos ihren Gast aus dem Hofe begleiteten, pfiff Lazarus seinen
getreuen Wächtern, welche sofort schweifwedelnd angerannt kamen. Mit ihren
treuen Augen sahen sie auf ihren Herrn, als ob sie fragen wollten: Gehört der
Fremde auch zu uns? Jonas aber war erschrocken stehengeblieben und sagte:
„Solche Tiere habe ich noch nicht gesehen, mit ihren Zähnen möchte ich keine
Bekanntschaft machen."
„Diese Tiere tun niemandem ein Leid", sprach Lazarus, „nur wer mit schlechter
Absicht kommt, darf nicht herein. Durch ihr Bellen wissen wir, dass es keine
Freunde sind, und sogleich sind wir gewarnt, und dieses ist vom höchsten Wert.
Aber nun schweige vorderhand, dass du in Bethanien warst. Gott mit dir! Sein
Segen ruhe auf all deinem Tun!"
Die Beiden kehrten mit den Hunden um, Jonas aber wanderte weiter. In ihm war
Hoffnung, dass es auch in und um ihn licht und klar werde, aber das Verschwinden
Theophils machte ihm jetzt doch grössere Sorge. Unterwegs begegnete er einer
Schar Männer und Frauen, die auch nach Jerusalem wollten. Er fragte: „Wo wollt
ihr hin? Die Sonne hat sich stark geneigt, und nach Jerusalem ist noch eine
Stunde Weges."
Sprach einer: „Herr, wir wollen nach der Stadt und morgen in den Tempel gehen,
weil unsere Priester uns geboten, an heiliger Stätte zu beten."
„Da tuet ihr gut daran", entgegnete Jonas, „aber ist eure Synagoge nicht ebenso
heilig als der Tempel in der Stadt Gottes? Jehova sieht euch genau so gern in
eurer kleinen, Ihm geweihten Stätte als wie in Jerusalem. Haben euch eure
Priester nicht den rechten Aufschluss darüber gegeben, oder was erwartet ihr in
Jerusalem? —"
„Herr", sprach ein anderer, „wir haben viele Kranke in unserer Gemeinde; unsere
Priester sind ratlos und meinten, wenn nicht von Jerusalem Hilfe kommt,
verderben wir alle."
„Ich verstehe! Nun, es ist recht, dass ihr gekommen seid, und es wird auch euch
geholfen werden. Ziehet in die Herberge Bethania, dort werde ich euch wieder
treffen, und alles andere werde ich gern mit euch besprechen. Ich aber muss
eilen, ich habe noch Wichtiges zu erledigen."
Nachdenkend ging er schnellen Schrittes seines Weges, die Not dieser Männer und
Frauen beschäftigte seine Seele. Mit welch gläubig hoffenden Erwartungen kommen
sie in die heilige Stadt, und was werden sie erleben? O Gott, Jehova! Gibt es
denn keinen Ausweg, um den Suchenden diese Enttäuschungen zu ersparen? O Gott,
gib mir Gelegenheit, diesen Menschen zu helfen! Mit diesen Gedanken eilte er in
sein Heim, wo ihn sein Weib erfreut begrüsste, er aber sprach: „Ich muss wieder
fort! Ich habe einen wichtigen Weg, es hängt sehr viel davon ab." — Und nach
einer kleinen Erfrischung ging er zur Herberge Bethania.
Er bat den Wirt um eine Unterredung. Dieser erkannte den Jonas auch wieder und
war erstaunt, einen Priester vor sich zu haben, der das Gegenteil von anderen
Templern zu sein schien, aber er traute ihm doch nicht recht und sagte wegen der
gemeldeten Gäste: „Jonas, wir helfen, wo wir können, aber wundere dich nicht, so
ich zögere. Wir sind Römer und vom Tempel unabhängig, aber zum direkten Feind
möchte ich ihn doch nicht haben. Ich will einen Knecht nach dem Tor schicken,
der kann die Leute zu uns bringen."
Jonas erklärte: „Höre, lieber Wirt, stosse dich nicht daran, dass ich äusserlich
noch ein Diener des Tempels bin, innerlich bin ich es nicht mehr, und so frage
ich dich: hast du inzwischen etwas von meinem Freunde Theophil gehört?"
„Nein, kein Wort konnte ich darüber erlauschen. Hier sind die Templer
zurückhaltend, da sie nur spionieren wollen, aber vielleicht könntest du in
einer reinen Tempel-Herberge etwas erfahren."
„Du gibst mir einen guten Rat, dem ich sogleich nachgehen werde, also habe Dank
und traue meinen Worten."
Jonas ging in eine Priester-Herberge in der Nähe des Tempels, wo er schon
bekannt war. Es gab Reden und Fragen, und am Nachbartische erzählte man von den
Taten des Saulus von Tarsen. Jonas hörte nur zu und fragte den neben ihm
Sitzenden, wo denn eigentlich die Gefangenen bleiben, denn im Tempel habe er
noch keine gesehen.
„Ja, der Tempelrat ist vorsichtig geworden", antwortete der Gefragte, „seit die
Römer ihm die Polizeigewalt verbieten. Darum wird dieses ganz heimlich gemacht,
aber um so unheimlicher. Ja, er hat sogar Belohnungen ausgesetzt für grössere,
aber verschwiegen gebliebene Verhaftungen. Wenn du Lust hast, kannst du dich ja
einmal solch einem Zug anschliessen, den die Tempelmiliz unternimmt."
„Ich bin weniger für diese Sache — aber um Einblick in das Leben der Nazarener
zu bekommen, würde ich ganz gerne einmal mittun, d. h. gefährlich dürfte es
nicht sein, da ich keinen Kampf liebe."
„Gefährlich, lieber Freund, ist dieses nie, denn die Nazarener sind ja geradezu
feige; sie wehren sich nicht im geringsten und erwarten alle Hilfe von ihrem
unsichtbaren Heiland."
Jonas fragte: „Wann könnte ich einmal mitkommen, und in welchem Kleide geht man
da?"
„Nur im Priesterkleide, denn dieses wird ja am meisten respektiert. Komme morgen
um die erste Nachtwache hierher, dann werden wir weiterreden, da wir uns auf
unsere Spione verlassen müssen, die zum Schein Christen geworden sind."
„Gut, ich werde kommen, denn ich will ein wahrer Diener Gottes sein."
Er ging zurück in sein Heim, aber in seinem Herzen brannte ein immer grösseres
Weh. Sein Weib sah ihn besorgt an, er sprach kurz: „Ich muss über Wichtiges
nachdenken -— mir ist, als lebte ich unter lauter Verbrechern.
„Jonas, lasse mich teilnehmen an deinen Sorgen!" sprach sein Weib. „Der
Segensspruch deines Vaters an mich lautete: Wo du hingehst, da will auch ich
hingehen, und dein Gott soll auch mein Gott sein. Daran halte ich mich in allen
Lagen."
„Ja, es ist recht, dass du so denkst, meine Pura, aber lasse mich einige Tage
allein, dass ich mich prüfe und dann auch entscheiden kann über unsere Zukunft."
Pura sprach: „Ich fühle, was in dir vorgeht: dich quält dein Priesterberuf. Du
suchst göttliche Wahrheit und kannst sie im Tempel nicht mehr finden. Dein
kluger Vater sagte einmal zu mir: Wenn je die Stunde kommt, wo Jonas keine
Befriedigung mehr findet in seinem Beruf als Prieser, dann suche ihn zu
verstehen. Denn der Tempel ist abgewichen von den Wegen Gottes, und das
Gotteswort ist nur noch leerer Schein. Nur ein Messias könnte das heilige Wort
wieder zu einem nährenden Brot für unsere Lebens-Aufgaben machen!"
„Pura, dein Wort fällt wie Tau auf mein wundes Herz! Siehe, heute schon will ich
dir sagen: ich bin auf dem Wege, ein Christ zu werden, habe aber noch eine
schwere Aufgabe zu erfüllen, doch darüber muss ich schweigen, da ich meinen
Freunden mein Wort gegeben habe."
Jonas blieb allein — er überlegte noch einmal die Worte des Lazarus für und
wider, aber gegen das Verhalten der Templer wehrte sich sein ganzes Innere.
„Wenn ich nur den kleinsten Beweis vom Dasein des Auferstandenen hätte, dann
wäre mein Entschluss ein leichter!" sprach er zu sich selbst, und wollte nach
den Rollen des Jesaias greifen — doch er liess davon ab. „Was nützen mir
geschriebene Worte, lebendige brauche ich! — Aber wo sie finden?"
Nun ging er auf den Söller und schaute lange in den strahlenden Sternenhimmel —
dann betete er so innig wie noch nie in seinem bisherigen Leben: „Herr, Gott
Zebaoth! Du kannst Dich nicht länger verbergen vor der Not, die ich in mir
fühle! Ich bin ärmer als Jakob, der vor seinem Bruder fliehen musste, und diesem
hast Du Dich gezeigt. Nur einen einzigen Augenblick lass mich inne werden, dass
Du da bist, sonst muss ich zugrunde gehen! Herr, wie Du anderen geholfen hast,
so hilf auch mir!"
Er schwieg und wartete. Aber nichts regte sich in ihm — noch um ihn. Da fragte
er sich: „Ja, worauf will ich denn warten? Gott ist ja Gott und nicht ein Mensch
oder sichtbares Wesen. Es ist ja Torheit, auf etwas zu warten, was nicht
schaubar ist. Aber wie sagte Ruben-Theophil? Er lebt! Und sichtbar werde Er
denen, die an Ihn glauben. Ist es nicht Vermessenheit, Beweise zu fordern von
dem, an den ich nicht glaube?
Wie sagte Lazarus? Wenn ich zur besseren Einsicht gekommen bin, wird der Heiland
mir entgegenkommen. Ja — wie komme ich am schnellsten zu dieser Einsicht? Mit
Grübeln über Worte nicht! Ich werde darum das Lager aufsuchen und das Weitere
ruhig abwarten."
Der Harfenspieler
Inzwischen hatte der Wirt einen Boten nach dem Tor gesandt, um die gemeldeten
Fremden nach der Herberge zu führen. Als dieser einen Trupp Männer und Frauen
dort traf, grüsst er freundlich und fragt nach ihrem Ziel. „Wir wollen im Tempel
beten und unsere Sehnsucht stillen an dem heiligen Ort, wo Gott wohnt; einkehren
möchten wir aber in der Herberge Bethania."
„So will ich euch führen und euch unnötiges Fragen ersparen, denn am Vor-Sabbath
liebt jeder die Ruhe", antwortete der Bote.
Erfreut kamen sie mit. Der Wirt bot ihnen Speisen und Wein an. Es waren ruhige,
ernste Leute, voll tiefer Sehnsucht und heiligem Verlangen nach göttlicher
Gnade. Nachdem sie ihre Kammern besichtigt hatten, konnte der Wirt offener
fragen: „Also ihr wollet morgen im Tempel beten — und möchtet, dass ein Priester
nur für euch am Opfertische tätig ist um eurer Kranken willen; ihr glaubt also
noch an eine Hilfe und Heilung von Seiten des Tempels?"
„Guter Freund, für einen Mann, der in der Stadt Gottes wohnt, ist dies eine
wunderliche Rede. Wenn wir nicht glaubten, wären wir doch nicht gekommen. Leider
sind die Zeiten vorüber, wo ein Heiland die Kranken heilte."
„Mitnichten, liebe Freunde", entgegnete der Wirt, „die Heilkraft des guten
Heilandes Jesus lebt immer noch in Seinen Jüngern; doch diese Apostel können nur
dorthin gehen, wo ein rechtes Bedürfnis nach ihrer Hilfe vorliegt. Wenn ihr
schon Zeiten erlebt habet, wo der grosse Heiland euch mit Seiner Hilfe
beglückte, warum glaubt ihr heute an Seine Heilkraft nicht mehr?"
