Heft 17. Göttliche Führungen bei den ersten Christen

Inhaltsverzeichnis
01. Neue Pläne zur Rettung gefangener Glaubensbrüder
02. Im Hause Bernharts
03. Achibalds Prüfung
04. Ursus in seinem Gottvertrauen
05. Göttliche Führungen
06. Die Hochzeits-Feier
07. Stephanus
08. Theophil bei Jonhannes
09. In Jerusalem
10. Der Harfenspieler
11. Jonas am Scheidewege
12. Heimkehr nach Bethanien
13. Besichtigung der grossen Anlagen in Bethanien
14. Rechtfertigung der göttlichen Führungen
 


Neue Pläne zur Rettung gefangener Glaubensbrüder

Am anderen Morgen wurde ein allgemeiner Ruhetag angeordnet, um sich mit den Gästen in innerer Freude noch näher kennenzulernen. Da aber der alte Vater Eusebius ein wenig traurig aussah, fragte Cornelius teilnehmend, ob er einen stillen Kummer in sich trage? Der Alte sprach: „Ja, ich fürchte, dass ich nun bald einsam sein werde, wenn meine Tochter Ruth durch ihre Heirat mich verlassen wird. Sie war mir Sonnenschein und Halt, wenn es in mir trübe und lichtlos war."
„Aber, alter Freund", unterbrach Cornelius ihn, „glaubst du wirklich, deine Tochter zu verlieren? O nein, du erhältst noch einen Sohn dazu, dessen du dich freuen wirst, so du ihn erst richtig kennengelernt hast. Siehe, als Knabe kam Achibald zu uns und hat sich durch seinen aufrechten Charakter die Achtung und Liebe aller gewonnen. Seit 15 Jahren leben wir zusammen, und ich hätte Ursache, Kummer zu empfinden, denn ich verliere einen treuen Freund und einen meiner besten Unterführer. Sein Glück aber ist auch mein Glück! Darum freue ich mich, mit dazu beigetragen zu haben!"
Wie sich besinnend sprach Cornelius dann weiter: „Nun aber geht mir der gestrige Auftrag des Engels nicht aus dem Sinn: „Erwerbet so viel Land wie irgend möglich!" (Heft 16, Seite 68). Darum möchte ich heute noch mit deinen beiden Söhnen, mit dem alten Elim und Achibald das umliegende Land deiner Besitzungen besichtigen." — Und so geschah es. —
Nach stundenlangem Ritt kehrten sie befriedigt zurück, und Cornelius besprach mit ihnen seine neuen Pläne, hier eine Kolonie zu gründen. Er schloss: „Und nun, lieber Elim, sage uns deine Ansichten darüber; auf deinen weiten Reisen hast du ja vielerlei Erfahrungen gesammelt."
Und Elim sprach: „Ja, meine Freunde, in diesem fruchtbaren Lande ist wohl noch viel zu gewinnen an Getreide, an Ölbäumen und Früchten, aber es wird manche Mühe und viel Geld kosten."
„An Arbeitern wird kein Mangel sein", warf Cornelius ein, „und die Kosten-Frage lass meine Sache sein." —
Da entwarf Elim ein liebliches Zukunftsbild und gab auch die nötigen Erklärungen, wie solcher Plan sich hier verwirklichen liesse.
Cornelius erklärte nun sehr ernst: „Wir wissen, dass die Templer aus Rachsucht gegen die Lehre Jesu viele unserer Glaubensgenossen heimlich gefangen nehmen, die älteren dem Tode des Verhungerns preisgeben, aber die jungen Männer und Frauen als Sklaven zu verkaufen suchen. Diesen Verbrechen können wir Römer leider keine Gewalt entgegenstellen, aber als Mensch und Christ ist es unsere heilige Pflicht, diesen Unglücklichen zu helfen. Darum denke ich: Soweit dieses Gelände noch besitzlos ist, übergebe ich dir das Land, wozu ich als Vertreter des Römischen Kaisers das volle Recht habe; und aus meinen Mitteln, lieber Achibald, lasse ich dir die nötigen Gebäude und Ställe errichten.
Dir aber, Elim, möchte ich, als dem Umsichtigen und Erfahrensten, das Amt eines Verwalters übergeben als Dank für deine uns geleisteten Dienste. Wenn hier eine Ansiedlung unter römischem Schutz entsteht, haben die Templer nichts zu sagen. Dann legen wir noch eine militärische Besatzung hierher, die dem durchziehenden Handel und besonders den Karawanen aus Jerusalem ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden hätte. Ich bin gewiss, dass der Statthalter diese Unternehmungen freudig begrüsst, weil sie die Würde und das Ansehen des Kaiserreiches heben!"
Und alle Zuhörer waren sogleich für den Plan gewonnen. Nach dem gemeinsamen Mahle sprach Cornelius mit dem alten Eusebius und sagte: „Nun wollen wir einmal Rat halten wegen deiner und deiner Kinder Zukunft. Sieh, das Alter hat deine Kräfte geschwächt, du wirst nun ausruhen vom irdischen Schaffen und dich mehr deinem Innenleben zuwenden.
Dein ältester Sohn Joseph wird dein Erbe übernehmen und möchte die Tochter Bernharts als sein Weib heimführen.
Dein Sohn Joram wird mit Freuden zu Bernhart ziehen und dessen jüngere Tochter ehelichen und so seinem Schwiegervater eine treue Stütze werden.
Für deine Ruth zu sorgen, nehme ich mir das Recht, indem ich als Vertreter der Regierung Achibald alles angrenzende Land, soweit es noch keinen Besitzer hat, übergebe. Aus meinen und Staatsmitteln wird die neue Ansiedlung errichtet, die vor allem unsern verfolgten Glaubensbrüdern zu einer neuen Heimat werden möge. Sorge dich nicht um die Kosten oder andere Dinge; was wir hier beginnen als Römer, soll unsere Sache sein."
Inzwischen war auf dem Hofe eine Karawane angekommen, und der Anführer Asa begrüsste fröhlich die ihm bekannten Männer: „Heil und Segen und der Friede Gottes sei mit euch!"
Dann wandte er sich an Elim: „Im Auftrage eures Freundes Ursus bin ich zu euch gekommen, um dir, als dem rechtmässigen Besitzer all dieser Wagen und Tiere, dein Eigentum wieder abzuliefern. In diesem Brief von meinem Herrn, lieber Elim, findest du alles Wissenswerte."
Elim dankte dem Asa und sagte bewegt: „O mein Freund, welch ein Unterschied in diesen wenigen Wochen! Aus all der Welt des Hasses sind wir in eine Welt des Friedens eingetreten, und welche Fülle von Leben offenbart sich hier!"
Und Asa bestätigte: „Ja, Elim, auch ich fühle mich glücklich, bin ich doch seitdem der Freund und Vertraute von dem herrlichen Ursus, der auch bald hierher kommen wird."
Elim nahm den Brief und überreichte ihn dem Achibald mit der Bitte: „Übernimm du, lieber Freund, diese meine früheren Güter, du wirst sie für deine Schützlinge noch gut verwenden können. Ich bitte dich, wehre diese meine Gabe nicht ab, denn ohne deine Hilfe und die Gnade des Herrn lebte ich nicht mehr. Jetzt aber erfreut mich mein Leben wieder, und gern will ich bei all den grossen Aufgaben dein dir helfender Freund sein. Doch sollst du nicht der Beschenkte sein, nur der Verwalter, der von der göttlichen Liebe erkoren ist, im rechten Heilandssinn damit zu wirken und Freude zu schaffen!"
Tief bewegt sprach Achibald: „O Bruder Elim, wenn du so empfindest, darf ich dich nicht enttäuschen; so bitte ich euch alle: Helft mit, damit es uns gelinge!"
Asa bat dann Achibald: „Herr und Freund meines Herrn! Gib Befehl zum Ausladen der Wagen; ein Verzeichnis der Waren wird in dem Brief vorhanden sein.
Achibald löste nun das Siegel des Schreibens, überreichte es aber dem Hauptmann Cornelius, und dieser las laut: „Mein im Herrn mir neu gewordener Bruder Elim! Die Liebe drängt mich, dir nochmals zu danken für deine tatkräftige Hilfe an unseren Glaubensbrüdern, welche zu lebenslänglichen Sklaven verurteilt waren. Mein Herz ist noch voll Jubel über das Gelingen dieses Befreiungs-Werkes und ist voller Freude, weil du dich mit in die Reihen der Helfer eingegliedert hast. Dein Eigentum ist dir hiermit zurückgegeben; das Eigentum des verirrten Assir kann ihm nicht mehr zugestellt werden, da er inzwischen verurteilt ist. Darum habe ich es im Sinne rechter Weisheit aus Gott in allerlei nützliche Gegenstände für die Geretteten umgetauscht. Grüsse auch den lieben Vater Eusebius und sage ihm, ich hätte mein Versprechen nicht vergessen. So entbiete ich dir, lieber Elim, den rechten Gottes-Gruss und bleibe im Geiste dir verbunden. — Ursus! —"
Dazu sagte Cornelius noch: „Elim, du kannst dich freuen über dieses geschenkte Vertrauen. Wahrlich, auch ich bin beglückt von dieser Löse!"
Beim Abladen der Waren gingen alle an die Besichtigung der vielen Schätze, die Ursus sandte, und verwundert betrachtete auch Eusebius diesen Reichtum.
Bernhart wollte all das Gold und Silber, das Ursus ihm zugedacht hatte, nicht annehmen, aber Cornelius sagte: „Freunde, nicht menschlich denken, sondern den erhabenen Zweck im Auge behalten, denn all dieses vergängliche Gut kann doch eine Hilfe zum Glücklichmachen sein, und Ursus hat ja alles in gerechter Ordnung schon verteilt."


Im Hause Bernharts

Am anderen Morgen begleiteten Alle Bernhart nach seinen Besitzungen; nur Elim war zurückgeblieben, um die Aufsicht im Hause des Eusebius zu übernehmen, für den es eine Freude war, zu fühlen, wie es ist, befreit zu sein von allem irdischen Getriebe.
Auch hier besichtigte Cornelius mit den Anderen die umliegenden Äcker und Ländereien für neue Ansiedlungen und sagte dabei zu Bernhart: „Du bist ein Römer und hast freie Hand hier, und die Vollmacht für den neuen Landbesitz erteile ich dir noch! Siehe, so der Feind sich gross macht, um vernichtend zu wirken, müssen wir unser Herz erheben, um mit noch grösserem Liebe-Willen an das Werk der Rettung zu gehen.
Wisse: der Allmächtige kann uns ja nicht das Wollen dazu geben — weil dieser Tat-Wille in uns selber geboren sein muss! Aber mit Kraft und Weisheit von Oben wird jeder ausgerüstet, der seinen armen Mitmenschen wirklich helfen will. Was du den Notleidenden an Hilfe bringen darfst, kann dir eigentlich nur Gott schenken. Was uns aber von Gott gegeben wird, trägt tausendfachen Segen! Diese Erkenntnis, mein lieber Bernhart, werde dir zum Leitstern, jetzt und allezeit!"
In Schweigen versunken, ritten sie nun zurück, und Bernhart bewegte die Worte des Freundes tief im Herzen. Noch im Hause, trotz der erhöhten Tätigkeit, umgab ihn innerlich eine so beglückende Weihe, dass er zu seinem Weibe sagte: „Elisa, mit den Freunden muss auch der Herr bei uns eingezogen sein! In mir ist so grosse Freude, dass ich alles um mich ganz anders ansehen lerne. Weib, noch viele Unglückliche können Zuflucht bei uns finden, denn der Herr selber gab mir gestern die reichen Mittel dazu in die Hand! Ja, ich ahne, was Gott eigentlich von uns Menschen will! Noch ist es nur ein Ahnen, aber Cornelius hat mir die Augen dafür geöffnet, nun tut nur noch not, dass ich auch mit meinem ganzen Herzen dafür bereit bin."
Da sagte sein Weib: „Bernhart, du hast deine heiligen Aufgaben und deinen freien Willen, sie auszuführen, aber lasse auch mir meine Sorgen und Mühen dabei, denn Liebe ist ohne Besorgtheit undenkbar. Und wenn du uns noch hundert Menschen als Hausgenossen bringst, so möchte ich doch gern für ihr leibliches Wohlergehen besorgt sein!" Bernhart freute sich über ihr Verständnis für seine neuen Aufgaben.
Als am Abend alle Hausgenossen zur Andacht versammelt waren, sprach Cornelius: „Meine Freunde! In diesen Tagen ist uns grosses Heil widerfahren, indem nicht nur beim Vater Eusebius, sondern auch hier bei euch ein neuer Geist lebendig geworden ist, der sich in allem so beglückend auswirken will! Aus dem Munde unseres Meisters und Seiner Diener wissen wir, dass dort, wo Seine Lehre und Sein Leben verwirklicht wird, Er Selbst schon unsichtbar gegenwärtig ist. Darum bitten wir Dich, o Herr und Vater, der Du segnend uns hier umgibst, stärke unseren Glauben und schenke unserem Bemühen, noch vielen Armen zu helfen, fröhliches Gelingen! Amen."
Tiefe Stille folgte — und heiliges Wehen durchströmte alle Herzen.
— Dann bat einer von den damals Geretteten, noch etwas von seinem Erlebnis mit Jesus erzählen zu dürfen; und gern führte Bernhart ihn zum Cornelius, wo er begann:
„Als Jesus einst mit den Seinen durch unsern kleinen Ort zog und viele Neugierige sich herzu drängten, Ihn zu sehen, kam auch mich die Lust an, Ihm als Heiland zuzuschauen. Nie habe ich grossen Wert auf Worte gelegt, die da nur belehrend wirken sollten, und so suchte ich auch Jesu Nähe nicht, um Ihn zu hören, sondern stand abseits. Doch was ich hier erlebte, war so gewaltig, dass ich Ihn als den grossen Heiland erkennen durfte, ohne Sein Wort vernommen zu haben.
Eine Mutter hatte ihr krankes Kind an der Hand. Bescheiden stand sie abseits, während der Heiland von den vielen umdrängt ward und darum nicht sehen konnte, wie die Mutter verlangend die Hände nach Ihm ausstreckte. Er ging vorüber — und weinend sank die Mutter zur Erde. Da wandte sich Jesus um und sprach: „Nicht Trauer, sondern Freude will ich zurücklassen! Darum freue dich, du armes Weib, dein stilles Bitten sei erfüllt — dein Kind ist gesund!" Freunde — Worte können nicht beschreiben, was da diese Handlung bei mir auslöste. Er kehrte um! — Er fühlte im eigenen Inneren das Leid der armen Mutter! Seine helfende Liebe wurde mir zum lebendigen Beweis Seiner wahren Göttlichkeit. Und ich glaubte von nun an Seinen herrlichen Worten.
Wie oft gehen wir noch an der Not Anderer vorüber und sind vielleicht gerade in Anbetung des grossen Gottes versunken. In unserer Gefangenschaft durch die Schändlichkeit der Templer erlebten wir den Beweis, dass mancher sehr gut von Gott predigen kann — und doch dem Widersacher dient.
Jesus wollte uns nicht nur den Glauben an Gott lehren, nicht nur uns das Herrliche Seines Reiches schildern und was Grosses von uns noch erreicht werden kann, sondern Er möchte uns selber zu einem lebendigen Worte machen, wo jede Handlung, jeder Blick, jeder Gedanke schon spricht von der Hoheit der ewigen Wahrheit und der Heiligkeit der göttlichen Liebe! Darum — wo Jesus wahrhaft lebet
— ist Freude! Und wo Gotteskinder wirken, sollte nicht weniger Freude sein!" —
Nach einer tiefen Stille, da das Wesen Jesu in allen Herzen noch lebendig nachhallte, begaben sich dann alle zur Ruhe.


Achibalds´s Prüfung

Nur Achibald kam nicht zur inneren Stille. — Grauenhafte Bilder seiner Vergangenheit zogen plötzlich an ihm vorüber und brennende Hütten und sterbende Menschen wurden in ihm lebendig. Grässliche Tiere bäumten sich vor seinen geistigen Augen auf und brachten sein ganzes Inneres immer mehr in Aufruhr. Wo waren die herrlichen Eindrücke des vergangenen Tages? Wo war die segnende Hand der erbarmenden Liebe? „O Jesus, hilf mir aus diesen Qualen, die meine Liebe zu Dir zerstören wollen!"
Da nahte sich eine grosse Tiergestalt mit mächtigen Tatzen und Krallen, und das Gesicht war das des Assyr; die Augen schillerten in Rot und Blau, und es schien, als wollten sie sich auf ihn stürzen. „Mein Jesus, jetzt hilf - oder ich unterliege! Lasse es nicht zu, denn ich gehöre ja zu Dir!" betete er heiss.
Da stand auf einmal ein lichter Mensch neben ihm, hielt die Rechte hoch und sprach zu dem Untier: „Im Namen Jesu — des allmächtigen Gottes — zergehe, du Trugbild und zeige dein wahres Ich, sonst wird dir werden, was du ihm antun wolltest! —
Du aber, mein Freund, erlebe, wie Gott den richtet, der Anderen oft ein Richter sein wollte! Fürchte dich nie! Gott hat mächtige Diener, und noch mächtigere Kinder, um alle Feinde abzuwehren! Wisse: Ein Gedanke, aus reinster Liebe geboren, ist eine geistige Kraft und kann alles Böse-Scheinende machtvoll zurückweisen! Doch nun erschaue, wie dieses Ungeheuer, ganz Wut und Hass, ein höllisches Feuer in sich selbst entzündet, mit dem es das in dir wachsende Gottesleben vernichten wollte.
Denke aber nicht, nun bist du von deinen Widersachern erlöst. Sondern erlöst bist du erst von ihnen, so du ihr Helfer und Retter geworden bist! Wie du dieses anfangen wirst, ist deine eigene Sache, da das nur dein freier Liebes-Zug ermöglichen kann!
Und merke dir: alles, was in deine Welt tritt, wird dir zu einem Angehör; darum trage Sorge, dass es dir zu deinem Lebendiger-Werden diene und nicht zur unerträglichen Last werde! Gestaltest du dein ferneres Leben im wahren Jesu-Liebe-Geist, kann der Richter nicht länger in dir wohnen! Wie Jesus als Heiland verzeihend und befreiend wirkte, so sei Sein herrlich Vorbild dir Inbegriff alles Guten und Wahren!"
Ein Zeichen mit der Hand aufs Herz — und verschwunden war das lichte Wesen, vergangen aber waren auch die Schrecken erregenden Bilder. Die Morgenröte der aufgehenden Sonne erfüllte sein Herz mit Freude; nun konnte Achibald aufatmend beten: „O mein Heiland! Mein Gott und Vater! Wie klein erscheine ich mir im Angesichte Deiner grossen Gnade, die mir jetzt offenbar wird. Der Anbruch eines geistigen Tages zeigt mir, wie voll Erbarmung Du sein musst, da Du geduldig mir immer wieder zeigst, was Deines Kindes nicht würdig ist! Darum stärke mich, damit ich meinem Vorsatz getreu bleibe und Du Freude an mir habest! Amen."
So erhob er sich vom Lager und ging nach den Ställen, wo die Leute schon die Tiere versorgten. In aller Augen sah er ein Leuchten, einen Glanz von Frieden, und durch sein Herz zog eine Welle von Glück.
Ruth sah ihn an und fragte, warum er schon so früh das Haus verlassen habe. Achibald antwortete sinnend: „In dieser Nacht musste ich eine ernste Prüfung bestehen, weil der Herr mir noch vieles aus meinem Innern zu offenbaren hatte. Jetzt sehe ich ein: es fehlt mir noch viel, ein wahrer Christ zu sein, und ich fürchte, ich werde es kaum erreichen, da noch zu viel von alten heidnischen Vorstellungen in mir aufgespeichert liegen.
Erwiderte Ruth: „Warum übergibst du das noch auf dir Lastende nicht dem Heiland Jesus? Was kümmert dich das Vergangene noch? O mein Achibald, schüttle ab, was sich noch zwischen dich und die Heilandsliebe drängen will und beschäftige dich mit dem, was dir neu geschenkt wurde! Er ist es wert und hat dich für Sein Werk würdig gemacht. Glaube Ihm — und sei stark! Ich möchte dir immer in allen Prüfungen helfend zur Seite stehen, denn wo Glauben an Seine Hilfe ist, wird der Herr auch das Gelingen geben."
Inzwischen waren auch die anderen Gäste in der Stube erschienen, um am Frühmahl teilzunehmen. Als Letzter kam Bernhart; feierlich und weihevoll übergab er dem alten Eusebius den Vorsitz, und nach einer kleinen Stille sprach dieser: „Freunde und Brüder! Der Herr ist zu uns gekommen, weil unsere Herzen Ihm geöffnet sind. Möchte auch dieser neue Tag so verlebt werden, dass jede Stunde ihren heiligen Zweck erfüllt, denn jede Gelegenheit, die verpasst wird, ist nicht mehr gutzumachen! Dann wird jeder von uns am Abend sagen können: ,Herr, nur mit Deiner gnädigen Mithilfe war es mir möglich, meine Pflichten in Deinem Geiste zu erfüllen!'
Nun wollen wir uns mit den Gaben stärken, die Deine Liebe und Fürsorge uns zugedacht hat, doch nur mit Deinem Segen gereichen sie uns zum Heile! Darum, o Herr, wir sehnen uns nach Deinem Segen — so erfülle unsere Bitte um Deines grossen Werkes willen! Wir wollen Deine Güte preisen und loben Deine Weisheit, aber Deine Liebe wollen wir uns zu eigen machen! Amen!"
„Nun aber fühle ich in mir eine neue Kraft. Damit segne ich euch alle und dieses Mahl, auf dass verherrlicht werde Sein heiliger Name! Amen!"
Cornelius hatte nachher noch mancherlei Vorschläge für die neue Ansiedlung zu machen und schloss ernst: „Nach den letzten Berichten soll es in Judäa oft grauenhaft zugehen; ein gewisser Saulus soll Tag und Nacht wüten, um Anhänger der Jesu-Lehre in die Gefängnisse des Tempels einzuliefern. Darum soll alles hier möglichst schnell fertig gemacht werden, um doch einigen dieser Unglücklichen eine neue Heimat geben zu können."
Bernhart wies nochmals auf die vielen Kosten hin, aber Cornelius sagte: „Wenn wir nur den festen Willen haben, den unschuldig leidenden Glaubensbrüdern zu helfen, und alle Arbeit und Mühe dabei nicht scheuen, wird der Herr uns schon den Weg dahin ebnen. Darum werde ich nach meiner Rückkehr veranlassen, dass dir, mein lieber Bernhart, so viel Land wie nur irgend möglich zur Verfügung gestellt wird und du eine römische Kolonie gründen kannst mit Mitteln und Arbeitern, die dir von der Regierung gestellt werden.
Bernhart antwortete froh: „O Cornelius, ich bewundere deine grossen Pläne und stehe dir ganz zur Verfügung."
„Ja", bestätigte Cornelius, „die Möglichkeit, hier ein neues Eden zu schaffen für frohe Menschen, ist mir zur heiligen Lebensaufgabe geworden, und unser Meister wird sagen: „Meine Kinder haben Mir eine rechte Freude bereitet! Mein Segen soll sichtbar werden an allen denen, die mit Hand ans Werk legen und zum Erfolg beitragen."


