Heft 11. Das neue Leben im Menschen
Inhaltsverzeichnis
01. Das neue Leben im Menschen 1
02. Das neue Leben im Menschen 2
03. Das neue Leben im Menschen 3
04. Das neue Leben im Menschen 4
05. Das neue Leben im Menschen 5
06. Das neue Leben im Menschen 6
07. Das neue Leben im Menschen 7
08. Das neue Leben im Menschen 8
09. Das neue Leben im Menschen 9
10. Das neue Leben im Menschen 10
11. Das neue Leben im Menschen 11
12. Das neue Leben im Menschen 12
In der Heilstätte des Markus.
*)Siehe Gr. Evang. Joh. II, 174/175, V, 167.
01. Das neue Leben im Menschen
Auf dem Wege nach Caesarea Philippi bewegte
sich ein aus Ägypten kommender merkwürdiger Zug; an der Spitze ein paar Kamele,
geritten von schwarzen unbewaffneten Männern; dann beladene Wagen, und zum
Schluss berittene römische Soldaten.
Geführt wurde diese Karawane von einem jungen, aber überaus kräftigen Römer,
welcher auf einem arabischen Hengste sass.
Auf seinem Gesicht lag leiser Unmut, denn er wollte längst am Ziel sein, doch
die Verspätung liess sich nicht einholen.
Er hatte Auftrag, seinen Herrn und Gebieter, einen reichen römischen
Grosskaufmann, aus der Heilstätte des alten Markus abzuholen.
Die Sonne schien heiss, und Menschen und Tiere sehnten sich nach Labung. Mit
Freude bedeutete er den Schwarzen, dass sie sich endlich dem Ziele näherten, und
zeigte nach einem jetzt sichtbar werdenden grossen Anwesen.
Da kamen ihnen zwei Juden entgegen; neugierig betrachteten sie die Kamele mit
ihren schwarzen Reitern und fragten den Römer, ob er mit all den Menschen und
Tieren zum alten Markus wolle?
Als er bejahte, sprach einer von den Templern mit höhnischem Lachen: „Dann kommt
ihr ja gerade recht, denn bei denen ist all ihr Glauben und Hoffen zunichte
geworden!“
Der Römer antwortete erstaunt: „Ich verstehe euch nicht und will ja von euch
nichts wissen, denn mein Ziel kenne ich; dein Gesicht aber sagt mir, dass du mit
keiner guten Absicht bei diesem Menschenfreunde gewesen bist! Doch gehet uns aus
dem Wege, damit ich mich nicht über euch ärgere!“
Mit auffallend schadenfrohen Gesten ihm antwortend setzten die beiden Juden
ihren Weg langsam fort. Der Römer hielt sein Pferd an und blickte ihnen scharf
nach, dann gab er seinem Hengst einen leichten Schenkeldruck, und im schnellsten
Galopp ritt er plötzlich den ändern voran, der Heilstätte zu.
„Ist alles wohl?“, fragte er sogleich den Sohn des Markus, der ihn willkommen
hiess. „Ich habe das Gefühl, als sei euer Friede oder eure Besitzung in Gefahr!“
„Es ist, wie du sagtest!“ antwortete der Angesprochene, „doch komm und siehe
selbst, mein Vater ist im grossen Wohnraum.“
Der junge Führer übergab sein Pferd dem herbeieilenden Knecht und ging zum alten
Markus, der ihn schon bemerkt hatte und nun überaus herzlich begrüsste.
„Meine Leute können gleich hier sein“, sprach Ursus, der Römer, „aber was ist
hier geschehen? Ich traf zwei Juden, deren Zuruf mir nichts Gutes zu bedeuten
schien, darum meine Eile!“
„Mein Freund und junger Bruder“, antwortete Markus bekümmert, „ja, man
überbrachte mir vor kurzem eine Kunde, wonach Unaussprechliches in Jerusalem
geschehen sein soll; doch wollen wir noch abwarten, bis Näheres zu erfahren ist!
Freilich, die Art der beiden jüdischen Priester lässt mich Schlimmstes
befürchten; aber eins ist sicher: Ohne den Willen unseres Herrn und Meisters
kann doch nichts geschehen sein!“, beruhigte er sich selbst. „Ich will Demetrius
von deinem Kommen benachrichtigen, und dann wollen wir gemeinsam darüber
sprechen.“
Markus und Ursus gingen hinaus. Da kam ihnen ein Knecht entgegen und meldete
schon die nahe Ankunft der Karawane.
Markus gab die nötigen Anordnungen, Pferde und Kamele in den Ställen gut
unterzubringen, die Leute aber der Obhut seines ältesten Sohnes zu übertragen.
„Komm und erfrisch dich, nimm erst ein kühles Bad“, sprach er zu Ursus,
„inzwischen will ich dich bei deinem Herrn anmelden“. Und Ursus, der alle
Räumlichkeiten des grossen Anwesens schon kannte, ging mit kurzem Gruss davon.
02. Das neue Leben im Menschen
Der alte Markus begab sich nun hinüber in die
grosse Liegehalle, wo viele Kranke sich wohlig ausruhten.
Mit freundlichen Grüssen ging er an ihnen vorüber und rief dann dem römischen
Grosskaufmann und Handelsherrn Demetrius zu: „Soeben ist Ursus mit seiner
Karawane angekommen, darum komme ich selbst, um dich zu holen.“
„Mein lieber Freund“, entgegnete Demetrius sanft, „als ich dich kommen sah,
fühlte ich in mir, dass du Kummer hast! Denn noch nie sah ich solche Schatten in
deinem Angesicht. Betrifft es Ursus, da du selbst zu mir kommst, oder hast du
geheimen Seelenschmerz?“
„Wenn es nur Kummer wäre“, entgegnete Markus, „so wüsste ich, wohin ich zu gehen
hätte; aber Furchtbares ist mir in der letzten Stunde überbracht worden, und
dies hat mein ganzes Sein erschüttert! Doch komme mit mir in die grosse
Wohnstube, dorthin habe ich Ursus bestellt, und dort wollen wir dieses unter uns
besprechen.“
Der römische Handelsherr fragte noch: „Markus, was ist geschehen? Aber du weisst
doch besser als ich, wer in allem Geschehen der grosse Helfer ist!“
„Lieber Freund“, sprach Markus leiser — „es wird notwendig sein, dass wir uns
gemeinschaftlich darüber beraten, denn es handelt sich hier nicht um uns,
sondern um Jesus!“
Schweigend gingen nun beide dem Hause zu; in der grossen Stube waren zwei
Töchter des Markus beschäftigt, Brot und Wein für die Ankommenden bereit zu
stellen. Wortlos nahmen beide Freunde Platz. Dem Hausherrn aber wurde gemeldet,
ein Freund aus Caesarea wollte ihn sprechen; und so blieb Demetrius eine Weile
allein.
Dann kam auch schon Ursus; frisch und kräftig stand er vor seinem Gebieter und
wurde herzlich willkommen geheissen.
Zuerst wurde mancherlei Geschäftliches besprochen, bis Markus kam und mit tiefem
Schmerz im Angesicht sprach: „O Freunde! Meine Freunde! Soeben erfahre ich es
nochmals: Unser Meister Jesus ist nicht mehr! Schon zwei Priester überbrachten
mir in höhnischer Art die Kunde! Man soll Ihn in Jerusalem gekreuzigt haben!
Doch ich konnte es ihnen nicht glauben und nahm an, es sei eine schamlose Lüge
des Tempels. Aber jetzt wurde es mir noch einmal überbracht: Jesus ist tot!“
Ursus war entsetzt aufgefahren; nun erst wurden ihm die höhnischen Blicke der
Templer klar! Er rief: „Unmöglich! — Jesus? — Das kann nur Tempel-Lüge sein! Ist
denn die Schlechtigkeit der Templer und ihre Bosheit wirklich so gross, dass sie
nicht einmal vor dem besten Menschen Halt machen? O meine Freunde! Nie könnte
ich glauben, dass ein Mensch, mit göttlichen Kräften ausgerüstet, sich
dämonischen Gewalten unterordnet!“
Markus sprach bewegt: „Ich wollte, du hättest recht! Aber es ist das Bittere
dabei, fast glauben zu müssen: Es muss dann doch Sein heiliger Wille gewesen
sein! — Doch um all diese schweren Zweifel zu beseitigen, will ich einen Boten
nach Bethanien senden; dort bei Lazarus werden wir die reine Wahrheit erfahren!“
„Dann möchte ich hin“, rief Ursus, „und heute noch, damit uns Gewissheit werde
über das Schicksal Jesu.“
Markus beruhigte ihn und sprach: „Bruder, über das Schicksal Jesu können wir
unbesorgt sein. Denn Er ist ja der Herr! Sein Arm reicht weiter denn unsere
Gedanken! Wir aber sind sehr kurzsichtig, und so konnte nur meine Schwachheit
mich so übermannen! Ich hätte aus Seinen Worten wissen müssen: Ohne Sein Opfer
bleiben wir die Unerlösten! Erst Sein Erlösungs-Opfer soll uns ja die ungeahnten
Möglichkeiten zum freien Gottes-Leben sichern.“
Schmerzlich rief Ursus: „Aber du ahnst nicht, was dadurch in mir zerbricht, da
es mir nun wiederum nicht vergönnt sein soll, den Meister zu sehen und zu
sprechen! Mein gütiger Herr und väterlicher Freund hier wird dir bezeugen, mit
welcher Sehnsucht ich hierher eilte, um den nun kennen zu lernen, der meinen
Freunden solch unsagbare Wohltaten erwiesen hat. Nun soll Er tot sein? Das
bringe ich nicht in Einklang mit Seinem Wissen, Seinen göttlichen Kräften! Darum
erbitte ich mir Urlaub nach Bethanien, um uns Gewissheit zu verschaffen!“
Bedächtig sprach Demetrius: „Freunde, warten wir noch bis morgen! Sollte sich
nichts weiter aufklären, dann, mein Ursus, würde ich selbst dich bitten, nach
Bethanien zu reisen, damit wir die Wahrheit erfahren. Übrigens ist heute Sabbat,
und es würde Ärgernis erregen, so du mit einigen Begleitern zu Pferde so wenig
Achtung vor dem Sabbat der Juden zeigst.“
„Meine Freunde“, entgegnete Markus, „überlasst mir diese Sorge! Ich habe zwei
Söhne, die mit den Wegen und mit allem, was den Tempel angeht, bekannt sind; die
werden uns alles überbringen, was wir wissen möchten. Sollte es aber wider
Erwarten doch wahr sein, dann würden wir wohl alle nach Bethanien reisen, um zu
erfahren, wie sich solches zutragen konnte!“
„Markus, warum rechnest du nicht mit der Liebe des Lazarus?“ wendete Demetrius
ein. „Hast du nicht bedacht, dass Lazarus seine Brüder nicht im Unklaren lassen
wird, wenn so Aussergewöhnliches mit dem Herrn vorgefallen wäre? Darum warten
wir doch bis morgen!“
Ursus bat nun den Markus um Aufklärung über jene Templer, die kurz vor seinem
Eintreffen hier bei ihm gewesen waren. Willig und gern antwortete Markus: „Wohl
habe ich manche Freunde unter den Templern, aber seit einigen Tagen ist wieder
ein Wechsel vorgenommen worden, der uns zwei fremde Priester brachte. Diese
kamen vor zwei Stunden, trotz des Sabbats, hierher in meine Behausung und
forderten, alle hier anwesenden Juden sollten wieder in die Gemeinschaft mit dem
Tempel treten! Denn, so sagten sie, es sei erwiesen, dass der Nazarener ein
Diener Beelzebubs war. Es sei endlich gelungen, sich Seiner zu bemächtigen und
Ihm mit Hilfe der Römer den wohlverdienten Lohn zu geben. Die Nachwelt werde es
dem Tempel und den Dienern Jehovas danken! „Halt, was soll das bedeuten?“ fragte
ich, ihr habt den Nazarener getötet? Ihr, die ihr Gottes-Diener sein wollet,
vergreifet euch an dem Gesalbten? Ich glaube euch nicht! Denn ehe ihr dazu
kämet, Hand an Ihn zu legen, würdet ihr zunichte sein!“
Aber schadenfroh antworteten sie mir: „Mitnichten! Denn im Tempel feiert man
schon diesen Tag, wo Jesus von Nazareth am Kreuze endete, als Siegestag. Uns
aber ist es eine Freude, allen denen nun die Botschaft zu überbringen, die da
glaubten, Er sei Gottes Sohn gewesen! Mit eurem Jesus ist es nun aus; der Tempel
hat sich als der Stärkere erwiesen! So aber, wie es nun vorbei ist mit eurem
Nazarener, so muss es auch mit Seiner Lehre werden! Darum sind wir hier und
verlangen von den anwesenden Juden, das Gebot des Tempels zu respektieren!“
„Nicht weiter“, rief ich empört, erstens ist es noch nicht erwiesen; und
zweitens bin ich ein kaiserlicher Untertan, ausgestattet mit manchen Rechten.
So ihr nochmals versucht, hier in meiner Behausung oder unter meinen Kranken und
Gästen die Interessen des Tempels zu vertreten, lasse ich euch gefangensetzen
und in Eisen legen!“ Nun sagten sie zwar nichts mehr, verliessen aber
zornentbrannt mein Haus; ich aber wusste nun doch nicht recht, ob etwas Wahres
an ihren Reden sei.
Doch mag kommen, was will, alles, was ich von Ihm empfangen habe bleibt mein
Eigentum! Jesus bleibt mein Helfer, mein Heiland! Und wenn auch dieser Schmerz
mich fast zu Boden drückt, hebt dies aber doch die Tatsache nicht auf, dass ich
alles, was ich bin und habe, nur Ihm verdanke!
Alle, die hier Hilfe und Erlösung von ihren Leiden erhielten, müssen es doch dem
Umstand danken, dass nur der Herr mit Seiner Wunderkraft diese Heilstätte ins
Leben rief! Solange ich noch reden kann, werde ich es laut bezeugen: Er ist
unser Retter, unsere Hilfe in jeder Not! Wo wir in unserem Menschlichen nicht
mehr Rat wussten, half uns der Herr auf wunderbare Weise. Darum, ob Er lebet
oder nicht —, solange ich hier lebe, will ich Sorge tragen, dass Sein Geist
nicht untergeht!“
03. Das neue Leben im Menschen
Markus stand auf und ging hinaus, und so
blieben die beiden Römer allein.
Enttäuscht sprach Ursus: „Herr und Bruder! Mit welch grossen Hoffnungen reiste
ich hierher, um auch endlich den zu schauen, von dem die Kunde schon in die
ganze Welt dringt! Und nun soll Er nicht mehr sein? — Was nützte denn nun mein
Hoffen und Sehnen, so es unerfüllt bleibt und ewig bleiben muss. Denn es ist ein
gewaltiger Unterschied, ob ich greifbare Beweise oder nur Vermutungen über Jesus
habe. Durch dieses Sein Ende sind alle meine Hoffnungen zerstört.“
Tröstend sprach Demetrius: „Hier stehen wir vor einem gewaltigen Rätsel. Alles,
was du hier siehst, ist ein Werk des grossen Meisters Jesus! Wie viele Kranke
haben dieses Anwesen aufgesucht, um Heilung ihrer Gebrechen zu finden, und ich
wüsste nicht, dass ein einziger unbefriedigt von hier gegangen wäre, und dies,
obwohl der Meister Selbst nicht anwesend war!
