Heft 10. Der Auferstandene
Inhaltsverzeichnis
01.
Am Ostermorgen bei Nikodemus
02. In der Herberge des Lazarus
03. Bei Nikodemus
04. In der Gottesstadt
05. In Bethanien
06. Wo weilt Jesus?
07. Morgenandacht auf dem Hügel
08. Pilatus
09. Maria Magdalena
10. Rom
11. Ein Fest in Bethanien
01.
Am Ostermorgen bei Nikodemus
In der Herberge des Lazarus waren alle frühzeitig aufgestanden, um denen, die in
die Stadt gehen wollten, noch zu dienen. Schweigsam und in sich gekehrt gingen
dann Nikodemus, der Hauptmann, die Mutter Maria und Maria Magdalena wieder zum
Hause des Nikodemus, wo sie ausser Petrus und Johannes auch Salome und Maria,
die Mutter des Jakobus, antrafen. Der Schmerz des Wiedersehens löste bei den
Frauen einen Tränenstrom aus. Doch während die Jünger versuchten, Worte des
Trostes zu finden, ging Maria Magdalena still hinaus, um allein am Grabe Jesu zu
weinen.
Die Frauen hatten Salbe und Spezereien zum Einbalsamieren besorgt, hatten aber
noch ihren Kummer wegen des grossen Steines, der das Grab verschlossen hielt; da
sprach der Hauptmann: „Ich bin überzeugt, dass ihr euere Spezereien nicht mehr
braucht. Ein geistiges Erlebnis mit Jesus gibt mir die Gewissheit: Sein Grab ist
leer! Jesus lebt! Er ist auferstanden! — Darum freuet euch, und lasset alle
Trauer! Jesus hat den Tod überwunden!" — Alle sehen ihn erstaunt an, fragten
aber nichts; dann gingen auch die drei Frauen schweigend nach dem Felsengrab.
Im Garten des Nikodemus kam ihnen Maria Magdalena schon entgegen und rief
bewegt: „Das Grab ist leer! Jesus lebt! Ich sah Ihn von weitem, eilte auf Ihn
zu, um Ihn zu umfassen, aber Er wehrte ab und sprach: ,Rühre Mich nicht an!' —
Ich aber soll euch allen verkünden, dass ich Ihn gesehen! O, mein Herz ist so
bewegt, ich habe Ihn wiedergesehen!"
Ganz bestürzt eilten die Frauen mit ihr an das Grab zurück und fanden ihre Worte
bestätigt: der Stein war weggewälzt, das Grab war leer! Doch zwei leuchtende
Jünglinge behüteten die Grabstätte und gaben ihnen die Auskunft, dass der
Meister auferstanden sei.
Petrus und Johannes waren den Frauen nachgegangen und sahen nun ebenfalls die
Engel am Grabe. Seltsam bewegt kehrten alle ins Haus des Nikodemus zurück und
erzählten den Freunden von diesem Wunder. Nun schwirrten die Reden
durcheinander: „Der Meister lebt? — Er kann vielleicht jeden Augenblick zu uns
kommen! — Oder suchen wir Ihn bei den anderen Jüngern?" — Nur Maria Magdalena
war still und voll innerer Trauer, denn: Ihn sehen, Ihn sprechen und doch nicht
anrühren dürfen — das war für ihr nach Jesus verlangendes Herz zu schmerzlich!
Johannes sah ihren Kummer und versuchte, ihr klar zu machen, dass der Meister
jetzt nur „in geistig-himmlischer Liebe" zu erfassen sei. „Und darum musst auch
du, liebe Magdalena" — so sagte Johannes wörtlich — „zurückstellen, dass Jesus
ein Mensch war, uns gleich! Du musst nun begreifen
lernen, dass Er Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit ist!"