Ursus in seinem Gottvertrauen

Ganz unerwartet sprengte Ursus mit einigen Begleitern in den Hof und wurde von seinen Freunden mit Jubel begrüsst.
Cornelius betrachtete den ihm noch unbekannten jungen Römer mit Wohlgefallen, der ein so fröhlicher Kämpfer für Jesus und Seine hohen Ziele sein sollte.
Eusebius umarmte den Ursus sehr herzlich und sagte: „Mein Sohn! Die Liebe gibt mir das Recht, dich so zu nennen, denn deine Grosstat der Hilfe bleibt uns unvergessen!"
Nachdem alle begrüsst waren, überreichte Ursus der Mutter Elisa als besondere Gabe einen grossen Ballen Tuch mit den Worten: „Damit du dich nicht zu sorgen brauchst, du liebe Hausmutter, wenn arme, nackte Kinder zu dir kommen, deren jetzt viele elternlos sind und eine wahre Mutter brauchen. In Jerusalem ist es jetzt wie Gewitterschwüle. Es wagt sich fast kein Mensch mehr auf die Strasse, denn überall belauern die Templer die armen Christen, um sie in ihre Kerker zu werfen."
„O mein Gott", rief die Mutter entsetzt, „was haben sie denn verbrochen?"
„Nichts — als dass sie an Jesus, den grossen Heiland, glauben", antwortete Ursus, „und erkannt haben, dass Er unschuldig hingemordet ward, dass Sein Leiden und Sterben vom Tempel aus mit allen Mitteln erreicht ward — und Seine Auferstehung von ihnen geleugnet wird! Dazu kommen jetzt die Grosstaten der Apostel, die durch Handauflegen und Gebet viele Kranke heilen, so dass ich den Eindruck erhielt, jeder zweite Mensch dort sei schon ein Christ.
Schlimm ist es, dass wir Römer tatenlos zusehen müssen, wie sich die Gefängnisse füllen, und niemand fragen darf: Wohin sind nun die Christen gekommen? Als ich beim Stadthauptmann Erkundigungen einholte und das eben zu euch Gesagte dort vorbrachte, wurde mir der Bescheid zuteil, dass sie keine Handhabe hätten, einzugreifen, denn nach dem jüdischen Gesetz ist ein jeder Verräter an seinem Gott des Todes schuldig.
„Bring mir Beweise", sagte der Stadthauptmann, „dass die Templer den Kaiser oder uns schmähen, dass sie unsere Abmachungen übertreten, und sie sind unsere Gefangenen! Aber so sind mir die Hände gebunden, ja, ich muss ihre Gesetze und ihre Handlungen noch schützen."
Cornelius nickte und sagte: „Ja, so ist es! Der grösste Schachzug der Templer, den sie uns Römern abrangen, war ja der, dass wir ihre Religion schützen müssen und solche, die gegen ihre Religion handeln, noch ihren Gerichten auszuliefern haben. Darum muss unsererseits die grösste Klugheit angewendet werden, um mit dem Hohen Rat auszukommen."
Elisa fragte: „Kann denn niemand den Christen in Jerusalem helfen?"
„Leider nicht! Die Bürger Jerusalems hätten zuvor römische Untertanen werden müssen, aber sie haben kein Vertrauen zu uns und betrachten uns noch immer als ihre Feinde, von denen sie der Messias befreien sollte. — Die erbarmende Liebe Jesu zeigt uns aber jetzt ganz neue Wege zur Linderung dieser Leiden, und unbewusst hast du, lieber Ursus, mir einen neuen Liebesgedanken offenbart, indem du die Mutter Elisa schon zur Mutter für viele fremde Kinder erwählt hast. Wir werden dort am Gebirge auch ein schönes Haus für verwaiste Kinder errichten, damit wir die Schuld gut machen, die falsche Erkenntnis oder höllischer Eifer verursacht haben.
Immer lebendiger ersteht in mir der grosse Plan zum Helfen. Immer eindringlicher mahnt uns das Leben, nicht nachzulassen damit, auf dass ein Damm und Schutzwall errichtet werde inmitten der Feinde Gottes. — Ich werde veranlassen, dass Tag und Nacht die grossen Heerstrassen bewacht werden, und jede Handelskarawane sich ausweisen muss, welche Güter sie befördert. Und wehe denen, die uns dann wissentlich hintergehen wollen!"
„Tut es!" sprach Ursus lebhaft. „Auch ich überholte auf dem Weg hierher einen Zug, der bestimmt Menschen als Gefangene transportierte. Die Verschlagenheit des begleitenden Tempelpriesters war mir Beweis genug, aber ich hatte keine Handhabe und auch keine Leute, ihnen Widerstand entgegenzusetzen."
In Cornelius reifte eine neue Idee — plötzlich stand er auf und sagte: „Lasst uns hinausgehen, mir wird es hier zu eng!" Draussen sagte er zu Achibald: „Willst du versuchen, diesen Gefangenen zu helfen? Noch bist du Soldat und könntest handeln im Auftrage deines Vorgesetzten!"
„Gern — wenn es möglich wäre", antwortete Achibald, „doch habe ich hier nur einige Kameraden zur Verfügung."
„Das genügt!" sprach Cornelius. „Du sollst auch nur versuchen, ihnen Hilfe zu bringen, da der Erfolg stets von Gott abhängt. Veranlasse, dass ihr sogleich abreiten könnt, mache aber kein Aufsehen. Ursus mag dir den Ort angeben, wo er diese Karawane getroffen hat, doch gehe jedem Kampfe aus dem Wege!"
Achibald hatte bald seine Leute zum Abreiten bereit; auf zwei Packpferden wurde Proviant verstaut, ein kurzer Abschied, und nun „mit Gott" hinaus in den Nachmittag.
Cornelius und Ursus blieben bis zum Abend recht still, um nicht durch unnötiges Reden den Möglichkeiten, die ihr ganzes Denken beanspruchten, die segnenden Kräfte zu entziehen.
Nach dem Abendessen erzählte Ursus von seinen Erlebnissen, seit er von Eusebius damals weiter gezogen war: „Grosse Freude erlebte ich an den Wächtern und dem Priester, die in unseren Dienst traten. Nun sie wissen, dass ihre fernere Zukunft gesichert ist und sie vom Tempel nichts zu fürchten haben, entwickeln sie Fähigkeiten, über die ich staune! Aber an die Lehre Jesu können sie noch nicht glauben; sie kommen über die Klippe nicht hinweg, dass der grosse Gott — Seinem Sohne nicht den nötigen Schutz gewährte, um Ihm den Kreuzes-Tod zu ersparen! Solche Zweifel aber sind nun für mich, wie auch für euch alle Mahnungen zur rechten Geduld mit ihren Seelen, da sich Angeborenes und Angeeignetes nicht so leicht umwandeln lässt.
Auch Andere, die vielleicht einmal das Glück hatten, Jesus als Mensch zu sehen und zu hören, sind jetzt, seit die Kunde die Lande durcheilte, Er sei am Kreuze gestorben, kaum noch von Seiner hohen Sendung zu überzeugen; und Seine treuen Apostel haben das schwere Amt, Vertrauen und Aufklärung dorthin zu tragen, wo der Tempel mit der Verfolgung der neuen Lehre einsetzt.
Als ich durch Samaria zog, um unsere Niederlassungen zu besuchen, erlebte ich folgendes: Eine kleine Gemeinde der Jesu-Lehre, die sich an Vorsabbathen regelmässig zusammenfand, wurde von einem alten Bruder geleitet, der aber dem neuen Priester dort nicht gewachsen war und nun erleben musste, wie der Wolf im Schafspelz grossen Schaden an den Seelen seiner Gläubigen anrichtete. Der Wirt meiner Herberge erzählte mir, dass der alte und an inneren Erfahrungen so reiche Führer dadurch den Boden seiner Glaubens-Sicherheit fast verloren habe und nur noch bete und flehe, Gott solle helfen, während sein Gegner, der neue Priester, den Kopf immer höher trage.
Bald darauf kam dieser Alte zu uns in die Herberge, und ich liess mir seine Leiden und Enttäuschungen noch einmal erzählen. Hierbei erlebte ich die treue Liebe eines Leiters für seine Gemeinde, der aber in seiner Sorge um die ihm anvertrauten Seelen die hohe Pflicht vergass: Vorbild zu bleiben für seine Getreuen!
Um seiner Not abzuhelfen, fragte ich nach den Kranken im Ort — es waren ihrer viele — aber ein Heiler und Helfer fehlte, da keiner wagte, durch Händeauflegen und Gebet diesen heiligen Liebesdienst auszuüben, weil dieses Apostel-Amt sei!
Ich bat: „Kannst du veranlassen, dass deine Gläubigen morgen vormittag mit ihren Kranken in die Synagoge kommen? Ich würde gern euren Priester kennen lernen, um ihm zu beweisen, dass Jesus auch heute noch lebt, und dass Er Seinen Getreuen auch jetzt noch helfen will!"
Der Alte ward unsicher — dann aber, als ich ihm klar machte, dass der stets helfende Heiland solche Dienste von uns fordere, versprach er, sein Möglichstes zu tun.
Am anderen Morgen war der neue Priester freudig überrascht über die vielen Zuhörer; er wählte den Psalm 74 zu seinem Text, und legte ihn so aus: dass nun endlich Gott Seine Widersacher, die Nazarener, strafen werde, um an die Aufrichtung Seines Reiches zu gehen, und zeigte an Beweisen, wie töricht es sei, einem Betrüger und Volksverführer länger zu glauben.
Die an den Heiland glaubten, wurden unruhig, die anderen aber schwelgten in Freude, weil endlich ihr Priester die rechte Sprache gegen die Tempel-Feinde gefunden hatte. Mich aber durchdrang ein Weh; in meiner Hand schmerzte das Mal, ich betete um Kraft, um Erleuchtung, und wie von Himmelskräften getragen erhob ich mich und erbat mir Gehör. Der Priester holte mich selbst an seine Seite, mit Recht vermutete er in mir einen Römer und gestattete mir zu sprechen.
„Meine Freunde", begann ich, „ich spreche hier zu euch, weil es mich innerlich dazu drängt. Wir haben soeben ein Zeugnis gehört von der Macht und Hoheit eures ewigen Gottes, der sich Seiner Feinde zu entledigen weiss und die mit Ruten züchtigen will, die sich an Seinem Heiligtume vergreifen. Bin ich euch auch ein Fremdling dem Äusseren nach, so aber innerlich doch euer Freund. Ich habe wohl viel Leid, aber noch viel mehr Freude erfahren; das Schönste aber war: ich lernte euren Gott kennen, einen Gott, der heilig, aber auch gerecht und weise ist! Ich kenne euren Moses und eure Propheten! Ich kenne eure göttlichen Gesetze — aber auch eure innere Lauheit!
Euer Gott, der da ist heilige Erbarmung mit allen Sündern, sandte Seinen Sohn, den Messias, zu allen Verirrten, um den Glauben an Ihn aufs Neue zu stärken und das Vertrauen auf Seinen Beistand wieder zu beleben. Viele waren beglückt von Seiner Lehre: Der Liebe zu Gott und zum Nächsten, und erkannten in Ihm die Erfüllung aller Verheissungen. Wer aber nicht glauben konnte oder wollte, waren eure Priester und Gottesdiener."
Hier unterbrach mich der junge Priester erregt: „Bist du gekommen, den Frieden dieses Hauses zu stören? Oder welche Absicht hast du, da du mich in meiner Würde verletzt? Ich stehe hier an heiliger Stätte, an Gottes Statt, und habe das Recht und die Pflicht, die Ehre dieses Hauses zu wahren!"
„Es ist gut, dass du mich erinnerst, dass du Priester bist", anwortete ich. „Der Frieden in diesem Hause ist auch mir heilig. Da ich aber euren Gott auch zu meinem Gott erwählt habe, kann ich nicht begreifen, dass ihr den als Feind betrachtet, der Ihm dienen will, und den grossen Heiland Jesus, der doch nur Liebe zu Gott und allen Menschen predigte, samt Seiner Lehre vernichten wollt. Darum helft mir, Freunde! Hilf du mir, der du Berufener dazu bist, wie soll ich mich herausfinden aus diesem Widerspruch, damit ich nicht irre werde an eurem Gott? Doch nur Tatsachen können mir Beweise sein!"
Es folgte ein Schweigen — dann sagte ich laut: „Wie einst Elias sich nicht anders der Feinde erwehren konnte, als seinen Gott zu bitten, dass er Seine Macht allen sichtbar offenbare, so dürfen auch wir hier unsern Gott bitten, Sich in Seiner grossen Macht und Güte sichtbar zu offenbaren, um die Seinen zu beschützen!
Wenn euer Gott Wohlgefallen hat an der Vernichtung Seiner Feinde, wie dieser Psalm uns heute belehrte, muss Er grössere Freude haben, so Er Seinen Getreuen sich als Helfer erweisen kann. Hier sind mehrere Kranke! Darum — im Angesicht der Heiligkeit Gottes — und der Gegenwart Seiner Gemeinde hier fordere ich dich auf, der du als Stellvertreter Gottes hier stehest, deinen Gott zu bewegen, diesen Kranken zu helfen! Gott, der sich in tausendfachen Beweisen eurem Volke als der ewig Treue bewährt hat, wird dir den rechten Beistand und die Kraft und Erleuchtung dazu nicht versagen, so du dich als Seinen Diener bewähren willst!" —
Ganz erbost rief der Priester: „Herr! nimm dein Wort zurück! Wir sollen Gott nicht versuchen! Dieses frevelnde Spiel mache ich nicht länger mit! Wenn Gott Leiden gibt, wird Er auch Kraft zum Tragen geben!" —
„Oh — Frevel nennst du, so ich für die Ehre meines Gottes eintrete und von Ihm ein sichtbares Zeichen gegen Seine Widersacher erwarte? Da kennst du ja den grossen Gott noch schlecht — und doch wagst du, den heiligen Glauben an Seinen Gesandten zu bekämpfen?" — (Ich wusste: nur weil ich ein Römer war, konnte mir nichts geschehen, darum fuhr ich fort:) „Siehe, wie mein Gott diesen Kranken jetzt helfen wird, so könnte Er dich strafen. Aber der Allmächtige ist geduldig und von grosser Güte, und Seine Langmut mit allen Irrenden kennt keine Grenzen. Durch Jesus ist uns Seine Liebe als Vater zu uns, Seinen Kindern offenbart. Er wollte alle unsere Krankheit heilen und gebot uns, ein Gleiches zu tun. Darum bitte ich euch, jetzt eure Kranken hierher zu bringen, damit unser Gott Sich als der grosse Helfer erweisen kann und als gütiger Vater gegen Seine leidenden Kinder."
Zaghaft kamen sieben, behaftet mit Übeln aller Art, und kniend erwarteten sie das Kommende. —
Da trat ich vor diese Kranken und fragte laut: „Glaubet ihr, dass Gott allein euch wahrhaft gesund machen kann, so antwortet mir!" — „Ja — wir glauben das!" antworteten sie ernst. —
„Ihr wisset, nicht ein Mensch kann euch heilen", sagte ich bewegt, „doch Gottes Güte will sich heute an euch offenbaren — und so sage ich zu euch: Im Namen Gottes, des ewigen Vaters, und Seines Sohnes Jesus Christus — seid gesund! — Er allein hat euch geholfen! Nun lobet und preiset Seinen heiligen Namen! — Amen!"
Die Kranken standen auf — sie waren gesund, geheilt durch die Kraft des Glaubens! Gesund, weil Er sich verherrlichen wollte als Der, welcher in allen Himmeln verherrlicht wird! Laut jubelten die Gläubigen. Dankend und lobend verliessen die Geheilten den Raum. —
Ich aber trat noch einmal zu dem Priester und sagte: „Wer ist nun ein Freund Gottes — du — oder ich? Beide können wir es nicht sein, sonst wären wir einer Gesinnung. Gott und Seine Engel und Seine Freunde wollen nur Gutes, wollen nicht nur geliebt werden, sondern mit verzeihender Liebe auch andere hinführen zu dem grossen Gott der Liebe und Erbarmung. Dieses tat Jesus von Nazareth! — Was tatet ihr? Sehet zu, dass Seine Hand euch nicht strafe." — So verliessen wir den Raum, trafen uns aber später in der Herberge wieder.
Gespannt und bewegten Herzens hatten alle Anwesenden den Worten des Ursus gelauscht, und er fuhr fort: „Seht, liebe Freunde, die Zeiten sind nicht vorüber, wo Jesus sichtbar hilft, sondern Er möchte uns rechte Gelegenheiten geben, zu jeder Zeit aus Seiner Kraft von Seiner helfenden Liebe, Weisheit und Erbarmung für Ihn zu zeugen. Darum gehet auch ihr der Arbeit für Jesus nicht aus dem Wege, sondern suchet sie! Denn auf die Schultern Seiner Kinder legt Er jetzt das Amt, welches seit Ewigkeit Seinen Engeln zugedacht war. - Erobert die Herzen eurer Mitmenschen, dass auch sie an den grossen Jesus glauben, dann habt ihr Ihm eine Stätte bereitet, von der aus Er sichtbar wirken kann! Sein Segen und die Kraft Seiner Liebe sei euer Teil! — Amen."
Nach einer längeren Stille sagte Elisa: „Lieber Ursus! Deinen Glauben möchte ich auch besitzen! Dieses klare Bewusstsein: ,Gott ist mein Teil!' — muss doch ein anderes Wissen sein denn unseres, weil wir bei unseren Bitten doch oft keine Erhörung erleben. Nie würde ich mich getrauen, vor versammelten Leuten zu sagen: Der Herr wird dich jetzt gesund machen! Wenn nun diese sieben krank geblieben wären, und Gott hätte deinen Mut nur erproben wollen, was hättest du dann getan?"
„Mutter Elisa", entgegnete Ursus, „jetzt hast du deinem in dir wohnenden Gott keine grosse Ehre gegeben! Denn entweder vertraust du der grossen Güte deines Gottes und kannst dich fest auf Ihn verlassen, oder du kennst Gott nur — wie du mich vielleicht kennst. Siehe, auch ich musste ringen, bis das eigene Ich zum Schweigen kam, wodurch erst Gottes Stimme mir deutlich vernehmbar ward. Alles Reden und Predigen, alles Hoffen und Bitten, um diese klare Stimme in sich zu hören, ist meist ergebnislos, solange das stets sich vordrängende eigene Ich mit all seinen Wünschen nicht schweigen lernt!
Du kannst den Heiland Jesus lieben und innig zu Ihm beten, du kannst allen Seinen Worten Glauben schenken, so sind die Bedingungen zum Auswirken göttlicher Heilkräfte doch nur erst halb erfüllt.
Kannst du aber eingehen in Seine hohen Liebes-Absichten, in den in allen Seinen Worten uns so offenbar gemachten Geist, dann wirst du ergriffen von Seinem heiligen Leben und kannst Ihn durch dich wirken lassen. Bedenke: Nicht ich wollte dort reden und zeugen, sondern Sein Geist in mir drängte mich zum Zeugnis für Ihn! Es war der Heilige Geist, der allen verheissen wurde durch den Meister, ehe Er sichtbar die Erde verliess, und, liebe Elisa, Seine Worte: Wenn Ich nicht mehr hier sein werde, wird der Geist der Wahrheit zu euch kommen und euch die rechte Weisheit lehren! gehen sicher in Erfüllung!
Ich erlebe im Innern Sein Wort! Sein Wort aber macht mich frei von allen Hemmungen. Es macht mich stark und lebendig. Es macht mich zum Diener Seiner erbarmenden Liebe.
Wenn meine Gedanken hinaufschweifen zu den herrlichen Sternen-Welten oder hinein in die Tiefe der wogenden See oder in das bunt bewegte Leben und Treiben der Menschen, so sage ich zu mir die Worte: Du herrlicher Vater, das alles sagt mir doch nur wenig von ihrem inneren Leben. Aber nun ich Dich gefunden habe in mir, erzählen mir all diese sichtbaren Dinge so viel von den Wundern Deiner Grösse und Weisheit, denn alles offenbart sich jetzt meinem Geiste als heiliges Leben aus Dir. Dieses lehren mich meine Erfahrungen. Doch kann dieses Leben nur erkannt werden aus dem ganz Neuen Geiste, den Jesus uns geschenkt hat.
Wenn nun du und andere diese Erfahrungen noch nicht erlebt haben, so liegt es nur daran, dass das sich vordrängende eigene Ich euch dieses innerste Leben aus Gott noch verdecken kann. Gott lebt in jedem, aber je nach unserem Glauben und Verlangen offenbart Er sich uns."
Die Mutter Elisa entgegnete: „Aber mein Bruder, ich verstehe nicht, dass es an mir liegen soll, wenn Gott mir nicht gibt um was ich bete. Ich kann doch auch nur bitten, wie du und andere beten, und doch — wie oft bleibt unser Gebet unerfüllt."
„Meine liebe Mutter und Schwester Elisa! Hier liegt noch ein Geheimnis verborgen, dessen Dunkel erst gelichtet werden muss, ehe du meine Art zu beten verstehen kannst. Der ewige Gott ist nur Einer an Macht und Herrlichkeit, aber in dir kann Er nur sein — was deine Seele aus Ihm macht.
Dein Glaube ist vielleicht grösser als der meine, aber ob dein Gott in dir so herrlich, so übervoll von Liebe und Erbarmung ist wie der Gott in mir, kann nicht beurteilt werden, da dieses tief verschlossen im Herzenskämmerlein liegt. Nur in der Auswirkung Seiner göttlichen Fülle durch uns wird dieses erst offenbar!
Darum freue dich Deines Gottes, wie ich mich stets an Ihm erfreue! Einem ist es gegeben, für zehn zu sorgen, dem anderen für tausend. Doch darum keinen Neid untereinander, denn alles, was wir geben, muss zuvor von Ihm empfangen sein. Je herrlicher mein Gott in mir lebt, um so herrlicher die Hinausstellung Seines Lebens durch mich! Je begrenzter Gott im Menschen, um so geringer das Ausleben. Je herrlicher die Auffassung Seines Liebe-Geistes, umso grösser Sein Macht-Bereich in der Brust Seines Kindes."
„Bruder Ursus, höre auf", rief Elisa erregt, „mich überwältigt die Herrlichkeit deines Vaters! Dagegen sind unsere Begriffe doch nur recht klein. Aber du hast mich belehrt über die Grösse deines Gottes im Menschen, und dafür danke ich dir!" —


Göttliche Führungen

Inzwischen ritt Achibald mit seinen Kameraden auf schlechten sandigen Pfaden nach Osten und sagte zu dem ältesten seiner Leute: „Dies ist mein letzter Dienst, und so überlasse ich dir schon heute die Führung!" Er wollte seine Gedanken sammeln, um wach zu sein und aufzumerken auf die göttlichen Führungen in sich. Nach einigen Stunden scharfen Rittes lud eine kleine Herberge zum Einkehren ein. Achibald bat um etwas Brot und Wein, und da der Wirt seine Gäste selbst bediente, fragte er ihn, wie weit die nächste Ortschaft noch entfernt sei — „ich vermute, wir haben einen falschen Weg eingeschlagen."
„Grössere Orte gibt es hier im weiten Umkreis nicht, nur kleine Ansiedlungen", antwortete der Wirt, „weil früher nach Syrien fast kein Verkehr bestand. Erst seit einigen Monaten kommen öfter Handelszüge aus dem Innenlande hier vorbei; doch konnte ich nie erfahren, mit welchen Waren sie eigentlich beladen waren."
Achibald horchte auf, er überlegte und fragte dann: „Wann sind wohl die letzten Wagen hier vorbei gezogen?"
„Eben heute erst fuhr eine Karawane vorbei, doch nur der Anführer, der ein Templer war, kehrte bei uns ein."
Achibald stand plötzlich auf, eine Ahnung sagte seinen wachen Sinnen, dass er auf dem gesuchten Wege sei, und ritt mit seinen Begleitern eilig den Wagen nach. Schon nach einer Stunde bemerkten sie in der Ferne eine Gruppe von Menschen in dieser einsamen Gegend, und beim raschen Näherkommen sahen sie, wie zwei junge Gefangene von anderen Männern grausam durchgepeitscht wurden.
„Halt!" rief Achibald empört. „Was geschieht hier? Wer gab euch den Befehl dazu?"
Ein trotziges Schweigen folgte, dann sagte einer der Gefangenen: „Herr, ein Gott muss euch gesandt haben! Wir sind Gefangene, und mein Weib wollte man schänden, da setzten wir uns zur Wehr, und deswegen diese Strafe!"
„Ist das euer Recht", fragte Achibald streng, „zwei Wehrlose so hart zu bestrafen? Rasch, fesselt diese Peiniger!" gebot er seinen Begleitern, die schon darauf gewartet hatten. Und sich zu den Geschlagenen wendend, erfuhr er, dass ihre Karawane mit anderen Gefangenen schon vorausgefahren sei, um bald zu lagern. So zogen die Reiter mit den Gefangenen ihnen nach und hatten dieselben auch bald erreicht.
„Bist du der Verantwortliche dieses Zuges?" fragte Achibald einen finster aussehenden Templer. „Hast du den Befehl gegeben für die Durchpeitschung der beiden?"
Dieser war erschrocken beim Anblick der Römer, sagte dann aber trotzig: „Ja, ich bin es! — und es ist mein Recht, so ich strafen lasse, wie ich es für nötig halte. Diese Verbrecher verdienen keine Nachsicht, weil sie sich gegen meine Befehle vergangen haben."
Sprach Achibald: „Meines Wissens darf niemand, der den Auftrag hat, Güter oder Menschen von einer Hand in die andere zu bringen, eigenmächtig Strafen verhängen, sondern er hat erst am Ziel das Vergehen seiner Behörde zu melden. Ich aber habe die Aufgabe, gegen solche Führer einzuschreiten, die wissentlich unsere römischen Gesetze übertreten! Da du eigenmächtig diese grausame Strafe an den beiden Gefangenen ausführen liessest, erkläre ich dich deines Amtes enthoben!"
Und er befahl seinen Begleitern: „Rasch, bindet ihm Hände und Füsse, ich werde ihn unserem Hauptmann ausliefern!" Sogleich war der Befehl vollzogen. Es standen aber noch 10 Wächter abseits, die sich vor den Römern fürchteten. Diesen befahl Achibald: „Bringt eure Waffen hierher! Es geschieht euch nichts, so ihr ein reines Gewissen habt, doch vorläufig seid auch ihr unsere Gefangenen."
Nun wandte er sich zu den unschuldig Gefangenen und fragte: „Warum seid ihr gefesselt? Was habt ihr verbrochen?"
Sprach einer: „Lieber Herr, weil die Templer uns überraschten bei einer Abend-Versammlung, wo wir dem grossen Heiland Jesu Loblieder sangen und an Seinen Worten unseren Glauben an Ihn stärken wollten, nahmen sie viele von uns — ohne jeden anderen Grund gefangen und haben uns und noch andere gefesselt auf diese Wagen geladen; doch unsere Zukunft ist uns unbekannt."
Achibald liess sogleich alle Gefangenen befreien und sagte: „Ihr seid frei! Denn nach unserem Gesetz habt ihr nichts verschuldet, das euch aus der Heimat verbannt!" — Tränen standen in seinen Augen, als er die vor Freude jauchzenden Männer als seine Freunde begrüsste; dann sprach er weiter: „Doch überlegt euch nun, wohin wollet ihr ziehen?"
Und einer sprach: „Unsere Heimat ist uns verschlossen, darum wäre es uns gleich, wohin wir gehen, nur nicht wieder zurück nach Judäa!"
Da sagte Achibald: „So werde ich für euch sorgen."
Dann ging er zu den beiden Geschlagenen, die von den anderen gepflegt wurden, und fragte: „Wo ist dein Weib? Warum sind die Frauen nicht zu uns gekommen?" Er erhielt zur Antwort: „Herr, du musst ihnen verzeihen, die Frauen sind fast alle ihrer Oberkleidung ledig und schämen sich, vor die Augen fremder Männer zu treten."
„So besorgt ihnen ihre Kleider", gebot Achibald; und ging zurück zu seinen Kameraden. Er liess den gefesselten Templer und die Wächter auf die Wagen bringen und ihre Füsse anketten, wie sie früher ihre Gefangenen behandelt hatten. Inzwischen kamen die Frauen, mit leichten Tüchern bekleidet, und dankten ihm mit Tränen der Freude für ihre Befreiung aus schwerer Not.
Achibald sagte zu seinen Leuten: „Sehet hier — wenn die Gelegenheit zum Beglücken Notleidender benutzt wird, wie schön kann dann das Leben sein! — Ich habe mir nun überlegt, es ist am besten, wir bleiben in dieser Nacht hier, und frühmorgens bringen wir den ganzen Wagenzug zu Bernhart; dann mag unser Cornelius über alles Weitere entscheiden." Dann verhandelte er mit dem Besitzer der Wagen und Tiere, und sie einigten sich über die Umkehr zum Hause Bernharts. Bald loderten, die Kochfeuer, die Tiere grasten, und alle suchten dann die Ruhe nach diesem so ereignisreichen Tage.
Schon gegen Morgen wurde aufgebrochen; es ward ein beschwerlicher Rückweg — doch endlich, als die Sonne sich schon neigte, kamen sie müde aber froh auf dem Grundstück Bernharts an.
Cornelius war erschüttert über das Elend der jungen Christen, und Ursus und Elisa sorgten teilnehmend für deren Unterbringung. Alle waren nach den ausgestandenen Leidenstagen ungemein dankbar für die ihnen erwiesene Liebe, denn solche Fürsorge hatten sie noch nicht erlebt.
Um all den Erlebnissen dieses Tages noch einen weihevollen Abschluss zu geben, machte Ursus den Vorschlag, gemeinsam im Freien zu lagern, damit sich die Seelen an der grossen Liebe Jesu erquicken möchten; und so erzählte er ihnen von seiner ersten Begegnung mit dem auferstandenen Jesus.
Tief beeindruckt von diesem besonderen Geschenk beschlossen alle diesen schönen Abend in Andacht und Lobpreisung all der weisen göttlichen Führungen.
Der neue Tag brachte mancherlei Entscheidungen. Eusebius zog mit seinen Kindern zurück ins Haus. Cornelius und Ursus nahmen Abschied von den Freunden, und alle freuten sich auf ein Wiedersehen bei den Hochzeiten.
Die Gefangenen kamen unter strenger römischer Bewachung nach Kapernaum zur Aburteilung.
Die aus schwerer Not Geretteten wurden vorläufig in die Gemeinschaft des Hauses Bernhart eingegliedert, um sich später auch in der neuen römischen Kolonie anzusiedeln, und konnten somit in eine friedliche Zukunft schauen.