In diesen Monaten meines Hierseins lernte ich so viele kennen, die den Herrn
auch nicht gesehen haben, aber der Glaube an Ihn und das Wissen, diese
Heilquellen sind Sein Werk, schafft schon diese Wunder! Sollte sich wider
Erwarten das Gerücht von Seinem Tod bewahrheiten, so ist trotzdem mein Glaube
unerschütterlich: Er ist der Herr und Er allein bleibt meine grosse Hoffnung!
Auch, was ich heute noch nicht an Ihm verstehen kann, wird sicherlich einst
seine Lösung finden!“
Ursus sprach sinnend: „Diesen Glaubten verstehe ich wohl von denen, welche diese
Segnungen Seines Wirkens und Schaffens hier geniessen konnten! Doch ich durfte
von Ihm nur hören und glaubte auch an Ihn, da in meinem Herzen das Tor offen
stand für Seine Lehren, die alles andere Wissen vom Zweck des Lebens so hoch
überragen! Als ich dich hierher bringen durfte, befreundete ich mich mit dem
alten Markus; seine gereiften Erfahrungen und vor allem sein lebendiges
Mitfühlen mit allen Kranken, schufen in mir diese besondere Zuneigung zu ihm,
und nach kurzer Zeit waren wir wie zwei Brüder. Aber seine wunderbaren
Erzählungen von Jesus, die du ja meistens mit anhörtest, weckten in mir das
grosse Verlangen, diesen Jesus auch kennen zu lernen! — Doch die Pflicht
forderte Gehorsam! Deine Befehle führten mich weit nach Ägypten und Arabien;
doch nun ich endlich am Ziel meiner Hoffnung bin, muss ich erfahren, Jesus sei
tot?! Warum drängte es mich denn so gewaltig nach hier? Wohl bin ich noch ein
junger Mensch, es kann sich noch manches ereignen, was mir den Frieden und die
Ruhe wieder gibt, aber diese Enttäuschung ist das Bitterste, was ich je im Leben
erfuhr.“
Demetrius versuchte ihn zu beruhigen und sprach: „Ursus, mein Sohn! Du
beurteilst diese Sache zu menschlich und bereitest dir unnötigen Schmerz! Ich
sehe dies alles schon mit anderen Augen an, da Jesus doch ein Meister war, der
Werke schaffen konnte, die Menschenleben überdauern und damit auch immer wieder
Anlass geben werden, von Ihm zu reden! Doch nicht dies ist das so gewaltig
Überragende an Ihm, sondern Seine Worte, Seine Lehren über die ewigen
Wahrheiten! Himmelhoch ragen sie empor über alle uns bekannten Philosophen!
Seine Worte sind ja das Wunder, da sie das Herz so beglücken können! Und wenn
ich auch persönlich Ihn nicht hören konnte, so erfüllen mich doch schon die
Erzählungen anderer von Ihm mit Seligkeit. Fast keine Woche verging, in der wir
nicht etwas Neues von Jesus erfuhren, und alle fühlten sich glücklich, wenn von
Ihm die Rede war! Ja, ich glaube, so wieder jemand käme und erzählte etwas von
Ihm, so würde es mich auch heute noch wunderbar froh machen.“
Nachdenklich fragte Ursus: „Wie kommt es aber, dass ich nicht glücklich und
zufrieden wurde, so ich von dem Heiland etwas hörte, sondern nur immer
sehnsüchtiger verlangte, Ihn nur einmal zu sehen und zu sprechen?“ „Da werden
wir den Markus befragen müssen!“ sprach Demetrius. „Ich glaube aber, wir
bekommen wieder neuen Besuch, denn im Hofe ist es so lebendig geworden.“
Ursus schaute durch das Fenster auf den Hof und sah, wie zwei Frauen und zwei
Männer einem Wagen entstiegen; ein Sohn des Markus half ihnen, denn es waren
Kranke.
„Kommen hier denn so viele Kranke her in das Bad?“ fragte Ursus seinen Herrn,
und dieser antwortete: „Ja, Ursus, sehr viele!“ Und jetzt weiss ich erst, wie
viel Elend es auf der Welt gibt. Unsere Geschäfte liessen uns ja keine Zeit, uns
nach unseren Mitmenschen umzusehen; aber diese letzten Monate zeigten mir, wie
wir nicht sein sollten! Es ist ein grosser Segen für die Menschen, dieses
Heilbad! Ja, es ist ein doppeltes Glück: Ein Glück für den Leib und ein Glück
für die Seele; denn keiner geht von hier, der nicht die Überzeugung mitnimmt:
Dies alles ist ein Werk Jesu! Darum öffne in diesen Tagen recht deine Augen und
Ohren, aber noch mehr dein Herz! Dann wird, was du heute als Unglück ansiehst,
noch zum rechten Glück für dich werden.“
Der alte Markus hatte sich überzeugt, dass die Karawane seines Gastes Demetrius
gut untergebracht war; und dann kamen auch schon die neuen Gäste, noch dazu am
Sabbath, also keine Juden. Herzlich begrüsste er die Fremden im Namen Jesu, des
Herrn! Diese dankten unter Tränen, und einer sprach: „Markus! Du treuer Freund
des grossen Jesus, den wir leider noch nicht kennen, aber anerkennen! Es ward
uns Bedürfnis, zu dir in deine Heilstätte zu kommen, denn arge Schmerzen in
unseren Gliedern rauben uns manche frohe Stunde. Wir erfuhren von unseren
Freunden, dass durch Jesu Wunderkraft hier eine Quelle sei, die allen Kranken
und Gebrechlichen Hilfe und Heilung bringt.“
Freundlich erwiderte Markus: „Wenn ihr den rechten Glauben und das Vertrauen auf
den wahren Gott habt, dann wird euch geholfen werden! Doch zuerst wollen wir
dafür sorgen, dass ihr gut untergebracht werdet, denn es sind ihrer viele im
Hause. Nun aber möchte ich noch wissen, wer ihr seid und woher ihr kommt.“
Da antwortete der eine: „Wir sind zwei Freunde; hier Gregor, mit seinem Weibe,
und ich bin Philipp, auch mit meinem Weibe. Wir kommen aus Damaskus und sind
Händler und Kaufleute.“ „Seid herzlich willkommen in meinem Hause“, sprach
Markus, „und fühlet euch wie daheim.“
04. Das neue Leben im Menschen
Dann ging Markus wieder zu seinen römischen
Freunden zurück und erzählte: „Soeben sind wieder vier Fremde aus Damaskus
angekommen, auch Kaufleute, wie du, mein Bruder Demetrius. In diesen Tagen, die
du noch hier bist, empfehle ich sie besonders deiner Liebe und Pflege; denn du
weisst, durch die Botschaft über den Meister bin ich noch nicht in die innere
Ruhe gekommen. Wenn uns nur erst Gewissheit würde! Ich möchte nach der Stadt
gehen; vielleicht erfahre ich dort etwas mehr von diesen Vorgängen.“
Demetrius sprach: „Dann gehe ich mit! Denn mein Ursus hat noch mancherlei mit
seinen Leuten zu besprechen, und vor Sonnenuntergang sind wir ja bestimmt wieder
zurück.“
Beide gingen nun nach der Stadt zu einem befreundeten Priester; doch erfuhren
sie, dass er nach Jerusalem beordert sei, weil Jesus von Nazareth vom Tempel zum
Tode verurteilt würde. Schweigend gingen sie weiter zu einem anderen Freund;
doch dieser war ebenso im Unklaren wie sie selber. Somit waren sie bald wieder
auf dem Rückwege, und Demetrius fragte: „Bruder, war es richtig, dass wir uns
der Mühe unterzogen und nach Caesarea gingen? Sollte Jesus uns kein Zeichen
geben, daraus wir solche Wahrheit ersehen könnten? Es ist mir, als wenn wir
handelten wie zwei Ungläubige.“
Sinnend antwortete Markus: „Du magst vielleicht recht haben, aber was tut man
nicht alles, um Gewissheit zu erhalten! Der Herr hat zwar versprochen, uns nie
über etwas im Unklaren zu belassen, auch wenn er nicht anwesend sei! Im
Gegenteil, nur noch bewusster und sicherer sollten wir dadurch werden! Denn der
Geist Seiner Liebe würde unser Denken erfüllen mit Klarheit von oben! —„
Lebhaft stimmte Demetrius dem zu: „Siehst du, Bruder Markus, jetzt hast du das
Rechte gesagt! Der Geist Seiner Liebe wird uns mit Klarheit erfüllen und mit
dieser Klarheit können wir erst alles überwinden, was das Göttliche in uns noch
hemmt! Mir ist, als wenn du Angst hättest um den Herrn, obwohl deine Worte
anders klingen; aber bemühe dich einmal, deine menschliche Schwäche mit Seiner
Kraft der Klarheit zu überwinden! Dann wirst du dir in allem Geschehen deinen
Frieden erhalten und wirst auch deinen Gästen und Pfleglingen wieder der rechte
Hausvater sein. Siehe, die Lehre Jesu war mir wie eine Kunde aus den Himmeln!
Und die Hoffnung auf ein freies, frohes und ewiges Sein lässt mich ja nichts
Niedriges oder Selbstsüchtiges mehr denken! Und so muss ich bekennen: durch
Jesus habe ich mein Leben in einem ganz ändern Licht kennengelernt! Siehe, wer
aus sich heraus solche Weisheit entwickeln konnte, und mit Seiner Willens-Kraft
solche Wunder-Werke vor uns hinstellte, um den ist mir nicht angst, auch wenn Er
in den Tod gehen will. Gewiss, jede Trennung tut weh! Aber sollte Sein Geist die
Seinen nicht wieder aufrichten können? So wir an Ihn glauben, glauben wir auch
an Seine Botschaft vom ewigen Leben! — Und dieses Leben steht doch über allem
Tode! Dieses Sein Leben soll ja den Tod vernichten!“
Markus sah seinen Freund gross an und sprach nachdenklich bewundernd: „Erst gibt
man sich die grösste Mühe, um euch Fremden einen rechten Gottes-Begriff
beizubringen! Und nun seid ihr mehr denn ein Freund und Bruder; ihr werdet ja zu
einem wahren Priester für uns! Deine Worte taten mir wohl! Nie wollen wir
vergessen, was der Herr an uns getan hat!“
Demetrius aber entgegnete ihm: „Lieber Markus! Immer redet ihr von dem, was der
Herr an uns getan hat! Sehr wichtig ist mir aber auch: Was soll ich nun tun?
Sollte Jesus freiwillig von dieser Welt gegangen sein, so dürfen wir uns doch
nicht so geschlagen fühlen, dass wir darüber untätig würden! Es wäre ein
schlechter Dank Ihm gegenüber, so Seine Anhänger nur trauern und den Feinden
Seiner Lehre das Feld überlassen! Wir müssen in Seine Fussstapfen treten und
allen nach Wahrheit suchenden Menschen helfen, auch Jesus und Seine Lehre kennen
zu lernen.“
„Mein Bruder Demetrius! Du hast das Rechte gesprochen!“ antwortete Markus.
„Deine Worte gaben meiner Seele das Gleichgewicht wieder und neuen Mut, von Ihm
zu zeugen! Aber denke dir, nun bin ich plötzlich überzeugt davon, dass Sein
Sterben Wirklichkeit ist! Ja, nun erst verstehe ich Seine früheren Andeutungen
darüber! Wie werden es aber unsere Hausbewohner und all die Kranken aufnehmen?
Wenn ich nur wüsste, ob ich es noch verschweigen soll?“
Demetrius antwortete: „Bruder, Bruder! Ist Jesus auch gestorben, so bleibt Er
für mich immer noch derselbe! Denn Sein Werk und Sein Geist leben ja fort! Wie
oft rühmtest du Seine Liebe und Sein Erbarmen, so dass der grosse Wunsch in uns
allen lebendig wurde: O käme doch der Herr auch zu uns! Wenn wir hier etwas zu
beklagen hätten, so wäre es nur dies, Ihn nicht gesehen und gesprochen zu haben!
Doch auch darüber kommen wir alle wohl hinweg, da ja Seine Liebe und Sein
Erbarmen uns die Gesundheit wiedergab, indem Er diese Heilquelle ins Dasein
rief! Mehr brauchen wir ja nicht von Ihm als das Wissen: Hier hat der Herr und
Meister Jesus Sich ein Denkmal geschaffen, das weder Seine Feinde noch Sein Tod
vernichten können! Darum, lieber Markus, beweise auch du allen, dass dein Glaube
an Jesus und deine Liebe zu Ihm dieselben geblieben sind! Soviel habe ich aber
jetzt schon gelernt und auch in mir empfunden, dass es ein seltenes Glück
bedeutet, von Seinem Geiste beseelt zu sein! Dadurch spüre ich ja ein ganz neues
Leben in mir, das mir bis dahin noch unbekannt war.“
„Mein lieber Freund und Bruder!“, antwortete Markus, „wie gut, dass du hier bist
und das in mir Schwachgewordene stärken kannst! Nun fühle ich schon, wie eine
neue Freude in mir erwachen will und mir die Seelenstärke gibt, meinen Brüdern
zu dienen! Ja, ich fühle wieder festen Boden unter meinen Füssen und fürchte
nichts mehr.“
Demetrius antwortete ernst: „So wollen wir vereint, solange ich noch hier bin,
einander beistehen! Denn ich fürchte, du wirst noch einen schweren Stand
bekommen. Die Templer werden nichts unversucht lassen, den Glauben an unsern
Jesus in uns zu erschüttern!“ — Schweigend legten sie die kurze Wegstrecke
zurück, und bald waren sie wieder im Hause angelangt
05. Das neue Leben im Menschen
Mit Spannung erwartete Ursus die beiden
Freunde; als er nichts Betrübendes oder Schmerzliches in ihren Mienen sah,
fragte er sogleich nach dem, was sie erfahren hatten.
Demetrius antwortete etwas ausweichend: „Nichts, mein Sohn, haben wir erfahren,
was uns unseren Glauben oder unser Vertrauen auf Jesus hätte erschüttern können!