„Lieber Freund", erwiderte der Gefragte, „warum fragst du darnach? Du wirst doch
wissen, dass ein toter Heiland nicht mehr helfen kann! Und von Seinen Jüngern
war noch keiner bei uns, doch haben wir auch keinen verlangt, weil unsere beiden
Priester uns gaben, was wir benötigten."
„Freunde", sprach der Wirt, „ich höre aus euren Reden, dass ihr den Heiland
Jesus nicht richtig kennt! Denn alle, die diesen herrlichen Heiland in ihr Herz
eingeschlossen haben, hängen auch heute noch mit derselben Liebe an Ihm, als
weilte Er noch unter uns. Dass Er bei uns nicht bleiben konnte, wussten wir alle
aus Seinem Munde; wir vermissen Ihn aber auch nicht, da Er doch im Geiste
lebendig unter uns weilt. Freilich, wer sich durch die Priester von Ihm
abbringen lässt, darf sich auch nicht wundern, so die Kranken nicht gesund
werden. Die wahren Anhänger Jesu lassen sich lieber gefangen nehmen, als dass
sie sich von Ihm abwenden und den Templern huldigen."
„Lieber Wirt", sprach einer der Fremden, „was du uns von Jesus sagst, klingt
gross und gewaltig - so hat noch keiner zu uns geredet! Siehe, wir glaubten
unsern Priestern, freilich ohne viel zu überlegen, und nun soll das alles nicht
richtig sein? Gib uns Beweise deiner Worte! Kannst du unsern Kranken Hilfe
bringen? Oder kennst du jemand, der sie in Jesu Namen heilen könnte? Wir gehen
unverzüglich zu ihm und sind zu grossen Opfern bereit."
„Freunde, schenket den Armen von eurem Überfluss, dann handelt ihr im Sinne des
göttlichen Meisters. An Ihn glauben, heisst aber: den uns von Ihm geoffenbarten
Willen Gottes — tun! Dann findet jeder Ihn im Geiste und in der Wahrheit, und
auch euch wird sein, als weile Er noch unter uns. Wenn ihr den Wunsch empfindet,
könntet ihr hier mit einem Jünger des Herrn wohl zusammenkommen. Aber bedenket:
es geht nicht, einesteils von den Templern und, wenn es nicht glückt, von einem
Jünger Hilfe zu erhoffen. Denn seid euch darüber klar: Wer des Heilandes Freund
ist, der wird vom Tempel rücksichtslos als Feind behandelt. Ich lasse euch jetzt
allein; morgen ist Sabbath, da ist genug Zeit, von eurer Angelegenheit noch zu
sprechen."
Als der Wirt sich entfernt hatte, besprachen sie sich eifrig untereinander über
das Gehörte, doch konnten sie sich nicht recht einigen und suchten nachdenklich
ihr Lager auf.
In der Frühe wurden sie geweckt von herrlichen Lob- und Dank-Psalmen, welche die
Familie des Wirtes jeden Morgen dem Herrn darbrachte. Ganz ergriffen lauschten
die Fremden; noch nie hatten sie solch schönen Gesang gehört. Seit einigen Tagen
weilte ein Harfenspieler mit seiner jungen Tochter in der Herberge, und diese
hatten den Morgengesang begleitet.
Als alle in der Wirtsstube versammelt waren, bat der Harfenspieler David:
„Lasset uns beten und loben Seine Liebe, damit wir ganz erfüllt werden von
Seinem Geiste!" Er spielte einige Akkorde, dann sangen beide:
„Heilig, heilig, heilig, bist Du uns geworden,
Du treuer Gott und Vater deiner Kinder hier.
Mein Geist drängt mich, zu loben Dich an allen Orten
und preisen Deine Liebe, Deine Güte für und für.
Als wir noch lebten in der finsteren Nacht,
kein Strahl der Freude uns belebte,
da hast Du, Jesus, uns das Licht gebracht,
so dass mein Herz vor Freude tief erbebte.
In Deinem Lichte darf ich Deine Liebes-Wunder schaun,
durch Deine Gnade — Dir vertraun!
Mein ganzes Tun, das soll nur Zeugnis sein: ich bin Dein Kind
und will es ewig sein, ewig — ewig — ewig sein!
Durch Deine Liebe ganz allein - bist Du Vater mir geworden! -
Vater willst Du allen sein!" — —
Jubelnd klingt es mir im Herzen:
Alles, was da ist — ist Dein! — Für ewig Dein!"
Sanft klangen die Akkorde aus. — Alle waren ergriffen im Innersten, dann sprach
der Wirt zum Harfenspieler: „Lange möchten wir dich noch hier behalten, lieber
David, damit die Freude deiner Seele überspringe auf viele noch tief bekümmerte
Herzen."
Als das einfache Morgenmahl beendet war, ging David mit seiner Tochter Salome in
den frischen Morgen hinaus; doch einer der Fremden mit seinem Weibe ging ihnen
nach und fragte: „Bist du der Spieler und Sänger, der heute früh schon Gott die
Ehre gab und in unsern Herzen ein so grosses Verlangen nach Ihm geweckt hat?"
„Der bin ich wohl, aber ich gebe nur zurück, was die ewige Liebe und Erbarmung
mir zuvor gab. Es ist uns beiden Bedürfnis, nicht mit dem Lob zu sparen, denn
wer einen solchen Gott besitzt wie wir, kann freudig aus dem Herzen singen: „Es
ist ein Gott — es ist ein Gott, an den ich mich nur halte, Er führet mich aus
jeder Not hinein in rechte Freude. Er ist mein Gott, der frei von Not mein Leben
wird gestalten, und darum will ich stets mich nur an Seine Liebe halten."
Da sprach der Fremde zu ihm: „Ephraim ist mein Name, und dieses ist mein Weib
Lydia, Ich bin der Vorsteher einer Gemeinde oben im Norden von Galiläa. Wir sind
in grosser Herzensnot und suchen Hilfe hier. Wohl haben wir einst glückliche
Zeiten gesehen, aber sie sind gewichen, denn viele bei uns sind krank, und vor
uns liegt das Leben trost- und hoffnungslos. Wenn nicht bald Hilfe kommt, werden
wir alle von der bösen Seuche ergriffen. Lieber David, wir möchten dich bitten,
heute ganz bei uns zu bleiben und mit deinem herrlichen Harfenspiel unsere
Herzen zu Gott zu erheben und alle Sorgen zu vertreiben."
„O Ephraim", antwortete David, „erwarte nicht zu viel von uns, ich bin nur ein
fahrender Sänger, aber kein Arzt. Wohl habe ich einen Heiland, der mir jede
Bitte erfüllt, so sie uns zum Segen gereicht und so unsere Liebe und unser Leben
Ihm verhelfen will zum geistigen Wirken hier im Erdensein. Denn: bist du im
Tiefsten ergriffen von Seinem Geiste, dann wirst du Sein Heilands-Leben auch
ausleben wollen!"
Salome sprach inzwischen leise zu Lydia, die da weinte: „Aber warum denn weinen,
wenn du schon auf dem Wege zum grössten Glücke bist? Was wir wollen und tun, ist
Arbeit für den Herrn. Auch ihr seid des Herrn Eigentum. Und noch nie hat Er euch
vergessen, darum lasse deine Traurigkeit, denn Freude ist ja auf dem Wege zu
dir!"
„O Kind, musst du glücklich sein", antwortete Lydia, „dass dein Mund solche
Worte spricht!" Nun traten sie wieder ein zu den Anderen, die schon voll
Erwartung waren und die beiden Sänger freudig begrüssten, denn der Ton der
Saiten hatte ihre Herzen berührt!
„Freunde, liebe Brüder und Schwestern, geduldet euch", sprach der Sänger, „wir
wollen erst stiller werden und unseren Herzen die volle Ruhe geben, damit des
Herrn Liebe gefühlt und empfunden werde. So wollen wir beten!" Und er nahm seine
Harfe, gab mit leisen Akkorden seiner Tochter einen Wink, und sie sang mit
inniger Stimme:
„O Herr, mit leisen Schritten nahen wir uns Dir und wollen Deine Güte preisen,
die Du in dieser Stunde hier durch Deine Liebe hast verheissen.
Wenn uns bewegt der Brüder Leid und ihre Not uns geht zu Herzen,
bist Du zum Helfen gern bereit, willst lindern alle Schmerzen.
Mit heissem Dank und freud'gem Sinn erbitten wir in dieser Stunde:
O komme Du in Deinem Geist und gib uns frohe Kunde.
Wir warten Dein, Herr Jesu Christ, denn Du gibst Deiner Liebe Schwingen,
weil Du der treue Vater bist und willst den Frieden Deinen Kindern bringen.
Heiliger Friede - komme zu uns, Heiliger Friede - erfülle das Haus!
Heiliger Friede - durchdringe uns, und Heiliger Friede - gehe stets von uns aus!
Amen!"
„Nun sind unsere Gedanken in die rechte Stille gelangt, wo in uns alles schweigt
— und vor uns das neue Leben sich offenbaren will. Ihr suchet Hilfe bei Dem, der
allen helfen kann, und dieser ist unser Gott allein! Wo suchet ihr aber diesen
Gott, liebe Brüder? Findet ihr Ihn im Tempel oder in der Natur oder bei
Menschen? Es ist schwer, diese Frage zu beantworten für die, welche blind oder
gleichgültig an all den Gnaden-Beweisen göttlicher Liebe vorübergehen. Gott
lässt sich nicht mit den Augen finden! Sichtbar sind uns nur die Spuren Seiner
Allmacht und Grösse, Seiner Ordnungen — und Seiner Liebe!
Wohl haben wir alle Sein Wort durch Moses und die Propheten, aber was haben die
Menschen aus diesem Seinem Wort gemacht? Darum wurde Das Wort — Fleisch — und
belehrte uns — als Mensch — und zeigte uns den Vater als die erbarmende Liebe,
damit Sein Leben auch unser Leben werden möge.
Aber was nützte euch Jesu Kommen zu euch, so ihr euch nur Seine Wohltaten
gefallen liesset, aber die Bedingungen zu einem neuen Leben nicht erfüllen
wolltet, womit ihr inne werden solltet — dass das Fleisch gewordene Wort Gottes
— sich auch in euch auswirken kann!"
David spielte nun weiter, und während die Töne in voller Reinheit jubelten,
sagte Salome: „Ihr Männer und Frauen, wohl bin ich die Jüngste von euch Allen!
Aber dem Drängen des Geistes in mir kann ich nicht widerstehen und muss euch
sagen: Als einst das grosse Ereignis eintrat und wir beide Jesum von Nazareth
sehen und hören durften und von Seiner Liebe begnadet wurden, gab es für uns
keinen Zweifel mehr über Ihn. Gott hat uns Gelegenheit gegeben, zu prüfen und
das göttliche Gute und Wahre in Ihm zu erkennen. Sein Leiden und Sterben und
Sein Auferstehen aus Grabesnacht gab uns dann noch die höchste Gewissheit über
die grosse Gnade, die in dem Jesus-Menschen aller Welt gegeben war, die zwar
verhüllt, nun aber allen denen, die da glauben, dass Er der wahre Erlöser und
Gottessohn war, immer mehr offenbar gemacht wird.
Höret weiter, liebe Männer und Frauen! Jesus, der Hohe, Reine, der alle Menschen
Liebende, der allen Leidenden Helfende, ist von der Erde gegangen in Sein Reich
der wahren Vollendung allen Seins. Aber Seinen Geist — liess Er hier! Sein Geist
umweht uns wie der Duft der schönsten Blumen, aber glauben muss ich an Ihn und
Seine Sendung. Ohne Glauben kann dieser reinste Geist nicht erkannt und erfasst
werden von uns. Gehet in den Tempel, lauschet ihren schönen Worten, aber prüfet
den Geist, aus welcher Absicht sie euch gegeben werden, und dann erst
entscheidet euch — und handelt!