Die Hochzeits-Feier

Im Hause Eusebius herrschte erhöhte Arbeitsfreude. Nach Elims Angaben wurden auf dem neu erworbenen Land sogleich Strassen und Wege angelegt. Viele Arbeiter und Handwerker waren beschäftigt und liessen ein Haus nach dem anderen erstehen, und sichtbar ruhte der Segen Gottes auf solcher fröhlichen Tätigkeit.
Im Hause Bernharts wohnte jetzt Achibald, um die Arbeiten für die neue römische Kolonie zu beaufsichtigen. Cornelius hatte aus Staatsmitteln grosse Karawanen mit Bauleuten und all dem nötigen Material gesandt, und nach drei Monaten schon konnte gemeldet werden, das grosse Werk gehe seiner Vollendung entgegen.
Der Hochzeitstag konnte festgesetzt werden. Cornelius und Ursus erhielten die Einladung. Und dann rüstete Mutter Elisa mit ihren Töchtern zur Abreise zum Vater Eusebius, und Achibald begleitete sie.
Einen Tag vor der Feier kam der Hauptmann Cornelius mit verschiedenen römischen Beamten, die zwar seine Freunde, aber noch keine Anhänger Jesu waren, begleitet von einem römischen Priester, der den Christenglauben angenommen hatte und die drei Trauungen vornehmen sollte.
Cornelius besichtigte eingehend die neue Ansiedlung und drückte dem Elim dankbar die Hand für all seine Mühe und Umsicht dabei.
Inzwischen waren neue Gäste angekommen und zwar Ursus mit einer Karawane aus Bethanien, da viele Brüder und Schwestern von dort sich ein eigenes Heim in der neuen Ansiedlung Achibalds begründen wollten.
Als besondere Überraschung war Maria, die Mutter Jesu, mitgekommen, ebenso Lazarus mit seiner Schwester Maria und zur grössten Freude aller auch die beiden Jünger Johannes und Petrus. Ruth war sehr glücklich, die Mutter Jesu kennen zu lernen; die Männer scharten sich um die beiden Apostel und hörten andächtig von ihren Zeugnissen aus dem Erdenleben Jesu, die auch auf den römischen Priester tiefen Eindruck machten.
Für das neue Heim seines Achibald hatte Cornelius selber die ganze Ausstattung übernommen, es sollte sein Hochzeitsgeschenk sein, und deshalb sollte es keiner von ihnen vorher besichtigen.
Als sich am anderen Morgen nach dem Mahl alle Hochzeitsgäste versammelt hatten, zogen sie unter fröhlichen Lobgesängen nach dem neuen Hause Achibalds, wo alle Feierlichkeiten stattfinden sollten. An der Spitze des Zuges ging der alte Eusebius zwischen Cornelius und Bernhart; ihnen folgten die drei jungen Männer Achibald, Joseph und Joram. Zwischen den beiden Marien schritt die Mutter Elisa und hinter ihnen die drei Bräute in festlich geschmückten Kleidern, dahinter Ursus mit den beiden Aposteln und dann die anderen Gäste.
An der Grenze der Ansiedlung bis zum neuen Heim hatten sich römische Soldaten aufgestellt, die Waffen blitzten in der Sonne, und erhobenen Armes grüssten sie den Hochzeitszug. Am Eingang des Hauses wartete Elim mit zwei römischen Herolden auf die Ankommenden; und auf sein Zeichen kamen von rechts und links je fünf Fanfarenbläser und begrüssten die Gäste.
Elim bat um das Amt, das neue Heim jetzt aufschliessen zu dürfen, und dann traten als erste die drei Väter in das Haus. Überrascht schauten die Gäste in die Schönheit eines grossen Saales und auf ein hohes, mit Blumen geschmücktes Elfenbein-Kreuz, hinter dem sieben brennende Leuchter standen. — Die Herolde baten, Platz zu nehmen. —
Aller Augen waren nun auf den kaiserlichen Beamten gerichtet, der den jungen Ehemännern die römischen Urkunden überreichte mit weitgehenden Vollmachten über ihre Ansiedlungen; und die Mutter Elisa ward zur Vorsteherin des neuerbauten Waisenhauses ernannt.
Darnach nahm der Priester nach dem römischen Ritus die drei Trauungen vor, und mit Gebet und einem Segensspruch aus den Psalmen wurde diese schlichte Feier beendet.
Der Priester bat nun den Apostel Johannes, diesem Fest noch die rechte Weihe zu geben, und Johannes ging mit Petrus an den Altar und begann: „Meine geliebten Freunde, Brüder und Schwestern! Durch dieses seltene Fest, das uns die göttliche Liebe geschenkt hat, sind wir hier zusammengeführt und haben als Hochzeits-Gemeinde den Segen unseres grossen Gottes, unseres wahren Vaters von Ewigkeit her, empfangen. Wir, als berufene Zeugen Seines Sohnes, unseres Meisters Jesus Christus, haben euch in dieser geweihten Stunde noch ein allergrösstes Zeugnis Seiner Liebe zu Seinen Menschenkindern zu überbringen, und so bitte ich euch: Reichet einander die Hände, schliessen wir uns zu einer innigen Vereinigung zusammen, damit der heilige Strom Seiner Liebe-Kraft uns alle durchdringe!" (Alle reichen sich die Hände, bilden somit eine Kette untereinander, und lauschen erwartungsvoll auf das nun Kommende.)
„Jesus, der gütige Heiland aller Menschen, liebt uns so innig, dass Er Selbst in dieser Stunde durch Seine sichtbare Gegenwart dieses euer Fest weihen will, um den heiligen Herzens-Bund mit euch allen zu erneuern und für die Prüfungen des Lebens zu festigen!"
Hierauf ging Petrus einen Schritt nach links, und zwischen den beiden Aposteln ward allen die leuchtend weisse Gestalt Jesu sichtbar! —
In Andacht tief ergriffen schauten aller Augen auf Ihn! Keiner konnte sich der Heiligkeit dieses Augenblickes entziehen. Nach einer weihevollen Stille sprach dann Johannes weiter: „Wenn auch Sein Mund schweigt, obgleich wohl jeder gerne Worte von Ihm, dem Herrlich-Gegenwärtigen, zu vernehmen wünscht, so sei doch Sein Wille uns Gesetz!
Sein heiliger Wille aber ist: mit Seinen wahren Kindern nur in ihrem Herzen zu verkehren! Wie gern will Er, als die reinste Liebe, mit jedem Menschenkinde sprechen, sobald es sich entschliesst, in Wahrheit in einen innersten Herzens-Bund mit Ihm einzugehen!"
Segnend hob jetzt der Herr Seine Hände — in diesem Augenblick wurden alle von einem starken Strom göttlicher Kraft und Klarheit ergriffen. Ein jeder fühlte die segnende Hand des grossen Erlösers auf sich ruhen. Doch nach einem Augenblick lautloser Stille — war Seine sichtbare Gestalt entschwunden. —
Minuten vergingen — dann sprach Johannes weiter: „Als gnadenvolles Geschenk unseres gütigen Meisters darf ich euch nun künden: Nie in eurem Leben werdet ihr diesen heiligen Anblick vergessen können! Und so jemals Schweres über euch kommen sollte zur Probung eures Gottvertrauens, dann denket an diese Stunde, wo Jesus sichtbar einen Bund mit euch aufrichtete zum Beweis Seiner steten Gegenwart, die uns mit göttlicher Kraft durchströmen will, so wir uns Seiner helfenden Liebe bewusst bleiben! —
Und nun höret weiter: Du Achibald, Joseph und Joram — ferne sei euch von nun an jede Furcht! Durchdrungen vom schöpferischen Sieger-Geist will Sein herrlicher Beistand mitwirken bei all eurem Tun, unsichtbar für die Welt, doch offenbar soll Sein Segen werden allen Gläubigen.
Euch drei jungen Frauen soll die Gabe werden, den Kranken und seelisch Bedrängten Hilfe zu bringen. Sein heiliger Liebe-Wille möge euren Herzen immer offenbar machen, inwieweit Hilfe angebracht ist. Was eure Hände segnen, soll gesegnet sein! —
Euch, liebe Festgemeinde, sage ich: Kein Tag möge vergehen, wo ihr nicht bewusst etwas austeilet von dieser segnenden Liebe, die euch Jesus heute schenkte. — Nun mag Bruder Petrus weiter reden als treuer Zeuge der erlösenden Jesus-Liebe."
Und Petrus begann: „Liebe Brüder, liebe Freunde! Diese Stunde war ja für uns alle ein neues Glied in der Kette Seiner Gnaden-Beweise. Jesus, der Sich auf Golgatha opferte für die von Gott abgefallene Menschheit und als Sieger über den Tod auferstanden ist, hat uns, Seine Jünger, zu Trägern Seines Erlöser-Geistes gemacht, um alle Irrenden und Verirrten zurückzuführen zum wahrhaft göttlichen Sein und Leben.
Keiner sage: ich kann und darf mich Ihm nicht nahen, da ich zu tief in das Weltliche versunken war, sondern ein jeder sei sich bewusst: diese Erkenntnis Seiner Erlösungs-Absicht sei uns ein Ansporn, auch etwas von diesem Erlöser-Geiste in uns zu erwecken! Doch nicht, um ihn nur zu besitzen, sondern um ihn zu verwirklichen am Nächsten und Jesus dadurch zu verherrlichen.
Das strahlende Licht in Seiner Lehre soll uns neue, leuchtende Wege weisen zur Betätigung unserer Nächstenliebe, und Sein Beistand wird uns die Klarheit und Kraft zu jeglichem Gelingen geben. Was die wahre, selbstlose Liebe durch euch will, ist, als wenn Gott es will, und trägt den Stempel göttlichen Segens schon in sich.
So nehmet nun hin das Geschenk dieser grossen Freudigkeit zur Betätigung eurer Liebe am Nächsten und traget dazu bei, dass auch in Anderen solche Herzens-Freude am freiwilligen Helfen erwache! — Amen."
Darnach bat Cornelius die Anwesenden, das Festmahl einzunehmen, und führte sie nach oben, wo eine Hochzeitstafel angerichtet war, wie sie noch keiner gesehen hatte. Weissgekleidete Diener harrten der Gäste und wiesen ihnen die Plätze an. Auf einer Erhöhung sassen zwei Harfenspieler und begleiteten die Feststimmung mit zartem Gesang.
Cornelius stand auf, faltete die Hände und sprach: „Meine Kinder, Freunde und Brüder! Vor meinem inneren Auge wird die Gestalt Jesu wieder lebendig. In Seinem Sinne des liebenden Dienens liess ich dieses Festmahl für euch bereiten, und nun wollen wir Ihm danken, der Sich so liebreich uns offenbarte, und so stimmt mit mir ein in die Bitte: „Herr! Du hast wieder in reichem Masse Deine Liebe ausgeschüttet und willst uns mit Deinen Gaben beglücken und hast überreich auch diesen Tisch gedeckt! Darum danken wir Dir aus der Tiefe unseres Herzens und bitten Dich: Sei gegenwärtig! •— Sei unser Gast! — Und segne auch diese Gaben, wie Du uns gesegnet hast! — Amen."
Die Harfensänger liessen ihre Weisen ertönen, und es wurde für alle ein freudiges Mahl.
Zum Schluss bat Elisa die Mutter Maria, aus der Kindheit Jesu noch einiges zu erzählen, und so rollten Szenen aus dem täglichen Leben bei Seinen Eltern vor ihnen ab, wie es noch keiner kannte. Maria schloss: „Es gibt keinen Tag im Leben Jesu, an dem Er Seine heilige Aufgabe, Sein grosses Ziel vergessen hätte!
Was ich damals nicht erkennen konnte, leuchtet mir heute als Sein ernstes Streben zur Einigung mit Gott entgegen. Was waren alle unsere Sorgen, Kämpfe und Ängste um Ihn? Nichts weiter als zu wenig Glauben und Vertrauen. Während Jesus mit inneren Versuchungen rang und sich nach Liebe und Verstehen sehnte, hielten wir uns mehr an das, was der Tempel als das Rechte lehrte und wollten Ihn belehren.
Doch hörten wir nie einen Vorwurf von Ihm über unser Nichtverstehen Seiner hohen Absichten. Und litt ich unter dem Zwiespalt unserer verschiedenen Ansichten, da fand Er stets das rechte Trostwort, und wie Balsam war Sein zartes Verstehen für unsere Unzulänglichkeit. Hoch erhaben stand Er über unseren menschlichen Schwächen, aber für alle war Er der Helfende und Erlösende! Für alle der ewig uns Beglücken-Wollende!
Nicht bin ich selig, weil ich Seine Mutter war, o nein, selig sind alle, die Ihm liebend ihr Herz als Wohnstätte zubereiten und nur die eine Sorge haben: Ihn nie zu betrüben, sondern freudig bereit sind, für Ihn zu leben, und wenn es gilt, auch für Ihn zu sterben! Welch eine ungeheure Liebe Er zu Seinen Brüdern hatte, geht aus Seinem Wort hervor, da er sterbend zu mir sagte: ,Siehe, das ist nun dein Sohn!' Dieses Vermächtnis erst hat mir meine Aufgaben klarer zum Bewusstsein gebracht! Denn in jedem Menschenkinde sehe ich nun das Verlangen nach rechter, verstehender Mutterliebe!
Liebe Freunde! Die Welt wehrt sich wohl noch gegen diesen selbstlosen, ja sich opfernden Geist der verstehenden Liebe. Aber es kommt noch einmal die Zeit, wo dieser Geist allen zerstörenden Mächten Einhalt gebieten wird, um Sein Friedens-Reich ganz zu verwirklichen. Freuet euch, ihr Lieben, die ihr alle berufen seid, mitzuarbeiten an Seinem grossen Werke! Denn von nun an gibt es keinen höheren Liebesdienst und keine grössere Freudigkeit, als seinem Nächsten zu helfen und Jesus als den Allerhöchsten anzuerkennen."
Maria schwieg — mit heiligem Empfinden war jedes ihrer Worte aufgenommen — aber nun wollten gerade die noch mehr wissen, die Ihn am wenigsten suchten. Maria aber erklärte ihnen: „In der dienenden Liebe zu eurem Nächsten kommt Sein Geist euch schon entgegen. Erfahret dieses erst einmal, und auch eure Begriffe von Seiner Wesenheit werden sich erweitern."
Cornelius ordnete nun eine Ruhepause für alle an, doch am Abend wollten sie diesen festlichen Tag mit einer gemeinsamen Andacht beschliessen. Die Männer besichtigten gern Haus, Hof und Garten; und Elim, als berufener Verwalter, hatte viel zu erklären.
Lazarus versprach, noch manche brauchbaren Leute zur Hilfe herzusenden, die er so reichlich hatte, weil Bethanien eine Zufluchtsstätte für so viele Verfolgte geworden war.
Die Mutter Maria hatte sich zu den Frauen gesellt. Elisa fühlte sich wie ein Kind in ihrer stillsegnenden Nähe.
Der Vater Eusebius hatte noch nie so viel Liebe erfahren wie heute und sagte in frohem Ton zu seinem Freunde Bernhart: „Mein Bruder, wie hat der gütige Gott die Schreckensnacht von damals so umgewandelt in grössten Segen! Wir dürfen uns wohl ewig darüber freuen."
Als es Abend ward, luden die Diener die Gäste wieder in den grossen Speisesaal. Johannes sprach den Segen und schloss: „Du schauest in unsere Herzen, in unsere Gedanken, und diese künden Dir unseren innigen Dank, den wir als Deine Kinder Dir nun darbringen wollen. Dein Wille geschehe allezeit! Denn Dein ist das Reich und die Kraft und alle Herrlichkeit! — Amen."
Die Harfensänger stimmten leise feierliche Weisen an, und nach dem Mahl beschied Cornelius die Gäste auf das Dach des Hauses zu einer Abend-Andacht. Elim hatte für alle bequeme Plätze besorgt, der Altar vom unteren Saal stand jetzt hier oben, und die sieben Leuchter brannten schon.
Die Harfenspieler an jeder Seite des Altars leiteten mit leisen Akkorden den Abendsegen ein, und Ruth wollte einen Psalm singen vom Leid und von der grossen Freude über die Errettung. Sie begann mit schöner Stimme, begleitet von beiden Harfen: Psalm 126, der uns auch heute noch zeigen kann, wie wir aus der Gefangenschaft unserer irrtümlichen Begriffe, vom Egoismus und vom Eigenwillen befreit werden durch all die göttlichen Führungen in unserem Leben.
Als Ruth sich wieder auf ihren Platz neben Achibald setzte, erhob sich Johannes, ging an den Altar und sprach: „Verklungen sind die Töne, verklungen unser Loblied, aber weiterlebend wirken Töne und Lob als Schwingungen in unseren Herzen. Ein grosser Tag, ein Tag der Freude und der Erfüllung vieler Wünsche liegt hinter uns, aber wichtiger noch: ein Tag, der uns mit dem Herrn innig vereinte!
Meine Freunde, wir, als Seine Jünger, haben die Aufgabe, von allem zu zeugen, was unsern Herrn und Meister Christus Jesus verherrlichen kann, denn Er ist der alleinige Herr aller Welten! Aus Liebe zu Seinen verirrten Geschöpfen wurde der allmächtige Schöpfer Selbst ein Mensch in Jesus. Er wollte diese Erde und ihre Bewohner freimachen von all den Fesseln der Eigenliebe und Gott-Entfernung, die alles Leid verursachen. Immer wieder zeigte uns Jesus den grossen Schöpfer als Vater und Seine herrlichen Absichten mit der Führung der Menschenseelen bis zu ihrer Vollkommenheit hin. Aber die Bewohner dieser Erde vergassen oft ihres Schöpfers und Erhalters und wollten sich nach eigenen Gesetzen ihr Zusammenleben einrichten. Wie klar enthüllte Jesus uns das wahre Wesen der Gottheit und ihre Absichten mit der Erschaffung dieser Erde. Es wäre Pflicht jedes Menschen gewesen, Seine Offenbarungen wenigstens zu prüfen und ihre Wahrheiten dann anzunehmen — oder nicht. Aber wenige nur gaben sich die Mühe, Seine hohe Mission zu begreifen, um etwas von der Wesenheit Gottes zu erfassen, und diese wurden Seine Freunde. Alle anderen aber lehnten ohne Bedenken diesen wahrhaft seltenen Menschen ab — und wurden Seine erbittertsten Feinde. Wie nun Jesu Grösse, Seine Macht und die Herrlichkeit Seiner Lehre zunahm, wuchs auch der Vernichtungswille Seiner Feinde. Und dieser wahre Freund und Heiland aller Armen und Kranken liess scheinbar diese Feinde über Sich triumphieren. Doch wollte Er uns dadurch einen neuen Weg zeigen: wie jeder Mensch durch Kampf und Leid seine Eigenliebe überwinden lernt, um selbst seine Feinde noch segnen zu können und dadurch Gott ähnlicher zu werden. So offenbarte Er uns ,die Herrlichkeit des Reiches Gottes' in unserer eigenen inneren Welt. Und darum sollt ihr heute einen Augenblick hineinschauen in einen solchen Menschen, in den wir sonst nicht hineindringen dürfen, der aber in unser äusseres Erdensein doch hineinragt. Somit sage ich nun nach dem Willen des Herrn — ,Hephata!' — tue dich auf!" (Markus 7, 34. In der geistigen Entsprechung gibt uns diese Heilung den Hinweis, wie Jesus unsere noch verschlossenen inneren Sinne erwecken kann und will, dass wir aufmerken auf die Stimmen in der Natur und jubelnd vernehmen die Sprache unseres Schöpfers und nicht taub und stumm an ihren Offenbarungen vorübergehen)