In Caesarea sind sie zwar ebenso im Ungewissen, wie wir es waren, wir aber
wissen nun, der Meister lebt, da ein solcher Geist doch nicht sterben kann!“ —
Ungläubig sah der junge Römer seinen Herrn an, denn diese Worte schienen ihm
völlig unverständlich; da sprach Demetrius weiter: „Du bist erstaunt über meine
Worte, und doch kommen sie aus meinem Herzen, welches voll Zuversicht und
Vertrauen ist. Doch wollen wir dem Hausherrn nicht vorgreifen, er wird die
rechten Worte für alle finden.“
Die Söhne des Markus erwarteten ihren Vater auch, denn die Zeit für das
gemeinsame Mal im grossen Speisesaal war gekommen. Freudigen Herzens begrüssten
sich die Gäste untereinander; die vier Neuangekommenen wurden mit ihnen bekannt
gemacht, und Markus bat Demetrius, sich der beiden Kaufherren besonders
anzunehmen. Nach kurzen Gebets-Worten wurde mit dem Essen begonnen; Demetrius
unterhielt sich mit Philipp und Gregor über Geschäftliches, bis aus der
Tafelmitte das Wort Jesus fiel. Und als ob dieser Name eine geheime
Anziehungskraft auswirkte, schauten alle auf den Sprecher, den ehrwürdigen Greis
Jeremias; und als dieser merkte, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren,
sprach er weiter: „Ja, von Jesus, dem Meister, ist die Rede! Der in Seiner
grossen Liebe für alle Kranken dieses Haus der Hoffnung schuf. Mit der Hoffnung
auf Genesung kam auch ich hierher, da ich früher nicht den Mut besass, mich an
Ihn direkt zu wenden. Ihm allein sei gedankt! Ich bin jetzt soweit gesund, dass
ich bald nachholen kann, was ich bisher versäumte. Mein erster Gang, sobald ich
von hier scheide, ist, den grossen Meister und Heiland zu besuchen und Ihm
meinen Dank auszusprechen.“
„Mein Freund und Bruder Jeremias“, erwiderte Markus, „so du allen Ernstes dem
guten Heiland danken willst, da bedarf es nicht der Mühe, Ihn aufzusuchen,
sondern tief im innersten Herzen kann ein jeder Mensch mit Ihm in lebendige
Verbindung treten, auf welchen stillen Weg Jesus uns so oft hingewiesen hat.
Darum sprach ja der Meister zu uns die eindringlichen Worte: »Danket in und mit
eurem Herzen! So ihr Mir aber Liebe entgegenbringen wollet, da habet ihr Brüder
und Arme allezeit um euch, die eurer Liebe sehr bedürfen!« — Liebe Freunde und
Hausgenossen“, sprach Markus dann bewegt weiter, „schweren Herzens fühle ich
mich jetzt verpflichtet, euch mitzuteilen: Unser guter Heiland Jesus weilt nicht
mehr als Mensch unter uns! Ja, durch einen gewaltsamen Tod soll Er uns entrissen
sein.“ — Dann setzte er noch hinzu: „Der Herr allein weiss ja um alle Dinge! Er
wird Mittel und Wege finden, uns noch weiter aufzuklären, damit nicht Zweifel,
Angst und Furcht unseren Glauben an Ihn erschüttern.“
Wie erstarrt schauten alle Anwesenden schweigend auf Markus, bis einzelne um
nähere Aufklärung baten, wie solches hätte geschehen können?
Markus aber sprach: „Liebe Brüder, höret mich an! Auch wir sind noch ohne
genauere Nachrichten! Zwei Templer überbrachten mir heute die kaum glaubliche
Kunde, aber offensichtlich nur, um unsern Herzen die Ruhe und den Frieden zu
rauben! Und darum konnte ich es zuerst nicht für Wahrheit halten! Suche ich aber
in meinem Herzen, so finde ich, dass es doch Wahrheit sein kann! Denn einstens
sprach zu mir der Meister die schwerwiegenden Worte: »Um das Mass voll zu
machen, muss Ich noch das Schlimmste erdulden, sonst kann die Menschheit nicht
errettet werden!« O Freunde, so unbegreiflich wie dieses Geschehen uns auch
zuerst erscheinen mag, ahne ich aber doch den Willen Gottes dahinter, dem sich
der Meister stets gern willig beugte! Darum, liebe Brüder, beugen auch wir uns
in Demut diesem über alles erhabenen Gottes-Willen, und Sein Friede wird wieder
einziehen in unsere Herzen.“
Alle waren im Innersten erschüttert und still. Da fühlte Demetrius, wie etwas
Heiliges ihn durchströmte, das wie ein aufleuchtendes Licht volle Klarheit in
ihm schaffte! Und strahlend rief er voll Leben: „Meine Freunde, ich fühle jetzt
in mir: Aller Schrecken wird sich noch in Freude wandeln! Denn sehet: Für das
gewaltige Wirken Jesu bei uns Kranken war es doch gleich, ob Er anwesend war
oder nicht! Und ebenso wird es jetzt für Ihn sein, ob Er ein Mensch ist oder
nicht mehr! Nur für uns war es wichtig, dass Er als Mensch unter uns weilte,
damit wir mit unsern Sinnen Ihn sehen und hören konnten. Hat uns nicht unser
Freund Markus erzählt, dass einst Engel in diesem Hause weilten, in sichtbarer
Menschenform, und dies nach dem Willen Jesu!? Und also ist Er ja ein Herr auch
über alle Engel in der unsichtbaren Welt. Schon fühle ich in mir etwas von
Seinem neuen Leben, das der Herr uns allen schenken will! Warum wollen wir da
noch trauern? Auch ich habe Ihn noch nicht gesehen oder gesprochen, aber im
Herzen fühle ich mich trotzdem innig mit Ihm verbunden! Spricht nicht dieses
Werk, diese wunderwirkende Heilstätte, schon allein von der Grösse Seiner
Willens-Kraft und ebenso von Seiner helfenden Liebe zu allen Menschen? Wer aus
sich heraus schaffen konnte, was nur einem Gott allein möglich ist, und selbst
Tote auferweckt haben soll, muss wahrlich erhaben dastehen, auch über den
eigenen Tod! Meine Sehnsucht, Ihn zu sehen, ist nicht kleiner, sondern grösser
geworden! Und so lebe ich jetzt schon in der Gewissheit: Auch ich werde Ihn
schauen, wie Markus und die Seinen Ihn schauten!“
Zweifelnd richtete der greise Jeremias die Frage an Demetrius: „Lieber Freund
und Freund des Hauses Markus, was berechtigt dich zu solcher Hoffnung, auch du
wirst Jesus noch schauen? Bist du überzeugt, dass Er als der Herr deinen
Wünschen so entgegenkommen wird, wie du es dir vorstellst? Für mich ist alle
Hoffnung zunichte geworden, da ich einst diese Liebe des Heilandes nicht
achtete, und Seinen Worten nicht glauben wollte! Erst mein Leiden heilte mich
von meinem Unglauben, und darum tut es mir doppelt weh, dass ich Ihn nicht mehr
um Verzeihung bitten kann.“
„Lieber Bruder“, antwortete Markus, „da sorgest du dich umsonst! Meinst du, dass
Jesus, der um alle Dinge wusste, nicht auch weiss, dass du deinen Unglauben Ihm
gegenüber bereut hast? Glaubst du denn wirklich, du wärest geheilt worden, so
dir der Herr alles Lebens deine Lieblosigkeit noch nachtragen würde? Nicht nur
der wird Heilung finden, der an die Wundermacht dieser Quelle hier glaubt,
sondern jeder, der an Jesus als den Herrn und an die Kraft Seiner grossen Liebe
glaubt, kann aller Orten Heilung finden! Liebe Brüder und alle Anwesenden! Wie
war ich innerlich gebrochen, als die beiden Templer mir die überaus traurige
Kunde brachten und mich noch höhnisch geisselten, da sie doch wussten, dass Er
unser treuester Freund und Helfer war! Sehet nun, dem Herrn allein danke ich es,
dass Er mir diesen meinen Freund Demetrius zur Seite stellte, dessen Wort mich
sogleich wieder aufrichtete und innerlich stärkte. Es war Jesu Geist und das
Wehen Seiner Liebe, dass mir im Herzen die heilende Gewissheit wurde: Er lebt,
obwohl Er dem Leibe nach getötet werden konnte! Nun kann auch ich aus dem
Innersten meines Seins von Ihm zeugen und rufe euch allen zu: Ja, Er lebt! Was
allen Geistern, allen Engeln und Menschen unbegreiflich scheinen mag, das ist
herrliche Tatsache geworden: Der Meister lebt und wird ewig bleiben der Herr
über alles Leben und allen Tod! Siehe, Bruder Jeremias, einst war dir
unbegreiflich Seiner Rede Sinn; nun bist du in Unruhe darüber und meinst, du
müsstest Ihn deshalb doch um Verzeihung bitten! Ich aber sage dir heute: Hoffe
auf Ihn! Glaube an Seine heilende Liebe zu allen Irrenden und erwähle dir diese
Liebe zum Vorbild deines Lebens! Dann erwächst auch in dir ein neues Leben und
Verstehen, welches ganz andere Aufgaben erfüllen will, nämlich: Ihm zu dienen
und in Seinem Geiste die Brüder aufzurichten, die da gebrochen und voller
Zweifel noch sind über Seinen Tod!“
Ursus horchte auf jedes Wort; plötzlich rief er ganz erregt dem Markus zu: „Das
ist wahrlich nicht mehr zu verstehen, wie du, lieber Markus, über den Tod Jesu
jetzt sprichst! Das klingt ja, als wenn es dir schon etwas Selbstverständliches
sei, dass Er sterben musste, Er, der euch und so vielen geholfen hat! Ich muss
es dir wohl glauben, dass Er trotzdem lebt! Aber warum endete Er am Kreuz? Dies
ist die traurigste und bitterste Todesart, die man sich nur vorstellen kann, und
Verbrecher zitterten, so sie solchen Urteilsspruch vernahmen. Und dieser euer
Heiland und Freund endete am Kreuz? Nein, das ist zu viel, das kann ich nicht
verstehen! Über manches Schlachtfeld bin ich gegangen, habe manchem
Verschmachtenden einen Trunk Wasser gereicht, gleich ob Freund oder Feind; und
wenn es mich auch tief bekümmerte, dass sich die Menschen mit ihren Waffen
gegenseitig erschlugen, so sagte ich mir doch tröstend: Im Kampfe um die
Interessen eueres Vaterlandes seid ihr gestorben! Und ich nährte in mir die
Hoffnung auf friedliche Zeiten. Als ich dann die so herrliche Liebe-Lehre Jesu
und die Gross-Taten Seiner Willens-Kraft kennen lernte, keimte in mir eine neue
Hoffnung auf segensreiche Friedenszeiten! Und die Liebe und Sehnsucht nach
diesem grössten Menschen-Freunde wuchs immer mächtiger, sodass ich selbst fern
vom Judenlande die frohe Zuversicht in mir trug, Jesus einmal zu schauen! Wie
war ich voll Freude, als es nach erfüllter Pflicht wieder zurück nach Caesarea
ging! Spielend wurden alle Unannehmlichkeiten überwunden, denn es ging nun der
Begegnung mit Jesu entgegen! Doch die erste Stunde am Sehnsuchts-Ort bringt mir
die Kunde: Jesus weilt nicht mehr unter uns! Verzeihet mir meine Erregung, aber
ich musste reden, wie es mir ums Herz ist! Mit der Kunde >Der Heiland ist tot« —
ist auch meine Sehnsucht gestorben! Denn einem Lebenden galt meine Liebe und
Sehnsucht, einem Toten gehört aber nur noch die Erinnerung! Ob Sein Werk weiter
lebt, stillt nicht mein Verlangen nach Ihm, es kann nur meine Erinnerung, mein
Denken an Ihn beleben! Darum Freunde, verzeihet mir, dass ich mich eurer
Auffassung nicht anschliessen kann; ich muss erst meinen Schmerz, meine bittere
Enttäuschung überwinden! Lasst mich einige Stunden allein, erst in der
Einsamkeit werde ich meine Ruhe wiederfinden!“
Ursus ging nach dem Stall, zäumte seinen Hengst und sprach zu dem Tier: „Mein
Freund und Kamerad! Auch deine Stummheit ist mir eine teilnehmende Sprache; denn
in Freude wie im Schmerz verstehen wir uns. Höre: mein bester Freund ist nicht
mehr! Komm, kämpfen wir den Schmerz nieder und, versuchen wir, in der stillen
Natur das innere Gleichgewicht wiederzufinden.“ Es war, als ob das kluge Tier
die Trauer seines Herrn mitfühlte; es lehnte den Kopf an seine Brust und
wieherte leise. Ursus streichelte es mit beiden Händen und wusste: Mein Freund
hat mich verstanden! — Er öffnete das Tor und ritt davon.
Im Zimmer war man etwas erstaunt über das Verhalten des jungen Römers, aber
Demetrius sprach: „Meine Lieben! Lasst ihn mit sich allein fertig werden! Er ist
einer von den Starken, die niemanden brauchen, als nur sich selbst! Dass die
Sehnsucht nach Jesus so riesengross in ihm lebte, kommt daher, dass er jedes
Wort, das er von dem grossen Meister hier hörte, so lebendig in sich bejahen
musste! Ihm war es weniger um Jesu Wunder-Werke zu tun als um Seine Lehre. Jesu
Botschaft von der grossen Menschen-Liebe ward ihm eine Leuchte, war ihm etwas,
was das ganze Leben erst inhaltsreich machte! So wuchs das grosse Verlangen in
ihm, mit dem Schöpfer dieser neuen Liebe- und Lebens-Lehre in persönliche
Verbindung zu treten! Achten wir seinen Schmerz! Der Meister wird auch für ihn
das Rechte finden.“ Und lange blieben alle noch beisammen in reger Unterhaltung.
06. Das neue Leben im Menschen
Ursus aber ritt hinaus in die Nacht, am See
entlang, mit schmerzlichem Zwiespalt im Herzen. Der Mond leuchtete in matter
Helle, und Sterne bekundeten ihr Sein durch Flimmern und Leuchten. Er kam an
eine Bucht, wo mehrere Fischer sich abmühten, ihr schweres Netz hereinzuziehen;
Ursus stieg ab, griff wortlos zu und half, den reichen Fang in Sicherheit zu
bringen. Die Fischer dankten mit einfachen Worten, aber Ursus sprach: „Liebe
Leute! Es war mir ein Bedürfnis, euch zu helfen; denn ich sah, wie euere Kräfte
nicht ausreichten.“
„Herr“, sprach einer, „heute war Sabbath und noch nichts haben wir genossen als
beim Scheiden der Sonne einen Bissen Brot und einen Schluck Wasser. Fische waren
bestellt zu einem Festmahl, und da gab es kein Zaudern. Mit Beginn der Nacht
fuhren wir aus und haben gute Beute heimgebracht; Jehova segnete unsere Arbeit!