Sprach Ephraim bewegt: „O du Tochter Zions! Deine Worte waren Brot für meine
Seele. Aber so leicht werden wir nicht frei werden vom Tempel und von unsern
Priestern, in deren Knechtschaft wir stehen. Könntet ihr vielleicht veranlassen,
dass wir mit einem Jünger des Herrn zusammenkommen?"
„Dieses könnten wir wohl", antwortete Salome, „aber so ihr ihnen den rechten
Glauben nicht entgegenbringt, können auch sie euch nicht helfen."
Da nahm Lydia, sein Weib, Salomes Kopf in beide Hände und sagte tief ergriffen:
„Kind, für diese Worte will ich dir danken! Nun habe ich die Gewissheit, es wird
noch alles gut; denn ich sehe hinein in die Gnaden-Führungen unseres ewig weisen
Gottes."
Jonas am Scheidewege
Jonas war inzwischen in die Herberge gekommen und hatte in einem Nebenzimmer
alle diese Worte mit angehört, die ihm seinen Entschluss immer klarer
beleuchteten. Er hätte jubeln mögen, so bewegte sich schon das neue Leben in
ihm. Und ohne gesehen zu werden, verliess er die Herberge wieder, denn er hatte
nun den rechten Mut, aufrecht in den Tempel zu gehen. Seine Seele betete zu dem
Heiland Jesus um Beistand und um Vergebung seiner Mitschuld, die ihm klarer ward
bei allem, was er jetzt von den Templern hörte. Heute, am Sabbath, waren die
Hallen des Tempels übervoll, reiche Opfer wurden gespendet, und reichlich waren
die Verheissungen dafür.
Jonas als Priester ging still durch die Betenden hindurch, dann aber horchte er
auf, als ein alter Priester dem lauschenden Volke davon erzählte, dass dem
Tempel ein Gerücht hinterbracht worden sei von dem Wiederkommen des
Gekreuzigten. Er fordere nun jeden Gläubigen auf, dem Tempel sogleich Botschaft
zu überbringen, wer solches Gerede verbreite, damit solche Volksverführer ihrer
gerechten Strafe nicht entgehen.
Jonas war schmerzlich berührt von dieser Enthüllung ihres lieblosen Denkens. Er
mied die Priester, mischte sich unter das Volk, und endlich ging er in die
bekannte Tempel-Herberge, wo der Priester Abia ihn auch bald aufforderte, an dem
verabredeten geheimen Gang teilzunehmen. Es gingen noch drei Priester und einige
bewaffnete Tempeldiener mit und an einem grösseren alten Hause angelangt,
pochten sie scharf an die schwere Tür. Aber es schien, als hörte niemand, darum
pochten sie lauter, bis langsame Schritte sich näherten; die Tür wurde geöffnet,
und Abia schrie den alten Mann, der ein Licht in der Hand hielt, an: „Wo sind
die Besucher der Versammlung?"
„Ich weiss nichts von Besuchern", ward ihm geantwortet, „suchet sie euch selbst,
wenn ihr welche vermutet."
„Wie immer: keiner weiss, was im Hause vorgeht! Rasch, durchsucht die Räume,
aber wehe dir, so wir jemanden finden!" Die Bewohner schienen nicht ängstlich zu
sein, als die Templer die Räume durchsuchten, aber keine Versammlung fanden. „In
den Garten", befahl Abia, „sie müssen hier sein, ich hatte doch die Botschaft
erhalten!" Aber auch hier wurde niemand gefunden. Wütend wollte sich Abia an dem
Hausherrn rächen, dieser aber fragte streng: „Du scheinst vergessen zu haben,
dass du im Hause eines Römers bist. Wenn du nicht im Augenblick das Haus mit
deinen Leuten verlässt, lasse ich Feuer ausrufen, damit Militär mir zur Hilfe
kommt. Dein Gesicht aber werde ich mir merken und dich für die nächtliche
Ruhestörung zur Verantwortung ziehen lassen!"
Notgedrungen musste Abia den Befehl zum Abmarsch geben, denn dass der Hauswirt
sich auf römische Hilfe berief, war ihm sichtlich unangenehm. Er ahnte nicht,
dass die Freunde Jesu schon beim ersten Klopfen in das nachbarliche Haus geeilt
und somit gerettet waren.
„Ich weiss noch einen anderen Ort, wo wir Nazarener finden", sagte , Abia stolz,
„ihr werdet staunen!" Im Innern der Stadt erreichten sie ein grosses Haus,
klopften dreimal als verabredetes Zeichen und hörten auch sogleich schlürfende
Schritte, bis die Tür geöffnet ward. „Was machen unsere Schützlinge?" fragte
Abia scharf. Der Alte lächelte in seinen Bart und sagte höhnisch: „Ihnen scheint
es ja zu gefallen — merkwürdige Leute, deine Pfleglinge."
Sie gingen einen halbdunklen Gang entlang, dann die Treppe hinab, und ein
eisernes Gitter ward aufgeschlossen. In dem schlecht erhellten Kellerraum schlug
ihnen eine dumpfe Luft entgegen. Jonas sah ungefähr zwanzig Menschen auf Stroh
und alten Lumpen liegen, die taten, als ob sie schliefen. Abia stieg über die
vordersten hinweg, blieb vor einem der Gefangenen stehen und fragte
herausfordernd: „Nun, Ruben, wie bist du mit dem Tausch zufrieden? In Bethanien
hast du wohl Besseres geträumt von der Herrlichkeit deines Nazareners — als
hier!"
Jonas war tief erschrocken; er wusste: dies konnte nur Theophil sein. Er wandte
sein Gesicht ab, damit er nicht erkannt würde, denn er schämte sich um Theophils
willen. Auch mit Anderen sprach Abia in ähnlicher Weise. Dann verliessen sie den
Raum, und alle gingen wortlos nach Hause. Als Jonas sah, dass die Anderen sich
entfernt hatten, ging er zurück und besah sich nochmals das Haus, um es genau
wiederzuerkennen.
In seinem Hause angelangt, empfing ihn sein Weib: „O Gott sei gelobt, dass du
kommst, Jonas! Ich habe heute viel Angst um dich gelitten. Konntest du mir nicht
eine Botschaft senden, wie du es sonst immer getan hast?"
„Ja, Pura, Gott sei Lob und Dank! Es war ein schrecklicher Tag, aber doch wohl
notwendig zu meiner Entwicklung. Himmlische Harmonien erlebte ich, aber auch
Höllen musste ich durchwandern — doch lasse mich schweigen, bis mein Liebes-Werk
vollendet ist.
„Ich muss noch ein Schreiben an den Stadthauptmann anfertigen und bitte dich,
dass du es am Morgen schon zu ihm bringst, da ich selbst in der Frühe nach
Bethanien gehen muss."
Jonas machte einen Bericht über das in der Nacht erlebte, und dass römische
Untertanen von Templern mit brutaler Gewalt in dumpfen Kellern gefangen gehalten
werden. Er bitte um Hilfe — und schloss: dass er mit dem heutigen Tage sich und
sein Haus unter römisch-kaiserlichen Schutz begebe. Dann ordnete Jonas seine
Sachen. Jerusalem musste er verlassen. Und als er in seinem Innern ruhiger ward,
sagte er ernst, doch voll Liebe, zu seinem Weibe: „Pura, mit diesem
neubeginnenden Tag bricht auch für uns ein ganz neues Leben an. So wollen wir
gemeinsam zu Gott um Gelingen des vorgenommenen Werkes beten. Ich wusste es
nicht: trotzdem ich Priester bin, lebte ich ohne Gott. Nun erst wird mir klar,
was es heisst: mit Gott zu leben!
Als Jonas in bürgerlicher Kleidung das Haus verlassen hatte, kniete Pura
nochmals nieder und betete, denn sie war eines frommen Priesters Kind, und
empfahl Jonas der grössten Gnade Gottes. Immer wieder redete sie mit Gott und
pries Seine Gnade, wodurch in ihrem Herzen alles freudig und sonnig gestimmt
ward.
Inzwischen eilte Jonas zum Tor hinaus, und als es Tag wurde, ward Bethanien auch
schon sichtbar. Nun musste er seinen Schritt hemmen, um ruhig zu werden, und bat
Gott nochmals um volles Gelingen.
Lazarus erwartete Jonas schon am Toreingang, er fühlte innerlich, dass der
heutige Tag ein Ereignis bringe. „Jonas, du bringst gute Nachricht", begrüsste
er ihn. —
„Ja, die bringe ich, aber ob du helfen kannst?"
Lazarus sprach erfreut: „Wir wollen es versuchen — in Jesu Namen! Doch komme ins
Haus und berichte uns!" Und Jonas schilderte, wie er Theophil gefunden, dass er
in einem Schreiben den Stadthauptmann um Hilfe gebeten, und dass er sich von
heute an unter römischen Schutz stelle.
Lazarus lobte: „Du tust ein grosses Werk für den Herrn, indem du unsern
gefangenen Brüdern helfen willst. Geniesse mit uns das einfache Morgenmahl,
während ich alles andere vorbereite, aber schweige noch, damit nicht vergebliche
Hoffnungen erweckt werden! Wir aber wissen, dass unser Gott Sich all denen
helfend erweist, die Ihm voll vertrauen."
Dann fuhren beide nach Jerusalem, wo Lazarus vom Stadthauptmann Benno sogleich
begrüsst wurde: „Du kommst sicher wegen einer Schwierigkeit, lieber Lazarus,
aber was es auch sein möge, ich helfe dir gern."
„Ich danke dir, mein Freund Benno", sprach Lazarus, „aber es ist besser, dass
Jonas als Augenzeuge, obwohl erst seit heute morgen Römer, dir alles berichten
wird."
Der Hauptmann war aufgesprungen bei dem Bericht von all dem nächtlichen Erleben
und sagte bitter: „Dies alles ist fast nicht zu glauben! Dabei sind meine Leute
Tag und Nacht unterwegs und wissen nichts davon? Aber es genügt mir nicht, nur
deine Freunde zu erretten, ich muss auch diejenigen fassen, die solche
Verbrechen begehen! Wieviel Menschen sind in letzter Zeit einfach verschwunden,
niemand weiss wohin! Aber nun habe ich wenigstens einen Anhalt."
Ein Soldat führte plötzlich eine junge Frau herein, da sie sich durchaus nicht
abweisen lassen wollte. Es war Pura, die den wichtigen Brief übergeben wollte,
jetzt aber sehr erstaunt war, ihren Mann schon hier zu sehen.
Jonas erklärte: „Ja, Herr, es ist mein Weib. In dem Brief steht fast dasselbe,
was ich soeben erzählte, es sollte nur eine Vorsichtsmassregel sein, im Fall
auch mir Gefahr drohe."
„Nun“, sagte der Hauptmann freundlich zu Pura, „da du schon hier bist, kannst du
bei meinem Weibe bleiben, bis wir zurückkommen." Und er führte sie selbst nach
oben, sagend: „Verona, nimm dich dieser Schwester einige Stunden an, da ihr Mann
mit uns fortgehen muss in einer wichtigen Angelegenheit."
Dann gab der Hauptmann seinem Unterführer noch einige besondere Befehle, und
ohne Aufsehen liess dieser sich von Jonas zu dem bewussten Hause führen, wo sich
die Gefangenen befanden.
Jonas klopfte, aber niemand öffnete; er klopfte immer stärker, bis endlich
Schritte hörbar wurden, und ein Mann fragte: „Was sucht ihr hier in dieser
Morgenstunde? Ich bin allein in diesem grossen Hause."