Stephanus

Lichte Wolken umfangen die Zuhörer — ein anderes Licht fängt an zu leuchten, und in dieser Helle liegt plötzlich eine schöne Landschaft vor aller Augen. In der Ferne wird ein Tempel sichtbar, es ist, als wenn er auf sie zukäme. Goldig glänzen die Kuppeln, und jetzt ist die offene Tempeltür schon so nahe, dass sie in die Innenhalle schauen und auch sogleich hineintreten. Ihr Ziel ist erreicht, sie alle sind nun Besucher dieses Tempels. Durch einen anderen Eingang kommen viele weissgekleidete fröhliche Menschen herein, doch sehen diese die Erdenmenschen noch nicht. Sie nehmen ganz vorn Platz, links die weiblichen, rechts die männlichen Besucher. Auf einer Galerie steht ein Chor von Kindern neben der Orgel, auf der ein Jüngling spielt, und mit hellen, frohen Stimmen beginnen sie ein Lied von Lob, Dank und Anbetung zu singen.
Nun kommt ein Priester, es ist Stephanus, der von Tempelschergen gesteinigt wurde. Sein erster Blick gilt grüssend den Besuchern von der Erde, und so spricht er zu ihnen: „Brüder und Schwestern, die ihr heute durch die Gnade Gottes in dieser meiner jetzigen Welt weilen dürfet, ich grüsse euch! Was ich als Mensch nicht ahnen, nicht hätte fassen können, hier ist es Wirklichkeit! Es ward mir schwer, in diese Schönheiten, in diese unaussprechliche Pracht mich einzuleben, während noch ein Alpdruck vom Irdischen her auf meiner Seele lastete, aber mein Jesus führte Selber mich in diese Welt, als meine Heimat ein.
Als ich fragte: Wie viele solcher schönen Himmel gibt es wohl? da sagte Er: ,Diese gibt es ohne Zahl! — aber deine Welt gibt es nur einmal, weil alles, was du hier findest, du ja selbst durch deine Liebe zu Mir und zu deinen Nächsten so schön gestaltet hast. Es ist Mir eine grosse Freude, dass du deine Welt mit denen teilen willst, die um Meines Namens willen auch ihr Erdenleben verlassen mussten, und ihnen eine Heimat schaffst, die Meiner wahren Kinder würdig ist.' —
So denke ich nur noch in Wehmut meiner Erdenbrüder, die noch seufzen unter der Schwere der Sorge und des Leidens und nicht ahnen, was ihrer einst wartet. Die grösste Wonne ist ja die Sorglosigkeit, in der wir hier alle leben, da wir die weisen Absichten Gottes mit allen unseren Führungen jetzt erkennen. Hier findet der leise Gedanke oder Wunsch in kürzester Zeit schon seine Erfüllung.
Freilich arbeiten und schaffen wir auch hier, aber es macht uns nicht müde, sondern nur kraftvoller und froher. In dieser meiner Welt fühlen wir alle uns so frei und glücklich, weil nicht mehr der geringste Zug zum Niederen das eigene innere Leben beengt. Schauet umher, überall Ordnung und Harmonie, und in diesem Strahlenglanz offenbart sich uns der grosse Gott als die Quelle allen Lichtes und Lebens.
Aus Liebe zu euch — ersteht jetzt in meinem Herzen der Wunsch, euch einen Beweis dieses Erlebens in eure Erdenwelt mitzugeben. Darum will ich jedem von euch einen Trunk reichen, der euren inneren Geist stärker machen wird, und immer sollt ihr den köstlichen Geschmack wieder empfinden, so wir aneinander denken und uns auf geistiger Ebene begegnen.
Stephanus rief einen Namen, darauf kam ein Jüngling mit einem Kruge und Becher aus durchsichtigem Gold. Stephanus nahm beides und reichte jedem, zuerst der Mutter Maria, den gefüllten Becher. Bei jedem sprach er kurze Segensworte, doch alle sahen: der Krug wurde nicht leerer. „Ein Gnadengeschenk der ewigen Liebe ist es", sagte er zum Schluss, „ich darf austeilen, soviel ich will, im Augenblick ist es ersetzt, sei es Brot, sei es Wein, seien es Früchte - die Vorratskammern sind immer gefüllt.
O meine Brüder! Vergesset nie diese heilige Stunde, da ihr im Himmel eures Bruders weilen durftet. Ich sehe noch Fragen in euch; so sage ich zum Trost: Nicht nur im Himmel ist der ewige Vater zu Hause, sondern ebenso bei Seinen noch ringenden Kindern auf eurer Erde; und es macht Ihn glücklich, so sie den Kampf um das Höchste nicht scheuen. Ihr werdet Ihn in euch finden, so eure Herzen in Liebe entflammen. Lasset euch noch segnen von mir: Sein Geist komme über euch! Er sei euer innerer Führer und gebe eurem Geist das Zeugnis, dass ihr Seine Kinder seid! —Amen!"
Durch diese Worte des Stephanus an seine Erdenbrüder wurden die anderen Anwesenden im Tempel erst davon unterrichtet, und so sahen sie nun auch diese Besucher, die, obwohl in ihrem astralen Leib, doch genau so aussahen wie im Fleische lebend. Es waren ja auch Bekannte von ihnen darunter, so die Mutter Maria, Lazarus, Johannes und Petrus, und es entstand der Wunsch in den Abgeschiedenen, mit ihnen zu sprechen.
Da sagte Stephanus: „Es ist auch der Wunsch unseres Heiligen Vaters, dass ihr mit euren Erdenbrüdern Worte tauschet, darum ist vor dem Tempel alles vorbereitet. Ein jeder Zug der Liebe zueinander soll seine Erfüllung finden." Und so war die Feier beendet.
Stephanus hatte sich zu Eusebius gesellt und sagte: „Bruder, wer hier ins Jenseits eintritt, lernt erst die unendliche Liebe des Herrn erkennen. Aber es ist schwer, zu euch davon zu sprechen, denn unsere Worte kommen aus dem Geistes-Leben und sind auch nur für euren Geist verständlich. Sobald er durchglüht ist von dem hier herrschenden geistigen Leben, dann kommt der Drang zum Schaffen und dadurch zu immer neuen Herrlichkeiten. Darum nützet eure Erdentage recht, denn jeden betätigten Liebes-Gedanken findest du hier als köstliche Frucht; und aus ihr entsteht eine neue Schöpfung in deiner eigenen ewigen Welt.
Begrüsse nun dort dein Weib, die sich mit deinen Kindern unterhält; bedenke aber, dass diese Stunde ein köstliches Geschenk der grossen Gnade Gottes ist!"
Eusebius eilte hin, wo seine Kinder und Achibald sich mit einem lieblichen Wesen unterhielten. Es kostete ihn Mühe, auch nur ein Wort zu sagen, aber sein Weib begrüsste ihn: „Eusebius! Freue dich dieser Gnaden-Stunde, die ich oft herbeisehnte, um dir zu beweisen, wie Gott lohnt. Unser gemeinsames Leben ist ja nicht zu Ende, sondern nur unterbrochen, um in ein höheres Sein überzugehen. Ich freue mich schon, wenn wir wieder gemeinsam Seinem grossen Werke dienen werden." — Und zu Achibald sagte sie: „Dir aber, meinem Sohn, der du dich heute zu deinem von Gott dir gegebenen Weibe bekannt hast, sage ich: Behaltet euch lieb aus dem Geiste Jesu, der nur glücklich machen will, dann liegt Segen auf eurem Leben. Ihr aber, Joseph und Joram, nehmet auch diese Worte an, dass sie euch Hinweis seien zu jener Liebe, die auch sterben kann für Jesus!"
Johannes nahm nun Stephanus bei der Hand und sagte: „Bruder, diese Zeit hier ist um, der Herr ruft uns wieder zurück auf die Erde. Deine Liebe aber wird uns unvergessen bleiben."
Langsam verschwinden die Schönheiten dieser Welt, langsam gehen die Gedanken wieder in die irdische Wirklichkeit zurück, und als wenn ein Schleier zerreisst — sehen sich alle wieder auf dem Dache vereint. —
Nach einer langen Stille, als aller Augen auf Johannes gerichtet waren, sprach dieser: „Wenn wir die Wichtigkeit dieses Tages und dieser Stunde ganz erfassen, dann erst werden wir inne werden, wie ein göttlicher Vater uns als Seine Kinder zu erziehen sucht. Wir haben der Seele und dem Geiste nach in der Sphäre unseres dahingegangenen Bruders geweilt und haben seine Welt geschaut und haben die Kraft der Liebe erlebt, die uns solches erleben lassen konnte, um freudiger alle an uns herantretenden Aufgaben zu verwirklichen."
Und Johannes sprach weiter: „Jetzt sehe ich den Herrn zu uns kommen! Über Seinen Augen ist ein Leuchten, und Er spricht jetzt zu euch — durch mich: ‚Nicht ohne Grund habe Ich diese Erde gewählt und lebte hier als Mensch, und nicht ohne Grund verweile Ich noch suchend, helfend und erlösend auf dieser Erde, wie diese Stunde euch allen den Beweis gibt. Wohl bin Ich für eure Augen dem Irdischen entrückt, und mancher bittet: ,Wenn ich Dich nur einmal sehen könnte!'
Mein Vaterherz möchte wohl gern jede Bitte erfüllen, aber Meine Kinder sollen sich frei entfalten in ihrem Glauben und in ihrer Liebe. Sie sollen aus dem eigenen Wollen sich ihre Innen-Welt erbauen. Meine Kinder sollen Mein Leben in sich tragen, Mein Ich verweben mit dem eigenen Ich, um aller Welt zum Vorbild schon auf Erden Himmelsbürger zu sein.
Darum heiliget euch noch mehr, um gefestigt zu sein, wenn der Feind alles Innen-Lebens immer wieder versucht, Mich und euch zu entheiligen!
Kindlein! Die Welt fordert euren Einsatz, fordert das Letzte, um euch des Herrlichsten zu berauben! Aber sie macht euch reif dadurch für Meine Gnade. Darum machet euch frei von der alten Liebe zu allem Vergänglichen, um das Höchste Meines Lebens in euch zu entfalten! Doch nur soviel kann euch davon gegeben werden, als ihr den Anderen opfert. Lebet ihr aber in Meiner Liebe und in der gerechten Ordnung, so wird Mein Segen sichtbar — aller Welt durch euch offenbar werden. — Amen!'“
Dann hob Johannes seine Hände und sprach: „So nehmet hin nach Seinem heiligen Willen Seinen Segen, damit ihr lebendiger werdet in der Liebe zu Ihm und zu euren Nächsten! Bleibet in Ihm, damit Er auch in euch verbleiben kann! Amen. Amen. Amen."
Beendet war die Feier! —
Und tief bewegt wanderten alle Gäste nach dem Hause des Eusebius zurück.
Am anderen Morgen begleiteten Cornelius, Ursus und Bernhart das junge Paar in ihr neues Heim und somit in ihr neues Leben.
Elim und der Priester erwarteten dort Achibald als den neuen Herrn und Besitzer, und Elim sprach: „Die Ordnung aus Gott gebietet mir, dir die Schlüssel zu deinem Hause jetzt zu überreichen. Ich werde stets ein treuer Freund und gerechter Verwalter sein. Die Gnade des Herrn und Sein Segen sei mit euch!"
Dann erschienen die zur neuen Ansiedlung gehörenden Arbeiter mit ihren Angehörigen, und auch diesen wurden feierlich, der Ordnung wegen, die Schlüssel zu ihren Heimstätten übergeben, obgleich sie schon darin wohnten.
Achibald begrüsste jeden und sprach dann zu ihnen: „Meine Freunde und Hausgenossen! Ich bitte euch alle: helfet mir bei diesem beginnenden Werke der Nächstenliebe, um vielen Unglücklichen eine neue Heimat aufzubauen. Der Leitgedanke unseres Zusammenlebens sei: ,Treue um Treue!' Keiner verlasse den Anderen in Freude, noch im Leid, dann wird Jesus, als der Herr des Himmels und der Erde, auch unsern Bund sichtbar segnen."
Ruth blickte voll Liebe auf ihren Achibald, dann sagte sie zu allen: „Das liebevolle Walten unseres Gottes hat mich an die Seite eures Herrn gesetzt, der euch Allen Bruder und Vater sein will. Ich bitte euch: Lasset uns in rechtem Vertrauen zueinander stehen, wie der Heiland uns lehrte. Kommet ruhig zu mir, wenn die Liebe euch treibt, ich möchte so gerne euch Allen Schwester und Mutter sein!"


Theophil bei Johannes

Bethanien war immer noch der einzige Zufluchtsort, wo allen Verfolgten wahrer Trost und rechte Hilfe gespendet wurde. Lazarus war durchdrungen von der Kraft heiliger Liebe zu allen Menschen, und fühlte sich innerlich geeint mit Dem, der ihn so reich und über alles Kleinliche erhaben machte, denn kein Tag verging, an dem ihm nicht neue Beweise göttlicher Liebe und wunderbarer Führungen offenbar wurden.
Eines Morgens, als Lazarus mit einigen Knechten nach Jerusalem fahren wollte, um Öl und Früchte dort zu verkaufen, kam Theophil und bat, mitfahren zu dürfen, um einige Stunden bei den Jüngern zu verleben.
Unterwegs sagte Lazarus: „Lieber Theophil, es freut mich, einmal allein mit dir zu reden. Du weisst, ich habe vor kurzer Zeit durch Ursus neue Freunde im Norden Galiläas kennengelernt. Die Art ihres Wirkens gleicht der unsrigen, nur fehlt ihnen noch die weitere Unterweisung in unsern Glaubens-Lehren. Hättest du Lust, mit einigen Gleichgesinnten von uns dich dort als Lehrer und Priester zu betätigen? Ich weiss, es wird viel Materielles getan von Seiten der römischen Freunde, aber es kommt letzten Endes doch darauf an, dass die Gemeinde in das tiefere Verständnis der Jesu-Lehren eingeweiht wird. Und so denke ich, du seiest die richtige Persönlichkeit dazu."
Theophil überlegte — dann sagte er ernst: „Lieber Lazarus, was du mir hier anratest, ist, als spräche es der Herr zu mir. Darum danke ich dir von Herzen und will den Herrn bitten, mich dieses Dienstes in Seinem Namen wert und würdig zu machen. Ordne du selbst alles Nötige dazu an und bestimme die Brüder, die mit mir gehen sollen, denn das Wichtigste ist, dass wir alle vom rechten Jesu-Geist durchdrungen sind, damit das heilige Gotteswort belebend auf ihre Herzen einwirke und die Begriffe Seiner Lehre immer realer und herrlicher sich im Irdischen auswirken können."
Lazarus war erfreut über die schnelle Zustimmung, und erklärte noch: „Ich erlebe es oft an den neu Hinzugekommenen, dass sie, obwohl sie Jesus nicht gekannt haben in Seinem Erdenleben, doch noch ganz menschlichen Vorstellungen von Ihm Raum geben, die einst zu grossen Irrtümern führen können.
Heute, wo seit Seinem sichtbaren Fortgehen von uns der Herr und Meister rein vergöttlicht ist, darf sich Sein Menschliches nicht in den Vordergrund unserer Begriffe drängen, da dadurch Sein ewiger Vater-Geist verhüllet würde. Darum, mein Theophil, diese meine Vorsorge für die neuen Ansiedlungen unserer Freunde."
„Ich verstehe dich vollkommen, lieber Lazarus", antwortete Theophil, „und wenn du überzeugt bist, ich sei der Rechte dazu, dann kann mir mein Fortgehen von dir nicht mehr schwer fallen. Ich fühle einen Beweis göttlicher Gnade darin, in dieser Weise meinen Brüdern, und auch unserm Jesus, nützen zu können."
Von weitem sahen sie Jerusalem. Der Verkehr war auf dieser Seite besonders lebhaft, und Lazarus fiel es auf, dass viel mehr Soldaten des Tempels zu sehen waren als früher. „Dies ist nicht ohne Bedeutung", sagte er darum zu Theophil, „der Tempel macht Anstrengungen, um sein Ansehen zu wahren! Man muss auf alles achten, was in unserer engeren, wie weiteren, Umwelt vor sich geht. Nach aussen schützt uns wohl das römische Recht, aber wenn etwas innerlich in uns vom rechten Leben abweicht, stärkt es immer den Gegner.
Es ist wohl richtig, ganz durchdrungen zu sein von dem Bewusstsein: ich stehe unter dem Schutze des Allerhöchsten! Aber dieses Wissen setzt doch die grösste Vorsicht voraus. Je mehr der Tempel rüstet, umso klarer müssen wir im Innern sein! Dann sind die Bedingungen erst erfüllt, wo Gott, unser aller Vater, Sein Wort und Seine Verheissung einlösen kann: ,dass Er uns nicht verlassen noch versäumen will.'
Was ist in dem letzten Jahre nicht alles an uns herangetreten; und du weisst es, mein Theophil, alles Leid hat immer eine herrliche Lösung gefunden."
„Du hast recht, lieber Lazarus. Aber wenn wir an alle denken, die um Jesu willen leiden und irgendwo in den Gefängnissen schmachten, was sollen wir nun eigentlich dabei tun? Mit Gewalt lässt sich nichts ausrichten, und unsere Gebete bringen ihnen auch nicht die ersehnte Freiheit." —.
„Mein lieber Theophil", sagte Lazarus ernst, „verlasse den Boden nicht, auf den dich die ewige Liebe gestellt hat! Hast du nicht an dir selber erfahren, dass Gott sehr viele Mittel und Wege hat, um Seine Getreuen zu erretten? Wohl retten unsere Gebete keinen Bruder aus den Gefängnissen der Templer; aber Kraft geben wir ihnen, damit sie ruhig und vertrauensvoll werden - und dann kann Gott, als wahre Erlösung bringende Liebe, helfen. So schmerzlich es ist, Glaubensbrüder in Gefängnissen zu wissen, so ist aber für die in Drangsal Lebenden ein jeder gute Gedanke ein Licht, ein Sonnenstrahl. Um wieviel mehr wird das Herz mit Kraft erfüllt, so ich weiss: ich bin nicht verlassen, Gott ist mit mir!
Denke immer daran: Alles hat seinen weisen Grund und muss der Entwicklung nach Oben und Innen dienen. Je mehr du dich ganz in diesem Sinne deiner heiligen Lebensaufgabe hingibst, desto klarer wird auch dein Blick, und du überschaust die Dinge in ganz anderem Lichte denn früher. Die Zeit ist vorüber, wo Jesus als Mensch noch besorgt war um unser Wohlergehen, um unsere Ruhe und Sicherheit. Jetzt, wo wir die Mittel kennen, die Er uns schenkte, und da wir Seinen Geist als wahren Tröster und inneren Führer in uns tragen dürfen, sollen wir selbst durch unser inneres Verhalten unser Schicksal und künftiges Sein gestalten.
Es ist eben unserm Herrn und ewigen Vater die grösste Freude, so ein Kind Seiner Liebe von all den Gaben, die uns frei, froh und stark machen, völligen Gebrauch macht. Alle Gewalten der Tiefe zergehen dabei schliesslich in nichts, und alle Anfeindungen werden fruchtlos. Dieses ist mein Glaube und mein Wissen, mein Trost und meine Zuversicht."
Theophil sah Lazarus lange an, dann sprach er: „Bruder, wer dich reden hört, ist auch überzeugt von der Wahrheit deiner Wort - sie sind Leben und geben uns Leben."
Darauf antwortete Lazarus: „Lieber Theophil, ich habe mir angewöhnt, so wenig wie nur möglich zu sprechen. So ich aber rede, verfolge ich stets einen bestimmten Zweck, und dieser kann nur erreicht werden, so ich aus überzeugtem Herzen rede. Denke in Zukunft immer daran, welche herrlichen Aufgaben dir gestellt sind! Denn ein jedes Menschenherz ist berufen, eine Wohnstätte für den Herrn und eine Zufluchtsstätte für arme, suchende Seelen zu sein. Die Jünger werden dir heute auch darin noch manches offenbaren, damit dein Geist sich freier bewegen lernt, um das Herrliche des inneren Lebens wahrzunehmen. Und siehe, dieses kann dir nicht wie von aussen offenbart werden, da dir nur durch die Betätigung deiner Liebe dein inneres Erleben erschlossen werden kann!"
Beide schwiegen — dann kamen sie in die Stadt, wo Lazarus bekannt war bei Jung und Alt und manchen Gruss erwiderte.
Theophil stieg vom Wagen und eilte in das Haus der Maria, welches früher sein Elternhaus war. Nur die Mutter Jesu und Johannes waren anwesend. Nach der herzlichen Begrüssung bat Maria ihn besorgt: „Lieber Theophil, wenn du es möglich machen kannst, komme nicht mehr so oft nach Jerusalem! Hier ist es gefährlich für Alle, die bekannt als Anhänger der Neuen Lehre sind. Nur wenn es die Notwendigkeit ergibt, und dann nicht allein, immer möglichst zu dreien auf die Strasse gehen, denn Vorsicht, mit der nötigen Klugheit gepaart, ist Lebens-Notwendigkeit. Am Abend gehen die Jünger überhaupt nicht mehr aus, um nicht ihr Leben zu gefährden!"
„Aber liebe Mutter", entgegnete Theophis ungläubig, „so schlimm kann es doch nicht sein, der Tempel hüllt sich doch gern in den Schein der Frömmigkeit."
Doch Maria erklärt ihm: „Glaube einer Mutter, die das Schwerste vom Tempel erfahren hat, es ist jetzt ungeheuerlich in der Stadt Gottes! Menschen verschwinden — niemand weiss wohin; die Angehörigen können sich an alle Obrigkeiten wenden - sie erfahren nichts.
Erst vor einigen Tagen waren zwei junge Frauen bei mir, um Trost für ihren Kummer zu holen, ihre Männer sind von einem Ausgang nicht mehr zurückgekehrt. Alles Fragen war nutzlos, der Tempel selbst wollte alles Mögliche tun, um Licht in das Dunkel zu bringen; aber ich weiss: es ist nur heuchlerische Redensart. Nikodemus war hier, alle seine Ämter hat er niedergelegt, weil er sich mitschuldig fühlen muss an diesen schlimmen Zuständen."
Theophil fragte nun Maria und Johannes über verschiedene Bekannte, die er gern einmal besucht hätte, aber es wurde ihm geantwortet, dass sie keinerlei Verkehr mehr pflegen können.
Johannes sprach: „Bruder, es wäre unverantwortlich, wollten wir unser Haus als Versammlungsort benutzen. Wohl stehen wir unter römischem Schutz, aber wir werden schärfer überwacht als Diebe und Räuber, darum mag nur kommen, wen die Liebe oder die Not treibt.
Wie oft werden wir gefragt: ,Ja, wie kann der Herr wohl solches alles zulassen?' Dann kann ich nur immer wieder sagen, dass der Herr wohl stets bei uns ist und vollen Anteil an unseren Geschicken nimmt. Aber: dadurch, dass Er uns durch Seine Lehre auf eine erhöhte Stufe der Erkenntnis und Freiheit stellte, kann Er nicht sichtbar alle Entwicklungen hemmen oder fördern. Nur wer in sich geeint ist mit Seinem Heiligen Geiste und all die daraus sich entwickelnden Vorzüge schon erfassen kann, der kann auch sich selber schützen, da ihm jede Anfeindung, jede zugedachte Schädigung zuvor durch die innere Stimme offenbar wird.
,In den Wegen des Herrn wandeln', heisst: nicht nur im äusseren Sinne ein frommes und gerechtes Leben führen, sondern auch sehr achtgeben auf den göttlichen Funken in uns selber, der uns Licht und Klarheit gibt, der da Warner und Richter, ja sogar uns zum Führer wird und stets unsere freie Selbständigkeit zu fördern sucht. Wer sein Leben betrachtet als ein von der Gnade Gottes geschenktes, wird ein viel grösseres Verantwortlichkeitsgefühl tragen als einer, der nur lebt, weil er eben ein Mensch ist. Siehe, seit wir unser Erdenleben als Gnade aus dem allerhöchsten Sein betrachten, ist unser Geist schon viel reger geworden und ist besorgt, sich ein immer reicheres Innenleben zu schaffen. Darum sehe ich mit ruhigem Herzen und klaren Augen auf die jetzige Zeit, die dazu bestimmt ist, dass jeder Nachfolger des Herrn seinen inneren Wert erst in Prüfungen bewähren muss!
Bruder Petrus war gefangen, mit Ketten angeschmiedet, aber am anderen Tage predigte er von der Macht des Herrn, die sich an ihm offenbarte, zum Schrecken seiner Peiniger, die nicht wussten, wie er dem Gefängnis entronnen sei. (Apostelgesch. 5.) Es ist der Beweis erbracht durch dieses Geschehnis, dass die Feinde alle die mehr fürchten, die mit dem Herrn eins geworden sind, als umgekehrt.
Darum mein Rat, lieber Theophil: handle bewusst nur nach den Anregungen deines in dir lebenden Geistes! Freue dich der grossen Gnade und freue dich noch mehr der herrlichen Aufgabe, die dir durch Lazarus angetragen worden ist!"
„Bruder Johannes, ich staune, wie schon so oft, über deine Kenntnisse aller Dinge und befürchte fast, vor all denen nicht bestehen zu können, welchen ich etwas sein soll. Freilich, nach deinen Worten ist jede Furcht unnütz, da ja des Herrn Geist einem jeden gibt, was da nötig sein wird."
„Lieber Theophil, sorge dich um nichts, auch nicht darum, dass du deinen Schwestern und Brüdern etwas Ausserordentliches geben sollst; sondern all deine Erfahrungen, deine eigenen Erleben sind ja übergenug. Dazu erlebst du täglich die Gnade und die Liebe Gottes aufs neue. Mit dem Gedanken: nur zu dienen und nur zu erfreuen, gibst du ja dem rechten Geiste aus Gott Raum und schaffst Ihm Möglichkeiten, immer Grösseres und Herrlicheres zu geben aus der Quelle, die wiederum Sein Allerinnerstes ist.
Darüber wollen wir aber nicht sprechen, weil du die Wahrheit alles dessen selbst in dir finden wirst. Ich halte es mit der Liebe, die nur frei und glücklich machen will, und in dieser Liebe ist mir der Herr der Allernächste. Trägst du des Herrn Geist als Höchstes und Wertvollstes in dir, hat auch die ewige Liebe wunderbare Mittel, dein Leben hier zu erhalten!"
„O lieber Johannes", rief Theophil begeistert, „ich wollte, ich könnte so sein wie du, so stark, so klar und gut! In deiner Nähe ist man hochbeglückt. Wie aber ist dir, wenn du allein bist?"
„Ich bin nie allein, da ich in meiner Seele doch mit so Vielen verbunden bin — durch die Nächstenliebe. Ist doch ein jeder gute Gedanke das wahre Lebens-Brot für einen, der in meiner Seele, oder wie der Herr immer sagte, der in unserer eigenen Welt lebt, und es sind deren wahrlich viele. Je mehr der Licht-Geist Lebensraum in uns erhält, je vergeistigter wird das in deiner Seele Lebende. Je weniger an Niederem in dir lebt, je mehr tritt dein Geist in freie Tätigkeit. So ersiehst du, dass ich jederzeit mit dem Himmel verbunden bin, obwohl ich noch hier auf Erden lebe. Es ist so schön, dieses Doppel-Leben und zu wissen: Ich werde geliebt und ich darf lieben."
Die Mutter Maria brachte einige Erfrischungen, dann verabschiedete sich Theophil, um sich in der Herberge mit Lazarus zu treffen.
Johannes sprach vorausschauend: „Lieber Theophil, mir ist, als müsste ich dir sagen — bleibe hier! Lazarus rechnet nicht mit deinem Kommen."
Theophil aber sagte: „Mir ist es, als ob ich zu ihm müsste, als wenn jemand auf mich warte —"
„So gehe in des Vaters Namen, und Seine Gnade und Sein Segen sei mit dir!"
Auch Maria segnete ihn im Geiste — und mit einem „Friede sei mit euch" verliess er frohgemut das Haus.