Ist es aber erlaubt zu fragen, Herr, wohin es denn in dieser Dunkelheit noch
gehen soll? Die Nacht ist gefährlich zum Reisen, da man leicht irren kann.“
Ursus erwiderte: „Mein Freund, ich habe kein Ziel! Die Nacht lockte mich, zu
suchen, was ich am Tage verlor.“
„Herr“, sprach der Fischer, „Ihr habt eine falsche Vorstellung, kehret um, denn
morgen wird sich das Verlorene leichter finden. Bei Tage wird auch das Gemüt
wieder froher; denn du, junger Freund, trägst Herzeleid.“
„Mein Freund“, fragte Ursus, „wie kommst du zu solcher Rede? Wüsstest du, was
mich bedrückt, du würdest vielleicht genau so leiden! Denn, was ich verloren
habe, heisst: Jesus von Nazareth!“
„Herr, Herr!“ rief der Fischer, „wie könnte dies möglich sein? Denn nicht nur
ich, sondern alle, die hier sind, und ebenso mein ganzes Haus kennen Jesus von
Nazareth und sind Ihm viel Dank schuldig für all die Wohltaten, die Er uns
erwies. Jesus willst du verloren haben? Dies ist eine Unmöglichkeit! Denn, wer
einmal mit Jesus in innere Berührung kam und die ganze Fülle Seiner heiligenden
Liebe erfahren durfte, verliert den Heiland Jesus nicht wieder! Jeder Gedanke an
Ihn macht schon froh! Ein Gedanke an Ihn ist wie das Auflodern von einem neuen
Leben, das erwärmt und alles Kleinliche überwindet! Und dieses Leben ist doch
nicht wieder zu verlieren? Immer und immer muss ich an Ihn denken! Ihn
verlieren, hiesse ja, nicht mehr an Ihn denken können!“
„Freund“, sprach Ursus, „es ist aber doch so, wie ich sagte; ich und auch ihr
habt nun den verloren, der euch soviel Gutes tat! Denn Jesus ist nicht mehr!“
„Herr! — Erlaubt euch keinen Scherz mit uns“, rief der Fischer, „das wäre ja der
Welt grösstes Unglück, so der Heiland Jesus nicht mehr lebte! Doch habt einige
Augenblicke Geduld, meine Brüder brauchen mich noch, dann bin ich wieder hier.“
Ursus schaute nun zu, wie die Fischer das zusammengezogene Netz oben an einem
Pfahl befestigten, so dass die Fische darin im Wasser blieben; das Boot aber
zogen sie vollends ans Land. Dann kam der alte Fischer und sagte: „Herr, nicht
weit von hier ist meine Behausung, kehre doch bei uns ein; denn es handelt sich
hier ja auch für uns um das Höchste, um Jesus! Dein Pferd kann einer von uns in
Verwahrung nehmen.“
„Gut“, antwortete Ursus, eine kleine Weile kann ich noch bei euch bleiben! Doch
der alte Markus könnte ängstlich werden, wenn ich die ganze Nacht ausser seinem
Hause weilte.“
Nach einigen Minuten kamen sie an das noch matt erhellte Haus. Ursus gab seinem
Pferd einen kleinen Schlag auf den Hals und sprach: „Bleibe ruhig und warte
hier!“
Der Fischer konnte es fast nicht glauben, dass man einem Pferde auch einen
Befehl geben konnte, und fragte: „Herr, hat das Tier die Worte wohl verstanden?
Es ist das erste Mal, dass ich solches erlebe.“
„Mein Freund!“ sprach Ursus: ,,Es ist unter Wüstenvölkern keine Seltenheit, dass
die Tiere fast klüger sind als die Menschen. Dieses Tier ist das Geschenk eines
arabischen Herrschers, dem ich grosse Dienste erweisen konnte. Es ist klug und
mein bester Kamerad, denn es versteht meine Freude wie auch meinen Schmerz;
versuche, das Tier fortzubewegen, es wird dir nicht gelingen.“
Ungläubig schaute der Fischer ihn an, dann sprach er: „Herr, es wird schon so
sein! Es gibt auch kluge Fische, es liesse sich manches davon erzählen.“
Das Weib des Fischers öffnete die Tür und sah erstaunt •auf den fremden Gast,
doch der Fischer sprach: „Weib, lasse uns allein, der Herr hat wenig Zeit, alles
andere erfährst du am Morgen!“
Nun traten sie in den grossen Raum, wo es nach Holz und Fischen roch, aber Ursus
übersah mit einem Blick, dass alles sauber und ordentlich darin war. Der Fischer
lud ihn ein: „Kommt Herr, nehmet Platz und erzählt, was euch so bekümmert.“
Und Ursus erzählte, was er von Markus über Jesus gehört hatte. Der alte Fischer
aber sagte: „Herr, noch ist dies alles nur eine Kunde, die ebensogut auch nicht
wahr sein kann. Jesus ist doch ein Herr und hat einen sehr starken Arm! Fast
täglich hören wir von Reisenden oder von denen, die im Heilbad Genesung fanden,
Sein Lob! Darum sorge ich mich nicht! Er ist der Herr und bleibt unser“ grosser
Helfer in allen Nöten.“ „Lieber Freund“, sprach Ursus, „ihr haltet euch an
etwas, was nicht mehr ist! An einen Toten glaubet ihr noch?“
Der Fischer aber entgegnete ihm ernst: „Er Selber hat uns gelehrt, Er sei das
Leben, und wer an Ihn glaubt, kann dieses Leben von Ihm erhalten! Weiter sprach
Sein Mund folgende Worte: »So ihr in Meinem Geiste verbleibet, so bleiben wir
verbunden, und Mein Segen wird euch begleiten bei all eurem Tun!« Herr, siehe
den Segen von heute Nacht! Er ist der Beweis: Unser Jesus lebt.“
„Freund“, antwortete Ursus, „deine Reden sind mir so unverständlich wie die der
anderen! Wenn der Mensch, auf den ich meine ganze Hoffnung setzte, nicht mehr
ist, was kann ich von Ihm noch erhoffen? Ihr behauptet, Er lebe! Die Templer
aber behaupten, Er sei tot! So steht Behauptung gegen Behauptung! Alles, was Er
euch auch war, wäre mit Seinem Tode doch von euch genommen.“
Sinnend sprach der Fischer: „Junger Freund, wenn du behauptest, du habest Jesus
verloren, so ist dies nicht richtig! Denn noch nie wirst du etwas von dem
wunderbaren Leben Jesu in dir empfunden haben! Wir sind nur einfache Fischer,
aber dies eine sage ich dir: Mir scheint, als wenn du Jesum wie einen
gewöhnlichen Menschen betrachtest, dem man von Herzen zugetan ist, ungefähr wie
einer Jungfrau, die man sich zur Braut erwählt hat. Gewiss, die Braut kann
sterben; dann hast du sie verloren! Und der Tod war die Ursache dazu. Aber der
Meister und Heiland Jesus aus Nazareth ist nicht nur ein Mensch, sondern ist
Gott der Herr, der da Macht hat über alle Gewalten und über alle Elemente! Wir
waren Seine Zeugen, als Er dem Sturm und den Wogen Ruhe gebot, und rühmen
deshalb Seine Kraft und grosse Herrlichkeit! Wir wissen, als Seine Feinde ihm
nach dem Leben trachteten, fürchtete Er sich nicht, sondern liess Sturm und
Winde kommen, dass dieser See einem brodelnden Kessel glich, so dass das
feindliche Schiff in höchste Gefahr kam, und die Angst Seiner Verfolger sie
eines Besseren belehrte, wer Er sei! Er ist ein Herr über Leben und Tod!
Folglich können wir nicht an Sein Sterben glauben. Es könnte ja sein, dass Er
alles Menschliche nicht mehr benötigte und deshalb Seinen Leib ablegte; dann
aber, junger Herr, dann ist Er nur noch pure Herrlichkeit! Seine Liebe aber zu
uns würde doch dieselbe bleiben! Denn durch Seinen Tod wird diese Liebe uns ihre
wahre Herrlichkeit nur noch mehr offenbaren!“
Sinnend sprach Ursus: „Ihr seid mir ein Rätsel, das ich noch nicht zu lösen
vermag; Jesus — ein Gott? Von dieser Seite habe ich Ihn mir noch nicht
vorgestellt.“
„Herr“, erklärte der Fischer weiter: ,,Jesus kann man sich nicht vorstellen,
weil solche Vorstellung das Wesentliche an Ihm nicht erfasst! Aber fühlen kann
man Seine Gegenwart oft sehr deutlich! Und, wie ich es jetzt fühle, wird mein
ganzes Innere erfüllt mit heiligem Leben von Ihm, und in mir vernehme ich klar
Seine Stimme: »Habe du rechte Geduld! Dein Bruder liebt Mich aufrichtig und
innig.«“
„Was sagst du da“, fragte Ursus erstaunt, „in dir vernimmst du Seine Worte?
Gehet ihr in eurer Schwärmerei so weit, dass ihr, so in euch etwas rege wird,
schon glaubt, das müsse euer Jesus sein?“
Der Fischer begütigte: „Herr, ihr seid noch so jung und vorschnell urteilend;
wir in unserem. Alter sind bedächtiger, lind darum will ich auch dir gegenüber
geduldig bleiben; aber bedenke: Ist Jesus gestorben — und gleich unseren
Vorfahren im Grabe geblieben, dann vergehen auch wir einst ohne einen
Hoffnungsstrahl an ein ewiges Fortleben! Ist aber Jesus durch den Tod gegangen,
um in das ewige Leben einzugehen, dann bleiben auch wir, die wir an Ihn glauben,
einst nicht im Tode, sondern werden leben mit Ihm in Seinem Reiche voll
unsagbarer Herrlichkeit! Dies lehrte uns Sein Heiliger Mund, und Seine Taten
bewiesen, dass Seine Worte nicht leere Reden waren, sondern dass Er der
Verkünder und Darsteller ewiger Lebens-Wahrheiten ist! Freilich, noch fehlen für
dich natürliche Beweise; für mich sind sie nicht nötig, denn ich weiss: Er lebt
und kündet mir Selbst in mir Sein Leben!“
Ursus bat jetzt: „Freund, verzeihe mir meine Härte! Ich fühle es, dein Mund
kündet die Wahrheit! Aber was ist zu tun, damit auch ich die Überzeugung
erhalte: Er lebt! Markus und mein Herr sprachen von einem Lazarus in Bethanien;
soll ich zu diesem gehen, um mir Beweise zu holen?“ Der Fischer antwortete:
„Junger Freund, um nach Bethanien zu gelangen, „braucht man eine halbe Woche;
und doch würde es dir wenig nützen! Denn so du mir nicht im Ernste glauben
kannst, so würdest du auch dem Lazarus nicht glauben. Dir aber lässt soeben
Jesus, der Herr, durch mich sagen: „Suche mit deinem Herzen!“ Dann sollst du Ihn
schauen und sollst auch erfüllt werden mit diesem neuen Leben aus Ihm. Komme, so
oft dich dein Herz treibet, in unsere bescheidene Hütte; immer sind wir für dich
da! Jetzt aber brauchen wir Ruhe, und auch für dich wird Ruhe vonnöten sein.“
Mit kurzen Dankesworten trennte sich Ursus von den alten Fischersleuten, führte
sein Pferd am Zügel und ging langsamen Schrittes nach dem Anwesen des alten
Markus zurück; es dauerte über eine Stunde. Aber in seinem Innern war der
heftige Zwiespalt noch nicht beseitigt: Ein Toter lebt und bekundet, es gibt
keinen Tod, weder für Mich noch für Meine Nachfolger! Von weitem sah er eine
brennende Lampe, die Markus an das Tor hatte anbringen lassen, um seinem Gast
das Zurechtfinden zu erleichtern. Der älteste Sohn erwartete den Römer und
besorgte sein Pferd; Ursus jedoch fühlte sich einsam und verlassen; lange noch
betrachtete er den gestirnten Himmel, bis der kommende Tag die Sterne verblassen
liess.
In dieser Nacht beschloss er, nicht zu ruhen und zu rasten, bis das Geheimnis um
Jesus ergründet sei. Es war ihm undenkbar: Jesus als Mensch und als Gott?
Freilich hatte Markus schon öfter angedeutet, dass Gotteskräfte in aller Macht
und Herrlichkeit in Ihm seien! Aber dass Jesus Gott sei, davon hörte er noch
nicht! „Wer Jesu Liebe einmal erfahren hat, wird Ihn nie wieder verlieren!“ —
Diese Worte beschäftigten ihn immer wieder. Die Fischer, das Haus Markus, alle
waren Mitgeniesser dieser herrlichen Jesus-Liebe, weshalb sie sich so eng mit
Ihm verbunden fühlten. Aber wie stand er heute zu Jesus? „O Jesus!“ —so sprach
Ursus zu sich selbst. — „Warum musstest Du sterben und die in Sehnsucht nach Dir
sich Verzehrenden zurücklassen? Warum, warum, O Jesus, machtest Du keinen
Gebrauch von Deinen Dir innewohnenden Kräften? O Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Lasse mich nicht wieder zurückfallen ins Heidentum; denn dann würde es sehr öde
und finster in mir sein! Deine Güte und Gerechtigkeit mache mich wieder zu einem
frohen Menschen!“
07. Das neue Leben im Menschen
Im Hause wurde es lebendig, fleissige Hände
bereiteten schon das Frühmahl; Ursus ging hinunter zu seinen Leuten, die schon
die Tiere fütterten. Die Schwarzen konnten nicht genug ihrer Freude Ausdruck
geben, dass sie hier keine Fremdlinge wären, sondern als Menschen-Brüder
geachtet würden, und Ursus freute sich mit ihnen über diese Kunde, dachte aber:
„Warum bin ich nicht froh wie diese Menschen?“ und Bitterkeit lagerte sich über
seine wunde Seele. Er ging hinaus an den See, wo der ruhige Klang der Wellen und
das leise Gesumm der Insekten in das innere Schweigen führten. Es war, als ob
nun nichts mehr von aussen an sein Ohr drang, sondern wie von innen eine Stimme
zu ihm aufstieg: „Suchest du Gewissheit und Frieden, suche in dir! Alle Menschen
und die bestgemeinte Liebe sind für dich wertlos, so sich nicht das Tor zu
deiner Ich-Welt öffnet! Darum werde still bis in dein Heiligtum!“
Ursus drehte sich um: waren dies Worte oder waren es nur Gedanken? Aber von wo,
von wem kamen sie? „Werde still bis in dein Heiligtum?“ „Ja, dies will ich ja!“
sprach er aufatmend zu sich selber, „aber hierzu muss wohl der alte Markus mir
noch helfen!“ Da sah er von weitem den alten Fischer Hiram kommen; Ursus ging
ihm entgegen, und der Alte begrüsste ihn: „Friede sei mit dir!“
Ursus dankte und sprach: „Ja, den könnte ich gebrauchen! Denn ruhelos war diese
Nacht, und der Schlaf ist mir ferngeblieben.“ — Hiram antwortete: „Wollen wir
nicht ins Haus gehen und uns mit Markus besprechen wegen der Kunde von
Jerusalem? Noch habe ich niemandem etwas von deiner gestrigen Erzählung gesagt,
denn, es könnte doch auch ein Trugmanöver des Tempels sein.“
Ursus fragte erstaunt: „Kommen auch dir Zweifel? Diese Nacht hast du anders
gesprochen.“
„O nein!“ antwortete der Fischer. „Aber es ist Pflicht eines jeden Mannes,
Gerüchte zu prüfen um des Irrtums willen! Denn ein Irrtum vermag manches sorgsam
gehütete neue Leben wieder zu vernichten.“ Beide gingen nun zurück ins Haus und
wurden freundlich von Markus begrüsst: „Was bringst du uns, Bruder Hiram?
Brauchst du einige meiner Leute? Ohne Grund kommst du doch nicht in dieser
Frühe?“
„Nein, Bruder Markus“, sprach Hiram. „Dieser dein Gast ist der Grund. In dieser
Nacht weilte er in meiner Hütte und erzählte mir von einer kaum glaublichen
Begebenheit in Jerusalem.“
„So weisst du schon“, fragte Markus, „was mir die Templer überbrachten? Aber so
gewiss ist es ja noch nicht.“ —
„Es ist Gewissheit, Bruder Markus“, antwortete Hiram ernst. „Der Herr hat es mir
in der Frühe geoffenbart! Aber wie schon so oft, trug ich Bedenken; denn ich sah
den Herrn mit durchbohrten Händen und Füssen, aber mit strahlendem Angesicht!