„Öffnet! Oder ich lasse die Tür einschlagen", befahl der Unterführer streng,
„ich habe wenig Zeit!" Umständlich wurde die Tür geöffnet, doch als der Alte die
Tür wieder schliessen wollte, befahl der Römer: „Die Tür bleibt unverschlossen,
solange ich mich in diesem Hause befinde."
„Was wollet ihr hier und störet meine Ruhe?" fragte der Alte. Der Unterführer
erklärte ihm: „Höre, wir vermuten in diesem deinem Hause Leute, die als
verschwunden gemeldet sind. Es ist meine Pflicht, dich zu fragen: befinden sich
Gefangene in diesem Hause?" Der Alte leugnete. Inzwischen traten aber drei
Soldaten ein, und als er diese Soldaten sah, sprach er ängstlich: „Herr, ich
will euch gestehen: Ja, es sind Gefangene hier, aber solche, die sich an Jehova
und Seinen Dienern vergangen haben. Ich aber bin unschuldig daran, denn dieses
Haus gehört dem Tempel - und ich bin nur der Wächter."
„Dieses erleichtert unsern Dienst", sprach der Römer, „lass uns in dein Zimmer
eintreten!" Voll Furcht sprach der Alte: „Herr, jeden Augenblick können Diener
des Tempels und Priester kommen, die für die Gefangenen sorgen und ihnen ihr
Essen bringen. Nachher können die Gefangenen für eine Stunde in den Hof gehen,
und du kannst dich selbst überzeugen, dass alles in gerechter Ordnung geht, bis
das Tempel-Gericht gesprochen hat."
„Sprichst du die Wahrheit?" fragte der Unterführer streng. „Ja, Herr, so wahr
ich an den ewigen Gott glaube!" „Kannst du uns so verbergen, dass wir nicht
gesehen werden und wir doch alles übersehen? Es soll dein Schaden nicht sein!"
„Bleibet ruhig in diesem Zimmer mit mir. Ich stehe sowieso nicht zum Besten mit
den Templern und sehe ungern, so sie kommen - aber ich kann nichts dagegen tun."
Der Römer schaute sich um, er konnte in einen Hof sehen, der an einen Garten
angrenzte, aber durch einen hohen Zaun unpassierbar war. Das reine Gefängnis!
Der Tempel hat hier wahrlich nichts zu fürchten, kein Mensch siehet, was hier
vorgeht. Nach wenigen Minuten schon pochte es an der Tür. Der Alte wollte gehen,
aber der Römer hielt ihn zurück: „Die Tür ist ja offen, darum hiergeblieben!
Rufe hinaus, dass offen ist!"
Ehe der Alte hinausrufen konnte, waren die Templer schon ins Haus getreten und
gingen, ohne sich um den Alten zu kümmern, den Gang entlang, die Treppen
hinunter.
Der Römer fragte: „Hat der Keller noch einen anderen Ausgang?" „Nein, nur den
einen Eingang; das Gitter unten ist erst seit einem Jahre angebracht worden."
Ohne ein Wort zu sagen, ging der Römer aus dem Zimmer, stellte zwei Soldaten an
die Treppe und befahl ihnen: „Lasset niemanden heraus! — Jetzt rufe ich die
anderen."
Nach kurzem Pfiff kamen noch zehn Soldaten ins Haus und alle gingen in den
Keller, der mit einer kleinen Lampe nur schwach erhellt war. Ein Templer aber
bemerkte die Soldaten und rief laut: „Verrat! — Die Römer sind da!" —
Die Templer kamen ans Gitter, da rief der Römer scharf: „Öffnet — und kommet
einzeln heraus! Ich habe den Auftrag, Licht in euer dunkles Tun zu bringen."
Abia kam als erster — er wollte sich wehren, aber im Nu war er gefesselt; die
Anderen duckten sich zusammen, mussten sich aber auch ergeben. Der Römer befahl
seinen Leuten: „Hinein in den Raum, wo die Gefangenen sind!" — Und die Christen
wussten: Jetzt kommt die Befreiung!
Jonas suchte Theophil — und heiss umarmte er seinen Freund: „Theophil, ich bin
glücklich, dich wiederzusehen! Seit Tagen suchte ich dich, doch nur mit Gottes
Hilfe habe ich dich hier gefunden!" „Jonas! — Dir verdanken wir unsere
Befreiung? Dann hast du mit dem Tempel gebrochen?" —
„Ja, mein Theophil, jetzt gehöre ich zu euch — mir graut vor dem Tempel und
seinen Dienern." Inzwischen waren die Gefangenen in den Hof gegangen, und es war
ein ergreifendes Bild, als der Stadthauptmann mit Lazarus ankam und alle ihnen
danken wollten.
Der Hauptmann sprach: „Höret, liebe Leute, auf Grund eures Glaubens an den
Nazarener wurdet ihr von den Templern wie Verbrecher behandelt. Wir Römer aber
dürfen nur denen Hilfe bieten, die sich unter unsern sicheren Schutz stellen!
Ich nehme an, ihr seid damit einverstanden, mit jetziger Stunde als römische
Untertanen angenommen zu werden. Folget mir nun nach dem Stadthause, damit das
Nötige dazu für euren weiteren Schutz veranlasst werden kann. Über eure Peiniger
aber werden wir Römer Gericht halten!" Zuletzt gab er dem Unterführer noch
weitere Befehle für die gefangenen Templer — und tief aufatmend zogen die
Befreiten ab.
Verona und Pura, die sich schnell befreundet hatten, weinten bei dem traurigen
Anblick, als die ermatteten Christen, von römischen Soldaten begleitet, die
Strasse durchwankten. Sogleich wurden sie mit Brot und Wein gestärkt, und froher
wurden ihre Mienen, als Lazarus ihnen Bethanien als neue Heimat anbot.
Tränenden Auges sagte ein junges Weib: „Lazarus, du edler Freund! Zum ewigen
Schuldner machst du uns! Wir aber können nur bitten: Der Herr lohne es dir, und
Sein Segen berühre sichtbar deine Spuren!"
Sprach Lazarus: „Meine Schwester, und ihr alle; höret: Danket nicht mir, denn
ich bin nur der Sachwalter der ewigen Liebe und Güte. Alles, was ich bin und
habe, ist ja von Ihm, dem ewigen Gott, der mich als Jesus, als Menschen-Bruder
lehrte, in Seinem Geist zu leben, in Seinem Geiste zu dienen und zu helfen, und
durch Seinen Geist mich leiten zu lassen. Darum werdet auch ihr nicht lau im
Lieben, im Dienen und Helfen! Denn diese drei Dinge öffnen ja erst jedes Herz,
dass Jesus in uns einkehren kann und Seinen Willen uns kundtut, Seine Freude und
Seine Kraft! Dann tragen wir Seinen Frieden in uns und zu Allen um uns — zu
Aller Heil."
Jonas war ergriffen und sagte zu seinem Weibe: „Pura, wir sind an der rechten
Quelle angelangt!" Antwortete Pura: „Jonas, dein Gott sei auch der meine! Wir
wollen gemeinsam so handeln, wie der Herr von Bethanien uns empfahl, so wird er
auch uns in sein Haus aufnehmen."
Lazarus, der dieses Bekenntnis hörte, sagte sogleich: „Auch ihr seid willkommen
in unserem so reich gesegneten Heim, es wird auch euch Freude und Segen bringen.
In Jerusalem ist eures Bleibens nicht mehr, denn der Tempel wird euch diese eure
Handlung nie verzeihen."
Da die Befreiten nun nach Bethanien ziehen sollten, bat Lazarus um militärische
Begleitung; doch gingen alle zuerst nach seiner Herberge, um ein kräftiges
Mittagsmahl dort einzunehmen.
Heimkehr nach Bethanien
Die neu angekommenen Fremden waren am Sabbath nicht dazu gekommen, wie
beabsichtigt war, in den Tempel zu gehen, sondern hatten mit grösstem Interesse
den Erzählungen Davids und seiner Tochter zugehört, die so viel Überzeugendes
von der Liebes-Lehre Jesu berichten konnten.
Am nächsten Tage erlebten sie die Ankunft all der Elenden, die mit Theophil aus
dem Gefängnis befreit waren und in dieser Herberge so herzliche Aufnahme fanden.
Lazarus kam erst später, da er zur Mutter Maria geeilt war, um ihr von der
Befreiung Theophils zu berichten. Als Hausvater setzte er sich mit allen Anderen
an die gedeckten Tische, und zur Einleitung sangen David und Salome den Psalm
118 in freudiger Stimmung: Danket dem Herrn! — Denn Er ist freundlich, und Seine
Güte währet ewiglich! —
Alle Herzen waren beschwingt, und Lazarus sagte zu David: „Lieber Freund, ein
schöneres Lob hätte auch ich dem Herrn nicht bringen können! Waren unsere Herzen
voll Trauer um unseren Bruder Theophil, so hat der gütige Vater doch unser
volles Vertrauen auf Seine Hilfe so herrlich belohnt, dass noch zwanzig
Glaubensbrüder mit ihm aus der Gefangenschaft errettet werden konnten. Wahrlich,
Gottes Führungen haben sich wieder wunderbar offenbart vor unseren Augen!"
Nach dem Mittagsmahle sprach Lazarus den Segen und fügte noch hinzu: „Liebe
Freunde und auch ihr lieben fremden Gäste hier, wir sind nun gestärkt am Leibe
und der Seele nach und wollen jetzt unter römischem Schutz nach Bethanien
ziehen. Ich möchte, dass diese unsere Heimkehr sich recht weihevoll gestaltet,
und so frage ich dich, lieber David: willst du uns mit deiner Tochter dahin
begleiten? Deine Harfe fände auf meinem Wagen noch Platz."
Und zu den Befreiten sich wendend: „Seid ihr erst zu Hause und bei vollen
Kräften wieder, dann wird der Herr uns schon das Rechte zeigen für eure Zukunft,
denn zu euren Angehörigen könnt ihr jetzt noch nicht zurück."
„Lieber Lazarus, wir gehen so gern mit dir", wurde ihm geantwortet, „denn
Jerusalem bedeutet sicheren Tod für uns."
Nun trat Ephraim, der Leiter der Fremden, zum Lazarus und bat, ob sie auf ihrer
Rückreise auch Bethanien besuchen dürften? Lazarus aber lud sie alle freundlich
ein, doch sogleich mitzukommen, um das neue Leben im Geiste Jesu auch in der
praktischen Wirklichkeit einmal kennenzulernen; und mit Freuden wurde auch
dieses angenommen.
Lazarus fuhr mit seinem leichten Wagen voraus, um das Notwendige für all die
Ankommenden anzuordnen. Seine Schwestern kamen ihm mit Ruth entgegengeeilt. Er
rief freudig: „Der Meister hat alles herrlich geführt! Alle Trauer ist in Freude
verwandelt. Ruth, eile zu deiner Mutter, Theophil ist mit neuen Freunden schon
auf dem Wege hierher!"
Lazarus suchte nun den alten Enos und brachte ihm die frohe Kunde von der
Heimkehr seines Sohnes und der Ankunft des Jonas mit seinem Weibe. „Enos", sagte
er weiter, „diesen Jonas lege ich dir besonders ans Herz, da ihr aus der
gleichen Priester-Schulung hervorgegangen seid; du wirst ihm der beste Führer
zum Erleben unseres Meisters sein. Nun aber wollen wir beide den Ankommenden
entgegengehen. Leider konnte ich ihnen keine Wagen schicken, da wir mitten in
der Ernte stehen, aber ich hoffe, dass sie die Mühe dieser Wanderung hierher
gern hinnehmen."