In Jerusalem

Eilend ging Theophil durch die Strassen, von manchem erstaunt erkannt. Plötzlich reichte ein Mann im Priestergewand ihm freundlich die Hand und fragte: „Bist du wirklich Ruben? — Oder irre ich mich?"
„Ja, ich bin es", antwortete Theophil, erfreut, den früheren Freund Jonas erkennend. „Wie du aber schon an meiner Kleidung ersiehst, gehöre ich nicht mehr zum Tempel, sondern bin durch die grosse Gnade Gottes jetzt ein freier Mann. Es geht mir über Erwarten gut und meinen Eltern ebenfalls."
„Ruben! Seit fünf Jahren habe ich dich nicht gesehen, weil ich in Persien arbeiten musste. Was mag vorgefallen sein, dass du dich vom Tempel trennen konntest? Du warst doch einer seiner gehorsamsten Diener."
„Mein lieber Jonas, dies lässt sich nicht auf der Strasse besprechen. Willst du aber mit mir kommen nach der Herberge des Lazarus, dort können wir uns ungestört aussprechen."
„Gern, Ruben, der Tempel überlässt ja seinen Dienern die freie Zeiteinteilung." Und bald sassen beide dort in einem Zimmer allein. Theophil erzählte: „Ich bin nicht nur der Kleidung nach ein anderer, sondern auch der Gesinnung nach" und schilderte dem aufmerksam zuhörenden Freunde die Erkenntnis seines toten Glaubens, seine schweren Leiden darnach und seine Erlösung aus allen Gefahren durch die wunderwirkende Heilands-Liebe.
Darüber vergingen Stunden; zum Schluss ergriff Jonas seine Hand: „Also Theophil ist jetzt dein Name! Ich danke dir für deine klare Darstellung über Jesus, aber verstehen kann ich das alles noch nicht. Was haben wir mit dem Nazarener zu schaffen? Er ist für uns tot, und für den Tempel bleibt Er tot! Ich hänge ja ganz vom Tempel ab, mein Unterhalt ist gewährleistet für Weib und Kind, und das ist doch auch wichtig."
„Lieber Jonas, das ist deine Auffassung vom äusseren Leben; aber ich sage dir, ich kenne erst ein glückliches Leben, seit ich mich vom Tempel trennen konnte. Wohl ist mein Wirkungskreis jetzt reicher an Verantwortung und inneren Pflichten, aber wie reich auch an Frieden und Freude. Lieber Jonas! du hast Jesum von Nazareth nicht kennengelernt, hast vielleicht nur von Ihm, Seinen Lehren und Taten gehört und wirst zweifelnd gedacht haben: Solange ich es nicht selbst erlebe, glaube ich nichts.
Wisse: seit Jesus, der vom Tode Auferstandene, in mein stolzes, kaltes Leben handelnd eingriff, mir bis auf den tiefsten Grund meiner Seele schaute und nur Liebe, Hilfe, Kraft und Frieden uns brachte, fühle ich mich mit Ihm innig verbunden! Dieser Jesus hat nach Seinem Tode als geistig unzerstörbare Licht-Wesenheit allen Seinen Jüngern und Anhängern den Beweis erbracht, dass nicht nur Er, sondern auch Seine grosse Liebe und Barmherzigkeit weiter wirken werden bis in die Ewigkeit. Darum bitte ich dich, den Geist in Bethanien einmal zu prüfen und das Leben all derer, die an Jesum als den Auferstandenen glauben und Ihm ihr ganzes Leben anvertrauen."
„Ruben, hör mich an, ich möchte dir wohl glauben, aber heute kann ich nur sagen: ich werde deinen Vorschlägen nachgehen. Wohl habe ich manches von Jesum von Nazareth auch in Persien gehört, aber ich war ja gebunden durch meinen Eid an den Tempel-Glauben, und wir Juden hatten dort kein Recht, über Andersgläubige zu richten. Aber ich danke dir von Herzen, — für heute ist es genug. Grüsse deinen Vater Enos, aber schweigen wir beide gegen jedermann über diese Unterredung." Und mit einem festen Händedruck schieden die beiden Freunde.
Jonas ging eilends fort, ohne in das Gastzimmer einzukehren, Theophil wartete sinnend noch eine geraume Zeit, dann ging er zum Pächter und fragte nach Lazarus. Doch wurde ihm Bescheid, dass Lazarus längst weitergefahren sei; er solle bei Mutter Maria übernachten, aber ja nicht allein nach Bethanien kommen. Lazarus hatte schlechte Nachrichten erhalten und rate zu grosser Vorsicht.
Theophil ging in die Gaststube, eine Magd brachte ihm eine Schüssel Gemüse und ein Stück Brot, sowie einen Becher Wein. Beim Essen beobachtete er die Gäste, fast alles Fremde, aber keine Templer. Er war froh und dankte innerlich dem Herrn für diese Gnade. Da Theophil auch andere Sprachen verstand, hörte er heraus, dass wiederum eine grosse Hetze gegen Nazarener stattgefunden habe und viele in einer heimlichen Versammlung überrascht, gefangengenommen und eingekerkert seien. Theophil hätte wohl gerne noch Näheres erfahren, aber die eindringlichen Worte des Pächters: „Lazarus mahnt zu grosser Vorsicht", liessen ihn bald die Herberge verlassen, um ins Heim der Mutter Maria zu gehen. Immer noch vertieft in die Reden der Fremden, gewahrte er nicht, wie ihm in geringer Entfernung zwei Männer folgten. Und als er durch eine Gasse ging, um für Maria etwas zu kaufen, betrat er ahnungslos einen Laden, um sich die grössere Auswahl anzuschauen. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, ihm drohe Gefahr, und als er sich wandte, erhielt er von den beiden Männern harte Schläge auf den Kopf, dass er bewusstlos zusammenbrach.
„Das wäre geglückt", sagte der eine zu dem Verkäufer, „niemand hat etwas gemerkt! Rasch in den Keller mit ihm, dass wir keine Ungelegenheiten haben!" In wenigen Minuten lag Theophil auf einem Bündel alter Lumpen im Keller und ward seinem Schicksal überlassen.
Als er nach langer Zeit wieder erwachte, schmerzte sein Kopf, er griff um sich und musste sich erst besinnen, was mit ihm geschehen war. Er wollte sich aufrichten, aber er fühlte sich zu schwach; so legte er sich wieder hin und schlief weiter.
Es kam die Nacht. — Im Hause Marias war man der Hoffnung, Theophil sei in Bethanien — und in Bethanien glaubte man Theophil bei Maria und den Brüdern in gutem Schutz.
Aber Ruth war innerlich so unruhig; längst war Schlafenszeit, da ging sie zu den Schwestern Maria und Martha und klagte ihre Besorgnis über Theophil. Maria suchte ihren Bruder auf und bat: „Lazarus, komme doch einmal zu uns. Ruth ist nicht zu beruhigen, sie meint, dass Theophil ein Unglück geschehen sei."
Ohne ein Wort zu verlieren, folgte Lazarus seiner Schwester und war, wie er Ruth sah, auch sofort überzeugt davon, dass dem Theophil ein Leid geschehen sein musste. Doch beruhigend sprach er: „Liebe Ruth, behalte deine Sorge still für dich, damit deine Eltern und die Anderen nicht auch beunruhigt werden, du kannst dich nur dem Herrn anvertrauen. Doch morgen in der Frühe will ich nach der Stadt, um Gewissheit zu holen. Unser Leben liegt in Gottes Hand; ohne Seinen Willen kann uns allen, und auch Theophil, kein Haar gekrümmt werden. Solltest du aber richtig fühlen, dann Kopf hoch - und alle Kräfte einen, um das Böse unwirksam zu machen."
„Lieber Lazarus", entgegnete Ruth, „deine Worte sind gut gemeint, aber sie dringen nicht in mein Herz, weil Schmerz für Theophil darin lebt."
„Liebe Ruth", antwortete Lazarus zuversichtlich, „glaube an des Heilandes Liebe, Macht und Herrlichkeit, dann wird alles gut! Der Herr prüfet keinen umsonst und hat Helfer in Überfülle, die Ihm zu Diensten sind. So du aber zweifelnd stehest vor des Herrn Macht, dann freilich hat der Gegner leichtes Spiel, weil wir, als Menschenkinder, Willens-Träger unseres Gottes und Vaters sind. Weiche mit keinem Gedanken von dem Wissen ab: Der Herr ist im Geiste bei uns und bei allen denen, die Ihn lieben und gläubig auf Ihn schauen! Gehet nun zur Ruhe — morgen wird uns Aufklärung werden."
Lazarus ging — und in seiner Kammer angekommen, schaute er noch lange in den Sternenhimmel und betete: „O mein Jesus, Du meine Liebe! Wann wird das Leid ein Ende nehmen? Immer grösser wächst der Hass, und grösser wird Deine Gegnerschaft und Du willst nicht zurückschlagen, wo nach den Deinen geschlagen wird. Wann wirst Du wahrhaft über Deine Feinde triumphieren können?"
„Mein Bruder", klingt es in ihm zurück, „für Mich gibt es keine Feinde mehr, da Ich in Meiner Liebe so weit gegangen bin und habe Vorsorge getroffen, dass sich noch alle bei Mir einfinden werden. Die Menschen sind sich selber Feind, doch Ich will nur ihr Gutes! Wolle du dasselbe! Dies sagt dir die ewige Liebe, die keinen Feind, sondern nur noch Verirrte kennt."
Schon am frühen Morgen war Lazarus mit zwei Knechten unterwegs nach Jerusalem, seine Ahnung war recht: Theophil war nicht im Hause Marias, und der Wirt der Herberge sagte ihm, dass Theophil nachmittags um die dritte Stunde weggegangen sei, um in Marias Heim zu gehen.
„Sollte Jonas, der mit dem Theophil im oberen Zimmer zusammen war, Schlechtes vollzogen haben?" fragte Lazarus zweifelnd.
„Ich denke nein", antwortete der Wirt zuversichtlich, „denn Theophil zeigte rechte Genugtuung über die Unterhaltung mit seinem früheren Freunde. Auch kenne ich Jonas noch von früher und weiss, dass er ein guter Charakter ist."
Lazarus verabschiedete sich; in ihm drängte die Sorge um Theophil. So eilte er nach der römischen Kommandantur und traf auch den Stadthauptmann an, mit dem er schon seit längerer Zeit befreundet war. Dieser versprach wohl, sich nach dem Verschwundenen umzusehen, aber er bezweifelte den Erfolg, da die Tempelkaste und die Stadtverwaltung sich heimlich unterstützten.
Bedrückt kam Lazarus endlich wieder heim, weil er keine guten Nachrichten mitbringen konnte. Miriam und Ruth waren innerlich gebrochen, während der Vater Enos ruhigen Tones sagte: „Warum denn verzagen, da Gott uns Seine Hilfe doch nicht entzogen hat? Wir wissen wohl, mein Theophil ist noch nicht zurückgekommen, aber dies ist auch alles. — Ich habe des Herrn Wort erhalten: ,Ich bin Erlösung — und Rettung!’ Und was Er mir sagte, gilt auch anderen. Darum warte ich ruhig, bis die Zeit der Erfüllung gekommen ist."
Lazarus war erstaunt über diese Glaubens-Grösse und sagte lobend: „Enos, bleibe bei deinem Glauben! Der Herr lohnt es dir, und du wirst dich noch freuen können."
So vergingen einige Tage; auch die anderen litten unter dem Verschwinden des Theophil - ein Beweis, wie lieb er allen geworden war. Ruth war ruhiger geworden, sie pflegte ihre Mutter, die vor Aufregung krank war, aber diese Ruhe war etwas Starres.
Es war am Vorsabbath, da kam Jonas ahnungslos nach Bethanien und wollte Theophil und Enos besuchen; er wusste, um diese Zeit arbeitet niemand mehr auf dem Felde oder im Garten. Lazarus sah ihn von weitem kommen, ging ihm entgegen und begrüsste ihn freundlich.
„Herzlichen Dank für deinen Willkommengmss", sprach Jonas, „ich weiss, ich bin Templer und in Bethanien nicht gern gesehen, aber ich will meine früheren Freunde Enos und seinen Sohn Ruben, jetzt Theophil, besuchen, denn ich suche Rat und Aufklärung bei ihnen."
„Dann bist du uns recht", antwortete Lazarus, „aber Theophil ist seit dem letzten Beisammensein mit dir nicht zurückgekehrt - ich hatte sogar dich im Verdacht, beim Verschwinden des Theophil mitschuldig zu sein."
Jonas war tief erschrocken und sprach: „O Freund Lazarus, mit grosser Hoffnung lenkte ich meine Schritte nach Bethanien, denn mir wird das Leben hier plötzlich unerträglich. Seit Theophil mir die Augen öffnete und mir manches sagte, woran ich früher nie dachte, habe ich ehrlich mit mir gekämpft und alle Vorurteile aus mir herausgeschafft und habe als innerlich freier Mann das Leben und Treiben im Tempel beobachtet. Es schreit zum Himmel, was alles jetzt unternommen wird! Saulus von Tarsen ist von tiefstem Hass gegen alle Nazarener erfüllt und verfolgt sie grausam (siehe Apostelgesch. 8). Er hat die Rechte dazu vom Tempel aus erhalten, und alle loben seinen Eifer. Ich suche Rat und Beistand bei euch, aber nun ist das Leid auch bei euch eingekehrt." —
Antwortete Lazarus: „Lieber Jonas, deswegen bleibt Bethanien doch eine Zufluchtsstätte für suchende Herzen, und du bist uns genau so willkommen, als wäre bei uns kein Unglück hereingebrochen. Enos stehet dir sofort zur Verfügung, aber ich bitte dich, ihn vor neuer Aufregung zu bewahren; seine Seele ist bis jetzt ruhig und voller Zuversicht." Beide gingen in das Haus, um Enos zu benachrichtigen, dass ein lieber Freund gekommen sei.
Jonas sprach noch, überrascht von dem freundlichen Empfang: „Lieber Freund Lazarus, dein Empfang tat meinem Herzen so wohl! Obwohl ich als Priester komme, hast du mich begrüsst wie einen Freund, doch wahrlich, der Tempel hat nicht das Beste mit dir vor."
„Eben deswegen sind mir alle, die vom Tempel zu mir kommen, so lieb, weil ich dadurch immer neue Beweise von der grossen Gnade Gottes erhalte. Wärest du mit schlechter Absicht gekommen, wärest du nicht hier, meine Hunde hätten dich gar nicht durchgelassen."
„Hunde? — Ich habe keine gesehen", antwortete Jonas, „möchtest du mir schon etwas darüber berichten? Merkwürdig, im Tempel haben sie noch kein Wort davon gesagt."
Antwortete Lazarus: „Du wirst sie sehen — aber du wirst auch schweigen! — weil sie ein Geschenk des Herrn Jesu waren, als Er bei einem Besuche hier weilte."
Enos kam, begrüsste den früheren Freund Rubens herzlich und sprach: „Jonas, was treibt dich als Priester zu dem Verräter? Willst du uns Vorwürfe machen, oder treibt dich die Liebe zum Freunde?"
Jonas sprach: „Mein alter, treuer Enos, nichts von beiden — sondern die Not meines Herzens. Dein Sohn hat mir die Binde von den Augen gerissen, und nun stehe ich vor wichtigen Entscheidungen. Entweder ich bleibe, was ich bin und habe mein gutes Auskommen, oder ich mache es wie du: kehre dem Tempel den Rücken und werde ein freier Mann."
„Jonas, bei aller Freundschaft kann ich dir nur raten, entscheide dich zu letzterem!" sprach Enos. „Wir haben viele römische Freunde, die dir gerne die Wege ebnen zu einem neuen Beruf."
Jonas erzählte: „Die letzten Tage waren für mich schwere innerliche Prüfungen, und wohin sollte ich mich wenden um einen klaren Rat? Denn zu Jesum, eurem Heiland, finde ich allein noch nicht."
Antwortete Lazarus: „Auch wir können dir nur den inneren Weg zu Ihm zeigen und dieser fordert: Liebe deinen Nächsten, und hilf ihm in allen seinen Nöten!
Erst, wenn du durch solche betätigte Liebe zur klaren Einsicht kommst, was Gott von uns Menschen will, kommt dir der Herr und Heiland entgegen! Freilich nicht als sichtbarer Mensch, sondern in deinem eigenen Herzensgefühl als Freude, Friede und ungeahnte Wonne. Aller Anfang ist wohl schwer, doch ohne den freien und ernsten Willen nicht möglich. Für uns ist Jesus das vollkommenste Leben. Wir sind Seine Freunde, und Nachfolger Seiner Liebes-Lehren. Bedenke meine Worte — und komme gern wieder. Aber der Meister kann nur zu denen kommen, die Ihn im vollen Ernste suchen!"
„Es ist genug, liebe Freunde", sprach Jonas, „eure Liebe ist bekannt bei allen in Stadt und Land, und was ihr mir ratet, will ich befolgen."
Die Schwester Martha brachte reife Feigen, Brot und Wein, dass der Gast sich stärke, dann aber wollte Jonas wieder zurück nach Jerusalem und sprach: „Mir ist in eurer Nähe bedeutend friedlicher geworden; aber wenn du willst, zeige mir noch deine Hunde, sie interessieren mich." —
Als Lazarus und Enos ihren Gast aus dem Hofe begleiteten, pfiff Lazarus seinen getreuen Wächtern, welche sofort schweifwedelnd angerannt kamen. Mit ihren treuen Augen sahen sie auf ihren Herrn, als ob sie fragen wollten: Gehört der Fremde auch zu uns? Jonas aber war erschrocken stehengeblieben und sagte: „Solche Tiere habe ich noch nicht gesehen, mit ihren Zähnen möchte ich keine Bekanntschaft machen."
„Diese Tiere tun niemandem ein Leid", sprach Lazarus, „nur wer mit schlechter Absicht kommt, darf nicht herein. Durch ihr Bellen wissen wir, dass es keine Freunde sind, und sogleich sind wir gewarnt, und dieses ist vom höchsten Wert. Aber nun schweige vorderhand, dass du in Bethanien warst. Gott mit dir! Sein Segen ruhe auf all deinem Tun!"
Die Beiden kehrten mit den Hunden um, Jonas aber wanderte weiter. In ihm war Hoffnung, dass es auch in und um ihn licht und klar werde, aber das Verschwinden Theophils machte ihm jetzt doch grössere Sorge. Unterwegs begegnete er einer Schar Männer und Frauen, die auch nach Jerusalem wollten. Er fragte: „Wo wollt ihr hin? Die Sonne hat sich stark geneigt, und nach Jerusalem ist noch eine Stunde Weges."
Sprach einer: „Herr, wir wollen nach der Stadt und morgen in den Tempel gehen, weil unsere Priester uns geboten, an heiliger Stätte zu beten."
„Da tuet ihr gut daran", entgegnete Jonas, „aber ist eure Synagoge nicht ebenso heilig als der Tempel in der Stadt Gottes? Jehova sieht euch genau so gern in eurer kleinen, Ihm geweihten Stätte als wie in Jerusalem. Haben euch eure Priester nicht den rechten Aufschluss darüber gegeben, oder was erwartet ihr in Jerusalem? —"
„Herr", sprach ein anderer, „wir haben viele Kranke in unserer Gemeinde; unsere Priester sind ratlos und meinten, wenn nicht von Jerusalem Hilfe kommt, verderben wir alle."
„Ich verstehe! Nun, es ist recht, dass ihr gekommen seid, und es wird auch euch geholfen werden. Ziehet in die Herberge Bethania, dort werde ich euch wieder treffen, und alles andere werde ich gern mit euch besprechen. Ich aber muss eilen, ich habe noch Wichtiges zu erledigen."
Nachdenkend ging er schnellen Schrittes seines Weges, die Not dieser Männer und Frauen beschäftigte seine Seele. Mit welch gläubig hoffenden Erwartungen kommen sie in die heilige Stadt, und was werden sie erleben? O Gott, Jehova! Gibt es denn keinen Ausweg, um den Suchenden diese Enttäuschungen zu ersparen? O Gott, gib mir Gelegenheit, diesen Menschen zu helfen! Mit diesen Gedanken eilte er in sein Heim, wo ihn sein Weib erfreut begrüsste, er aber sprach: „Ich muss wieder fort! Ich habe einen wichtigen Weg, es hängt sehr viel davon ab." — Und nach einer kleinen Erfrischung ging er zur Herberge Bethania.
Er bat den Wirt um eine Unterredung. Dieser erkannte den Jonas auch wieder und war erstaunt, einen Priester vor sich zu haben, der das Gegenteil von anderen Templern zu sein schien, aber er traute ihm doch nicht recht und sagte wegen der gemeldeten Gäste: „Jonas, wir helfen, wo wir können, aber wundere dich nicht, so ich zögere. Wir sind Römer und vom Tempel unabhängig, aber zum direkten Feind möchte ich ihn doch nicht haben. Ich will einen Knecht nach dem Tor schicken, der kann die Leute zu uns bringen."
Jonas erklärte: „Höre, lieber Wirt, stosse dich nicht daran, dass ich äusserlich noch ein Diener des Tempels bin, innerlich bin ich es nicht mehr, und so frage ich dich: hast du inzwischen etwas von meinem Freunde Theophil gehört?"
„Nein, kein Wort konnte ich darüber erlauschen. Hier sind die Templer zurückhaltend, da sie nur spionieren wollen, aber vielleicht könntest du in einer reinen Tempel-Herberge etwas erfahren."
„Du gibst mir einen guten Rat, dem ich sogleich nachgehen werde, also habe Dank und traue meinen Worten."
Jonas ging in eine Priester-Herberge in der Nähe des Tempels, wo er schon bekannt war. Es gab Reden und Fragen, und am Nachbartische erzählte man von den Taten des Saulus von Tarsen. Jonas hörte nur zu und fragte den neben ihm Sitzenden, wo denn eigentlich die Gefangenen bleiben, denn im Tempel habe er noch keine gesehen.
„Ja, der Tempelrat ist vorsichtig geworden", antwortete der Gefragte, „seit die Römer ihm die Polizeigewalt verbieten. Darum wird dieses ganz heimlich gemacht, aber um so unheimlicher. Ja, er hat sogar Belohnungen ausgesetzt für grössere, aber verschwiegen gebliebene Verhaftungen. Wenn du Lust hast, kannst du dich ja einmal solch einem Zug anschliessen, den die Tempelmiliz unternimmt."
„Ich bin weniger für diese Sache — aber um Einblick in das Leben der Nazarener zu bekommen, würde ich ganz gerne einmal mittun, d. h. gefährlich dürfte es nicht sein, da ich keinen Kampf liebe."
„Gefährlich, lieber Freund, ist dieses nie, denn die Nazarener sind ja geradezu feige; sie wehren sich nicht im geringsten und erwarten alle Hilfe von ihrem unsichtbaren Heiland."
Jonas fragte: „Wann könnte ich einmal mitkommen, und in welchem Kleide geht man da?"
„Nur im Priesterkleide, denn dieses wird ja am meisten respektiert. Komme morgen um die erste Nachtwache hierher, dann werden wir weiterreden, da wir uns auf unsere Spione verlassen müssen, die zum Schein Christen geworden sind."
„Gut, ich werde kommen, denn ich will ein wahrer Diener Gottes sein."
Er ging zurück in sein Heim, aber in seinem Herzen brannte ein immer grösseres Weh. Sein Weib sah ihn besorgt an, er sprach kurz: „Ich muss über Wichtiges nachdenken -— mir ist, als lebte ich unter lauter Verbrechern.
„Jonas, lasse mich teilnehmen an deinen Sorgen!" sprach sein Weib. „Der Segensspruch deines Vaters an mich lautete: Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und dein Gott soll auch mein Gott sein. Daran halte ich mich in allen Lagen."
„Ja, es ist recht, dass du so denkst, meine Pura, aber lasse mich einige Tage allein, dass ich mich prüfe und dann auch entscheiden kann über unsere Zukunft."
Pura sprach: „Ich fühle, was in dir vorgeht: dich quält dein Priesterberuf. Du suchst göttliche Wahrheit und kannst sie im Tempel nicht mehr finden. Dein kluger Vater sagte einmal zu mir: Wenn je die Stunde kommt, wo Jonas keine Befriedigung mehr findet in seinem Beruf als Prieser, dann suche ihn zu verstehen. Denn der Tempel ist abgewichen von den Wegen Gottes, und das Gotteswort ist nur noch leerer Schein. Nur ein Messias könnte das heilige Wort wieder zu einem nährenden Brot für unsere Lebens-Aufgaben machen!"
„Pura, dein Wort fällt wie Tau auf mein wundes Herz! Siehe, heute schon will ich dir sagen: ich bin auf dem Wege, ein Christ zu werden, habe aber noch eine schwere Aufgabe zu erfüllen, doch darüber muss ich schweigen, da ich meinen Freunden mein Wort gegeben habe."
Jonas blieb allein — er überlegte noch einmal die Worte des Lazarus für und wider, aber gegen das Verhalten der Templer wehrte sich sein ganzes Innere. „Wenn ich nur den kleinsten Beweis vom Dasein des Auferstandenen hätte, dann wäre mein Entschluss ein leichter!" sprach er zu sich selbst, und wollte nach den Rollen des Jesaias greifen — doch er liess davon ab. „Was nützen mir geschriebene Worte, lebendige brauche ich! — Aber wo sie finden?"
Nun ging er auf den Söller und schaute lange in den strahlenden Sternenhimmel — dann betete er so innig wie noch nie in seinem bisherigen Leben: „Herr, Gott Zebaoth! Du kannst Dich nicht länger verbergen vor der Not, die ich in mir fühle! Ich bin ärmer als Jakob, der vor seinem Bruder fliehen musste, und diesem hast Du Dich gezeigt. Nur einen einzigen Augenblick lass mich inne werden, dass Du da bist, sonst muss ich zugrunde gehen! Herr, wie Du anderen geholfen hast, so hilf auch mir!"
Er schwieg und wartete. Aber nichts regte sich in ihm — noch um ihn. Da fragte er sich: „Ja, worauf will ich denn warten? Gott ist ja Gott und nicht ein Mensch oder sichtbares Wesen. Es ist ja Torheit, auf etwas zu warten, was nicht schaubar ist. Aber wie sagte Ruben-Theophil? Er lebt! Und sichtbar werde Er denen, die an Ihn glauben. Ist es nicht Vermessenheit, Beweise zu fordern von dem, an den ich nicht glaube?
Wie sagte Lazarus? Wenn ich zur besseren Einsicht gekommen bin, wird der Heiland mir entgegenkommen. Ja — wie komme ich am schnellsten zu dieser Einsicht? Mit Grübeln über Worte nicht! Ich werde darum das Lager aufsuchen und das Weitere ruhig abwarten."