Ich glaubte, es sei nur ein Traumbild! — Nun ich aber in deine Augen schaute,
Bruder Markus, ist es mir zur inneren Gewissheit geworden!“
Markus erwiderte ihm: „Auch mein ganzes Innere bäumte sich auf gegen diese Kunde
und wurde durchschüttelt bis auf den Grund. Doch da kam mir Jesus Selbst zu
Hilfe durch einen meiner Gäste, und nun bin ich beruhigt, denn ich weiss, Er
lebt und wird uns auch weiterhin mit Seiner Gnade und Liebe beschatten!“
Hiram sprach: „Dann ist alles gut! Auch ich weiss: Er lebt und wird ewig leben!
Aber dieser junge Freund ist noch erfüllt mit Gedanken des Zweifels! Darum,
Bruder Markus, wollen wir nicht doch jemand nach Bethanien senden? Du weisst,
ohne deinen brüderlichen Rat möchte ich nichts unternehmen; hier aber sehe ich
die Notwendigkeit, diesem Geschehen auf den Grund zu gehen.“
Markus entgegnete: „Bruder Hiram! Heute Nacht wich der Schlaf von meinem Lager,
und mein ganzes Sinnen und Denken galt dem Herrn! Dadurch bin ich soweit im
klaren, dass ich alles ruhig an mich herankommen lassen kann! Bruder Lazarus
wird im Verein mit Seinen Jüngern schon Mittel und Wege finden, alle Freunde zu
verständigen! Warten wir ab und seien wir uns bewusst: Der Herr kennt die
Seinen! Er wird alle unsere Traurigkeit wieder in Freuden verwandeln!“
„Aber Freunde!“ rief Ursus erregt, „ihr geht mit einer Selbstverständlichkeit
mit Jesu Tod um, als wenn es schon bewiesene Tatsache sei! Es könnte doch sein,
dass der Tempel diese Nachrichten nur zu seinem Erfolg ausnützen will, um bei
den Freunden Jesu das Beste, den Glauben an Ihn, zu erschüttern?“
„Da irrst du, junger Freund“, antwortete Hiram ernst. „Der Glaube an Jesum gibt
eine lebendige Kraft und eine Gewissheit, die niemand uns nehmen kann! Wo der
Feind des Lebens noch trennend wirken kann, dort ist Jesus noch nicht in das
Leben eingedrungen! Viele, viele sahen und hörten Jesus, aber ins eigene
Innen-Leben nahmen sie Seinen Geist und Seine Liebe nicht auf und konnten somit
nichts von Seiner Lebens-Fülle erfahren! Die aber an Ihn glaubten, erfuhren
Seine Herrlichkeit und wollen ohne dieses gnadenvolle neue Leben aus Ihm nicht
mehr sein! Darum sei unbesorgt! Der Herr kennt die Seinen und liebt auch die
Seinen!“ Es kamen nun die Gäste und vereinten sich zum Morgenmahle. Sie freuten
sich, den alten Hiram zu begrüssen, denn manchen schon gab dieser Bruder „Brot“
aus dem Herzen Jesu. Markus bat der» Bruder Hiram, den Morgen-Segen zu sprechen;
Hiram erhob sich, breitete die Hände nach oben und sprach: „O du gütiger,
liebevoller Vater! Vorbei ist die Nacht, in der Du uns gnädiglich bewahret hast
vor Übeln. Der Tag ist gekommen und verkündet uns: Das Licht sei Dein Geschenk,
damit wir leben! O Herr! Du Licht aus dem Gottes-Leben! Und Du Leben — aus der
göttlichen Liebe! Sei Du auch an diesem Tage bei uns und in uns! Denn ohne Dich
empfinden wir nichts von diesem Leben! Aus Deiner Liebe und Gnade haben wir
erkannt: Du Selbst bist dieses neue Leben! Segne uns, damit auch wir wieder
segnen können! Amen! Die Speisen aber segne uns aus Deiner Kraft und
Herrlichkeit! Und Dein heiliger Wille werde immer mehr auch unser Wollen! Amen.“
„Amen“, erwiderten alle; und nun stimmten die Kinder des Markus einen Psalm an:
„Herr, Du Ewiger und Du Herrlicher Dein ist alle Macht und alles Leben! Dein
sind wir. Und als Dein Eigentum wollen wir nach Deinem Willen leben! Doch sei Du
bei uns! Denn ohne Dich vermögen wir nichts! Deine Kraft mache uns stark und
Deine Herrlichkeit bekunde sich unserer schwachen Liebe.“
Nun erst genossen alle von dem bereiteten Mahl; dann? sprach Hiram: „Meine
Freunde und auch meine Brüder! Irr mir drängt es gewaltig, euch zu bekunden,
dass Sich unser Gott und ewiger Vater in Seiner unendlichen Liebe und Erbarmung
jetzt herabgelassen hat, das Grösste und Herrlichste uns Menschen zu geben, Sein
Göttliches Leben! In Kraft und voller Lebensfrische dürfen wir alle uns als
Brüder die Hände reichen, so wir uns aneignen den Geist, den der Meister in Sich
trug und der Ihn bewegen hat, Sich Selbst für uns und alle Menschen zu opfern!
Des Meisters Todesstunde ist Geburtsstunde eines ganz neuen Lebens für uns und
soll zur Auferstehung all der Geistes-Kräfte führen, die in den Herzen aller
Menschen noch verborgen ruhen! Doch alles Werden braucht seine Zeit. Jesus starb
als Mensch für alle Menschen, um für alle Ewigkeiten dem Tod das Schreckliche zu
nehmen! Doch nur Sein Menschliches ging durch den Tod, Sein Geistes-Leben aber
wirkt von jetzt ab in uns! Sein Tod stellt uns vor die grosse Aufgabe, mit
offenen Augen und weitem Blick die inneren Wege zu Ihm hin weiter zu
beschreiten, die Er als unser Menschenbruder uns allen vorgelebt und gezeigt
hat! Der Meister will nun auch zu uns kommen, um uns nochmals zu zeigen.
Sehet: „Ich bin das Leben!“ Weiter zu führen aber vermag Er uns nicht, da jetzt
unser eigenes Tun einsetzen muss! Seine grosse Aufgabe, welche die ewige
Gottes-Liebe an Ihn stellte, ist jetzt erfüllt, weshalb Seine letzten Worte als
Mensch und Bruder gerichtet waren an alles, was auf Erden lebt und leben wird —
und lauteten: »Es ist vollbracht!« Alles nun, was Er uns an Liebe gab — wollen
wir Ihm, als frei gewordene Menschen, gern zurückgeben, können es aber nur je
nach dem Masse Seiner in uns lebendig gewordenen Liebe! Auf diesem Wege erst
wird Jesus als der Herrliche uns immer näher entgegenkommen, bis auch wir
ausrufen dürfen: „Nun sind wir vollendet durch Sein Leben in uns!“ Und wenn die
ganze Welt in Stummheit verharrt und nicht verstehen und fassen will, dieses
Letzte Seiner grossen Liebe, dann sollen wir allen beweisen: Er lebt in uns!
Sein Geist ist das ewige Leben!“
Nach einer Pause sprach Hiram weiter: „In mir erklingt soeben Sein Heiliges
Wort: „Alles, was Mein war, sei nun dein! Und alle Kraft und alle Macht, die
Meine Liebe so wunderbar verherrlichten, sei nun auch in dir, je nach dem Masse
deiner Liebe zu deinen Brüdern! Fürchte nichts! Kein Tod und keine Verhältnisse
vermögen mehr das neue Leben aus Mir in dir zu beengen! Denn nun bin Ich Sieger
und werde allen zum Siege verhelfen, die in unerschütterlicher Liebe und Treue
fortsetzen Mein Werk der helfenden, Leiderlösenden Liebe! Welches Dienen euch
allen erst die Vollendung bringt! Amen!“
Alle lauschten den Worten des Hiram und wurden erfüllt von dem neuen Geiste, aus
dem Hiram sprach; nur der junge Römer und die beiden neuangekommenen Kaufleute
wussten nicht recht, wie sie die gesprochenen Worte auffassen sollten.
Gregor wendete sich an Demetrius und fragte: „Höre, du lieber Freund! Dies war
etwas, was ich nicht so recht verstehen konnte, denn ich kenne noch viel zu
wenig von Jesus und weiss nichts von diesem einfachen Fischer. Betrachte ich
aber alle die anderen, wie sie erfüllt sind von der Wahrheit dessen, was sie
hörten, so muss ich bekennen: Es muss doch wohl etwas Wahres in seinen Worten
gewesen sein! In meinem Leben ist mir kaum ein Ereignis entgegengetreten, das
mich derart interessierte wie gerade dieses!“
„Mein Freund!“ antwortete Demetrius, „es ist nicht zu verwundern, so du und
vielleicht auch andere dieses nicht gleich fassen und glauben können. Auch ich
habe Jesus nur durch die Erlebnisse anderer kennen gelernt; gestern aber, als
ich mit meinem ganzen Wesen für Jesu eintrat und die Zweifel des Bruders Markus
widerlegen wollte, fühlte ich eine neue Kraft in mich einströmen, und ich konnte
Worte voll überzeugenden Lebens reden! Es war also .ein Etwas, was mich so
belebte, und diese Lebens-Kraft kann nur Jesu Geist gewesen sein.“
„Wenn dem so wäre“, sprach Gregor sinnend, „dann war Jesus mehr als ein Mensch!
Dann müsste es Ihm auch möglich sein, sich uns zu offenbaren! Denn auch du hast
Ihn Selbst noch nicht gesehen, und doch wirkte in dir Seine lebendige Kraft zum
Reden.“
Inzwischen wandte sich Ursus an Markus: „Lieber Freund! Sage mir, war dies
wirklich Jesus, der Sich, nach Hirams Worten, in ihm bekundete? Ich kann es
nicht fassen! Kann aber auch nicht glauben, dass Hiram uns etwas erzählt, was
nicht Wahrheit wäre. Und sehe ich die ändern an —, sie glauben bestimmt: Er war
es!“
Markus antwortete: „Auch ich glaube, es war der Meister, der Sich uns durch
diesen ehrlichen Menschen offenbarte! Es ist nicht das erste Mal, sondern schon
öfter war Hiram der Mittler zwischen dem Herrn und uns. Bruder, sage mir, warum
kannst du solches nicht glauben? Es ist doch ein Beweis Seiner Liebe und Gnade,
wenn Jesu Geist Sich als ein neues Leben im Menschen offenbart.“
Ursus entschuldigte sich: „Markus, du musst nicht denken, dass ich nicht glauben
will, sondern ich möchte nur erklärt haben, was mir nicht natürlich vorkommt. So
sich Jesus, obwohl Er tot sein soll, noch durch Worte bekunden kann, so muss Er
doch hier sein? Warum sieht Ihn nicht einer und spricht: „Jesus ist hier, ich
schaue Ihn!“
Markus entgegnete geduldig: „Ursus, Ursus, du bürdest dir Lasten auf die dich
unfrei machen. Es ist eines jeden Menschen Aufgabe, vor allem sich selbst zu
befreien von Hemmungen der Seele, die uns den Aufblick nach oben wehren. Es ist
aber auch jedem Glauben eigen, dass er getrübt werden kann von Kräften, die
nicht aus Jesus sind! Und nur darum kann der Herr noch nicht persönlich zu uns
kommen, weil Er Rücksicht auf deinen Zustand nimmt. Glaube an Ihn wie du bis
gestern an Ihn glaubtest! Hoffe auf Ihn als auf den grossen Helfer in allen
Nöten, und alles wird sich klären in dir! Keinem wird etwas geschenkt, sondern
es muss in uns verarbeitet werden! Bruder, dein Heiland wartet auf dich!“
Nun war auch das Mahl beendet, und der alte Markus sprach: „Liebe Brüder und
Freunde! Nun wollen wir danken und im Herzen uns freuen! Jeder Tag bringt ja
seine Pflichten, und diese wollen wir nun auch heute in neuer Liebe erfüllen!“
Hiram und Demetrius unterhielten sich über das eben Erlebte, bis Markus zu ihnen
kam und nun beschlossen wurde, doch einen Boten nach Bethanien zu senden, um
sich nach allen Einzelheiten zu erkundigen. Demetrius stellte Ursus mit einigen
Soldaten zur Verfügung; ein Sohn des Markus sowie dessen Freund sollten ihn
morgen in der Frühe begleiten. Damit verabschiedete sich Hiram.
Ursus kam aus einem Nebengebäude und bat den alten Fischer: „Mein Freund! So du
dich einen Augenblick gedulden möchtest, so würde ich meinen Herrn bitten, dich
in einem Wagen heimbringen zu dürfen; es würde mir Freude machen, da ich doch
weiss, dass du so gut wie nicht geschlafen hast.“ Ehe Hiram etwas erwidern
konnte, war Ursus schon bei seinem Herrn. Gern wurde die Erlaubnis erteilt, und
rasch verabschiedete sich Ursus, indem er sich zugleich für den ganzen Tag
beurlaubte.
08. Das neue Leben im Menschen
Unter ernsten Gesprächen erreichten sie bald
ihr Ziel, und als Pferd und Wagen untergebracht waren, führte Hiram den jungen
Bruder nach der entfernten Hütte des Bruders Aziona, welcher in dem
Fischerdorfchen der Älteste und das Oberhaupt der Gemeinde war. Dieser war etwas
erstaunt, dass Hiram ihm einen Fremden in der Tracht eines Römers zuführte.
„Der Friede des Herrn sei mit dir!“ grüsste Hiram —, „und mit euch bis in
Ewigkeit“, antwortete Aziona. „Kommt ins Haus, euch treibt Wichtiges zu mir!“
„Ja, Bruder, nicht nur Wichtiges, sondern auch für die Zukunft Entscheidendes!