Enos sagte: „Lieber Lazarus, ich vertraue fest darauf, dass der heilige Vater
all dieses Übel doch zum Besten für alle hinlenkt. Nur ist mir nicht klar, warum
Er dieses wohl zuliess? Theophil ist doch gewitzigt genug und kennt die Schliche
des Tempels."
„Lieber Enos, mit der Zeit erst wird uns dies alles offenbar werden! Doch wir
sind wieder eines Beweises reicher, dass Gott selbst das Aussichtslose zum guten
Ziele führt und Sich oft sogar dazu Seiner Gegner bedient, wenn wir Ihm nur
still und fest vertrauen und alle Sorgen Ihm zu Füssen legen."
Von weitem sahen sie schon die Ankommenden. Ruth eilte ihrem Bruder entgegen,
die grosse Freude machte sie stumm. Theophil nahm sie in seine Arme, und die
Umstehenden freuten sich mit ihnen. Inzwischen begrüssten Lazarus und Enos die
neuen Gäste, und ohne Aufenthalt ging es der neuen Heimat zu. Maria und Martha
erwarteten freudigen Herzens Theophil mit all den Anderen. Miriam blieb in ihrem
Stübchen, sie wollte ihren Sohn allein haben bei diesem Wiedersehn. Theophil
eilte zu ihr: „Hier bin ich wieder, Mutter! Es waren wohl harte Tage für uns,
aber Gott in Seiner grossen Erbarmung hat alles so wunderbar zu Ende geführt,
dass wir nur loben und danken dürfen."
„Mein Ruben! Noch einmal hat Gott dich mir geschenkt, und darum bin ich
glücklich! Schwer war diese Ungewissheit, aber es war noch schwerer, nicht zu
verzagen. Ruth kämpfte einen Riesenkampf und war doch still. Sie litt ja
doppelt, teils um dich, teils um mich. Wie mag sie mit dem Herrn gerungen haben
um deinetwillen, und wie hat sie Jesu gedankt, als jetzt die Botschaft kam, du
seiest schon auf dem Wege zu uns. Aber nun gehe zu den Anderen, ich möchte
allein sein, um meinem Heiland so recht danken zu können!"
„Mutter, ich habe den Vater wohl gesehen, aber noch nicht gesprochen. Du kommst
wohl nachher in den grossen Speisesaal. Mit mir waren noch zwanzig Christen im
Gefängnis, die jetzt in Bethanien Aufnahme finden werden; und noch andere Fremde
kommen mit, von Lazarus geladen. Es sind auch Frauen darunter, die du
wahrscheinlich in deine Pflege nehmen musst, denn in Bethanien fehlt eigentlich
eine Mutter."
„Nun gehe, mein Sohn, ich komme bald. Mein Herz braucht Stille, um unserm
geliebten Jesus für alles danken zu können." Miriam nahm ihn in ihre Arme und
sagte noch: „Mein Ruben, diese Stunde hat alles Ungemach schon wieder
ausgeglichen! Gott ist gut! Er weiss alles so zu lenken und zu leiten, dass
jedes Herz wieder froh und frei wird."
Lazarus hatte inzwischen alle in den Speisesaal geführt, wo ihnen eine Suppe
nebst Brot und Obst als ersten Imbiss gereicht wurde. Enos unterhielt sich mit
Jonas und seinem Weibe und liess sich schildern, wie er den Theophil gefunden
hatte. Die anderen hörten still zu. Als seine Erzählung beendet war, sagte der
alte Enos: „Brüder, diesem Tempel-Institut habe ich ein Leben lang angehört und
begreife heute noch nicht, dass mir nie Zweifel an solchem Gottes-Dienst kamen,
trotz allem, was um mich herum geschah. Ich lebte im beruhigten Bewusstsein,
getan zu haben, was die Berufenen Jehovas von mir forderten. Heute, wo ich an
der Schwelle der Ewigkeit stehe, wird mir erst durch Gottes Liebe, Gnade und
Erbarmung der rechte Gottes-Dienst geoffenbart. Wie habe ich gezögert, nach
Bethanien zu gehen, um ein ganz neues Leben hier kennenzulernen; ich glaube, der
Mensch muss manchmal wie mit Blindheit geschlagen sein. O wie dankbar kann ich
doch täglich dem Herrn sein, hier so viel frohe Stunden geniessen zu dürfen!"
Nun trat Theophil ein, ging zu seinem Vater und sprach: „Vater, durch die
wunderbaren Führungen der grossen und heiligen Liebe bin ich wieder
heimgekommen. Jonas diente dem Herrn als Werkzeug, und die anderen Gefangenen
hat der Herr uns noch dazu gegeben. Gestern wollten einige fast mutlos werden,
da konnte ich ihnen sagen: Ich hoffe nur noch auf den Herrn! Er allein weiss am
besten, wie weit ein Kind zum Ertragen befähigt ist. Erst wenn die Not am
höchsten gestiegen, wird' Er mit Seiner Hilfe immer da sein! Ich fühle die
Ströme von Kräften, die ausgehen von denen, die für uns beten, und dieses hält
mich aufrecht. - So sind wir nun hier und dürfen uns der Gnade und Liebe Gottes
freuen."
Sagte nun Enos: „Mein Theophil, ich war im Geiste immer an deiner Seite. So
schmerzlich es war, zu wissen, du bist von uns getrennt, so gewiss war aber auch
die Zuversicht: du kommst ja wieder! Du bist zurückgekehrt, und eine Schar
anderer Unglücklicher sind mit dir befreit und dürfen hier wieder froh werden.
Und siehe, so ward dein Leid zu einem gewaltigen Segen für viele. Wir wissen vom
Herrn, dass, wenn Sein Leben in uns pulsiert, wir wohlbehalten aus allen Nöten
herauskommen, aber nur erprobte Menschen sind wert, dieses Höchste in sich zu
erleben! Darum: ihr Alle, höret meine Worte mit dem Herzen und bewahret sie auf
bis zur Stunde auch eurer Prüfung!"
Einige fragten, ob auch genug Arbeit für sie alle vorhanden sei? Lazarus
antwortete: „Es braucht keiner zu befürchten, er falle uns zur Last; der Besitz,
den Gott mir gab, ist nicht klein. Je mehr wir darauf arbeiten und schaffen, je
mehr können wir Liebe geben. Darum seid unbesorgt, ihr alle werdet euch hier
nützlich betätigen können."
Nach dem wurden den Geretteten ihre Wohnräume angewiesen, in die sie voll Dank
einzogen. Zum Feierabend ertönte der Ruf der Glocke als Zeichen, sich nach dem
Speisesaal zu begeben, und hoch erstaunt betraten die neuen Gäste den
geschmückten Saal. Auf den Tischen, die zusammengeschoben waren wie ein Kreuz,
standen brennende Lampen. Ganz vorn am Kopf des Kreuzes war ein Altar errichtet
mit sieben brennenden Lampen. Am weitesten links stand die Harfe, als Platz für
David und Salome. Ganz rechts, vor den Plätzen für Maria und Martha, stand ein
grosser roter Kelch. Als alle sassen, gab Lazarus das Zeichen zur inneren
Einkehr, um vorbereitet zu sein für den zu empfangenden Segen.
Darnach sprach er: „Meine Freunde, Brüder und Schwestern! Wenn des Tages Mühen
und Lasten hinter uns liegen, benötigen wir eine Weile der Stille, dass der
Geist der Heilands-Liebe uns umwehe und wir spüren, verbunden zu sein mit dem
Ewigen. So wollen wir uns vorerst stärken mit dem irdischen Mahl, wozu der
heilige Vater uns alles schenkte, und bitten: ,Grosser Gott! Du unser Vater! Du
reinste erbarmende Liebe! Wir danken Dir, dass wir zu Deinen Kindern berufen
sind, und als solche nun bitten dürfen: Segne uns dieses Mahl! Sei im Geiste
Deiner All-Liebe unter uns und stärke unsere Herzen, damit wir Dich in unserer
Mitte erkennen und empfinden! Amen'."
Nach dem Mahl nahm David seine Harfe und spielte leise Akkorde; alles, was sein
Herz bewegte, legte er in diese Melodien, und als die Tische abgeräumt, sang
Salome einen Psalm. Leise verklangen die Töne — alle Herzen waren still geworden
— da sagte Lazarus zu Theophil: „Bruder, nun gib du uns Kunde von dem, was sich
in deinem Innenleben — als Dank zum Vater, gestaltet."
Theophil trat an den Altar, betete still und begann: „Liebe Freunde!
Heilig-ernst ist die Stille dieser Stunde, wo die erbarmende Vater-Liebe in
unserm Herzen fühlbar wird. Ja, durch Seine Gnadenhand sind wir so reich
gesegnet, dass es uns erschauern macht! Gestern noch, wie schwer waren unsere
Leiden, wie innig haben wir zu Gott gerufen, wie haben wir gefleht: O komm und
steh uns bei! Und heute — stehet uns der Himmel offen, denn Gott hat geholfen!
Wir dürfen wieder frei und freudig bei euch leben und uns tiefer noch
hineinversenken in Seine heilige Erlöser-Liebe. Mag auch das Leben oft wie ein
harter Kampf erscheinen, mag es voll Leid in dieser Zeit für den einzelnen sein
- wer aber sich auf den Wegen befindet, wo man Gott begegnet, wird alles Schwere
leichter überwinden. O du Heiliges Leben mit Gott! Du schenkst uns Freuden ohne
Zahl! Wie traurig, dass auf deinen Wegen nicht alle wandeln wollen!
Meine Brüder! Ich habe den Herrn gesehen in Seinem grössten Liebe-Opfer, das Er
brachte, um die Menschen zu befähigen zum herrlichen Leben mit Ihm! In Seinen
Augen — erlebte ich dieses Wunder! Mein kaltes, hochmütiges Herz ward
erschüttert vor der Grösse Seiner Liebe, die selbst den Peiniger noch schützen
wollte. Mein stolzes, selbstbewusstes Sein zerbrach in Trümmer. Doch: immer neue
Wunder wurden mir noch offenbar, und so bin ich zum freudigen Bekenner für
Jesus, der alle Menschen so lieb hat, geworden, der uns zu so fröhlichen
Arbeitern für Sein Reich machen will.
Als ich vor einigen Tagen das Opfer finsteren Hasses wurde, wusste ich noch
nicht, dass auch dieses eine göttliche Führung sei. Aber auch diese verblendeten
Templer konnten nicht ahnen, dass sie trotz ihres Hasses ein Werkzeug Gottes
sein sollten. Denn nie wäre meine Seele wohl in die Lage gekommen, all das
Wunderbare im Geiste zu erleben, das ich erlebte, als ich besinnungslos im
dumpfen Keller lag. Ich durfte schauen, wie Gott in Seiner ewig grossen Liebe
nur Wonnen und Seligkeiten für Seine Leid-Geprüften, aber Ihm Getreuen, in
Bereitschaft hält.
Auch ihr, liebe fremde Gäste, die ihr heute hier weilet, entscheidet euch für
das wahre Leben mit Gott! Gott kann uns dieses heilig-neue Geistesleben nicht
schenken, sondern wir müssen erkennen, dass dieses Leben unseres Geistes nur im
lebendigen Glauben und Vertrauen zu Ihm und im freien, aufopfernden Tun seines
Liebe-Willens an allen Hilfe-Bedürftigen in uns erwachen und Raum zum Wachstum
gewinnen kann. Nimmst du der Gottheit Leben in dich auf, das dich umgibt rings
wie der Sonne strahlend Licht, dann erst kannst du auch Anderen etwas von diesem
heilig-neuen Leben offenbaren! Darum, o Vater, lass mich Dir danken, dass mein
Mund bekennen durfte, was Du so reich mir offenbar gemacht hast! Lass Frucht es
bringen, Dir zur Ehre, uns allen aber zum wahren Segen! Amen."