Der Harfenspieler

Inzwischen hatte der Wirt einen Boten nach dem Tor gesandt, um die gemeldeten Fremden nach der Herberge zu führen. Als dieser einen Trupp Männer und Frauen dort traf, grüsst er freundlich und fragt nach ihrem Ziel. „Wir wollen im Tempel beten und unsere Sehnsucht stillen an dem heiligen Ort, wo Gott wohnt; einkehren möchten wir aber in der Herberge Bethania."
„So will ich euch führen und euch unnötiges Fragen ersparen, denn am Vor-Sabbath liebt jeder die Ruhe", antwortete der Bote.
Erfreut kamen sie mit. Der Wirt bot ihnen Speisen und Wein an. Es waren ruhige, ernste Leute, voll tiefer Sehnsucht und heiligem Verlangen nach göttlicher Gnade. Nachdem sie ihre Kammern besichtigt hatten, konnte der Wirt offener fragen: „Also ihr wollet morgen im Tempel beten — und möchtet, dass ein Priester nur für euch am Opfertische tätig ist um eurer Kranken willen; ihr glaubt also noch an eine Hilfe und Heilung von Seiten des Tempels?"
„Guter Freund, für einen Mann, der in der Stadt Gottes wohnt, ist dies eine wunderliche Rede. Wenn wir nicht glaubten, wären wir doch nicht gekommen. Leider sind die Zeiten vorüber, wo ein Heiland die Kranken heilte."
„Mitnichten, liebe Freunde", entgegnete der Wirt, „die Heilkraft des guten Heilandes Jesus lebt immer noch in Seinen Jüngern; doch diese Apostel können nur dorthin gehen, wo ein rechtes Bedürfnis nach ihrer Hilfe vorliegt. Wenn ihr schon Zeiten erlebt habet, wo der grosse Heiland euch mit Seiner Hilfe beglückte, warum glaubt ihr heute an Seine Heilkraft nicht mehr?"
„Lieber Freund", erwiderte der Gefragte, „warum fragst du darnach? Du wirst doch wissen, dass ein toter Heiland nicht mehr helfen kann! Und von Seinen Jüngern war noch keiner bei uns, doch haben wir auch keinen verlangt, weil unsere beiden Priester uns gaben, was wir benötigten."
„Freunde", sprach der Wirt, „ich höre aus euren Reden, dass ihr den Heiland Jesus nicht richtig kennt! Denn alle, die diesen herrlichen Heiland in ihr Herz eingeschlossen haben, hängen auch heute noch mit derselben Liebe an Ihm, als weilte Er noch unter uns. Dass Er bei uns nicht bleiben konnte, wussten wir alle aus Seinem Munde; wir vermissen Ihn aber auch nicht, da Er doch im Geiste lebendig unter uns weilt. Freilich, wer sich durch die Priester von Ihm abbringen lässt, darf sich auch nicht wundern, so die Kranken nicht gesund werden. Die wahren Anhänger Jesu lassen sich lieber gefangen nehmen, als dass sie sich von Ihm abwenden und den Templern huldigen."
„Lieber Wirt", sprach einer der Fremden, „was du uns von Jesus sagst, klingt gross und gewaltig - so hat noch keiner zu uns geredet! Siehe, wir glaubten unsern Priestern, freilich ohne viel zu überlegen, und nun soll das alles nicht richtig sein? Gib uns Beweise deiner Worte! Kannst du unsern Kranken Hilfe bringen? Oder kennst du jemand, der sie in Jesu Namen heilen könnte? Wir gehen unverzüglich zu ihm und sind zu grossen Opfern bereit."
„Freunde, schenket den Armen von eurem Überfluss, dann handelt ihr im Sinne des göttlichen Meisters. An Ihn glauben, heisst aber: den uns von Ihm geoffenbarten Willen Gottes — tun! Dann findet jeder Ihn im Geiste und in der Wahrheit, und auch euch wird sein, als weile Er noch unter uns. Wenn ihr den Wunsch empfindet, könntet ihr hier mit einem Jünger des Herrn wohl zusammenkommen. Aber bedenket: es geht nicht, einesteils von den Templern und, wenn es nicht glückt, von einem Jünger Hilfe zu erhoffen. Denn seid euch darüber klar: Wer des Heilandes Freund ist, der wird vom Tempel rücksichtslos als Feind behandelt. Ich lasse euch jetzt allein; morgen ist Sabbath, da ist genug Zeit, von eurer Angelegenheit noch zu sprechen."
Als der Wirt sich entfernt hatte, besprachen sie sich eifrig untereinander über das Gehörte, doch konnten sie sich nicht recht einigen und suchten nachdenklich ihr Lager auf.
In der Frühe wurden sie geweckt von herrlichen Lob- und Dank-Psalmen, welche die Familie des Wirtes jeden Morgen dem Herrn darbrachte. Ganz ergriffen lauschten die Fremden; noch nie hatten sie solch schönen Gesang gehört. Seit einigen Tagen weilte ein Harfenspieler mit seiner jungen Tochter in der Herberge, und diese hatten den Morgengesang begleitet.
Als alle in der Wirtsstube versammelt waren, bat der Harfenspieler David: „Lasset uns beten und loben Seine Liebe, damit wir ganz erfüllt werden von Seinem Geiste!" Er spielte einige Akkorde, dann sangen beide:



„Heilig, heilig, heilig, bist Du uns geworden,
Du treuer Gott und Vater deiner Kinder hier.
Mein Geist drängt mich, zu loben Dich an allen Orten
und preisen Deine Liebe, Deine Güte für und für.
Als wir noch lebten in der finsteren Nacht,
kein Strahl der Freude uns belebte,
da hast Du, Jesus, uns das Licht gebracht,
so dass mein Herz vor Freude tief erbebte.
In Deinem Lichte darf ich Deine Liebes-Wunder schaun,
durch Deine Gnade — Dir vertraun!
Mein ganzes Tun, das soll nur Zeugnis sein: ich bin Dein Kind
und will es ewig sein, ewig — ewig — ewig sein!
Durch Deine Liebe ganz allein - bist Du Vater mir geworden! -
Vater willst Du allen sein!" — —
Jubelnd klingt es mir im Herzen:
Alles, was da ist — ist Dein! — Für ewig Dein!"



Sanft klangen die Akkorde aus. — Alle waren ergriffen im Innersten, dann sprach der Wirt zum Harfenspieler: „Lange möchten wir dich noch hier behalten, lieber David, damit die Freude deiner Seele überspringe auf viele noch tief bekümmerte Herzen."
Als das einfache Morgenmahl beendet war, ging David mit seiner Tochter Salome in den frischen Morgen hinaus; doch einer der Fremden mit seinem Weibe ging ihnen nach und fragte: „Bist du der Spieler und Sänger, der heute früh schon Gott die Ehre gab und in unsern Herzen ein so grosses Verlangen nach Ihm geweckt hat?"
„Der bin ich wohl, aber ich gebe nur zurück, was die ewige Liebe und Erbarmung mir zuvor gab. Es ist uns beiden Bedürfnis, nicht mit dem Lob zu sparen, denn wer einen solchen Gott besitzt wie wir, kann freudig aus dem Herzen singen: „Es ist ein Gott — es ist ein Gott, an den ich mich nur halte, Er führet mich aus jeder Not hinein in rechte Freude. Er ist mein Gott, der frei von Not mein Leben wird gestalten, und darum will ich stets mich nur an Seine Liebe halten."
Da sprach der Fremde zu ihm: „Ephraim ist mein Name, und dieses ist mein Weib Lydia, Ich bin der Vorsteher einer Gemeinde oben im Norden von Galiläa. Wir sind in grosser Herzensnot und suchen Hilfe hier. Wohl haben wir einst glückliche Zeiten gesehen, aber sie sind gewichen, denn viele bei uns sind krank, und vor uns liegt das Leben trost- und hoffnungslos. Wenn nicht bald Hilfe kommt, werden wir alle von der bösen Seuche ergriffen. Lieber David, wir möchten dich bitten, heute ganz bei uns zu bleiben und mit deinem herrlichen Harfenspiel unsere Herzen zu Gott zu erheben und alle Sorgen zu vertreiben."
„O Ephraim", antwortete David, „erwarte nicht zu viel von uns, ich bin nur ein fahrender Sänger, aber kein Arzt. Wohl habe ich einen Heiland, der mir jede Bitte erfüllt, so sie uns zum Segen gereicht und so unsere Liebe und unser Leben Ihm verhelfen will zum geistigen Wirken hier im Erdensein. Denn: bist du im Tiefsten ergriffen von Seinem Geiste, dann wirst du Sein Heilands-Leben auch ausleben wollen!"
Salome sprach inzwischen leise zu Lydia, die da weinte: „Aber warum denn weinen, wenn du schon auf dem Wege zum grössten Glücke bist? Was wir wollen und tun, ist Arbeit für den Herrn. Auch ihr seid des Herrn Eigentum. Und noch nie hat Er euch vergessen, darum lasse deine Traurigkeit, denn Freude ist ja auf dem Wege zu dir!"
„O Kind, musst du glücklich sein", antwortete Lydia, „dass dein Mund solche Worte spricht!" Nun traten sie wieder ein zu den Anderen, die schon voll Erwartung waren und die beiden Sänger freudig begrüssten, denn der Ton der Saiten hatte ihre Herzen berührt!
„Freunde, liebe Brüder und Schwestern, geduldet euch", sprach der Sänger, „wir wollen erst stiller werden und unseren Herzen die volle Ruhe geben, damit des Herrn Liebe gefühlt und empfunden werde. So wollen wir beten!" Und er nahm seine Harfe, gab mit leisen Akkorden seiner Tochter einen Wink, und sie sang mit inniger Stimme:



„O Herr, mit leisen Schritten nahen wir uns Dir und wollen Deine Güte preisen,
die Du in dieser Stunde hier durch Deine Liebe hast verheissen.
Wenn uns bewegt der Brüder Leid und ihre Not uns geht zu Herzen,
bist Du zum Helfen gern bereit, willst lindern alle Schmerzen.
Mit heissem Dank und freud'gem Sinn erbitten wir in dieser Stunde:
O komme Du in Deinem Geist und gib uns frohe Kunde.
Wir warten Dein, Herr Jesu Christ, denn Du gibst Deiner Liebe Schwingen,
weil Du der treue Vater bist und willst den Frieden Deinen Kindern bringen.
Heiliger Friede - komme zu uns, Heiliger Friede - erfülle das Haus!
Heiliger Friede - durchdringe uns, und Heiliger Friede - gehe stets von uns aus! Amen!"



„Nun sind unsere Gedanken in die rechte Stille gelangt, wo in uns alles schweigt — und vor uns das neue Leben sich offenbaren will. Ihr suchet Hilfe bei Dem, der allen helfen kann, und dieser ist unser Gott allein! Wo suchet ihr aber diesen Gott, liebe Brüder? Findet ihr Ihn im Tempel oder in der Natur oder bei Menschen? Es ist schwer, diese Frage zu beantworten für die, welche blind oder gleichgültig an all den Gnaden-Beweisen göttlicher Liebe vorübergehen. Gott lässt sich nicht mit den Augen finden! Sichtbar sind uns nur die Spuren Seiner Allmacht und Grösse, Seiner Ordnungen — und Seiner Liebe!
Wohl haben wir alle Sein Wort durch Moses und die Propheten, aber was haben die Menschen aus diesem Seinem Wort gemacht? Darum wurde Das Wort — Fleisch — und belehrte uns — als Mensch — und zeigte uns den Vater als die erbarmende Liebe, damit Sein Leben auch unser Leben werden möge.
Aber was nützte euch Jesu Kommen zu euch, so ihr euch nur Seine Wohltaten gefallen liesset, aber die Bedingungen zu einem neuen Leben nicht erfüllen wolltet, womit ihr inne werden solltet — dass das Fleisch gewordene Wort Gottes — sich auch in euch auswirken kann!"
David spielte nun weiter, und während die Töne in voller Reinheit jubelten, sagte Salome: „Ihr Männer und Frauen, wohl bin ich die Jüngste von euch Allen! Aber dem Drängen des Geistes in mir kann ich nicht widerstehen und muss euch sagen: Als einst das grosse Ereignis eintrat und wir beide Jesum von Nazareth sehen und hören durften und von Seiner Liebe begnadet wurden, gab es für uns keinen Zweifel mehr über Ihn. Gott hat uns Gelegenheit gegeben, zu prüfen und das göttliche Gute und Wahre in Ihm zu erkennen. Sein Leiden und Sterben und Sein Auferstehen aus Grabesnacht gab uns dann noch die höchste Gewissheit über die grosse Gnade, die in dem Jesus-Menschen aller Welt gegeben war, die zwar verhüllt, nun aber allen denen, die da glauben, dass Er der wahre Erlöser und Gottessohn war, immer mehr offenbar gemacht wird.
Höret weiter, liebe Männer und Frauen! Jesus, der Hohe, Reine, der alle Menschen Liebende, der allen Leidenden Helfende, ist von der Erde gegangen in Sein Reich der wahren Vollendung allen Seins. Aber Seinen Geist — liess Er hier! Sein Geist umweht uns wie der Duft der schönsten Blumen, aber glauben muss ich an Ihn und Seine Sendung. Ohne Glauben kann dieser reinste Geist nicht erkannt und erfasst werden von uns. Gehet in den Tempel, lauschet ihren schönen Worten, aber prüfet den Geist, aus welcher Absicht sie euch gegeben werden, und dann erst entscheidet euch — und handelt!
Sprach Ephraim bewegt: „O du Tochter Zions! Deine Worte waren Brot für meine Seele. Aber so leicht werden wir nicht frei werden vom Tempel und von unsern Priestern, in deren Knechtschaft wir stehen. Könntet ihr vielleicht veranlassen, dass wir mit einem Jünger des Herrn zusammenkommen?"
„Dieses könnten wir wohl", antwortete Salome, „aber so ihr ihnen den rechten Glauben nicht entgegenbringt, können auch sie euch nicht helfen."
Da nahm Lydia, sein Weib, Salomes Kopf in beide Hände und sagte tief ergriffen: „Kind, für diese Worte will ich dir danken! Nun habe ich die Gewissheit, es wird noch alles gut; denn ich sehe hinein in die Gnaden-Führungen unseres ewig weisen Gottes."


Jonas am Scheidewege

Jonas war inzwischen in die Herberge gekommen und hatte in einem Nebenzimmer alle diese Worte mit angehört, die ihm seinen Entschluss immer klarer beleuchteten. Er hätte jubeln mögen, so bewegte sich schon das neue Leben in ihm. Und ohne gesehen zu werden, verliess er die Herberge wieder, denn er hatte nun den rechten Mut, aufrecht in den Tempel zu gehen. Seine Seele betete zu dem Heiland Jesus um Beistand und um Vergebung seiner Mitschuld, die ihm klarer ward bei allem, was er jetzt von den Templern hörte. Heute, am Sabbath, waren die Hallen des Tempels übervoll, reiche Opfer wurden gespendet, und reichlich waren die Verheissungen dafür.
Jonas als Priester ging still durch die Betenden hindurch, dann aber horchte er auf, als ein alter Priester dem lauschenden Volke davon erzählte, dass dem Tempel ein Gerücht hinterbracht worden sei von dem Wiederkommen des Gekreuzigten. Er fordere nun jeden Gläubigen auf, dem Tempel sogleich Botschaft zu überbringen, wer solches Gerede verbreite, damit solche Volksverführer ihrer gerechten Strafe nicht entgehen.
Jonas war schmerzlich berührt von dieser Enthüllung ihres lieblosen Denkens. Er mied die Priester, mischte sich unter das Volk, und endlich ging er in die bekannte Tempel-Herberge, wo der Priester Abia ihn auch bald aufforderte, an dem verabredeten geheimen Gang teilzunehmen. Es gingen noch drei Priester und einige bewaffnete Tempeldiener mit und an einem grösseren alten Hause angelangt, pochten sie scharf an die schwere Tür. Aber es schien, als hörte niemand, darum pochten sie lauter, bis langsame Schritte sich näherten; die Tür wurde geöffnet, und Abia schrie den alten Mann, der ein Licht in der Hand hielt, an: „Wo sind die Besucher der Versammlung?"
„Ich weiss nichts von Besuchern", ward ihm geantwortet, „suchet sie euch selbst, wenn ihr welche vermutet."
„Wie immer: keiner weiss, was im Hause vorgeht! Rasch, durchsucht die Räume, aber wehe dir, so wir jemanden finden!" Die Bewohner schienen nicht ängstlich zu sein, als die Templer die Räume durchsuchten, aber keine Versammlung fanden. „In den Garten", befahl Abia, „sie müssen hier sein, ich hatte doch die Botschaft erhalten!" Aber auch hier wurde niemand gefunden. Wütend wollte sich Abia an dem Hausherrn rächen, dieser aber fragte streng: „Du scheinst vergessen zu haben, dass du im Hause eines Römers bist. Wenn du nicht im Augenblick das Haus mit deinen Leuten verlässt, lasse ich Feuer ausrufen, damit Militär mir zur Hilfe kommt. Dein Gesicht aber werde ich mir merken und dich für die nächtliche Ruhestörung zur Verantwortung ziehen lassen!"
Notgedrungen musste Abia den Befehl zum Abmarsch geben, denn dass der Hauswirt sich auf römische Hilfe berief, war ihm sichtlich unangenehm. Er ahnte nicht, dass die Freunde Jesu schon beim ersten Klopfen in das nachbarliche Haus geeilt und somit gerettet waren.
„Ich weiss noch einen anderen Ort, wo wir Nazarener finden", sagte , Abia stolz, „ihr werdet staunen!" Im Innern der Stadt erreichten sie ein grosses Haus, klopften dreimal als verabredetes Zeichen und hörten auch sogleich schlürfende Schritte, bis die Tür geöffnet ward. „Was machen unsere Schützlinge?" fragte Abia scharf. Der Alte lächelte in seinen Bart und sagte höhnisch: „Ihnen scheint es ja zu gefallen — merkwürdige Leute, deine Pfleglinge."
Sie gingen einen halbdunklen Gang entlang, dann die Treppe hinab, und ein eisernes Gitter ward aufgeschlossen. In dem schlecht erhellten Kellerraum schlug ihnen eine dumpfe Luft entgegen. Jonas sah ungefähr zwanzig Menschen auf Stroh und alten Lumpen liegen, die taten, als ob sie schliefen. Abia stieg über die vordersten hinweg, blieb vor einem der Gefangenen stehen und fragte herausfordernd: „Nun, Ruben, wie bist du mit dem Tausch zufrieden? In Bethanien hast du wohl Besseres geträumt von der Herrlichkeit deines Nazareners — als hier!"
Jonas war tief erschrocken; er wusste: dies konnte nur Theophil sein. Er wandte sein Gesicht ab, damit er nicht erkannt würde, denn er schämte sich um Theophils willen. Auch mit Anderen sprach Abia in ähnlicher Weise. Dann verliessen sie den Raum, und alle gingen wortlos nach Hause. Als Jonas sah, dass die Anderen sich entfernt hatten, ging er zurück und besah sich nochmals das Haus, um es genau wiederzuerkennen.
In seinem Hause angelangt, empfing ihn sein Weib: „O Gott sei gelobt, dass du kommst, Jonas! Ich habe heute viel Angst um dich gelitten. Konntest du mir nicht eine Botschaft senden, wie du es sonst immer getan hast?"
„Ja, Pura, Gott sei Lob und Dank! Es war ein schrecklicher Tag, aber doch wohl notwendig zu meiner Entwicklung. Himmlische Harmonien erlebte ich, aber auch Höllen musste ich durchwandern — doch lasse mich schweigen, bis mein Liebes-Werk vollendet ist.
„Ich muss noch ein Schreiben an den Stadthauptmann anfertigen und bitte dich, dass du es am Morgen schon zu ihm bringst, da ich selbst in der Frühe nach Bethanien gehen muss."
Jonas machte einen Bericht über das in der Nacht erlebte, und dass römische Untertanen von Templern mit brutaler Gewalt in dumpfen Kellern gefangen gehalten werden. Er bitte um Hilfe — und schloss: dass er mit dem heutigen Tage sich und sein Haus unter römisch-kaiserlichen Schutz begebe. Dann ordnete Jonas seine Sachen. Jerusalem musste er verlassen. Und als er in seinem Innern ruhiger ward, sagte er ernst, doch voll Liebe, zu seinem Weibe: „Pura, mit diesem neubeginnenden Tag bricht auch für uns ein ganz neues Leben an. So wollen wir gemeinsam zu Gott um Gelingen des vorgenommenen Werkes beten. Ich wusste es nicht: trotzdem ich Priester bin, lebte ich ohne Gott. Nun erst wird mir klar, was es heisst: mit Gott zu leben!
Als Jonas in bürgerlicher Kleidung das Haus verlassen hatte, kniete Pura nochmals nieder und betete, denn sie war eines frommen Priesters Kind, und empfahl Jonas der grössten Gnade Gottes. Immer wieder redete sie mit Gott und pries Seine Gnade, wodurch in ihrem Herzen alles freudig und sonnig gestimmt ward.
Inzwischen eilte Jonas zum Tor hinaus, und als es Tag wurde, ward Bethanien auch schon sichtbar. Nun musste er seinen Schritt hemmen, um ruhig zu werden, und bat Gott nochmals um volles Gelingen.
Lazarus erwartete Jonas schon am Toreingang, er fühlte innerlich, dass der heutige Tag ein Ereignis bringe. „Jonas, du bringst gute Nachricht", begrüsste er ihn. —
„Ja, die bringe ich, aber ob du helfen kannst?"
Lazarus sprach erfreut: „Wir wollen es versuchen — in Jesu Namen! Doch komme ins Haus und berichte uns!" Und Jonas schilderte, wie er Theophil gefunden, dass er in einem Schreiben den Stadthauptmann um Hilfe gebeten, und dass er sich von heute an unter römischen Schutz stelle.
Lazarus lobte: „Du tust ein grosses Werk für den Herrn, indem du unsern gefangenen Brüdern helfen willst. Geniesse mit uns das einfache Morgenmahl, während ich alles andere vorbereite, aber schweige noch, damit nicht vergebliche Hoffnungen erweckt werden! Wir aber wissen, dass unser Gott Sich all denen helfend erweist, die Ihm voll vertrauen."
Dann fuhren beide nach Jerusalem, wo Lazarus vom Stadthauptmann Benno sogleich begrüsst wurde: „Du kommst sicher wegen einer Schwierigkeit, lieber Lazarus, aber was es auch sein möge, ich helfe dir gern."
„Ich danke dir, mein Freund Benno", sprach Lazarus, „aber es ist besser, dass Jonas als Augenzeuge, obwohl erst seit heute morgen Römer, dir alles berichten wird."
Der Hauptmann war aufgesprungen bei dem Bericht von all dem nächtlichen Erleben und sagte bitter: „Dies alles ist fast nicht zu glauben! Dabei sind meine Leute Tag und Nacht unterwegs und wissen nichts davon? Aber es genügt mir nicht, nur deine Freunde zu erretten, ich muss auch diejenigen fassen, die solche Verbrechen begehen! Wieviel Menschen sind in letzter Zeit einfach verschwunden, niemand weiss wohin! Aber nun habe ich wenigstens einen Anhalt."
Ein Soldat führte plötzlich eine junge Frau herein, da sie sich durchaus nicht abweisen lassen wollte. Es war Pura, die den wichtigen Brief übergeben wollte, jetzt aber sehr erstaunt war, ihren Mann schon hier zu sehen.
Jonas erklärte: „Ja, Herr, es ist mein Weib. In dem Brief steht fast dasselbe, was ich soeben erzählte, es sollte nur eine Vorsichtsmassregel sein, im Fall auch mir Gefahr drohe."
„Nun“, sagte der Hauptmann freundlich zu Pura, „da du schon hier bist, kannst du bei meinem Weibe bleiben, bis wir zurückkommen." Und er führte sie selbst nach oben, sagend: „Verona, nimm dich dieser Schwester einige Stunden an, da ihr Mann mit uns fortgehen muss in einer wichtigen Angelegenheit."
Dann gab der Hauptmann seinem Unterführer noch einige besondere Befehle, und ohne Aufsehen liess dieser sich von Jonas zu dem bewussten Hause führen, wo sich die Gefangenen befanden.
Jonas klopfte, aber niemand öffnete; er klopfte immer stärker, bis endlich Schritte hörbar wurden, und ein Mann fragte: „Was sucht ihr hier in dieser Morgenstunde? Ich bin allein in diesem grossen Hause."
„Öffnet! Oder ich lasse die Tür einschlagen", befahl der Unterführer streng, „ich habe wenig Zeit!" Umständlich wurde die Tür geöffnet, doch als der Alte die Tür wieder schliessen wollte, befahl der Römer: „Die Tür bleibt unverschlossen, solange ich mich in diesem Hause befinde."
„Was wollet ihr hier und störet meine Ruhe?" fragte der Alte. Der Unterführer erklärte ihm: „Höre, wir vermuten in diesem deinem Hause Leute, die als verschwunden gemeldet sind. Es ist meine Pflicht, dich zu fragen: befinden sich Gefangene in diesem Hause?" Der Alte leugnete. Inzwischen traten aber drei Soldaten ein, und als er diese Soldaten sah, sprach er ängstlich: „Herr, ich will euch gestehen: Ja, es sind Gefangene hier, aber solche, die sich an Jehova und Seinen Dienern vergangen haben. Ich aber bin unschuldig daran, denn dieses Haus gehört dem Tempel - und ich bin nur der Wächter."
„Dieses erleichtert unsern Dienst", sprach der Römer, „lass uns in dein Zimmer eintreten!" Voll Furcht sprach der Alte: „Herr, jeden Augenblick können Diener des Tempels und Priester kommen, die für die Gefangenen sorgen und ihnen ihr Essen bringen. Nachher können die Gefangenen für eine Stunde in den Hof gehen, und du kannst dich selbst überzeugen, dass alles in gerechter Ordnung geht, bis das Tempel-Gericht gesprochen hat."
„Sprichst du die Wahrheit?" fragte der Unterführer streng. „Ja, Herr, so wahr ich an den ewigen Gott glaube!" „Kannst du uns so verbergen, dass wir nicht gesehen werden und wir doch alles übersehen? Es soll dein Schaden nicht sein!" „Bleibet ruhig in diesem Zimmer mit mir. Ich stehe sowieso nicht zum Besten mit den Templern und sehe ungern, so sie kommen - aber ich kann nichts dagegen tun."
Der Römer schaute sich um, er konnte in einen Hof sehen, der an einen Garten angrenzte, aber durch einen hohen Zaun unpassierbar war. Das reine Gefängnis! Der Tempel hat hier wahrlich nichts zu fürchten, kein Mensch siehet, was hier vorgeht. Nach wenigen Minuten schon pochte es an der Tür. Der Alte wollte gehen, aber der Römer hielt ihn zurück: „Die Tür ist ja offen, darum hiergeblieben! Rufe hinaus, dass offen ist!"
Ehe der Alte hinausrufen konnte, waren die Templer schon ins Haus getreten und gingen, ohne sich um den Alten zu kümmern, den Gang entlang, die Treppen hinunter.
Der Römer fragte: „Hat der Keller noch einen anderen Ausgang?" „Nein, nur den einen Eingang; das Gitter unten ist erst seit einem Jahre angebracht worden." Ohne ein Wort zu sagen, ging der Römer aus dem Zimmer, stellte zwei Soldaten an die Treppe und befahl ihnen: „Lasset niemanden heraus! — Jetzt rufe ich die anderen."
Nach kurzem Pfiff kamen noch zehn Soldaten ins Haus und alle gingen in den Keller, der mit einer kleinen Lampe nur schwach erhellt war. Ein Templer aber bemerkte die Soldaten und rief laut: „Verrat! — Die Römer sind da!" —
Die Templer kamen ans Gitter, da rief der Römer scharf: „Öffnet — und kommet einzeln heraus! Ich habe den Auftrag, Licht in euer dunkles Tun zu bringen."
Abia kam als erster — er wollte sich wehren, aber im Nu war er gefesselt; die Anderen duckten sich zusammen, mussten sich aber auch ergeben. Der Römer befahl seinen Leuten: „Hinein in den Raum, wo die Gefangenen sind!" — Und die Christen wussten: Jetzt kommt die Befreiung!
Jonas suchte Theophil — und heiss umarmte er seinen Freund: „Theophil, ich bin glücklich, dich wiederzusehen! Seit Tagen suchte ich dich, doch nur mit Gottes Hilfe habe ich dich hier gefunden!" „Jonas! — Dir verdanken wir unsere Befreiung? Dann hast du mit dem Tempel gebrochen?" —
„Ja, mein Theophil, jetzt gehöre ich zu euch — mir graut vor dem Tempel und seinen Dienern." Inzwischen waren die Gefangenen in den Hof gegangen, und es war ein ergreifendes Bild, als der Stadthauptmann mit Lazarus ankam und alle ihnen danken wollten.
Der Hauptmann sprach: „Höret, liebe Leute, auf Grund eures Glaubens an den Nazarener wurdet ihr von den Templern wie Verbrecher behandelt. Wir Römer aber dürfen nur denen Hilfe bieten, die sich unter unsern sicheren Schutz stellen! Ich nehme an, ihr seid damit einverstanden, mit jetziger Stunde als römische Untertanen angenommen zu werden. Folget mir nun nach dem Stadthause, damit das Nötige dazu für euren weiteren Schutz veranlasst werden kann. Über eure Peiniger aber werden wir Römer Gericht halten!" Zuletzt gab er dem Unterführer noch weitere Befehle für die gefangenen Templer — und tief aufatmend zogen die Befreiten ab.
Verona und Pura, die sich schnell befreundet hatten, weinten bei dem traurigen Anblick, als die ermatteten Christen, von römischen Soldaten begleitet, die Strasse durchwankten. Sogleich wurden sie mit Brot und Wein gestärkt, und froher wurden ihre Mienen, als Lazarus ihnen Bethanien als neue Heimat anbot.
Tränenden Auges sagte ein junges Weib: „Lazarus, du edler Freund! Zum ewigen Schuldner machst du uns! Wir aber können nur bitten: Der Herr lohne es dir, und Sein Segen berühre sichtbar deine Spuren!"
Sprach Lazarus: „Meine Schwester, und ihr alle; höret: Danket nicht mir, denn ich bin nur der Sachwalter der ewigen Liebe und Güte. Alles, was ich bin und habe, ist ja von Ihm, dem ewigen Gott, der mich als Jesus, als Menschen-Bruder lehrte, in Seinem Geist zu leben, in Seinem Geiste zu dienen und zu helfen, und durch Seinen Geist mich leiten zu lassen. Darum werdet auch ihr nicht lau im Lieben, im Dienen und Helfen! Denn diese drei Dinge öffnen ja erst jedes Herz, dass Jesus in uns einkehren kann und Seinen Willen uns kundtut, Seine Freude und Seine Kraft! Dann tragen wir Seinen Frieden in uns und zu Allen um uns — zu Aller Heil."
Jonas war ergriffen und sagte zu seinem Weibe: „Pura, wir sind an der rechten Quelle angelangt!" Antwortete Pura: „Jonas, dein Gott sei auch der meine! Wir wollen gemeinsam so handeln, wie der Herr von Bethanien uns empfahl, so wird er auch uns in sein Haus aufnehmen."
Lazarus, der dieses Bekenntnis hörte, sagte sogleich: „Auch ihr seid willkommen in unserem so reich gesegneten Heim, es wird auch euch Freude und Segen bringen. In Jerusalem ist eures Bleibens nicht mehr, denn der Tempel wird euch diese eure Handlung nie verzeihen."
Da die Befreiten nun nach Bethanien ziehen sollten, bat Lazarus um militärische Begleitung; doch gingen alle zuerst nach seiner Herberge, um ein kräftiges Mittagsmahl dort einzunehmen.