Nämlich, um es mit wenigen Worten zu sagen: Dem Meister hat man auf grausame
Weise das Leben genommen, was viele in Trauer und Erregung versetzt hat!“
„Hiram, mein Bruder“, antwortete Aziona, „den Weg für diese Kunde hättest du dir
ersparen können! Denn in dieser Nacht erlebte ich schon in einem Gesicht dieses
traurige Geschehnis! Doch sagte ich heute noch keinem davon, obwohl ich weiss,
meine Gesichte haben mir noch nichts Falsches gezeigt. Auch sah ich, wie der
Meister als Lebender weiter wandelte und grosse Scharen verirrter Geistwesen um
sich sammelte. Aber trotzdem ist es notwendig, den Bruder Markus davon zu
verständigen, da bei ihm viele Fremde weilen.“
„Heute morgen war ich schon dort“, entgegnete Hiram, „und dieser junge Bruder,
ein Gast des Markus, ward auch dadurch innerlich sehr bedrückt, da er den
Meister noch nicht kennt.“
„Nicht nur bedrückt“, fügte Ursus hinzu, „sondern aller Hoffnung beraubt, den
Herrn je von Angesicht zu sehen!“
„Junger Bruder“, sprach Aziona, „da tust du dir selbst Unrecht! Denn Jesus ist
die Hoffnung aller, und keiner, der an Ihn glaubt, wird jemals von Ihm
enttäuscht werden! Nicht Jesus konnte sterben, sondern nur die Form, die Er als
Mensch trug! Im Augenblick Seines Sterbens umkleidete Er Sich schon mit einer
neuen und viel herrlicheren Form und kann Sich jetzt überall hinbegeben, wie wir
es an Engeln schon erlebten! Wenn ich als alter und erfahrener Bruder dir einen
Rat geben kann, ist es der: Klammere dich mit deinem ganzen Sein, deinem ganzen
Hoffen und Denken an Jesus und lasse nicht einen einzigen Gedanken lebendig
werden, der dir Sein Bild, welches du in dir trägst, trüben könnte! Dann wird Er
auch zu dir kommen und dich stärken und aufrichten! Als Jesus noch in der
Menschenform, im Fleische, uns Menschen diente, war auch Er an die Ordnung
dieses Lebens gebunden, während Er jetzt als Herr über alles Leben und allen Tod
Sich in denkbar schnellster Zeit und überall Seinen Getreuen sichtbar offenbaren
kann! Solches erlebte ich schon in dieser Nacht. Halte dich nicht auf mit
irdischen und darum vergänglichen Vorstellungen, denn diese sind uns nur zur
Probe gestellt für die innere Reife: Ob Er Sich uns schon sichtbar offenbaren
darf, ohne unserer inneren Freiheit damit zu schaden. Doch damit dieser junge
Bruder zur inneren Ruhe komme, wollen wir in die grosse Stille eingehen und des
Friedens von oben harren! Dieser Friede aus dem Geiste des Meisters ist die
Voraussetzung zur Erfüllung aller Seiner Verheissungen! Du siehst, lieber junger
Freund, dass der Tod Jesu uns nicht das Geringste von Ihm zu nehmen vermag,
sondern das Höchste uns erst übermitteln kann, nämlich das klare Bewusstsein:
Wer an Ihn glaubt und von Herzen sich bemühen will, nur Ihm zu dienen, wird inne
werden: Der Tod Jesu stellt mich nun an die Stätte, wo Seine Liebe wirken will!
Darum, Bruder, warte auf den Moment, wo du inne wirst: Jetzt fühle ich mich mit
dem Herrn verbunden!“
Nun waren sie still, nach einer Weile jedoch fragte Ursus: „Liebe Freunde,
nochmals verzeihet, dass ich mit Fragen euch belästige; mir scheint, dass euer
Verhältnis zu Jesus ein mehr innerliches, ein rein geistiges ist! Bis heute war
mein grösstes Sehnen: Ihn nur einmal zu sehen, Ihm in die Augen zu schauen und
Seinen Worten zu lauschen. Ihr aber drängt mich zu einer neuen Auffassung: Ihn
innerlich zu erfassen, um das von Ihm Gewollte und Gewirkte zu tun! Aber nun
werde ich unsicher: Ist das in mir Neu-Erstehende auch wirklich das von Jesus
mir Geschenkte? Oder gibt es noch etwas Unbekanntes .in mir, was sich an Jesu
Stelle setzen könnte? Eins ist sicher: Heute muss ein Wendepunkt in meinem
Streben eintreten, da vor meinem Lebensweg ein Trümmerhaufen meiner Sehnsucht
liegt. Ihr zeigt mir mein Ziel, es heisst: Jesus! Doch ein anderer ist es jetzt,
auf den ich hoffen, dem ich vertrauen soll!“
„Mein Bruder“, antwortete Aziona, „hier hast du meine Hand als Zeichen
brüderlicher Liebe; sei versichert, dass du heute noch aller Zweifel und Sorgen
ledig wirst! Doch dränge alle Bitterkeit aus deinem Herzen, denn ein Herz, das
Jesus liebt, ist nur erfüllt von Kräften Heiliger Liebe! Bis jetzt hörtest du
nur von dem Menschen Jesus, von dem Heiland, dem grossen Menschenfreund! Und du
bist nicht der einzige, der von der Sehnsucht erfüllt war, Ihn zu sehen, um
etwas von Seiner inneren Herrlichkeit zu erleben! Es waren so manche, die Ihn
hörten und sahen, aber Er blieb ihnen der Mensch Jesus. Siehe, diesen Menschen
wird Sein Tod nur Zweifel über Seine Sendung bringen. Dann waren andere, die Ihn
hörten, an Seinen Worten sich labten und grosse Erwartungen auf Ihn setzten;
diesen wird der Tod Jesu viel Trauer und Enttäuschung bringen, da ihre
Hoffnungen nicht erfüllt wurden. Die Seinen Geist aber erkannten in der Tiefe
ihres Herzens als ein neues Leben, denen ein Wort aus Seinem Munde war, als wenn
es aus dem Gottes-Herzen käme, diesen wird Sein Tod zu einem neuen gewaltigen
Erleben! Denn sie fühlen lebendig werden in sich die heilige Aufgabe, den
Brüdern alles zu ersetzen, was der Tod Jesu ihnen nahm! So siehst du nun uns,
die wir wissen: Der Herr ist nicht mehr Mensch! Weil wir uns längst von Seinem
Menschlichen trennten und uns schon verbunden fühlten mit Seiner Seele und
Seinem herrlichen Gottes-Geiste! Sein ganzes Leben war ein Ringen um diese
Frei-Werdung unserer Seelen! Da wir Ihm nun unsere Seele übergaben, gab Er die
Seine uns, so dass ich ausrufen möchte: „O Jesus! Du bist mein Ich!“ Wenn ich
aber doch auch vom Schmerz um Jesus schwach wurde, so war es im tiefen Mitleiden
mit Seinen Schmerzen am Todespfahl.“
„Bruder“, rief Ursus, „ich danke dir! Es wirkt dein Wort wie ein neues Licht in
mir! Aber sage mir, du sprichst von Jesu Tod mit einer Bestimmtheit, als wenn du
dabei gewesen wärest; wenn es sich nun doch anders verhält, was dann?“
Freundlich antwortete Aziona: „Bruder! Der Herr kennt alle, die Ihn lieben, und
keinen hat Er vergessen! So schmerzlich es auch in uns klingt: Er ist gestorben!
— um so freudiger wird der Ruf in uns erschallen: Er lebt! Nun dürfen auch wir
hoffen auf ein ewiges Weiterleben mit Ihm! Denn Jesu Tod erweckte in uns dies
neue Leben! Bemühe dich, jetzt in deiner Seele nichts anderes zu denken, da doch
auch in dir immer noch Regungen nach aussen sind, die das hohe, heilige Leben
aus Gott uns gering erscheinen lassen wollen!“
Ursus fragte noch: „So wäre es wohl nicht mehr nötig, nach Bethanien zu reisen,
um dort bei den Freunden Gewissheit zu holen?“
„Nötig ist es keinesfalls“, antwortete Aziona, „da ich weiss: bald wird der Herr
auch zu uns kommen und wird uns Selbst verkünden, dass Er den Tod überwunden
hat, damit wir aufs Neue den Glauben an Ihn festigen. Doch um deinem Sehnen zu
genügen, könnte ja das Opfer gebracht werden. Fragen wir jedoch in unserem
Herzen den Herrn darnach, dann werden wir gleich die rechte Antwort erhalten.“
Nach einer kleinen Stille sprach Hiram: „Bruder Aziona! Der Herr kündet uns Sein
Kommen und wird allen die Augen öffnen, die Ihn noch nicht so recht erkennen
konnten. Darum sollen wir allen Brüdern mitteilen, dass Er sie besuchen will!
Doch muss zuvor aller Schmerz, alle Trauer aus ihren Herzen schwinden, auf dass
keiner erschrecke.“
„Liebe Brüder“, sprach Ursus jetzt, „ich möchte zurückfahren zu meinem Herrn und
in mir verarbeiten all das von euch Vernommene! Denn nur so ich allein bin,
werde ich erst zur rechten Klarheit gelangen.“
„So tue nach deinem Verlangen“, antwortete Hiram, „ich werde dir helfen, dein
Gefährt wieder auf den rechten Weg zu bringen; aber denke jetzt nicht so viel,
sondern gib deinem Empfinden die Richtung: Jesus!“
09. Das neue Leben im Menschen
Das Gefährt rollte langsam dahin, nur Spuren
zeugten von einem Weg; unter einem schattigen Feigenbaum hielt Ursus an, gab dem
wartenden Pferde einige Früchte und legte sich unter den Baum, um die innere
Unruhe zu überwinden. „Alle meinen es wohl gut mit mir“, sprach er nachdenklich
zu sich selber, „aber wo ist für mich das Tor zur Klarheit? O Jesus, warum
musstest du gerade jetzt sterben? Ich soll still werden? Aber wie soll man dies
denn anfangen? Seit gestern wogt es hin und her in mir, — und das Ergebnis?“ —
Das Pferd schnupperte an seinem Gesicht und brachte seine Gedanken zurück in die
Wirklichkeit. „Wie man sich vergessen kann in der Sorge um Jesus!“ sprach er
weiter, „und dabei soll ich alles Sorgen aufgeben? Wäre es nicht besser, wieder
eine Aufgabe zu erfüllen? Dadurch würden meine Gedanken wohl am ehesten zur Ruhe
kommen.“ So setzte er sich wieder auf den Wagen, überliess es aber dem Pferd,
sich den Rückweg selbst zu suchen.
Nach einer geraumen Weile sah er einen Menschen, der auch diesen Weg ging, und
nun freute er sich, dass er nicht ganz allein war. „Aber ich wollte doch allein
sein“, wunderte er sich, „was wird dieser Mann mir sein können?“
Rascher liess er das Pferd laufen und holte den Wanderer bald ein; Ursus hielt
an und lud nach kurzem Gruss den Fremden ein: „So du denselben Weg hast, nach
dem Heilbad des bekannten Markus, so kannst du gern Platz nehmen und mitfahren!“
„Mit Dank nehme ich dein Anerbieten an“, sprach der Fremde, „es wird mir eine
Freude sein, mit dir zu fahren!“
Ursus half dem Fremden, und als sie nebeneinander sassen, fragte er: „Wohin in
dieser Einsamkeit? Es ist, wie es scheint, eine Seltenheit, hier jemandem zu
begegnen.“
„Zu Freunden will ich“, antwortete der Fremde, „die mich schon lange erwarten,
da ich ein Versprechen gab, sie zu gegebener Zeit zu besuchen.“ Ursus sprach:
.Da nun deine Freunde im Hause des Markus sind, werden sie sich wohl freuen,
dich zu sehen! — Doch kommst du heute zu ungelegener Zeit, denn im Hause des
Markus herrscht Trauer.“
„Trauer?“ fragte der Fremde erstaunt, „kaum glaublich, da ich nicht erfuhr, dass
dort jemand gestorben ist.“
„Im Hause Markus ist zwar niemand gestorben“, sprach Ursus, „aber der Erbauer
und Gründer des Heilbades, Jesus von Nazareth!“
Der Fremde entgegnete: „Mir scheint es aber kaum möglich, dass deswegen im Hause
Markus Trauer ist, da doch alle wissen, dass Jesus ein Herr über Leben und Tod
war! Sie alle haben doch den Nazarener so gut gekannt, dass die Kunde von Jesu
Tod wohl vorübergehenden Schmerz, aber nicht Trauer verursachen kann. Auch kenne
ich meinen alten Freund Markus doch gut, der wohl einmal schwach, aber nicht
durch Trauer mutlos und verzagt wird. Vielleicht kennst du die ganze Familie
noch nicht so recht und nimmst nur an, sie trauern, da du selbst traurig bist.“
Ursus wunderte sich: „Du magst recht haben! Ich bin wirklich voll Traurigkeit,
da der Tod Jesu mich erschüttert hat bis ins Tiefste, und ich glaubte, alle
müssten davon ebenso erschüttert sein. Es haben sich etliche Freunde viel Mühe
gegeben, mich zu beruhigen, aber ohne Erfolgt Denn es ist zu schwer für mich, zu
glauben, dass, wer einmal gestorben ist, noch immer im selben Sinne tätig sein
kann! Gegen diese Auffassung wehrt sich eben mein Verstand!“
Der Fremde fragte teilnehmend: „So bist wohl auch du ein Freund von Jesus und
hast Ihn recht geliebt?“
Ursus antwortete aufrichtig: „Nein, es wäre zu viel gesagt, ein Freund von Ihm
zu sein! Aber geliebt habe ich Ihn längst, nur gesehen und gesprochen habe ich
Ihn noch nicht. Es ist ja eben für mich der grösste Kummer: Ehe ich Ihn gefunden
habe, ist Er mir verloren gegangen!“ Fremder: „Du redest mit Bitterkeit von dem
Sterben Jesu, obwohl du so vieles schon von Ihm empfangen hast! Hast du nicht
den Ausspruch von Ihm gehört: Selig sind, die Ihn nicht sehen, noch gesehen
haben und doch an Ihn glauben! Es muss doch ein Gewaltiges sein um solchen
Glauben! Auch der Meister hatte einen Glauben, und zwar den Glauben an Seine
Nachfolger! Und dieser Glaube überwand alle Bedenken, und so ging Er für sie
auch in den Tod!“
Ursus fragte erregt: „Ja, sage mir, wer bist du, dass auch du durch die
Todes-Botschaft nicht traurig wirst und das Sterben Jesu noch als etwas Grosses
betrachten kannst? Es ist für mich eben noch so unbegreiflich, dass ihr alle,
die ihr Nachfolger oder gar Seine Jünger sein wollet, noch immer mit Ihm euch
verbunden fühlt und Seine Stimme sogar in euch vernehmen könnt! Warum hat Er
euch nicht um Hilfe angerufen, ja, warum offenbart Er euch Sein Sterben erst
nach einigen Tagen? Er musste also besondere Gründe dazu haben, oder es liegt
hier noch etwas anderes dahinter!“ —
Mit Ernst antwortete der Fremde: „Es scheint, als ob du am liebsten mit dem
Meister rechten möchtest. Merke dir: Nie wird der Meister einem bekunden, der
nach aussen hin und im Verstand seine Gründe sucht, warum Er in den Tod ging!
Doch die mit Seinem Geiste im Herzens-Leben schon verbunden sind, finden diese
Lösung in innerer Klarheit! Warum wehrt sich denn dein Verstand gegen das, was
doch vor allem das Herz angeht? Und warum kann dein Verstand nicht begreifen,
dass der Meister doch wohl um anderer Ziele willen, als du dir vorstellen
kannst, Sein grösstes Liebe-Opfer darbrachte? Wisse: wer liebt, bringt gerne
Opfer und wer geliebt wird, ist auch zu opfern bereit, da der Geist der reinen
Liebe die Kraft in sich birgt, wenn nötig, jedes Opfer zu bringen! So nun Jesus
Sich opferte und mit diesem Opfer allen Menschen etwas gab, wofür Ihm ewig zu
danken ist, meinst du, dass da Jesus erst andere fragen sollte: darf und soll
ich euch dieses Opfer bringen? — Du fragst, wer ich bin und warum ich nicht
traurig bin über diese Trauer-Botschaft? Da sage ich dir: Traurig bin ich schon,
aber nicht über Jesus, sondern über solche Menschen, welche die Kraft der wahren
Liebe nicht würdigen können und sich über das Wesen rechter Opfer-Bereitschaft
noch ganz falsche Begriffe machen!