Johannes fuhr fort: „Du musst begreifen, dass Seine Menschwerdung geschah, um
uns Menschen von dem alten Adamsfluch zu befreien. Ja, um uns Menschen den Weg
zu bahnen zum inneren Leben mit Gott als mit Unserem Schöpfer und Vater! Und
allen Menschen den Gebrauch der rechten Mittel zu diesem hohen Ziel darum selber
vorzuleben! Um zu dieser glückseligen, aber rein geistigen Verbindung mit Ihm
als unserem Gottvater zu gelangen, hat Er Sein grosses, lang verheissenes
Erlösungswerk als Mensch hier unter uns begonnen. Diese Epoche Seines Werkes ist
jetzt vorüber. Die zweite dürfen wir noch miterleben. Doch die dritte steht
allen denen noch bevor, die Seinem Vorbild als Mensch im Geiste Seiner Liebe und
inneren Wahrheit nachfolgen werden. Darum liebe Jesus nicht mehr als Menschen
mit deinen Sinnen, sondern liebe Ihn als reinsten Geist, nur in deinem Herzen!
Dann wird Er sich nach Seiner Verheissung auch Dir, wie uns, im Geiste
offenbaren!"
Diese Worte waren wie Balsam für ihr wundes Herz; aber auch die Anderen hatten
dieser tiefen Offenbarung über die innere Wesenheit Jesu aufmerksam zugehört und
wurden innerlich froher, obwohl ihr geliebter Meister ihnen allen doch sehr
fehlte. Dann machten sich die Jünger, Petrus als erster, auf und eilten nach
Jerusalem zu den anderen Brüdern, um ihnen zu verkünden: Der Meister lebt!
Der Hauptmann hatte sich schon vorher mit den Worten verabschiedet: „Meine
Pflicht ruft! Ich muss das Grab untersuchen und dann Pilatus Meldung erstatten."
Als er durch den Garten eilte, war keiner der römischen Posten zu sehen; er
stutzte und ging dann selber in die Felsenhöhle hinein. Hier sah er wieder die
beiden Jünglinge in überirdischer Helle, die er schon einmal im Geiste gesehen
und die ihm jetzt zuriefen: „Eile und tue deine Pflicht! Der Meister braucht
dich!"
Der Hauptmann eilte zu Pilatus und berichtete: „Das Grab des Gekreuzigten ist
leer! Jesus lebt! Einige Frauen haben Ihn schon gesehen und gesprochen! Jeder
Irrtum ist hier ausgeschlossen, ich selbst habe das Grab durchsucht!"
Pilatus, dem diese seltsame Kunde schon kurz vorher überbracht worden war, liess
jetzt die Wachen kommen. Sie mussten mit einem Eid ihre Aussagen bekräftigen und
auch, dass ein Betrug unmöglich sei; und dann berichteten sie: „In der Nacht
erhellte plötzlich ein starker Blitz die ganze Umgebung, und seine Helligkeit
machte alles sichtbar; aber ein Mensch war nirgends zu sehen. Der Blitz zerriss
das Felsengrab, und der Stein vor der Öffnung war wie verschwunden; doch aus dem
Grabe drangen so helle Strahlen eines Lichtes, dass wir davon ganz geblendet uns
auf die Erde warfen. Und dann war ringsum wieder tiefe Nacht. Plötzlich wurde
der Erdboden unter uns so unheimlich heiss, dass wir flohen und in unserem
Quartier die Vorgänge meldeten."
Pilatus fühlte sich solch ungewöhnlichen Vorgängen gegenüber ratlos; er schickte
deshalb ein Schreiben zum Hohenpriester mit der Frage: „Was saget ihr zu diesem
Geschehen?" Das Schreiben schloss mit den Worten: „Dieser gewaltsame Tod eines
Unschuldigen war nicht mein Wille, sondern der eurige! Nun traget auch ihr die
Verantwortung!"
Diese Botschaft löste unter den Templern eine Panik aus! Sie glaubten plötzlich,
der jüngste Tag sei für sie angebrochen! Jesus lebt? Jesus lebt? Was war zu tun?
Die meisten schlichen vom Tempel fort. In ihrem Herzen meldete sich das
Gewissen! Pilatus aber erhielt keine Antwort.