Lazarus erhob sich, seine Augen strahlten, und so sagte er: „Meine lieben Brüder
und Schwestern! Zur Erinnerung an diesen reichen Gnaden-Tag für uns alle wollen
wir uns noch fester untereinander verbinden im Geiste wahrer Jesus-Liebe. In
diesem neuen Leben umschliessen uns von nun an himmlische Bande. Und ihr, die
ihr wieder von Bethanien ziehet, sollet eine Erinnerung mitnehmen an diese
weihevoll durchlebten Stunden. Des Heiligen Vaters Lockruf ertönt jetzt an euch
und ladet euch ein zu unserm Liebes-Mahl!
Mutter Miriam und Vater Enos, ich bitte euch, reichet uns in dieser Abendstunde
an meiner Statt den Wein und das Brot zum treuen Gedenken an unseren Meister
Jesus, der im Geiste Seine segnenden Hände über uns alle hält.
Er ruft uns zu: ,Bleibet in Mir, damit Ich in euch verbleiben kann! Was
vergangen ist, nehme Ich unter die Obhut Meiner erlösenden Liebe; was aber vor
euch liegt, lege Ich vertrauensvoll in die Obhut eurer Liebe. Was einst Mein war
- Ich gebe es euch; gebt ihr Mir — was euch gehört (das Geschenk eures freien
Willens!) ! Dies sei Meine Bitte an euch! So ihr dieses könnt, trennen wir uns
nie mehr, denn für Meiner Kinder neues Leben legte Ich Mein Leben in die
Opferschale. Geniesset nun mit Mir verbunden Mein Liebes-Mahl, es soll unserer
Herzen Bund erneuern'."
Lazarus hob segnend die Hände nach dem Kelch und dem Brote, dann nahm Enos den
Wein und Miriam das Brot, und Ruth folgte mit dem gefüllten Kruge.
Heilige Stille erfüllte den grossen Raum. — Alle Herzen waren erwartungsvoll
geöffnet für den Segen von Oben — David nahm seine Harfe, und leise ertönten
ganz zarte, reine Klänge, die diese weihevolle Stille so himmlisch erhoben, dass
in aller Herzen diese Verbindung mit der Herrlichkeit des Jesu-Geistes empfunden
ward.
Als dieses Liebes-Mahl beendet war, sprach Lazarus: Meine Freunde, es ist genug
des Erlebten in der Gemeinschaft; lasset uns mit diesem heiligen Empfinden in
aller Stille zur Ruhe gehen, damit jede Seele mit ihrem Gott und Vater noch
vereint bleibe. Ruhet im Bewusstsein, dass Gott Selbst über uns allen wacht. Und
der Friede Gottes sei euer aller Teil! — Amen."
Voll Dank im Herzen gingen sie still auseinander, nur Jonas ging mit seiner Pura
zum Enos, sagend: „In mir ist alles noch zu bewegt, ich muss zur vollen inneren
Klarheit kommen, hilf mir dabei!"
„Lieber Jonas", sagte Enos, „wir bleiben ja vorläufig noch lange hier zusammen.
Alles muss erst wachsen, bis es in dir gefestigt ist, und du eine neue Aufgabe
übernehmen kannst. Doch das eine Wort schenke ich euch beiden zu dieser Stunde,
das mir so viel Klarheit und Segen schon brachte: Jesus, der All-Erbarmer, ist
Rettung — Erlösung — und wahrer Frieden!" (Siehe Heft 9.)
Theophil suchte Ruth auf, denn er hatte noch kein Wort allein mit ihr sprechen
können. „Meine Ruth", sagte er, als er sie in seine Arme einschloss, „dieses
letzte Erlebnis war wieder ein grosser Glaubenskampf für mich; aber ich wusste:
auch du betest für mich - und deine Liebe gab mir Kraft zum Ausharren. Nun sind
wir wieder vereint, bis wir nach dem Willen des Herrn vor neue Aufgaben gestellt
werden. Ich bin innerlich als ein Anderer zurückgekommen und will versuchen, in
grösserem Masse Jesum meinen Dank darzubringen. Kein Schmerz darf uns je von Ihm
trennen, denn wir gehören Ihm an für immer!"
Ruth sprach: „Ruben, ich weiss, du musstest diese Feuerprobe noch bestehen. Der
Herr hat Grösseres für dich bestimmt! Und so will ich stille sein und warten,
bis auch mich der Herr ruft zu neuen Aufgaben. Doch gehen wir noch einige
Minuten zu den Eltern." Als sie bei ihnen eintraten, wollten sich Jonas und Pura
verabschieden, doch Theophil sagte: „Bruder Jonas, nun sind wir daheim und
wohlgeborgen, bis nach Bethanien reicht der Arm des Tempels nicht!"
„O Ruben, ich kann dir bekennen, seit heute lebe ich erst bewusst. O der grossen
Torheit unseres früheren Lebens! Ich glaube an Jesum, den Gekreuzigten, der als
der Auferstandene auch mir weiterhelfen wird in meiner schwierigen Lage." —
Damit ging er.
Die Geschwister erlebten noch eine Weihestunde mit den Eltern, dann sagte
Theophil: „Vater und Mutter, nun werde ich nicht mehr lange in Bethanien
bleiben. Des Herrn Liebe und Güte verpflichtet mich zu eifriger Arbeit für Ihn
und für meine Mitmenschen. Ich fühle das Drängen des Geistes in mir, ich muss
ein erhöhtes Tätigkeitsfeld haben, und Lazarus hat es mir eigentlich schon
angeboten. Nach dem, was hinter mir liegt, gehöre ich nun ganz dem Herrn."
Sprach Enos: „Mein Sohn, wenn Gott dich braucht, dann sind wir gern damit
einverstanden, denn Seine Führungen kennen wir - sie sind stets über Bitten und
Verstehen hinausgeführt! Nun aber wollen wir ruhen in Seinem Segen. Amen."
Besichtigung der
grossen Anlagen in Bethanien
Als am nächsten Morgen die Glocke zum Frühmahl ertönte, sammelten sich die neuen
Gäste im Speisesaal. Die Bewohner aber waren schon von früh an bei der Ernte und
wurden erst am Abend zu einer gemeinsamen Andacht erwartet. David sang mit
seiner Tochter einen Morgenpsalm und schuf damit die rechte Weihe für die
Morgen-Andacht. Lazarus gedachte in wenigen Worten all derer, die da ringen und
flehen um Hilfe und Kraft; gedachte derer, die da gefangen und von ihren Lieben
getrennt sind und Zufluss von Kraft brauchen. Er gedachte aber auch der vielen
Feinde, denen er Einsicht in die erbarmende Liebe Gottes wünschte und segnete
dann alle Anwesenden und das Frühmahl.
Nach Beendigung des Mahles sagte Lazarus zu den Gästen: „Heute überlasse ich
euch alle den Führungen des Bruders Enos mit Theophil, um unser Bethanien näher
kennenzulernen. Und euch Freunde, die ihr in eure Heimat ziehen wollt, bitte
ich, bleibet heute noch hier, damit euch der Geist von Bethanien vertrauter
werde! Ein solcher Tag bringt mancherlei Erkenntnisse zu neuem Schaffen, und so
betrachtet meine Bitte als einen Gottes-Ruf. Ich aber fahre mit dem Bruder
Jonas, eurem Befreier, nach Jerusalem, um seine Sachen dort zu ordnen, denn so
lange dieser Ort eine Feste des Feindes aller Wahrheit ist, muss jede Stunde
dort genützt werden."
Mit zwei Wagen fuhren Lazarus und Jonas zum Stadthauptmann in Jerusalem und
erbaten sich Schutz und Beistand der Templer wegen. Der römische Hauptmann
überreichte dem Jonas die Urkunde als Kaiserlicher Untertan, dann ging er selbst
mit Jonas und militärischer Begleitung nach dessen Behausung, da ihm vielleicht
doch noch Schwierigkeiten bevorständen. Und wirklich hatten sich schon einige
Priester zur Räumung des reichen Hauses eingefunden. Jonas aber fragte
energisch: „Was habt ihr hier in meinem Eigentum zu suchen?"
Wären die Römer nicht mitgekommen, wäre es Jonas wohl übel ergangen, so aber
liess der Hauptmann die Priester festnehmen, weil sie ohne Erlaubnis in das
Eigentum eines römischen Untertans eingedrungen waren.
Nur das Nötigste liess Jonas auf die Wagen laden und mit der Magd nach Bethanien
schaffen. Mit vier Soldaten, die persisches Gold, Silber und wertvolle
Gegenstände trugen, begaben sich der Hauptmann und Jonas in den Tempel, um beim
Hohen Rat damit die Entbindung von seinem Eid zu veranlassen.
Schneller als geahnt ging dieses vonstatten, und so war Jonas in zwei Stunden
ein freier Mann. Lazarus war freudig erstaunt, als beide sich in der Herberge
Bethania einfanden, wo Jonas sein Haus dem Hauptmann übergab zur Benutzung im
Sinne wahrer Nächstenliebe. Lazarus und der Pächter unterschrieben die
Schenkungsurkunde. So wurde mit dem Hauptmann ein Bund geschlossen — und das
Weib des Hauptmanns wirkte segensvoll, nach dem Masse ihrer tätigen Liebe, in
dem Hause des Jonas noch viele Jahre.
Als die Sonne sich neigte, fuhren die Wagen in Bethanien ein; die Soldaten
wurden erfrischt und traten den Rückmarsch an. Von den Gästen war niemand zu
sehen, weil Enos und sein Sohn sie in den weitverzweigten Plantagen und Anlagen
herumführten. Die Fremden waren erstaunt über die grosse Ordnung und wie alles
so wohl organisiert war; darauf sagte Enos: „Freunde, wäre nicht alles weise
geordnet, und würde nicht streng diese Ordnung eingehalten, hörten wir auf, eine
lebendige Gemeinschaft zu sein. Ein jeder hat sich demzufolge in diese Ordnung
so einzufügen, dass von selbst jeder Tadel unnötig wird!"
Ephraim, der Vorsteher der Fremden, aber entgegnete:. „Bruder Enos, ich sehe
dies alles mit grossem Interesse, aber die Menschen sind doch so verschieden im
Charakter. Kommt es nicht vor, dass einige sich nicht einordnen können?"
„Gewiss", antwortete Enos, „auch das kommt vor, aber Lazarus, der sich nicht als
Besitzer, sondern nur als Verwalter ansieht, macht es allen sehr klar, dass eine
so grosse Familie wie hier nur durch Ordnung in dem rechten Zusammenhalt bleiben
kann. Jeder muss sich der Ordnung einfügen, dann ist halbe Arbeit — und
doppelter Segen. Die meisten ordnen sich auch bald willig und gern ein, die
anderen aber müssen weiterziehen; letzteres ist aber nur selten vorgekommen.
Wohl gibt es keinen Lohn hier, aber sorgenfrei gestaltet sich das Leben aller. —
Sorgen hat nur Lazarus, und er überwindet diese durch sein festes Vertrauen zum
Herrn. — Was ihr heute gesehen habt, ist nur ein kleiner Teil, noch viel Land
und grosse Herden Vieh gehören zu Bethanien."
Ephraim fragte erstaunt: „Aber wie kann Lazarus sich um dieses alles kümmern?"
Und Enos antwortete: „Siehe Bruder, eben weil alles seinen geordneten Gang geht.
Hier ist keiner Herr und keiner Knecht, ein jeder ist Mit-Verwalter und trägt
sein Verantwortungsgefühl in sich. Ich sage dir, dass sich Lazarus um jeden
einzelnen bekümmert und es sich sehr angelegen sein lässt, dass derselbe nicht
nur dem Leibe, sondern auch der Seele nach völlig befriedigt ist. Was im Rahmen
der Liebe möglich ist, wird hier getan, und dieses beruht auf Gegenseitigkeit."