Ursus rief bittend: „Halte ein, mein lieber Freund, ich wollte dich nicht
kränken mit meiner Rede, die nur meiner inneren Zerrissenheit entsprungen ist.
Ich bitte dich um Verzeihung, ja, um deinen Beistand bitte ich Dich, damit ich
wieder zur inneren Klarheit gelangen kann!“
„Siehe, lieber Ursus, jetzt lässt sich eher mit dir reden“, sprach der Fremde,
„da du einsiehst, dass du zu weit gegangen bist. Verlorenes bringt man durch
Kritik nicht zurück! Andererseits aber ist diese Sache doch viel zu ernst und zu
heilig, um sie mit dem menschlichen Verstand beurteilen zu können! Aber ich will
dir helfen, dir so weit dienen, dass du, so du nur ernstlich willst, zur rechten
Klarheit kommen kannst! Doch lass uns gehen, das Tier findet ohnehin seinen Weg,
und im Gehen werden wir uns näherkommen.“
Nun stiegen beide ab, und Ursus sprach: „Lieber Freund, noch immer hast du mir
deinen Namen verschwiegen! Doch den meinen hast du schon genannt, wie hast du
Kenntnis davon erhalten?“
„Höre, was ich dir darüber sagen werde“, antwortete der Fremde, „mir — bleibt
nichts unbekannt, da der Geist alles Lebens und aller Fülle aus Gott, der in mir
ist, mich soweit ausgerüstet hat, dass ich sagen kann: »Mir ist alles offenbar!«
Denn nichts ist mehr in mir, das mich je noch an das Irdische binden könnte!“
Ursus staunte: „Du wirst immer geheimnisvoller! Ja, ich fange an, mich selbst
fast nicht mehr zu verstehen. Bei Markus dieser Glaube! Bei den Fischern diese
Hingabe! Und bei dir dieses wie Eins-Sein mit Jesus? Höre, hier steckt doch ein
Geheimnis dahinter? Immer habe ich das Rechte gefunden, aber gerade über diesen
Jesus kann ich zu keiner Klarheit gelangen!“ Freundlich sprach der Fremdling:
„Mein Ursus! Deine menschliche Auffassung, dein allzu menschlicher Begriff von
Jesus leidet Schiffbruch, und darüber solltest du dich nur freuen! Denn je
weniger du hast, an was sich dein Verstand noch halten kann, je weniger Kampf
hast du! Jesus lässt sich in Seiner inneren Wesenheit nur erfassen, so du alles
Verstandes-Wissen ausschaltest und anfängst, mit den Augen der Liebe und des
Glaubens Ihn zu schauen! Oder meinest du, so Jesus, der Meister und Heiland,
alle Menschen mit kritischen Augen betrachtet hätte, dass die Liebe in Ihm
Sieger geworden, wäre? Es ist wohl nicht leicht, Menschen mit solch hohem
Gerechtigkeits-Gefühl zu bewegen, die Schwächen ihrer lieben Nächsten zu
entschuldigen! Und daher stammt dann das mangelnde Verständnis für diese Seine
Liebe und für den Opfer-Tod Jesu.“
„Freund! Du bist hart zu mir!“ rief Ursus, „und doch fühle ich deine Liebe, die
mich anders sehen möchte. Es ist wahr: Unrecht mag ich nicht tun, aber auch
nicht erleiden! Und es ist für mich das Schwere, es als richtig anzuerkennen,
dass Jesus, der nur Gutes tat, Gutes brachte, geopfert werden musste, und dies
auf die grausamste Weise! Inwieweit aber nun allen Menschen damit gedient sein
soll, dafür fehlt mir jede Erkenntnis. Ein Mensch, der uns solche erhabenen
Lehren vom Leben bringt und mit solchen Wunder-Kräften ausgerüstet ist, kann
nach meiner Auffassung eben nicht zu überwinden sein! Und darum leide ich um
Ihn, als wäre Er mein Vater oder Bruder.“
Der Fremde sprach wie mitfühlend: „Ursus, dein Leid ist nicht grösser als das
des Meisters, und so will Ich dir weiter sagen: Eben um alles Leid erlösen zu
können, musste der Meister durch diesen Tod hindurchgehen! Sage mir, ist die
herrlichste Lehre, begleitet von wunderbaren Taten, wohl etwas wert, so der
Künder der Lehre das Gegenteil tut? Oder glaubst du, dass die reinste Lehre
Menschen-Leben überdauern könnte, wenn sie keine Seele hätte? Die Lehre Jesu von
einem neuen Leben im Menschen war durchdrungen vom Wahrheits-Geiste aus Gott!
Aber geboren wurde sie in Seiner Seele! Früh lernte Er das Leid kennen und in
sich erfahren! Und frühzeitig begann Sein grosses Werk, das allen Seelen die
Erlösung vom Leid bringen sollte! Mit Seiner Lehre von der göttlichen Kraft der
selbstlosen Liebe gab Er der Menschheit Seine Seele! Doch zuletzt konnte Er
nicht anders handeln, als auch noch das Schwerste zu vollbringen, Seine eigene
Seele für alle gottfernen Wesen als Opfer darzubringen! Sterben am Kreuze ist
gewiss nichts Grosses, aber freiwillig sterben, um die Brüder von allem Leid zu
erlösen, ist Grosses! Jesu Sterben am Kreuze ward zur vollen Hingabe Seiner
Seele in den Willen Gottes und offenbart nun allen den Sieg Seiner Liebe über
alle Sünden der Welt! Jesu Liebe rang um die durch Irrtum gefesselten Seelen der
Menschen; Er wollte sie befreien vom Hang zum irdisch-vergänglichen Schein-Leben
und wollte ihnen das ewige Leben zeigen, durch die Erweckung des Geistes der
reinen Liebe im Herzen. Ja, Er will Seine eigene, von allen irdischen Fesseln
nun befreite Seele allen denen geben, die Seine erprobte Lehre von den inneren
Wegen zur Erlösung der Seelen anerkennen und Ihm auf diesem Wege nachfolgen
wollen!“
Ursus horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, der Fremde sprach weiter: „Wenn du
nun diese Tatsache richtig erfasst hast und durchdrungen bist von Seinem
heiligen Werk des Erlösen-Wollens, dann schenkst du deine Seele Jesu und nimmst
dafür die Seine an. Der Opfer-Tod Jesu wird dir dann zum leuchtenden Symbol,
allem Erden-Leid Erlösung bringen zu wollen! Und je mehr du erlösend zu wirken
versuchst, um so mehr wird deine Seele selber erlöst! Diese unüberwindliche
Kraft der leid-erlösenden Liebe aber ist das Leben aus Gott in Seiner
freigewordenen Seele. Bist auch du bereit, in diesem Sinne Jesu und Sein Opfer
zu verstehen, so öffnest auch du dein Herzens-Tor diesem Geiste aus Gott, der in
Jesu Seele als Kraft und Leben zum Ausdruck gelangte! Und dann erst wirst du
verstehen, wie es Jesus erging, in dem die freiwillige Hingabe Seiner Seele bis
in den Tod zum völligen Eins-Werden mit dem ewigen Gottes-Geiste ward!
Immer aufmerksamer hatte Ursus zugehört; nun rief er bewundernd: „O Freund,
musst du aber Jesus gut gekannt haben, dass du Ihn so vertreten kannst! Du gabst
mir ein neues Licht und ich fange an, dies alles nun ganz anders zu betrachten!
Aber noch eine Frage! Bis jetzt war nur die Rede vom Geist, vom Wesen und von
der Aufgabe des Meisters! Er ist tot. Sein Geist und Seine Lehre lebt in dir und
im Herzen vielleicht vieler Jünger und Freunde! Aber wo lebt Er Selbst? Er — in
Seiner ganzen Persönlichkeit? Da nun, nach den Belehrungen der Fischer, Jesus
einen unzerstörbaren Leib trägt, muss Er doch irgendwo sich aufhalten? Und so
frage ich: Bin auch ich fähig, Ihn jetzt noch einmal zu sehen und zu sprechen?
Der Fremde antwortete liebreich: „Mein lieber Ursus, es ist immer wieder deine
Sehnsucht, die dich diese Frage stellen lässt. So will ich dir sagen: Ja, auch
du wirst befähigt werden, Ihn zu sehen und zu sprechen, so du mit dir selber in
Ordnung kommst! Dann erst werden deine Sinne gerichtet sein auf das neue Leben —
welches der Meister ja allen vorlebte! Sein Aufenthalt aber ist dort, wo
liebende Herzen ihr ganzes Wollen geöffnet halten für die Erfüllung Seiner
Liebes-Aufgaben! Frage aber nun nicht mehr, sondern überschaue dich selbst, in
deiner inneren Welt; dann wirst du finden, so du ganz dem Meister dienen willst,
was zu deinem Heile notwendig ist! Siehe, dort in der Ferne liegt das Haus des
Bruders Markus. Ich aber bleibe noch etwas zurück, da ich weiss, deine Freunde
erwarten dich und möchten das Resultat deines Besuches im Fischerdörfchen
wissen.“
Ursus wollte durchaus mit dem Manne noch zusammen bleiben; aber es blieb bei dem
Gesagten; so schwang er sich auf sein Gefährt, und „auf baldiges Wiedersehen“
rief er dem Zurückbleibenden nach. „War es richtig“, dachte er, „dass ich den
Jünger des Herrn zurückliess? Ich hätte doch noch bei Ihm bleiben müssen!“ Und
so drehte er sich um, gewahrte aber niemanden mehr! „Es ist doch nicht möglich,
dass er verschwunden ist“, fragte er sich; und so lenkte er sein Gefährt um und
fuhr zurück; aber nirgends war etwas von ihm zu sehen. Wieder ein neues Rätsel:
Ein Mann verschwindet von der Oberfläche innerhalb weniger Minuten? — Er hielt
sein Gefährt an und suchte mit scharfen Augen die ganze Umgebung ab, aber nichts
war zu entdecken. „Es wird sich ja aufklären, denn er hat versprochen, nach dem
Heilbad zu kommen“, dachte er weiter! — „Aber es war seltsam, welche Ruhe ich in
der Nähe dieses fremden Mannes empfand, und wie genau er den Meister kannte!“
10. Das neue Leben im Menschen
Ursus fuhr langsam heim; Markus hatte ihn
kommen sehen, ging ihm entgegen und fragte: „Nun, lieber Ursus, du kommst früh
zurück, wolltest du nicht den ganzen Tag bei den Brüdern bleiben?“
„Ja, so lag es in meiner Absicht, aber es zog mich wieder zurück zu euch“,
erwiderte Ursus. „Erzählen kann ich dir jetzt nicht viel, da ich noch unter
gewaltigen Eindrücken stehe, doch eins sage ich dir: Einen anderen Heiland habe
ich kennengelernt! Einen Herrn, der nicht mehr sterben kann!“
Markus freute sich heimlich und forderte ihn auf, in die Liegehalle zu kommen,
dort sei ein Bote aus Bethanien, welcher über alle Vorgänge in Jerusalem
berichte.
Ursus aber erwiderte: „Da bin ich froh, dass ich nicht hier war, denn viel
Schöneres habe ich inzwischen erfahren dürfen. Lieber möchte ich gar nicht mehr
erinnert werden an diese Vergangenheit, da ich jetzt an meine Zukunft denken
muss! Es ist mit Worten nicht zu schildern, was ich innerlich empfinde, nachdem
mir ein Freund und Jünger des Herrn die heiligen Aufgaben des Meisters so
lebendig schilderte und mir meine Aufgaben zeigte! — Wie doch der Mensch in
seinen eigenen Begriffen sich gefangennehmen kann; aber nun hoffe ich, bald auch
einer der Euren zu werden!“
„Mein Bruder, wie du mich froh machst“, sprach Markus, „denn ich habe wahrhaft
um dich gebangt. Aber nun höre die frohe Kunde: Der Herr ist auferstanden von
den Toten und hat mit Brüdern und Schwestern schon gesprochen! Komm und höre
selbst, was der Beauftragte vom Bruder Lazarus uns noch künden will.“
Beide gingen in die Liegehalle. Ursus betrachtete die Anwesenden, sah aber wenig
Freude in ihnen; denn ihre Herzen standen noch unter dem Eindruck des
schmerzlichsten Leidens auf Golgatha! Zum Gruss erhob er den rechten Arm und
nahm Platz neben Markus; der Bote erzählte nun weiter: „Viele konnten es zuerst
nicht fassen, dass der Herr, kaum drei Tage im Grabe gelegen, Sich Seinen
Jüngern wieder zeigen könne; doch durch das Erscheinen des Herrn Selbst wurde
aller Zweifel behoben. Ein ganz neuer Geist belebte nun alle Herzen, und freudig
bemühten sie sich, allen ändern zu bekunden: Der Herr ist wahrlich vom Tode
auferstanden!“
Markus setzte noch hinzu: „Meine lieben Freunde und Hausgenossen! Damit ist
schon eingetroffen, was der Herr uns künden liess: »Alle Trauer wird in Freude
verwandelt werden!« Denn zu unserer Freude gehört das Bewusstsein: Der Herr ist
nicht im Tode verblieben, sondern Er lebt! So der Herr nun lebt, will ich nicht
mehr an Seinen Tod denken, sondern nur an die Allgewalt Seiner Liebe, welche
selbst die starren Naturgesetze überwinden konnte, um uns nun etwas ganz Neues
zu bringen, nämlich die Mittel, uns frei zu machen von Tod und Vergehen! Darum
lasset uns nie vergessen, Seiner Lehre nachzufolgen! Doch nun lasset uns das
Mahl einnehmen, denn die Zeit ist da, und das Menschliche verlangt auch seine
Ordnung.“
11. Das neue Leben im Menschen
Der Abend vereinigte wieder alle Freunde und
Gäste; doch Ursus war merkwürdig still geworden, ihm ging der fremde Mann nicht
aus dem Sinn, und vergebens wartete er auf sein Erscheinen.
Demetrius meinte, vielleicht habe der Fremde erst andere Freunde besucht; Ursus
sei nur ungeduldig und meine, er müsse heute noch kommen!
„Gewiss, so wird es sein“, antwortete Ursus, „aber warum empfinde ich so grosse
Sehnsucht nach ihm? Es ist mir selber unbegreiflich — dass ein fremder Mann mich
so beeinflussen konnte! Und sein plötzliches Verschwinden ist mir auch noch ein
Rätsel!“
Demetrius lächelte fein: „Vielleicht war es ein Engel, wie sie zu des Herrn
Lebzeiten öfter gesehen worden sind! Denn nun der Herr lebt, kann Er auch wieder
Engel und Boten berufen, die uns dienen sollen.“
Ein Sohn des Markus kam und erzählte: „Heute hatte ich in Caesarea vielerlei zu
besorgen und blieb zu Mittag bei einem uns freundlich gesinnten Bekannten; da
kam der Priester Esra, um uns zu erzählen, wieviel Unglaubliches man jetzt von
dem Nazarener redet, und mit welcher Phantasie Seine Anhänger davon sprechen,
Jesus sei aus Seinem Grabe auferstanden! Aber vom Tempel aus werde nun alles
getan, um endlich der Schwärmerei ein Ende zu machen! — Da sagte ich: Auch ohne
deine Erzählung haben wir die ganze Begebenheit schon erfahren; ist Jesus aber
wahrhaft auferstanden, so ist doch niemand im Stande, diese Wahrheit zu
unterdrücken! Wie ein Lauffeuer wird sich die Kunde von Seiner Auferstehung von
Ort zu Ort, von Land zu Land verbreiten! Und der Meister wird Sein Versprechen
einlösen, Sich allen Freunden zu zeigen —um zu bekunden: Ich bin und lebe ewig!