Heimkehr nach Bethanien

Die neu angekommenen Fremden waren am Sabbath nicht dazu gekommen, wie beabsichtigt war, in den Tempel zu gehen, sondern hatten mit grösstem Interesse den Erzählungen Davids und seiner Tochter zugehört, die so viel Überzeugendes von der Liebes-Lehre Jesu berichten konnten.
Am nächsten Tage erlebten sie die Ankunft all der Elenden, die mit Theophil aus dem Gefängnis befreit waren und in dieser Herberge so herzliche Aufnahme fanden. Lazarus kam erst später, da er zur Mutter Maria geeilt war, um ihr von der Befreiung Theophils zu berichten. Als Hausvater setzte er sich mit allen Anderen an die gedeckten Tische, und zur Einleitung sangen David und Salome den Psalm 118 in freudiger Stimmung: Danket dem Herrn! — Denn Er ist freundlich, und Seine Güte währet ewiglich! —
Alle Herzen waren beschwingt, und Lazarus sagte zu David: „Lieber Freund, ein schöneres Lob hätte auch ich dem Herrn nicht bringen können! Waren unsere Herzen voll Trauer um unseren Bruder Theophil, so hat der gütige Vater doch unser volles Vertrauen auf Seine Hilfe so herrlich belohnt, dass noch zwanzig Glaubensbrüder mit ihm aus der Gefangenschaft errettet werden konnten. Wahrlich, Gottes Führungen haben sich wieder wunderbar offenbart vor unseren Augen!"
Nach dem Mittagsmahle sprach Lazarus den Segen und fügte noch hinzu: „Liebe Freunde und auch ihr lieben fremden Gäste hier, wir sind nun gestärkt am Leibe und der Seele nach und wollen jetzt unter römischem Schutz nach Bethanien ziehen. Ich möchte, dass diese unsere Heimkehr sich recht weihevoll gestaltet, und so frage ich dich, lieber David: willst du uns mit deiner Tochter dahin begleiten? Deine Harfe fände auf meinem Wagen noch Platz."
Und zu den Befreiten sich wendend: „Seid ihr erst zu Hause und bei vollen Kräften wieder, dann wird der Herr uns schon das Rechte zeigen für eure Zukunft, denn zu euren Angehörigen könnt ihr jetzt noch nicht zurück."
„Lieber Lazarus, wir gehen so gern mit dir", wurde ihm geantwortet, „denn Jerusalem bedeutet sicheren Tod für uns."
Nun trat Ephraim, der Leiter der Fremden, zum Lazarus und bat, ob sie auf ihrer Rückreise auch Bethanien besuchen dürften? Lazarus aber lud sie alle freundlich ein, doch sogleich mitzukommen, um das neue Leben im Geiste Jesu auch in der praktischen Wirklichkeit einmal kennenzulernen; und mit Freuden wurde auch dieses angenommen.
Lazarus fuhr mit seinem leichten Wagen voraus, um das Notwendige für all die Ankommenden anzuordnen. Seine Schwestern kamen ihm mit Ruth entgegengeeilt. Er rief freudig: „Der Meister hat alles herrlich geführt! Alle Trauer ist in Freude verwandelt. Ruth, eile zu deiner Mutter, Theophil ist mit neuen Freunden schon auf dem Wege hierher!"
Lazarus suchte nun den alten Enos und brachte ihm die frohe Kunde von der Heimkehr seines Sohnes und der Ankunft des Jonas mit seinem Weibe. „Enos", sagte er weiter, „diesen Jonas lege ich dir besonders ans Herz, da ihr aus der gleichen Priester-Schulung hervorgegangen seid; du wirst ihm der beste Führer zum Erleben unseres Meisters sein. Nun aber wollen wir beide den Ankommenden entgegengehen. Leider konnte ich ihnen keine Wagen schicken, da wir mitten in der Ernte stehen, aber ich hoffe, dass sie die Mühe dieser Wanderung hierher gern hinnehmen."
Enos sagte: „Lieber Lazarus, ich vertraue fest darauf, dass der heilige Vater all dieses Übel doch zum Besten für alle hinlenkt. Nur ist mir nicht klar, warum Er dieses wohl zuliess? Theophil ist doch gewitzigt genug und kennt die Schliche des Tempels."
„Lieber Enos, mit der Zeit erst wird uns dies alles offenbar werden! Doch wir sind wieder eines Beweises reicher, dass Gott selbst das Aussichtslose zum guten Ziele führt und Sich oft sogar dazu Seiner Gegner bedient, wenn wir Ihm nur still und fest vertrauen und alle Sorgen Ihm zu Füssen legen."
Von weitem sahen sie schon die Ankommenden. Ruth eilte ihrem Bruder entgegen, die grosse Freude machte sie stumm. Theophil nahm sie in seine Arme, und die Umstehenden freuten sich mit ihnen. Inzwischen begrüssten Lazarus und Enos die neuen Gäste, und ohne Aufenthalt ging es der neuen Heimat zu. Maria und Martha erwarteten freudigen Herzens Theophil mit all den Anderen. Miriam blieb in ihrem Stübchen, sie wollte ihren Sohn allein haben bei diesem Wiedersehn. Theophil eilte zu ihr: „Hier bin ich wieder, Mutter! Es waren wohl harte Tage für uns, aber Gott in Seiner grossen Erbarmung hat alles so wunderbar zu Ende geführt, dass wir nur loben und danken dürfen."
„Mein Ruben! Noch einmal hat Gott dich mir geschenkt, und darum bin ich glücklich! Schwer war diese Ungewissheit, aber es war noch schwerer, nicht zu verzagen. Ruth kämpfte einen Riesenkampf und war doch still. Sie litt ja doppelt, teils um dich, teils um mich. Wie mag sie mit dem Herrn gerungen haben um deinetwillen, und wie hat sie Jesu gedankt, als jetzt die Botschaft kam, du seiest schon auf dem Wege zu uns. Aber nun gehe zu den Anderen, ich möchte allein sein, um meinem Heiland so recht danken zu können!"
„Mutter, ich habe den Vater wohl gesehen, aber noch nicht gesprochen. Du kommst wohl nachher in den grossen Speisesaal. Mit mir waren noch zwanzig Christen im Gefängnis, die jetzt in Bethanien Aufnahme finden werden; und noch andere Fremde kommen mit, von Lazarus geladen. Es sind auch Frauen darunter, die du wahrscheinlich in deine Pflege nehmen musst, denn in Bethanien fehlt eigentlich eine Mutter."
„Nun gehe, mein Sohn, ich komme bald. Mein Herz braucht Stille, um unserm geliebten Jesus für alles danken zu können." Miriam nahm ihn in ihre Arme und sagte noch: „Mein Ruben, diese Stunde hat alles Ungemach schon wieder ausgeglichen! Gott ist gut! Er weiss alles so zu lenken und zu leiten, dass jedes Herz wieder froh und frei wird."
Lazarus hatte inzwischen alle in den Speisesaal geführt, wo ihnen eine Suppe nebst Brot und Obst als ersten Imbiss gereicht wurde. Enos unterhielt sich mit Jonas und seinem Weibe und liess sich schildern, wie er den Theophil gefunden hatte. Die anderen hörten still zu. Als seine Erzählung beendet war, sagte der alte Enos: „Brüder, diesem Tempel-Institut habe ich ein Leben lang angehört und begreife heute noch nicht, dass mir nie Zweifel an solchem Gottes-Dienst kamen, trotz allem, was um mich herum geschah. Ich lebte im beruhigten Bewusstsein, getan zu haben, was die Berufenen Jehovas von mir forderten. Heute, wo ich an der Schwelle der Ewigkeit stehe, wird mir erst durch Gottes Liebe, Gnade und Erbarmung der rechte Gottes-Dienst geoffenbart. Wie habe ich gezögert, nach Bethanien zu gehen, um ein ganz neues Leben hier kennenzulernen; ich glaube, der Mensch muss manchmal wie mit Blindheit geschlagen sein. O wie dankbar kann ich doch täglich dem Herrn sein, hier so viel frohe Stunden geniessen zu dürfen!"
Nun trat Theophil ein, ging zu seinem Vater und sprach: „Vater, durch die wunderbaren Führungen der grossen und heiligen Liebe bin ich wieder heimgekommen. Jonas diente dem Herrn als Werkzeug, und die anderen Gefangenen hat der Herr uns noch dazu gegeben. Gestern wollten einige fast mutlos werden, da konnte ich ihnen sagen: Ich hoffe nur noch auf den Herrn! Er allein weiss am besten, wie weit ein Kind zum Ertragen befähigt ist. Erst wenn die Not am höchsten gestiegen, wird' Er mit Seiner Hilfe immer da sein! Ich fühle die Ströme von Kräften, die ausgehen von denen, die für uns beten, und dieses hält mich aufrecht. - So sind wir nun hier und dürfen uns der Gnade und Liebe Gottes freuen."
Sagte nun Enos: „Mein Theophil, ich war im Geiste immer an deiner Seite. So schmerzlich es war, zu wissen, du bist von uns getrennt, so gewiss war aber auch die Zuversicht: du kommst ja wieder! Du bist zurückgekehrt, und eine Schar anderer Unglücklicher sind mit dir befreit und dürfen hier wieder froh werden. Und siehe, so ward dein Leid zu einem gewaltigen Segen für viele. Wir wissen vom Herrn, dass, wenn Sein Leben in uns pulsiert, wir wohlbehalten aus allen Nöten herauskommen, aber nur erprobte Menschen sind wert, dieses Höchste in sich zu erleben! Darum: ihr Alle, höret meine Worte mit dem Herzen und bewahret sie auf bis zur Stunde auch eurer Prüfung!"
Einige fragten, ob auch genug Arbeit für sie alle vorhanden sei? Lazarus antwortete: „Es braucht keiner zu befürchten, er falle uns zur Last; der Besitz, den Gott mir gab, ist nicht klein. Je mehr wir darauf arbeiten und schaffen, je mehr können wir Liebe geben. Darum seid unbesorgt, ihr alle werdet euch hier nützlich betätigen können."
Nach dem wurden den Geretteten ihre Wohnräume angewiesen, in die sie voll Dank einzogen. Zum Feierabend ertönte der Ruf der Glocke als Zeichen, sich nach dem Speisesaal zu begeben, und hoch erstaunt betraten die neuen Gäste den geschmückten Saal. Auf den Tischen, die zusammengeschoben waren wie ein Kreuz, standen brennende Lampen. Ganz vorn am Kopf des Kreuzes war ein Altar errichtet mit sieben brennenden Lampen. Am weitesten links stand die Harfe, als Platz für David und Salome. Ganz rechts, vor den Plätzen für Maria und Martha, stand ein grosser roter Kelch. Als alle sassen, gab Lazarus das Zeichen zur inneren Einkehr, um vorbereitet zu sein für den zu empfangenden Segen.
Darnach sprach er: „Meine Freunde, Brüder und Schwestern! Wenn des Tages Mühen und Lasten hinter uns liegen, benötigen wir eine Weile der Stille, dass der Geist der Heilands-Liebe uns umwehe und wir spüren, verbunden zu sein mit dem Ewigen. So wollen wir uns vorerst stärken mit dem irdischen Mahl, wozu der heilige Vater uns alles schenkte, und bitten: ,Grosser Gott! Du unser Vater! Du reinste erbarmende Liebe! Wir danken Dir, dass wir zu Deinen Kindern berufen sind, und als solche nun bitten dürfen: Segne uns dieses Mahl! Sei im Geiste Deiner All-Liebe unter uns und stärke unsere Herzen, damit wir Dich in unserer Mitte erkennen und empfinden! Amen'."
Nach dem Mahl nahm David seine Harfe und spielte leise Akkorde; alles, was sein Herz bewegte, legte er in diese Melodien, und als die Tische abgeräumt, sang Salome einen Psalm. Leise verklangen die Töne — alle Herzen waren still geworden — da sagte Lazarus zu Theophil: „Bruder, nun gib du uns Kunde von dem, was sich in deinem Innenleben — als Dank zum Vater, gestaltet."
Theophil trat an den Altar, betete still und begann: „Liebe Freunde! Heilig-ernst ist die Stille dieser Stunde, wo die erbarmende Vater-Liebe in unserm Herzen fühlbar wird. Ja, durch Seine Gnadenhand sind wir so reich gesegnet, dass es uns erschauern macht! Gestern noch, wie schwer waren unsere Leiden, wie innig haben wir zu Gott gerufen, wie haben wir gefleht: O komm und steh uns bei! Und heute — stehet uns der Himmel offen, denn Gott hat geholfen! Wir dürfen wieder frei und freudig bei euch leben und uns tiefer noch hineinversenken in Seine heilige Erlöser-Liebe. Mag auch das Leben oft wie ein harter Kampf erscheinen, mag es voll Leid in dieser Zeit für den einzelnen sein - wer aber sich auf den Wegen befindet, wo man Gott begegnet, wird alles Schwere leichter überwinden. O du Heiliges Leben mit Gott! Du schenkst uns Freuden ohne Zahl! Wie traurig, dass auf deinen Wegen nicht alle wandeln wollen!
Meine Brüder! Ich habe den Herrn gesehen in Seinem grössten Liebe-Opfer, das Er brachte, um die Menschen zu befähigen zum herrlichen Leben mit Ihm! In Seinen Augen — erlebte ich dieses Wunder! Mein kaltes, hochmütiges Herz ward erschüttert vor der Grösse Seiner Liebe, die selbst den Peiniger noch schützen wollte. Mein stolzes, selbstbewusstes Sein zerbrach in Trümmer. Doch: immer neue Wunder wurden mir noch offenbar, und so bin ich zum freudigen Bekenner für Jesus, der alle Menschen so lieb hat, geworden, der uns zu so fröhlichen Arbeitern für Sein Reich machen will.
Als ich vor einigen Tagen das Opfer finsteren Hasses wurde, wusste ich noch nicht, dass auch dieses eine göttliche Führung sei. Aber auch diese verblendeten Templer konnten nicht ahnen, dass sie trotz ihres Hasses ein Werkzeug Gottes sein sollten. Denn nie wäre meine Seele wohl in die Lage gekommen, all das Wunderbare im Geiste zu erleben, das ich erlebte, als ich besinnungslos im dumpfen Keller lag. Ich durfte schauen, wie Gott in Seiner ewig grossen Liebe nur Wonnen und Seligkeiten für Seine Leid-Geprüften, aber Ihm Getreuen, in Bereitschaft hält.
Auch ihr, liebe fremde Gäste, die ihr heute hier weilet, entscheidet euch für das wahre Leben mit Gott! Gott kann uns dieses heilig-neue Geistesleben nicht schenken, sondern wir müssen erkennen, dass dieses Leben unseres Geistes nur im lebendigen Glauben und Vertrauen zu Ihm und im freien, aufopfernden Tun seines Liebe-Willens an allen Hilfe-Bedürftigen in uns erwachen und Raum zum Wachstum gewinnen kann. Nimmst du der Gottheit Leben in dich auf, das dich umgibt rings wie der Sonne strahlend Licht, dann erst kannst du auch Anderen etwas von diesem heilig-neuen Leben offenbaren! Darum, o Vater, lass mich Dir danken, dass mein Mund bekennen durfte, was Du so reich mir offenbar gemacht hast! Lass Frucht es bringen, Dir zur Ehre, uns allen aber zum wahren Segen! Amen."
Lazarus erhob sich, seine Augen strahlten, und so sagte er: „Meine lieben Brüder und Schwestern! Zur Erinnerung an diesen reichen Gnaden-Tag für uns alle wollen wir uns noch fester untereinander verbinden im Geiste wahrer Jesus-Liebe. In diesem neuen Leben umschliessen uns von nun an himmlische Bande. Und ihr, die ihr wieder von Bethanien ziehet, sollet eine Erinnerung mitnehmen an diese weihevoll durchlebten Stunden. Des Heiligen Vaters Lockruf ertönt jetzt an euch und ladet euch ein zu unserm Liebes-Mahl!
Mutter Miriam und Vater Enos, ich bitte euch, reichet uns in dieser Abendstunde an meiner Statt den Wein und das Brot zum treuen Gedenken an unseren Meister Jesus, der im Geiste Seine segnenden Hände über uns alle hält.
Er ruft uns zu: ,Bleibet in Mir, damit Ich in euch verbleiben kann! Was vergangen ist, nehme Ich unter die Obhut Meiner erlösenden Liebe; was aber vor euch liegt, lege Ich vertrauensvoll in die Obhut eurer Liebe. Was einst Mein war - Ich gebe es euch; gebt ihr Mir — was euch gehört (das Geschenk eures freien Willens!) ! Dies sei Meine Bitte an euch! So ihr dieses könnt, trennen wir uns nie mehr, denn für Meiner Kinder neues Leben legte Ich Mein Leben in die Opferschale. Geniesset nun mit Mir verbunden Mein Liebes-Mahl, es soll unserer Herzen Bund erneuern'."
Lazarus hob segnend die Hände nach dem Kelch und dem Brote, dann nahm Enos den Wein und Miriam das Brot, und Ruth folgte mit dem gefüllten Kruge.
Heilige Stille erfüllte den grossen Raum. — Alle Herzen waren erwartungsvoll geöffnet für den Segen von Oben — David nahm seine Harfe, und leise ertönten ganz zarte, reine Klänge, die diese weihevolle Stille so himmlisch erhoben, dass in aller Herzen diese Verbindung mit der Herrlichkeit des Jesu-Geistes empfunden ward.
Als dieses Liebes-Mahl beendet war, sprach Lazarus: Meine Freunde, es ist genug des Erlebten in der Gemeinschaft; lasset uns mit diesem heiligen Empfinden in aller Stille zur Ruhe gehen, damit jede Seele mit ihrem Gott und Vater noch vereint bleibe. Ruhet im Bewusstsein, dass Gott Selbst über uns allen wacht. Und der Friede Gottes sei euer aller Teil! — Amen."
Voll Dank im Herzen gingen sie still auseinander, nur Jonas ging mit seiner Pura zum Enos, sagend: „In mir ist alles noch zu bewegt, ich muss zur vollen inneren Klarheit kommen, hilf mir dabei!"
„Lieber Jonas", sagte Enos, „wir bleiben ja vorläufig noch lange hier zusammen. Alles muss erst wachsen, bis es in dir gefestigt ist, und du eine neue Aufgabe übernehmen kannst. Doch das eine Wort schenke ich euch beiden zu dieser Stunde, das mir so viel Klarheit und Segen schon brachte: Jesus, der All-Erbarmer, ist Rettung — Erlösung — und wahrer Frieden!" (Siehe Heft 9.)
Theophil suchte Ruth auf, denn er hatte noch kein Wort allein mit ihr sprechen können. „Meine Ruth", sagte er, als er sie in seine Arme einschloss, „dieses letzte Erlebnis war wieder ein grosser Glaubenskampf für mich; aber ich wusste: auch du betest für mich - und deine Liebe gab mir Kraft zum Ausharren. Nun sind wir wieder vereint, bis wir nach dem Willen des Herrn vor neue Aufgaben gestellt werden. Ich bin innerlich als ein Anderer zurückgekommen und will versuchen, in grösserem Masse Jesum meinen Dank darzubringen. Kein Schmerz darf uns je von Ihm trennen, denn wir gehören Ihm an für immer!"
Ruth sprach: „Ruben, ich weiss, du musstest diese Feuerprobe noch bestehen. Der Herr hat Grösseres für dich bestimmt! Und so will ich stille sein und warten, bis auch mich der Herr ruft zu neuen Aufgaben. Doch gehen wir noch einige Minuten zu den Eltern." Als sie bei ihnen eintraten, wollten sich Jonas und Pura verabschieden, doch Theophil sagte: „Bruder Jonas, nun sind wir daheim und wohlgeborgen, bis nach Bethanien reicht der Arm des Tempels nicht!"
„O Ruben, ich kann dir bekennen, seit heute lebe ich erst bewusst. O der grossen Torheit unseres früheren Lebens! Ich glaube an Jesum, den Gekreuzigten, der als der Auferstandene auch mir weiterhelfen wird in meiner schwierigen Lage." — Damit ging er.
Die Geschwister erlebten noch eine Weihestunde mit den Eltern, dann sagte Theophil: „Vater und Mutter, nun werde ich nicht mehr lange in Bethanien bleiben. Des Herrn Liebe und Güte verpflichtet mich zu eifriger Arbeit für Ihn und für meine Mitmenschen. Ich fühle das Drängen des Geistes in mir, ich muss ein erhöhtes Tätigkeitsfeld haben, und Lazarus hat es mir eigentlich schon angeboten. Nach dem, was hinter mir liegt, gehöre ich nun ganz dem Herrn."
Sprach Enos: „Mein Sohn, wenn Gott dich braucht, dann sind wir gern damit einverstanden, denn Seine Führungen kennen wir - sie sind stets über Bitten und Verstehen hinausgeführt! Nun aber wollen wir ruhen in Seinem Segen. Amen."