„Bruder", sprach Ephraim, „du gibst mir hiermit ein ganz neues, grosses Wissen.
Also so — sieht die Lehre des Heilandes Jesu in der praktischen Ausführung aus!
O wie weit zurück stehen wir noch in unserer Gemeinde! Wieviel Mühe macht es
mir, nur das Vertrauen meiner Leute zu erringen, damit wenigstens Offenheit
herrscht. Weisst du, Bruder Enos, dieser Tag heute gibt mir mehr Anregung als
alle Predigten und Gesänge. Von Kindheit an hören wir nur immer, was wir tun
sollen, oder was das Gesetz verbietet. Hier aber sehe ich ein ganz natürliches
Leben miteinander, das mit Liebe noch zu gering bezeichnet ist. Nun möchte ich
noch wissen: wo sind denn eure Alten, denn die Leute bleiben doch nicht immer
arbeitsfähig?"
Sprach Enos: „So komm, jetzt will ich euch das Schönste von ganz Bethanien
zeigen!" Sie kamen an einen grossen, freien Platz, wo viele Kinder lustig
spielten. Diese kamen ihnen plötzlich entgegengerannt und begrüssten die Gäste,
vor allem den Vater Enos. „Dieses ist unser Kinderheim", erklärte er, „hier ist
Sonne und Freude und neues Leben! — Es sind auch viele Waisen hier, aber Vater
und Mutter entbehren sie nicht, weil der fürsorgende Geist hier auch für diese
in rechter Liebe sorgt."
Es wurden die Räumlichkeiten besichtigt, dann ging Enos nach rechts hinüber, wo
inmitten hoher Bäume ein ebenerdiges Haus sichtbar wurde. Im Schatten sassen
alte Väter und Mütter auf bequemen Ruhebänken, liebevoll betreut von jungen
Mädchen. „Kommet und begrüsset unsere Alten und die vom Alter Gebeugten und
fraget selbst nach ihrem Befinden und ihren Wünschen!" Über diesen Besuch waren
die Alten sichtbar erfreut, und Ephraim war tief ergriffen von der Art, wie
Lazarus auch für diese besorgt war.
Enos aber erklärte ihm: „Hier erlebe ich meine schönen Weihestunden! Sie alle
haben das Weltliche überwunden und kennen nur noch die eine Sehnsucht: zu
erleben, dass der Herr auch bei ihnen Sein Wort einlösen möchte: ,Siehe — Ich
komme bald!' („Ja, komme bald, und hole uns ab in Dein Reich des Lichtes!
Amen.)“
„Nun kommt weiter, ich will euch noch die Stätte zeigen, wo unsere teuren Toten
der Erde übergeben werden." Ergriffen standen sie an dem grossen Torbogen, der
die Inschrift trug: „Ich lebe — und ihr sollet auch leben! — Jesus."
Eine kleine Gruppe geschmückter Gräber wurde sichtbar, und ein Kreuz mit dem
einfachen Namen bekundete, wessen Hülle hier begraben lag. — Ephraim sagte
erstaunt: „Bruder Enos, dieses ist aber doch ganz gegen unsere Art, noch Gräber
zu schmücken! Dies tun ja die Heiden."
„Bruder, dieses tut nur die Liebe!" entgegnete Enos. „Wir fragen nicht, wer tut
dies ausser uns noch? Sondern es ist uns Bedürfnis, auch diese Stätte weihevoll
zu gestalten. Ist es doch erhebend, zu wissen, dass auch jenes Fleckchen Erde
geheiligt ist, wo unser vergängliches Haus der Mutter Erde wieder übereignet
wird. Es ist eine Weihestunde und segensvoll für alle, die ihnen diesen letzten
Liebesdienst hier erweisen. Auch mir gibt es Kraft, so ich, wenn nötig, den
Segen sprechen darf, wenn Lazarus Tage und Wochen von Bethanien abwesend ist."
Ephraim entschuldigte sich: „Bruder, sei nicht ungehalten, so ich meine Meinung
äusserte, die nicht mit euch geht. Ich sehe wohl ein, Bethanien hat sich die
Gnade Gottes errungen und ist Vorbild für alle Gemeinden. Aber sage mir, wo
nimmt Lazarus die Mittel her? Ohne Geld ist dieses alles doch nicht
auszuführen!"
Und Enos erzählte: „Es werden viele Tiere, Früchte und Öl verkauft, teils gegen
Austausch von Gütern, die wir kaufen müssten, oder gegen Geld. Lazarus liefert
nach Persien und Damaskus; Handelskarawanen kehren gern bei uns ein und bringen
oder erhalten Waren gegen den gerechten Preis ohne jedes Schachern und Handeln.
Dazu freilich hat Lazarus bestimmte Leute, die des Handelns kundig sind und
genügend Kenntnisse der Waren besitzen."
Dann gingen sie langsam zurück zum Herrenhaus, und als sie Lazarus trafen,
ergriff Ephraim seine Hand und sagte voll Bewunderung: „Lieber Freund, du
grosser Menschenbruder! Ich danke dir für die Liebe, die mich an diesem Tage
dein Bethanien erleben liess! Jerusalem ist für uns verblasst! Alles Gehörte vom
Tempel gehört schon der Vergangenheit. Bleiben soll in Zukunft nur das Erlebte
hier in Bethanien! Wir werden morgen weiterziehen, übergenug haben wir gesehen
und noch mehr erfahren! Es wäre nur noch zu wünschen, dass es auch bald bei uns
sich so gestalte!"
„Bruder", erwiderte Lazarus, „so ihr den rechten Willen in euch erweckt, wird
auch die Erfüllung kommen! Freilich, von heute zu morgen nicht, weil Geduld,
Weisheit und wieder Geduld dazu vonnöten sind.
Mit dem Herbergswirt und David habe ich schon gesprochen und kenne zur Genüge
eure Nöte. So kann ich euch den besten Trost und die gute Hoffnung geben: dass
der Heiland und Meister Jesus euren Wünschen entgegenkommen will und für eure
Kranken gesorgt wird. Sobald wie möglich senden wir euch einen Jünger des Herrn,
dass er euch des weiteren unterrichtet und nach der Gnade des Herrn auch euren
Kranken helfen wird."
„Bruder, dürfen wir auf diese Gnade noch hoffen? Denn der Herr Selbst heilte
einst unsere Kranken und beseitigte alle Nöte, aber es ging uns wohl zu gut,
darum haben wir die hohe Glaubens-Stufe verlassen, auf die uns der Heiland Jesus
stellte, und heute haben wir mehr Kranke denn je und grosse Schwierigkeiten mit
den Priestern."
Sprach Lazarus: „Gewiss dürft ihr auf Seine Gnade hoffen, denn der Herr handelt
nicht wie Menschen, die gleiches mit gleichem vergelten, sondern Er sucht die
Ihm abwendig Gewordenen wieder zurückzuholen, damit das Glück und der Segen von
Ihm wachsen, und Sein ewiges Reich sich verwurzele in Seinen werdenden Kindern.
Wenn du in der Folge mit klarer Erkenntnis alle Erlebnisse hier beschaust, so
wirst du inne werden, wie weise ihr doch alle geführt worden seid. Aber der Herr
verlangt auch klare Entscheidung! Und nur dort, wo entschieden für Seine grosse
Heils-Wahrheit eingetreten wird, da sind Sein Segen und Sein heiliger Friede
euer Anteil. Wir allein sind nichts, aber mit Ihm ein gewaltiger Faktor, mit dem
die Welt und alle Gegner Seines Lichtes rechnen müssen! Daher rate ich dir und
allen, entscheidet euch: für Ihn — oder gegen Ihn! — Ein Mittelding gibt es
nicht. Mit Ihm — Lebens-Erfüllung, ohne Ihn — langsamer, aber sicherer
Untergang!"
„Bruder Lazarus, ich danke dir für deine gutgemeinten Worte. Es wird mein
ernstes Bestreben sein, mit Ihm zu leben! Wenn ich nur erst Gewissheit hätte,
dass der Herr uns unsere Lauheit verzeiht, denn ich fühle schmerzlich mich
mitschuldig daran."
Lazarus legte seine beiden Hände auf die Schultern des Ephraim und sprach:
„Bruder, in Seinem heiligen Namen sage ich dir: Freue dich! Wer so wie du seine
Fehler erkennt und bekennt und hofft auf die Gnade des Herrn, dem wird volle
Vergebung werden! Es werden dir Mittel genug in die Hand gegeben, um wieder
gutzumachen! So aber der Herr dir Hilfe spendend nahe ist, meinst du, dass Er
dir dann noch grollen könnte? O nein! Mit Wohlgefallen wird Er das Werk deiner
Hände und deiner Liebe überschauen! Solange dich noch Schuld drückt, solange
bist du gehemmt. Hast du aber den festen Glauben: ,mein Heiland und Erbarmer,
mein Jesus als Erlöser hat das, was ich nicht vermochte, für mich wieder ins
Reine gebracht', dann geht dir alles Schaffen leicht und wie spielend
vonstatten, und du suchst gerne nach neuen, grösseren Aufgaben, die im Wesen und
im Geiste der Jesus-Liebe liegen." —
„Siehe dort unsern Freund Jonas, mit dem Enos sich unterhält!. Dieser war
gestern noch ein Templer, heute schon ist er frei davon und einer, auf dessen
Wirken der Herr bestimmt noch rechnet. Meinst du, dass er sich zu solchen
Aufgaben aufschwingen könnte, so er vergangene Fehler immer wieder in die
Gegenwart zieht? Siehe, wenn der Herr etwas Verkehrtes von uns geordnet hat, so
haben wir nur die Pflicht: dankend, freudig und eifrig die Aufgaben der
Gegenwart bewusst zu erfüllen. Wolle nichts aus dir selbst, wolle alles aus der
helfenden Liebe zum Nächsten, dann wirkst du in der göttlichen Ordnung, und
deine Brüder werden auch dich in Ordnung finden! Den Feinden und Widersachern
aber kannst du es sowieso nie recht machen. Was du erlebst als höhere Führung,
als besondere Gnade, sei dir der Freispruch unseres heiligen Vaters! Was nun
aber noch vor dir liegt als heilige Aufgabe, bestätige dir das Vertrauen, das
dir der ewige Gott entgegenbringt. Mache dich dieser Aufgaben und Seines
Vertrauens würdig: wertvolle Menschenseelen vor grossen Irrtümern zu bewahren!
Erkenne dieses als deine besondere Arbeit! — Der Herr stärke dich dazu mit
doppelter Liebe-Kraft! Amen."
Rechtfertigung der
göttlichen Führungen
Inzwischen versammelten sich die Gäste im grossen Speisesaal, wo allen eine
grosse Überraschung zuteil ward, indem die Mutter Maria, Johannes und Jakobus
zur Tür herein kamen. Die Freude, Theophil sei mit vielen Gefangenen gerettet
worden, hatte sie nach Bethanien gezogen.
Lazarus betete in seinem Herzen: „Ich danke Dir, Vater, dass du auch unsere
stillsten Wünsche so herrlich erfüllst." Alle umringten freudig die
Angekommenen, dann setzten sie sich um die gedeckten Tische, und Lazarus bat
Johannes um den Segen zum Mahle.
Feierliche Ruhe war dieser Bitte gefolgt, da auch die Gäste wussten, dies ist
der Apostel, den der Herr am liebsten hatte — und aller Augen waren auf ihn
gerichtet.