Was wollet Ihr aber tun? Ein zweites Mal könnet ihr Ihn doch nicht töten?
Gekreuzigt habt ihr Ihn vielleicht aus Blindheit, und das wird Er euch verziehen
haben, da es Sein Wille so war, auf dass das Mass eurer Schlechtigkeit voll
werde! Dass ihr aber jetzt noch das Volk um diese Wahrheit Seiner Auferstehung
betrügen wollt, wird euch nicht vergeben werden. Esra aber sagte höhnend: »Rege
dich nicht auf! Wir wissen schon Mittel und Wege, dass das Ansehen des Tempels
nicht leidet! Doch ihr in eurem Wahn werdet bald ernüchtert werden; denn der
Tempel schont keinen! Jesus ist tot! Und nun muss auch Seine Schein-Lehre
ertötet werden, dazu haben wir das Recht von Jehova!« Liebe Freunde! Nun konnte
ich nicht länger bleiben, sonst hätte ich vergessen, dass der Meister uns
lehrte: »Lieber Unrecht leiden als Liebloses tun«! So sagte ich noch: »Die
Zukunft wird uns beweisen, wer da Sieger bleibt, Jesus oder euer Tempel«! Immer
noch erregt, kam ich nun heim und konnte nicht ruhig werden, - da erklang in mir
eine sanfte Stimme: „Lasse die Toren gehen, denn Mein Leben gehört allen denen,
die zu Mir stehen! Darum werde ruhig, dass Ich dich stärken kann“. Da ward ich
froh! Ich wusste nun: „Es ist Wahrheit, was noch nicht bekannt ist: Er lebt! Er
lebt! Freunde und Brüder, wir hatten unseren Jesus wohl sehr lieb, redeten aber
nicht viel von unserer Liebe! Nun aber mag kommen, was da will, nun werde ich
nur noch von Seiner Liebe reden!“
12. Das neue Leben im Menschen
Die Tür öffnete sich, Hiram und Aziona traten
herein und grüssten herzlich; und da eine so sichtbare Freude auf ihren
Angesichtern lag, fragte Markus: „Was werdet ihr erlebt haben? Denn eure Augen
strahlen uns so leuchtend entgegen.“ —
„O Freunde“, antwortete Hiram, „wir bringen euch die frohe Kunde: Jesus, unser
herrlicher Meister, lebt und will Selber jedes Herz befreien, was noch in Angst
und Sorge um Ihn leidet! Ja, Er will es uns allen bekunden, dass wir durch Sein
Sterben jetzt ein neues Leben aus Seinem Geiste in uns empfangen werden. Darum
hoffen wir auf Sein Kommen auch zu uns!“ —
Nun wurde das Nachtmahl eingenommen, und wie in einem gemeinsamen Jubel-Ton ging
die Rede hin und her, bis auf einmal, mitten im Zimmer, der Herr und Meister
stand! Eine heilige Stille trat ein, dann grüsste Er: „Friede sei mit euch! —
Denn Ich habe überwunden auch den Tod und damit Meines irdischen Lebens grösste
Aufgabe erfüllt! Ich will nicht zu euch reden von Meinen Schmerzen, von Meinem
Kampf, sondern von der grossen Freude, die jetzt in allen Himmeln und auf allen
Welten herrscht! Alle Engel und dienstbaren Geister haben es sich zur seligen
Aufgabe gemacht, das ganze All zu unterrichten von der herrlichen Liebe, die von
der Erde, vom Hügel Golgatha ausgeht! Bei Meiner Geburt sangen die Engel:
„Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen“! Nun aber verkünden sie:
„Die grosse Liebe Gottes ist allen geoffenbart durch den Sohn! Und Sein Geist
wird das ganze All aus der Materie erlösen! Alles, was lebt, ist aufnahmefähig
gemacht für diesen Geist des Gottes-Sohnes“! So sehet ihr Mich! — Sehet Meine
Hände, Meine Seite und Füsse! — Alle diese Wundmale sagen euch, wie sehr Ich
euch geliebt habe! Meine Liebe aber gehet immer noch weiter, will euch immer
mehr noch beglücken und beseligen! Darum komme Ich zu euch, um euch allen — für
immer, ja für alle Zeiten Mein Versprechen zu geben: „Ich lasse euch nicht! —
Ich bleibe bei euch, so ihr nicht erlahmt im selbstlosen Dienen aus Liebe zu
euren Nächsten“! Dieses Dienen, das euch bisher gross und fast unausführbar
dünkte, soll euch jetzt etwas Leichtes und Beseligendes werden! Und so Meine
Liebe in euch — euch vor Aufgaben stellt, so sollt ihr dessen gewiss sein: Ich
bin dabei die Kraft und das Gelingen! Nichts kann uns trennen! Denn durch Meine
Wunden sind wir verbunden! Und Mein Blut, welches zur Erde tropfte, ist das
Zeichen: Immer fliesst Meine Liebe Meinen Kindern zu, um sie in ihrem Geist zu
stärken, damit Meine Kinder rechte Empfänger werden für den Geist, der Mich
stärkte als Ich im grössten Lebens-Kampf stand!
„Du mein Markus und ihr alle, Meine Brüder! Ich gehe aus dieser Welt und lasse
euch zurück als Meine Zeugen und Bekenner; Euch liegt nun die grosse Aufgabe ob,
an Meiner Stelle der Welt das zu geben, was Ich ihr geben wollte, das neue
Leben! Fraget nicht: Warum willst Du nicht bleiben? — Wisset ihr doch: Mein
Reich und Mein Sein sind nicht von dieser Welt! Nützet jede Zeit und Stunde,
damit ihr allezeit die Kraft habet, jeden Feind dieses neuen Lebens zu
überwinden! Nach einer Weile wird zu euch die Kunde dringen: Ich bin sichtbar
zurückgekehrt in Meine ewige Welt in das Sein Meines ewigen Vater-Geistes, um
euch von da aus zu kräftigen und zu erfüllen mit Meinem ewigen Gottesgeiste!
Mein Geist aber ist die Kraft in euch, die alles trägt, alles überwindet und
euch vollendet!“
Markus sprach: „Herr, solange Du lebtest, wussten wir: Du hast uns lieb! Und
Beweise davon haben wir übergenug. — Da Du uns genommen wurdest, wussten wir
erst, dass auch wir Dich sehr liebten! Doch die Trennung hemmte uns und lahmte
unsere Glieder. O Herr! Du wolltest bei uns bleiben und uns nie und nimmer
verlassen! Und jetzt sagst Du, dass Du um unseretwillen heimkehren willst in
Deine ewige Heimat? O Herr Du hast überwunden alles Leid und den schmerzlichsten
Tod! So bitten wir, o lasse auch uns sterben aus Liebe zu Dir und nimm uns mit
zu Deinem Vater! Denn ein Leben hier ohne Dich wäre doch nicht mehr zu
ertragen.“
Der Herr belehrte ihn: „Markus, mein Bruder, höre auf Meine Worte: Dein Leben
hier hat von nun an einen doppelten Wert! Denn du hast nun zwei Leben zu
verwerten: dein eigenes und das Meine! Dein Leben sollst du tragen bis zu Mir,
in den allerhöchsten Himmel, und du sollst dafür mit Wonnen erfüllt werden, die
kein Mund auszusprechen vermag! Aber Mein Leben sollst du tragen in die Tiefe,
ja bis in den tiefsten Sumpf der Hölle; und damit wirst du Mich erfreuen und
Mich entschädigen für die erlittenen Schmerzen. So wie Meine Liebe zu euch allen
Mich trieb, euch zu beglücken, so möge nun eure Liebe euch treiben, Mich zu
beglücken, der Ich wohne in dem allerinnersten Heiligtume eures Herzens, das die
ewige Liebe für Sich weihte! Fürchtet euch nicht, so man euch hasset und
verfolget oder so man euch sogar töten will! Denn Ich als das Leben bin immer in
euch! Immer haltet euch vor Augen, wie wertvoll Mir eine jede Seele ist! Und
ebenso sei auch euch jeder Bruder, jede Schwester wertvoll! Ihr kennt Mich nun,
wie auch viele eurer Brüder Mich kennen! Darum lasset keinen Tag vergehen, wo
liebe Menschenbrüder Mich durch euch auch erkennen lernen! Ihr aber, Meine
Getreuen! Eure Liebe wird euch weisen, wie dieses neue Leben in euren
Mitmenschen zu erwecken ist! Werdet nicht müde und matt darin; haltet hoch das
Banner der Liebe! Es ist ja das Meine! Dann werdet ihr bald das Grosse, das
Göttliche erleben, dass Mein Geist in euch, euch ganz und völlig frei macht!
Denn Ich bin ja das A und O, der Anfang und die Vollendung!“
Und zu den Neuangekommenen sich wendend sprach der Herr weiter: „Euch aber, die
ihr Mich suchtet und nicht finden konntet, da in eurer Seele noch der Zug nach
aussen vorherrschend ist, euch sage Ich: Auch für euch ist Mein Blut geflossen!
Auch für euch ist geebnet der Weg, der zu Mir führt! Denn für alle habe Ich
einen Platz in Meinem Herzen! Sehet, diese Wunden bezeugen euch Meine
Erlöser-Liebe! Und es ist keiner, der je sagen könnte: mich hat der Heiland und
Erlöser ausgeschlossen. Noch mehr sage Ich euch: So ihr nun glaubet an Meine
Liebe und euch aneignet den Geist, der in Mir lebet, so werdet auch ihr genau so
erfüllet mit Meinem Leben wie Meine Brüder, die Mich von Anfang Meines
Erdenseins an liebten. Mein Leben kündet euch dann: Alles, was die Erde trägt an
Gebundenen, könnet ihr, so ihr im rechten Vertrauen auf Meine Gnade und Meinen
Beistand stehet, befreien! Durch diesen Meinen Erlöser-Geist seid auch ihr dann
Berufene, werdet ihr Begnadete! Und keine Stunde in eurem Erdenleben sollet ihr
euch einsam oder verlassen fühlen!“
Und zu Ursus direkt: „Dir aber, Mein Ursus! Da du Mich liebtest und vor
Sehnsucht zu Mir schwach geworden bist, dir sage Ich: Bleibe im Geiste stets mit
Mir verbunden! Dann wird alles, was noch schwach in dir ist, gewaltig erstarken!
Doch wachsen in der Liebe zu Mir kannst du nur, so du dich bemühest, die
Sehnsucht deiner Brüder zu stillen! Siehe, Ich gebe denen mit vollen Händen, die
nichts für sich behalten und nur für das Wohlergehen ihrer Brüder ihre Kraft
einsetzen! Lernst auch du dieses, dann bin Ich immer bei dir und für dich
fühlbar in dir! Dann wächst du in Mein Herz hinein, wie Mein Ich auch in deinem
Herzen zunehmen wird. So sei Meine Liebe und Meine Kraft in euch allen mächtig!
Doch bleibet in der Demut! Bleibet verbunden untereinander in Meinem
leid-erlösenden Geiste der Liebe! Dann lebe Ich nicht nur für euch, sondern für
die ganze Welt!“
Ursus stürzte hin zum Herrn, indem er rief: „O Herr! Verzeihe mir, dass ich Dich
heute nicht erkannt habe! Herr! Nur ein einziges Wort und Du gibst mir meines
Herzens Frieden wieder! Ich war blind, aber nun bin ich sehend; ich war ein Tor,
aber nun bin ich geheilt durch Seine Huld und Gnade. Herr! Nimm mein Leben, es
ist Dein! Aber zuvor nur ein Wort des Verzeihens!“
Der Herr sprach gütig: „Mein Sohn! — Rein wie die Sonne stehst du vor Mir! —
Darum reiche Mir deine Hand, und ein Abdruck Meiner Wundmale soll dir zum
Zeichen Meiner Liebe in deiner rechten Hand verbleiben, unsichtbar für deine
Brüder, aber du sollst es immer sehen! Und es soll dir ein Beweis bleiben, wie
innig Ich dich liebe! Grösser aber ist der, der im Herzen sich eins fühlt mit
Mir und durch Mich wird zum Mittler zwischen Mir und den noch irrenden Brüdern
auf der Erde. Bald, bald wird auch zu euch kommen der Geist aus der Höhe! Dann
bringet Mir eure tief geöffneten Herzen dar!“ —
Und Seine Hände segnend ausstreckend sprach der Herr weiter: „Und zum sichtbaren
Zeichen Meiner grossen Liebe, Huld und Gnade zu euch allen sage Ich: Seid alle
gesund, die ihr hier Heilung sucht! — Länger darf Ich nun um euretwillen nicht
hier bleiben, da ihr wachsen sollet durch eure freie Betätigung! Aber Ich komme
wieder und bleibe dann immer bei euch, so eure Liebe zu Mir und allen Brüdern
den Reifegrad erreicht hat, in dem sie in Meinem herrlichen Vaterhause herrscht!
— Mein Frieden und Mein Segen sei und bleibe bei euch allezeit und immerdar!
Amen.“
Leer war die Stätte, wo der Meister gestanden hatte! Alle schwiegen, bis Ursus
bekennen musste: ,,O Meine Brüder! Dieser heutige Tag macht mich nun ganz im
Sinne Jesu zu eurem Bruder! Glücklich wäret ihr, so ihr untereinander euch
beglücken konntet, wie ihr es habt vom Herrn Selbst gelernt! Doch in Zukunft ist
der schon selig, der in sich die Berufung fühlt und im Geist Jesu sich würdig
erweisen will, allen seinen Mitmenschen zu dienen! Heute weiss ich, dass ich
glücklich machen kann ohne jede Menschenhilfe, da Jesus mir alle Hilfe, allen
Beistand verheissen hat! Meinen Dank werde ich Ihm bekunden; doch nicht mit dem
Munde allein, sondern durch mein Herz und meine Taten!“
Welche Freude löste sich in allen Herzen, als alle Kranken im Saale sich
plötzlich gesund fühlten, und keiner mehr Grund zum Klagen hatte! Dann kamen
auch die anderen, die nicht mit im grossen Zimmer weilten und bekundeten voll
Freude: ,,Der Herr ist uns erschienen und hat zum Zeichen Seiner grossen Liebe
uns alle gesund gemacht!“
Himmlische Freude sprach aus allen Gesichtern! Denn in allen war das Bewusstsein
lebendig: „Der Herr lebt! Er ist wahrlich auferstanden und hat ein ganz neues
Leben in uns erweckt.“
Schwer konnten sie sich heute trennen, bis zuletzt Markus bat: „Gehen wir zur
Ruhe! Denn jedes Herz wird sich danach sehnen, in aller Stille mit Jesus noch
verbunden zu bleiben.“
Und so gingen sie auseinander, alle im Herzen dem Herrn dankend!