Besichtigung der grossen Anlagen in Bethanien

Als am nächsten Morgen die Glocke zum Frühmahl ertönte, sammelten sich die neuen Gäste im Speisesaal. Die Bewohner aber waren schon von früh an bei der Ernte und wurden erst am Abend zu einer gemeinsamen Andacht erwartet. David sang mit seiner Tochter einen Morgenpsalm und schuf damit die rechte Weihe für die Morgen-Andacht. Lazarus gedachte in wenigen Worten all derer, die da ringen und flehen um Hilfe und Kraft; gedachte derer, die da gefangen und von ihren Lieben getrennt sind und Zufluss von Kraft brauchen. Er gedachte aber auch der vielen Feinde, denen er Einsicht in die erbarmende Liebe Gottes wünschte und segnete dann alle Anwesenden und das Frühmahl.
Nach Beendigung des Mahles sagte Lazarus zu den Gästen: „Heute überlasse ich euch alle den Führungen des Bruders Enos mit Theophil, um unser Bethanien näher kennenzulernen. Und euch Freunde, die ihr in eure Heimat ziehen wollt, bitte ich, bleibet heute noch hier, damit euch der Geist von Bethanien vertrauter werde! Ein solcher Tag bringt mancherlei Erkenntnisse zu neuem Schaffen, und so betrachtet meine Bitte als einen Gottes-Ruf. Ich aber fahre mit dem Bruder Jonas, eurem Befreier, nach Jerusalem, um seine Sachen dort zu ordnen, denn so lange dieser Ort eine Feste des Feindes aller Wahrheit ist, muss jede Stunde dort genützt werden."
Mit zwei Wagen fuhren Lazarus und Jonas zum Stadthauptmann in Jerusalem und erbaten sich Schutz und Beistand der Templer wegen. Der römische Hauptmann überreichte dem Jonas die Urkunde als Kaiserlicher Untertan, dann ging er selbst mit Jonas und militärischer Begleitung nach dessen Behausung, da ihm vielleicht doch noch Schwierigkeiten bevorständen. Und wirklich hatten sich schon einige Priester zur Räumung des reichen Hauses eingefunden. Jonas aber fragte energisch: „Was habt ihr hier in meinem Eigentum zu suchen?"
Wären die Römer nicht mitgekommen, wäre es Jonas wohl übel ergangen, so aber liess der Hauptmann die Priester festnehmen, weil sie ohne Erlaubnis in das Eigentum eines römischen Untertans eingedrungen waren.
Nur das Nötigste liess Jonas auf die Wagen laden und mit der Magd nach Bethanien schaffen. Mit vier Soldaten, die persisches Gold, Silber und wertvolle Gegenstände trugen, begaben sich der Hauptmann und Jonas in den Tempel, um beim Hohen Rat damit die Entbindung von seinem Eid zu veranlassen.
Schneller als geahnt ging dieses vonstatten, und so war Jonas in zwei Stunden ein freier Mann. Lazarus war freudig erstaunt, als beide sich in der Herberge Bethania einfanden, wo Jonas sein Haus dem Hauptmann übergab zur Benutzung im Sinne wahrer Nächstenliebe. Lazarus und der Pächter unterschrieben die Schenkungsurkunde. So wurde mit dem Hauptmann ein Bund geschlossen — und das Weib des Hauptmanns wirkte segensvoll, nach dem Masse ihrer tätigen Liebe, in dem Hause des Jonas noch viele Jahre.
Als die Sonne sich neigte, fuhren die Wagen in Bethanien ein; die Soldaten wurden erfrischt und traten den Rückmarsch an. Von den Gästen war niemand zu sehen, weil Enos und sein Sohn sie in den weitverzweigten Plantagen und Anlagen herumführten. Die Fremden waren erstaunt über die grosse Ordnung und wie alles so wohl organisiert war; darauf sagte Enos: „Freunde, wäre nicht alles weise geordnet, und würde nicht streng diese Ordnung eingehalten, hörten wir auf, eine lebendige Gemeinschaft zu sein. Ein jeder hat sich demzufolge in diese Ordnung so einzufügen, dass von selbst jeder Tadel unnötig wird!"
Ephraim, der Vorsteher der Fremden, aber entgegnete:. „Bruder Enos, ich sehe dies alles mit grossem Interesse, aber die Menschen sind doch so verschieden im Charakter. Kommt es nicht vor, dass einige sich nicht einordnen können?"
„Gewiss", antwortete Enos, „auch das kommt vor, aber Lazarus, der sich nicht als Besitzer, sondern nur als Verwalter ansieht, macht es allen sehr klar, dass eine so grosse Familie wie hier nur durch Ordnung in dem rechten Zusammenhalt bleiben kann. Jeder muss sich der Ordnung einfügen, dann ist halbe Arbeit — und doppelter Segen. Die meisten ordnen sich auch bald willig und gern ein, die anderen aber müssen weiterziehen; letzteres ist aber nur selten vorgekommen. Wohl gibt es keinen Lohn hier, aber sorgenfrei gestaltet sich das Leben aller. — Sorgen hat nur Lazarus, und er überwindet diese durch sein festes Vertrauen zum Herrn. — Was ihr heute gesehen habt, ist nur ein kleiner Teil, noch viel Land und grosse Herden Vieh gehören zu Bethanien."
Ephraim fragte erstaunt: „Aber wie kann Lazarus sich um dieses alles kümmern?"
Und Enos antwortete: „Siehe Bruder, eben weil alles seinen geordneten Gang geht. Hier ist keiner Herr und keiner Knecht, ein jeder ist Mit-Verwalter und trägt sein Verantwortungsgefühl in sich. Ich sage dir, dass sich Lazarus um jeden einzelnen bekümmert und es sich sehr angelegen sein lässt, dass derselbe nicht nur dem Leibe, sondern auch der Seele nach völlig befriedigt ist. Was im Rahmen der Liebe möglich ist, wird hier getan, und dieses beruht auf Gegenseitigkeit."
„Bruder", sprach Ephraim, „du gibst mir hiermit ein ganz neues, grosses Wissen. Also so — sieht die Lehre des Heilandes Jesu in der praktischen Ausführung aus! O wie weit zurück stehen wir noch in unserer Gemeinde! Wieviel Mühe macht es mir, nur das Vertrauen meiner Leute zu erringen, damit wenigstens Offenheit herrscht. Weisst du, Bruder Enos, dieser Tag heute gibt mir mehr Anregung als alle Predigten und Gesänge. Von Kindheit an hören wir nur immer, was wir tun sollen, oder was das Gesetz verbietet. Hier aber sehe ich ein ganz natürliches Leben miteinander, das mit Liebe noch zu gering bezeichnet ist. Nun möchte ich noch wissen: wo sind denn eure Alten, denn die Leute bleiben doch nicht immer arbeitsfähig?"
Sprach Enos: „So komm, jetzt will ich euch das Schönste von ganz Bethanien zeigen!" Sie kamen an einen grossen, freien Platz, wo viele Kinder lustig spielten. Diese kamen ihnen plötzlich entgegengerannt und begrüssten die Gäste, vor allem den Vater Enos. „Dieses ist unser Kinderheim", erklärte er, „hier ist Sonne und Freude und neues Leben! — Es sind auch viele Waisen hier, aber Vater und Mutter entbehren sie nicht, weil der fürsorgende Geist hier auch für diese in rechter Liebe sorgt."
Es wurden die Räumlichkeiten besichtigt, dann ging Enos nach rechts hinüber, wo inmitten hoher Bäume ein ebenerdiges Haus sichtbar wurde. Im Schatten sassen alte Väter und Mütter auf bequemen Ruhebänken, liebevoll betreut von jungen Mädchen. „Kommet und begrüsset unsere Alten und die vom Alter Gebeugten und fraget selbst nach ihrem Befinden und ihren Wünschen!" Über diesen Besuch waren die Alten sichtbar erfreut, und Ephraim war tief ergriffen von der Art, wie Lazarus auch für diese besorgt war.
Enos aber erklärte ihm: „Hier erlebe ich meine schönen Weihestunden! Sie alle haben das Weltliche überwunden und kennen nur noch die eine Sehnsucht: zu erleben, dass der Herr auch bei ihnen Sein Wort einlösen möchte: ,Siehe — Ich komme bald!' („Ja, komme bald, und hole uns ab in Dein Reich des Lichtes! Amen.)“
„Nun kommt weiter, ich will euch noch die Stätte zeigen, wo unsere teuren Toten der Erde übergeben werden." Ergriffen standen sie an dem grossen Torbogen, der die Inschrift trug: „Ich lebe — und ihr sollet auch leben! — Jesus."
Eine kleine Gruppe geschmückter Gräber wurde sichtbar, und ein Kreuz mit dem einfachen Namen bekundete, wessen Hülle hier begraben lag. — Ephraim sagte erstaunt: „Bruder Enos, dieses ist aber doch ganz gegen unsere Art, noch Gräber zu schmücken! Dies tun ja die Heiden."
„Bruder, dieses tut nur die Liebe!" entgegnete Enos. „Wir fragen nicht, wer tut dies ausser uns noch? Sondern es ist uns Bedürfnis, auch diese Stätte weihevoll zu gestalten. Ist es doch erhebend, zu wissen, dass auch jenes Fleckchen Erde geheiligt ist, wo unser vergängliches Haus der Mutter Erde wieder übereignet wird. Es ist eine Weihestunde und segensvoll für alle, die ihnen diesen letzten Liebesdienst hier erweisen. Auch mir gibt es Kraft, so ich, wenn nötig, den Segen sprechen darf, wenn Lazarus Tage und Wochen von Bethanien abwesend ist."
Ephraim entschuldigte sich: „Bruder, sei nicht ungehalten, so ich meine Meinung äusserte, die nicht mit euch geht. Ich sehe wohl ein, Bethanien hat sich die Gnade Gottes errungen und ist Vorbild für alle Gemeinden. Aber sage mir, wo nimmt Lazarus die Mittel her? Ohne Geld ist dieses alles doch nicht auszuführen!"
Und Enos erzählte: „Es werden viele Tiere, Früchte und Öl verkauft, teils gegen Austausch von Gütern, die wir kaufen müssten, oder gegen Geld. Lazarus liefert nach Persien und Damaskus; Handelskarawanen kehren gern bei uns ein und bringen oder erhalten Waren gegen den gerechten Preis ohne jedes Schachern und Handeln. Dazu freilich hat Lazarus bestimmte Leute, die des Handelns kundig sind und genügend Kenntnisse der Waren besitzen."
Dann gingen sie langsam zurück zum Herrenhaus, und als sie Lazarus trafen, ergriff Ephraim seine Hand und sagte voll Bewunderung: „Lieber Freund, du grosser Menschenbruder! Ich danke dir für die Liebe, die mich an diesem Tage dein Bethanien erleben liess! Jerusalem ist für uns verblasst! Alles Gehörte vom Tempel gehört schon der Vergangenheit. Bleiben soll in Zukunft nur das Erlebte hier in Bethanien! Wir werden morgen weiterziehen, übergenug haben wir gesehen und noch mehr erfahren! Es wäre nur noch zu wünschen, dass es auch bald bei uns sich so gestalte!"
„Bruder", erwiderte Lazarus, „so ihr den rechten Willen in euch erweckt, wird auch die Erfüllung kommen! Freilich, von heute zu morgen nicht, weil Geduld, Weisheit und wieder Geduld dazu vonnöten sind.
Mit dem Herbergswirt und David habe ich schon gesprochen und kenne zur Genüge eure Nöte. So kann ich euch den besten Trost und die gute Hoffnung geben: dass der Heiland und Meister Jesus euren Wünschen entgegenkommen will und für eure Kranken gesorgt wird. Sobald wie möglich senden wir euch einen Jünger des Herrn, dass er euch des weiteren unterrichtet und nach der Gnade des Herrn auch euren Kranken helfen wird."
„Bruder, dürfen wir auf diese Gnade noch hoffen? Denn der Herr Selbst heilte einst unsere Kranken und beseitigte alle Nöte, aber es ging uns wohl zu gut, darum haben wir die hohe Glaubens-Stufe verlassen, auf die uns der Heiland Jesus stellte, und heute haben wir mehr Kranke denn je und grosse Schwierigkeiten mit den Priestern."
Sprach Lazarus: „Gewiss dürft ihr auf Seine Gnade hoffen, denn der Herr handelt nicht wie Menschen, die gleiches mit gleichem vergelten, sondern Er sucht die Ihm abwendig Gewordenen wieder zurückzuholen, damit das Glück und der Segen von Ihm wachsen, und Sein ewiges Reich sich verwurzele in Seinen werdenden Kindern.
Wenn du in der Folge mit klarer Erkenntnis alle Erlebnisse hier beschaust, so wirst du inne werden, wie weise ihr doch alle geführt worden seid. Aber der Herr verlangt auch klare Entscheidung! Und nur dort, wo entschieden für Seine grosse Heils-Wahrheit eingetreten wird, da sind Sein Segen und Sein heiliger Friede euer Anteil. Wir allein sind nichts, aber mit Ihm ein gewaltiger Faktor, mit dem die Welt und alle Gegner Seines Lichtes rechnen müssen! Daher rate ich dir und allen, entscheidet euch: für Ihn — oder gegen Ihn! — Ein Mittelding gibt es nicht. Mit Ihm — Lebens-Erfüllung, ohne Ihn — langsamer, aber sicherer Untergang!"
„Bruder Lazarus, ich danke dir für deine gutgemeinten Worte. Es wird mein ernstes Bestreben sein, mit Ihm zu leben! Wenn ich nur erst Gewissheit hätte, dass der Herr uns unsere Lauheit verzeiht, denn ich fühle schmerzlich mich mitschuldig daran."
Lazarus legte seine beiden Hände auf die Schultern des Ephraim und sprach: „Bruder, in Seinem heiligen Namen sage ich dir: Freue dich! Wer so wie du seine Fehler erkennt und bekennt und hofft auf die Gnade des Herrn, dem wird volle Vergebung werden! Es werden dir Mittel genug in die Hand gegeben, um wieder gutzumachen! So aber der Herr dir Hilfe spendend nahe ist, meinst du, dass Er dir dann noch grollen könnte? O nein! Mit Wohlgefallen wird Er das Werk deiner Hände und deiner Liebe überschauen! Solange dich noch Schuld drückt, solange bist du gehemmt. Hast du aber den festen Glauben: ,mein Heiland und Erbarmer, mein Jesus als Erlöser hat das, was ich nicht vermochte, für mich wieder ins Reine gebracht', dann geht dir alles Schaffen leicht und wie spielend vonstatten, und du suchst gerne nach neuen, grösseren Aufgaben, die im Wesen und im Geiste der Jesus-Liebe liegen." —
„Siehe dort unsern Freund Jonas, mit dem Enos sich unterhält!. Dieser war gestern noch ein Templer, heute schon ist er frei davon und einer, auf dessen Wirken der Herr bestimmt noch rechnet. Meinst du, dass er sich zu solchen Aufgaben aufschwingen könnte, so er vergangene Fehler immer wieder in die Gegenwart zieht? Siehe, wenn der Herr etwas Verkehrtes von uns geordnet hat, so haben wir nur die Pflicht: dankend, freudig und eifrig die Aufgaben der Gegenwart bewusst zu erfüllen. Wolle nichts aus dir selbst, wolle alles aus der helfenden Liebe zum Nächsten, dann wirkst du in der göttlichen Ordnung, und deine Brüder werden auch dich in Ordnung finden! Den Feinden und Widersachern aber kannst du es sowieso nie recht machen. Was du erlebst als höhere Führung, als besondere Gnade, sei dir der Freispruch unseres heiligen Vaters! Was nun aber noch vor dir liegt als heilige Aufgabe, bestätige dir das Vertrauen, das dir der ewige Gott entgegenbringt. Mache dich dieser Aufgaben und Seines Vertrauens würdig: wertvolle Menschenseelen vor grossen Irrtümern zu bewahren! Erkenne dieses als deine besondere Arbeit! — Der Herr stärke dich dazu mit doppelter Liebe-Kraft! Amen."


Rechtfertigung der göttlichen Führungen

Inzwischen versammelten sich die Gäste im grossen Speisesaal, wo allen eine grosse Überraschung zuteil ward, indem die Mutter Maria, Johannes und Jakobus zur Tür herein kamen. Die Freude, Theophil sei mit vielen Gefangenen gerettet worden, hatte sie nach Bethanien gezogen.
Lazarus betete in seinem Herzen: „Ich danke Dir, Vater, dass du auch unsere stillsten Wünsche so herrlich erfüllst." Alle umringten freudig die Angekommenen, dann setzten sie sich um die gedeckten Tische, und Lazarus bat Johannes um den Segen zum Mahle.
Feierliche Ruhe war dieser Bitte gefolgt, da auch die Gäste wussten, dies ist der Apostel, den der Herr am liebsten hatte — und aller Augen waren auf ihn gerichtet.
Johannes stand auf, er hob die Hände und sagte: „Lieber Vater! Durch Deine Gnade sind wir hier an diesem Dir so lieben Ort, und aller Augen sind auf Dich gerichtet, der Du in Deiner Liebe uns wieder so überreichlich gesegnet hast mit Freuden der Seele. Es würde uns das Beste fehlen, wenn Du nicht in unserer Mitte wärest! Darum bitten wir Dich, sei Du im Geiste Deiner heiligen Wesenheit unter uns und erfülle ein jedes Herz mit dem Bewusstsein, dass Du bei ihm, um es und in ihm bist! Unser aller Dank gehört nur Dir und ebenso unsere schwache und noch kleine Liebe. Segne auch Speise und Trank, dass unsere Herzen sich weiten und immer lebendiger werden zu aller Menschen Heil und Segen. Amen."
Darnach nahm David seine Harfe, und weich erklangen die zarten Töne. Doch als seine Seele sich befreiter fühlte, spielte und sang er nach Herzenslust, während die Anderen sich am Mahl erquickten.
Als es dunkel wurde, lud Lazarus die Gäste ein, nach der erleuchteten Anhöhe zu gehen, wo die Einwohner von Bethanien schon mit Sehnsucht auf diese Abendfeier warteten.
In Theophil war eine grosse Freude und Dankbarkeit erwacht, dass er mit all den Freunden wieder zusammen sein durfte, und liebevoll sorgte er für ihre bequemen Plätze.
David spielte inzwischen und sang dann mit Salome in grosser Innigkeit den Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln! Er weidet mich auf grünen Auen und führet mich an frische Wasser! Er erquicket meine Seele mit Seinem ewigen Wort und führet mich auf Seinen Wegen hin zu Seiner Wahrheit und zur Erkenntnis all Seines weisen Liebe-Tuns!" — Noch einmal jubelte die Harfe — dann aber verklangen leise die Schwingungen.
Lazarus hatte noch nie so schön und innig den Psalm, der doch so viel und oft gesungen wurde, gehört, und dankbar nickte er David und Salome zu.
Dann trat Johannes an den kleinen Altar, auf dem sieben Leuchter brannten, und begann: „Ihr lieben Brüder und Schwestern! Im Namen der ewigen Liebe grüsse ich euch und übermittle euch die Gnade und den Frieden des Herrn! Tiefe Freude bewegt mich in dieser weihevollen Abendstunde, da ich euch des Herrn lebendig machendes Wort bringen darf. Da wir erst kürzlich mancherlei harte Prüfungen siegreich überstanden haben, will der Meister des wahren Lebens uns heute auf den Zweck der vielerlei Führungen Seiner Gnaden-Wege bei jedem Einzelnen unter uns hinweisen.
Sein Geist in mir drängt mich, vor euch all die Massnahmen zu rechtfertigen, die nötig waren, uns zu Seinen Kindern zu erziehen und zu treuen Zeugen Seiner Vaterliebe zu allen Menschen, so dass wir alle wieder Einkehr halten konnten in diesem Hause, in dem der Herr als Mensch so gern geweilt — und noch weilen kann — im Geiste Seiner unvergänglichen Liebe!
Und so höret diese Seine Kunde — als Offenbarung aus fernen Zeiten: Auf euer eigenes Bitten seid ihr als Mensch auf diese Erde gekommen. Ihr wolltet nicht fehlen, wenn der ewig wahre Herr und Gott als Menschensohn der Schlange den Kopf zertritt und wolltet den Jubel miterleben, der aus allen Himmeln und Welten als Echo zurückkommt, wenn der Gottessohn — Sein ,Es ist vollbracht!' ausruft! Dann wolltet ihr in den Reihen derer stehen, die als wahre Erben Seiner unermesslichen Geistes-Schätze nur das eine Wollen kennen: ebenso zu leben, zu tun und zu handeln wie Der, dem sie dieses reiche Erbe verdanken.
Ihr hattet als Menschen dieser Erde alles dieses vergessen und lebtet hier ganz nach euren eigenen kleinen irdischen Begriffen und Gelüsten.
Gott aber vergisst nichts, und Seine stets wachende Liebe über euch ordnete eure Wege so, dass ihr in Not und Drangsal geraten musstet und euch besinnen solltet auf Seine allein helfende Erbarmung.
Sehet, nun ist es der weisen Liebe des Herrn geglückt, dass ihr, wie von selber, die Hände bittend zu Ihm erhebt und aus eurem Herzen die Bitte aufsteigen lasset: ,Herr, verlasse nur Du uns nicht, denn ohne Dich fühlen wir uns ganz verlassen!' Sehet ihr aber erst ein, wie wenig ihr von Ihm verlassen waret, dann wird ein Danken erwachen, das euch wieder zu rechten Kindern macht!
So erleben wir diese heilige Stunde, wo aller Glanz der Himmel verblasst gegen die Schönheit, die eure nun wieder neu erwachte Liebe zum Herrn offenbart. Und in allen Himmeln sind die Seligen erfüllt von Freude, da eurer jungen Liebe Strahlungen bis dorthin reichen. Alles aber — danken wir dem Herrn, der in diesem Augenblick an meiner Seite euch so sichtbar sein wird, wie eure Herzensliebe Ihn euch vorstellt, und der durch mich euch sagen lässt: ,Siehe, Ich bin bei euch alle Tage, und keine Stunde vergeht, wo Ich nicht hoffend mit euch gehe und warte — und sogar des Nachts euren Schlaf überwache!
Kindlein, es ist schwer für ein liebend Vaterherz, die Seinen in der Höhle des Drachen zu wissen! Wohl ist dem Feind alles Lebens und Lichtes seine Macht und Kraft gebrochen, und es wäre Meinen wahren Kindern ein Leichtes, ihm jede Zufuhr von Leben abzuschneiden. So aber nähret ihr selbst, teils in Unwissenheit, teils in Lauheit und Trägheit Meinen Widersacher und gebet ihm die Rechte, die nur Mir gehören.
Aber aus Meinem bitteren Kampf mit ihm und aus Meinen Wunden empfanget ihr den Geist, der euch zu fröhlichen Kämpfern macht. Ich löse Mein Versprechen ein — und bin da, wenn Mein Kind Mich ruft! — aber seid auch ihr euch bewusst, dass auch ihr an euer Versprechen gebunden seid, so euch Mein Segen, Meine Kraft und Hilfe zuteil werden soll?
So gross der Jubel ist in Meinem ewigen Reiche über das Glück Meiner Kindlein — noch grösser ist die Trauer, so sie Mich, ihren Vater voller Liebe und Erbarmung, vergessen.
Haltet euch an Meine euch erwiesene Liebe! Mein Wort sei euch Wegweiser und Führer, und Mein heiliges Leben in euch sei euer Lohn zeitlich und ewiglich. Amen!"
Nach einer Pause erst sprach Johannes weiter: „Ihr, Ephraim und Lydia: werdet zu rechten Führern der Eurigen! Was ihr erbittet für sie, in Meinem Namen, sei gewährt. Aber ziehet an das Kleid der Demut, damit Ich euch Meine Liebe und Gnade und Meinen Frieden noch klarer offenbaren kann. Ich bin bei euch an allen Tagen! So ziehet denn eure Strasse, doch Meinen Frieden lasset euch nie mehr rauben!"
„Ihr aber, die ihr hier bleibt, die ihr an dem Tische euer Brot esset, den Ich besonders segnete, vergesset nicht, dass, wo jemand in Mir bleibet — Ich auch verbleiben kann in ihm.
Heilig sei euch Mein Leben, das in euch nun erstanden ist! Hütet es als wahres eigenes Heiligtum, dann kann euch kein Feind mehr schädigen. Denn wo Ich zur Herrschaft gelange, wächst Friede, Freude und himmlisches Zusammenleben. Mein Segen sei mit euch allen! Mein Frieden werde euer Friede, und Meine Liebe zeitige die Liebe zu euren Brüdern. Amen! — Amen!"
„Amen!" dankten die mächtig ergriffenen Zuhörer — und leise, dann immer stärker rauschten die Harfentöne durch alle Herzen, bis zum Lob-Gesang des von Seligkeit ergriffenen David ausklingend:



„Halleluja — Amen! Amen! — Halleluja! —
Lobet den Herrn in Seinem Heiligtum! Lobet Ihn — in der Feste Seiner Macht!
Lobet Ihn — in Seinen Taten! — Lobet Ihn — in Seiner grossen Herrlichkeit!
Lobet Ihn aus vollem Herzen! — Lobet Ihn mit Psalmen und mit Harfe!
Lobet Ihn in eurer ganzen Liebe! — Lobet Ihn bei Tag — und auch bei Nacht! —
Alles, was Odem hat — lobe den Herrn! —
Halleluja! — Halleluja! —
Amen! — Amen! — Amen!"



Und lang nachhallend verklangen die Saiten. — —
Als alles schwieg — sagte Lazarus: „Meine Brüder und Schwestern! Des Herrn Liebe ist uns in dieser Stunde wieder so herrlich offenbart. Glaubet nun diesen heiligen Worten, die der Herr durch den Mund Seines Jüngers euch gab! Sie seien euch Beweis: Der Herr hat euch lieb, und nichts mehr stehet zwischen Ihm und euch! Und was Sein Mund nicht zu euch aussprechen konnte, dürfet ihr jederzeit in Seinen Augen lesen.
Ziehet nun im Frieden heimwärts, getragen von dem Bewusstsein: Der Herr hat uns wahrhaft Wunder erleben lassen! Dann wird es weiter in euch klingen ,Der Herr hat auch uns lieb!'
Und nun, Vater Enos, spende uns allen noch den Segen." Enos erhob sich, seine Augen strahlten wie überirdisch, er hob seine Hände gen Himmel und betete: „Heiliger Gott und treuester Vater! Im Bewusstsein Deiner uns so selig machenden Liebe danken wir Dir für den neuen Beweis Deiner grossen Güte und Barmherzigkeit. Alles, was auf unserer Seele noch lastete als Angst und Sorge oder Hilflosigkeit, hast Du uns abgenommen und hast unseren Glauben aufs neue gestärkt. Darum bitte ich Dich: stärke uns auch weiterhin! Ja, durchdringe mich mit Deinen Lebens-Kräften, damit ich als Dein Kind meine Brüder und Schwestern segnen kann.
So seid gesegnet aus der Liebe, Gnade und der Kraft Jesu, damit ihr freier werdet und erfüllt von Seinem Geiste! Sein Leben sei in euch! Sein Segen trage euch und beglücke euch in guten, wie in schweren, Tagen! Amen."
Beendet war die Feier. — — Still gingen die zu Bethanien Gehörigen in ihre Wohnungen, die Gäste aber unterhielten sich noch lange mit den Jüngern und Maria.
Eindrucksvoll wurde auch die Feier des Abschiedes beim Morgenmahl, und Ephraim erhielt die Zusage, dass Johannes und Jakobus bald zu ihnen kämen.
Unter Loben und Danken verliessen dann die Glücklichen die gastliche Stätte des Lazarus.
Kein Auge blieb trocken, als Johannes ihnen noch zurief: „Kindlein, bleibet in Seiner Liebe, dann wird diese Liebe euch zum Heile und auch euren Mitmenschen! Das Grösste stehet euch aber noch bevor — wenn eurer Liebe Kraft zum Wunder für die Anderen wird! Amen!"

 

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So wollen denn auch wir uns bemühen, all die göttlichen Führungen in unserem eigenen Schicksal mehr verstehen zu lernen, damit durch unser Denken und Handeln etwas von diesem neuen geistigen Leben auch in uns erwache, und Raum gewinne zur Entfaltung seiner segnenden Wunder-Kräfte!
Amen!

 

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