Johannes stand auf, er hob die Hände und sagte: „Lieber Vater! Durch Deine Gnade
sind wir hier an diesem Dir so lieben Ort, und aller Augen sind auf Dich
gerichtet, der Du in Deiner Liebe uns wieder so überreichlich gesegnet hast mit
Freuden der Seele. Es würde uns das Beste fehlen, wenn Du nicht in unserer Mitte
wärest! Darum bitten wir Dich, sei Du im Geiste Deiner heiligen Wesenheit unter
uns und erfülle ein jedes Herz mit dem Bewusstsein, dass Du bei ihm, um es und
in ihm bist! Unser aller Dank gehört nur Dir und ebenso unsere schwache und noch
kleine Liebe. Segne auch Speise und Trank, dass unsere Herzen sich weiten und
immer lebendiger werden zu aller Menschen Heil und Segen. Amen."
Darnach nahm David seine Harfe, und weich erklangen die zarten Töne. Doch als
seine Seele sich befreiter fühlte, spielte und sang er nach Herzenslust, während
die Anderen sich am Mahl erquickten.
Als es dunkel wurde, lud Lazarus die Gäste ein, nach der erleuchteten Anhöhe zu
gehen, wo die Einwohner von Bethanien schon mit Sehnsucht auf diese Abendfeier
warteten.
In Theophil war eine grosse Freude und Dankbarkeit erwacht, dass er mit all den
Freunden wieder zusammen sein durfte, und liebevoll sorgte er für ihre bequemen
Plätze.
David spielte inzwischen und sang dann mit Salome in grosser Innigkeit den
Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln! Er weidet mich auf
grünen Auen und führet mich an frische Wasser! Er erquicket meine Seele mit
Seinem ewigen Wort und führet mich auf Seinen Wegen hin zu Seiner Wahrheit und
zur Erkenntnis all Seines weisen Liebe-Tuns!" — Noch einmal jubelte die Harfe —
dann aber verklangen leise die Schwingungen.
Lazarus hatte noch nie so schön und innig den Psalm, der doch so viel und oft
gesungen wurde, gehört, und dankbar nickte er David und Salome zu.
Dann trat Johannes an den kleinen Altar, auf dem sieben Leuchter brannten, und
begann: „Ihr lieben Brüder und Schwestern! Im Namen der ewigen Liebe grüsse ich
euch und übermittle euch die Gnade und den Frieden des Herrn! Tiefe Freude
bewegt mich in dieser weihevollen Abendstunde, da ich euch des Herrn lebendig
machendes Wort bringen darf. Da wir erst kürzlich mancherlei harte Prüfungen
siegreich überstanden haben, will der Meister des wahren Lebens uns heute auf
den Zweck der vielerlei Führungen Seiner Gnaden-Wege bei jedem Einzelnen unter
uns hinweisen.
Sein Geist in mir drängt mich, vor euch all die Massnahmen zu rechtfertigen, die
nötig waren, uns zu Seinen Kindern zu erziehen und zu treuen Zeugen Seiner
Vaterliebe zu allen Menschen, so dass wir alle wieder Einkehr halten konnten in
diesem Hause, in dem der Herr als Mensch so gern geweilt — und noch weilen kann
— im Geiste Seiner unvergänglichen Liebe!
Und so höret diese Seine Kunde — als Offenbarung aus fernen Zeiten: Auf euer
eigenes Bitten seid ihr als Mensch auf diese Erde gekommen. Ihr wolltet nicht
fehlen, wenn der ewig wahre Herr und Gott als Menschensohn der Schlange den Kopf
zertritt und wolltet den Jubel miterleben, der aus allen Himmeln und Welten als
Echo zurückkommt, wenn der Gottessohn — Sein ,Es ist vollbracht!' ausruft! Dann
wolltet ihr in den Reihen derer stehen, die als wahre Erben Seiner
unermesslichen Geistes-Schätze nur das eine Wollen kennen: ebenso zu leben, zu
tun und zu handeln wie Der, dem sie dieses reiche Erbe verdanken.
Ihr hattet als Menschen dieser Erde alles dieses vergessen und lebtet hier ganz
nach euren eigenen kleinen irdischen Begriffen und Gelüsten.
Gott aber vergisst nichts, und Seine stets wachende Liebe über euch ordnete eure
Wege so, dass ihr in Not und Drangsal geraten musstet und euch besinnen solltet
auf Seine allein helfende Erbarmung.
Sehet, nun ist es der weisen Liebe des Herrn geglückt, dass ihr, wie von selber,
die Hände bittend zu Ihm erhebt und aus eurem Herzen die Bitte aufsteigen
lasset: ,Herr, verlasse nur Du uns nicht, denn ohne Dich fühlen wir uns ganz
verlassen!' Sehet ihr aber erst ein, wie wenig ihr von Ihm verlassen waret, dann
wird ein Danken erwachen, das euch wieder zu rechten Kindern macht!
So erleben wir diese heilige Stunde, wo aller Glanz der Himmel verblasst gegen
die Schönheit, die eure nun wieder neu erwachte Liebe zum Herrn offenbart. Und
in allen Himmeln sind die Seligen erfüllt von Freude, da eurer jungen Liebe
Strahlungen bis dorthin reichen. Alles aber — danken wir dem Herrn, der in
diesem Augenblick an meiner Seite euch so sichtbar sein wird, wie eure
Herzensliebe Ihn euch vorstellt, und der durch mich euch sagen lässt: ,Siehe,
Ich bin bei euch alle Tage, und keine Stunde vergeht, wo Ich nicht hoffend mit
euch gehe und warte — und sogar des Nachts euren Schlaf überwache!
Kindlein, es ist schwer für ein liebend Vaterherz, die Seinen in der Höhle des
Drachen zu wissen! Wohl ist dem Feind alles Lebens und Lichtes seine Macht und
Kraft gebrochen, und es wäre Meinen wahren Kindern ein Leichtes, ihm jede Zufuhr
von Leben abzuschneiden. So aber nähret ihr selbst, teils in Unwissenheit, teils
in Lauheit und Trägheit Meinen Widersacher und gebet ihm die Rechte, die nur Mir
gehören.
Aber aus Meinem bitteren Kampf mit ihm und aus Meinen Wunden empfanget ihr den
Geist, der euch zu fröhlichen Kämpfern macht. Ich löse Mein Versprechen ein —
und bin da, wenn Mein Kind Mich ruft! — aber seid auch ihr euch bewusst, dass
auch ihr an euer Versprechen gebunden seid, so euch Mein Segen, Meine Kraft und
Hilfe zuteil werden soll?
So gross der Jubel ist in Meinem ewigen Reiche über das Glück Meiner Kindlein —
noch grösser ist die Trauer, so sie Mich, ihren Vater voller Liebe und
Erbarmung, vergessen.
Haltet euch an Meine euch erwiesene Liebe! Mein Wort sei euch Wegweiser und
Führer, und Mein heiliges Leben in euch sei euer Lohn zeitlich und ewiglich.
Amen!"
Nach einer Pause erst sprach Johannes weiter: „Ihr, Ephraim und Lydia: werdet zu
rechten Führern der Eurigen! Was ihr erbittet für sie, in Meinem Namen, sei
gewährt. Aber ziehet an das Kleid der Demut, damit Ich euch Meine Liebe und
Gnade und Meinen Frieden noch klarer offenbaren kann. Ich bin bei euch an allen
Tagen! So ziehet denn eure Strasse, doch Meinen Frieden lasset euch nie mehr
rauben!"
„Ihr aber, die ihr hier bleibt, die ihr an dem Tische euer Brot esset, den Ich
besonders segnete, vergesset nicht, dass, wo jemand in Mir bleibet — Ich auch
verbleiben kann in ihm.
Heilig sei euch Mein Leben, das in euch nun erstanden ist! Hütet es als wahres
eigenes Heiligtum, dann kann euch kein Feind mehr schädigen. Denn wo Ich zur
Herrschaft gelange, wächst Friede, Freude und himmlisches Zusammenleben. Mein
Segen sei mit euch allen! Mein Frieden werde euer Friede, und Meine Liebe
zeitige die Liebe zu euren Brüdern. Amen! — Amen!"
„Amen!" dankten die mächtig ergriffenen Zuhörer — und leise, dann immer stärker
rauschten die Harfentöne durch alle Herzen, bis zum Lob-Gesang des von Seligkeit
ergriffenen David ausklingend:
„Halleluja — Amen! Amen! — Halleluja! —
Lobet den Herrn in Seinem Heiligtum! Lobet Ihn — in der Feste Seiner Macht!
Lobet Ihn — in Seinen Taten! — Lobet Ihn — in Seiner grossen Herrlichkeit!
Lobet Ihn aus vollem Herzen! — Lobet Ihn mit Psalmen und mit Harfe!
Lobet Ihn in eurer ganzen Liebe! — Lobet Ihn bei Tag — und auch bei Nacht! —
Alles, was Odem hat — lobe den Herrn! —
Halleluja! — Halleluja! —
Amen! — Amen! — Amen!"
Und lang nachhallend verklangen die Saiten. — —
Als alles schwieg — sagte Lazarus: „Meine Brüder und Schwestern! Des Herrn Liebe
ist uns in dieser Stunde wieder so herrlich offenbart. Glaubet nun diesen
heiligen Worten, die der Herr durch den Mund Seines Jüngers euch gab! Sie seien
euch Beweis: Der Herr hat euch lieb, und nichts mehr stehet zwischen Ihm und
euch! Und was Sein Mund nicht zu euch aussprechen konnte, dürfet ihr jederzeit
in Seinen Augen lesen.
Ziehet nun im Frieden heimwärts, getragen von dem Bewusstsein: Der Herr hat uns
wahrhaft Wunder erleben lassen! Dann wird es weiter in euch klingen ,Der Herr
hat auch uns lieb!'
Und nun, Vater Enos, spende uns allen noch den Segen." Enos erhob sich, seine
Augen strahlten wie überirdisch, er hob seine Hände gen Himmel und betete:
„Heiliger Gott und treuester Vater! Im Bewusstsein Deiner uns so selig machenden
Liebe danken wir Dir für den neuen Beweis Deiner grossen Güte und
Barmherzigkeit. Alles, was auf unserer Seele noch lastete als Angst und Sorge
oder Hilflosigkeit, hast Du uns abgenommen und hast unseren Glauben aufs neue
gestärkt. Darum bitte ich Dich: stärke uns auch weiterhin! Ja, durchdringe mich
mit Deinen Lebens-Kräften, damit ich als Dein Kind meine Brüder und Schwestern
segnen kann.
So seid gesegnet aus der Liebe, Gnade und der Kraft Jesu, damit ihr freier
werdet und erfüllt von Seinem Geiste! Sein Leben sei in euch! Sein Segen trage
euch und beglücke euch in guten, wie in schweren, Tagen! Amen."
Beendet war die Feier. — — Still gingen die zu Bethanien Gehörigen in ihre
Wohnungen, die Gäste aber unterhielten sich noch lange mit den Jüngern und
Maria.
Eindrucksvoll wurde auch die Feier des Abschiedes beim Morgenmahl, und Ephraim
erhielt die Zusage, dass Johannes und Jakobus bald zu ihnen kämen.
Unter Loben und Danken verliessen dann die Glücklichen die gastliche Stätte des
Lazarus.
Kein Auge blieb trocken, als Johannes ihnen noch zurief: „Kindlein, bleibet in
Seiner Liebe, dann wird diese Liebe euch zum Heile und auch euren Mitmenschen!
Das Grösste stehet euch aber noch bevor — wenn eurer Liebe Kraft zum Wunder für
die Anderen wird! Amen!"
*
So wollen denn auch wir uns bemühen, all die göttlichen Führungen in unserem
eigenen Schicksal mehr verstehen zu lernen, damit durch unser Denken und Handeln
etwas von diesem neuen geistigen Leben auch in uns erwache, und Raum gewinne zur
Entfaltung seiner segnenden Wunder-Kräfte!
Amen!
***