02. In der Herberge des Lazarus
Auch in die Herberge des Lazarus bei Jerusalem, die allen Freunden bekannt war,
brachten die Jünger die frohe Botschaft, dass das Grab leer sei, und dass einige
Frauen Jesum schon gesehen und mit Ihm gesprochen hätten. Als am Abend alle
Jünger und viele Freunde dort versammelt waren, sprach Johannes nochmals
darüber, dass Jesus nun nicht mehr Mensch sei, sondern reinster Geist, der aber
in seiner früheren Menschenform ihnen jetzt überall erscheinen könne. — „Denn" —
so sagte Johannes — „so unbegreiflich es auch klingen mag, hier wird es zur
Wahrheit: Er wird dort sein, wo Er im Geiste und in der Wahrheit angebetet und
geliebt wird! Und so wir alle uns nun in unsern Herzen innig verbinden, so ist
Er auch bei uns und unter uns! Dieses rein geistige Sein ist die Folge Seines
freiwilligen unschuldigen Leidens und Sterbens. Alle menschlichen Schranken des
Todes hat Er durchbrochen. Alles Irdisch-Menschliche ist göttlich geworden. Und
darum gedulden wir uns! Er weiss schon um die Stunde, wann Er auch uns sichtbar
werden kann. Wir aber wollen auf Sein Kommen hoffen und uns dankbar freuen, dass
Er für uns auch den Tod überwunden hat! Damit unser Ziel, das ewige Leben mit
Ihm, umso leuchtender vor uns sichtbar werde!"
Diesen neuen Enthüllungen über die göttlichen Absichten beim freiwilligen
Sterben ihres geliebten Meisters lauschten alle still und suchten sie in sich
aufzunehmen. Um Mitternacht kamen dann die Jünger aus Emmaus an und erzählten
von ihren wunderbaren Erlebnissen mit dem auferstandenen Jesus.
03. Bei Nikodemus
Am frühen Morgen gingen die Jünger mit Lazarus und den Freunden wieder zu
Nikodemus zurück und erzählten den dort Zurückgebliebenen von dem Erscheinen des
Auferstandenen bei ihnen. Alle lauschten andächtig den wunderbaren Worten; dann
trat eine tiefe Stille ein und niemand wagte eine Frage. Da, auf einmal, stand
der Meister unter ihnen! Sein klarer Blick ging allen tief ins Herz, und die
Frauen konnten sich der Tränen nicht erwehren.
Jesus aber sprach: „Friede! Heiliger Friede sei mit euch! Euer Leid sei in
Freude verwandelt! All Eure Trauer sei vorüber, da Ich nun wieder unter euch
bin! Aber so sichtbar, wie jetzt, kann Ich nicht immer bei euch verweilen. Ihr
müsst wieder ganz frei und innerlich gefestigt werden zu Meinen Zeugen, zu
Trägern Meines Geistes, um frei zu tun, was Ich euch so oft gelehrt habe! Mein
Geist in euch wird euch jederzeit bekunden, was ihr tun und wirken dürft in
Meinem Namen! Bleibet in der Liebe! Bleibet verbunden in Meinem Geiste und
dienet einander! Dann sollt ihr erfahren, dass Ich es bin, der euch auch jetzt
dient, wie Ich es als Mensch getan! Fraget nicht: „Wo warst Du?" Mein Geist gibt
eurem Geist davon Kunde! Er wird euch in alle Wahrheit und Weisheit einführen!
Und alle, die Meinen Willen erfüllen, sollen dies erfahren. Schweiget aber nun
nicht mehr vor den Menschen, damit auch ihr Vollbringer werdet! Fürchtet euch
nicht, denn Ich habe für euch alles überwunden! Meine Liebe in euch sei allezeit
eure Kraft! Seid alle gesegnet und grüsst die anderen Brüder! — Friede sei mit
euch!"
Seine Blicke ruhten segnend auf den Anwesenden, und so schnell, wie Er
erschienen, ward Er auch wieder unsichtbar!
Die Jünger blickten sich schweigend an. Seine Mutter aber weinte in reinster
Freude! Wiederum war es Johannes, der das Wort ergriff und sprach: „Liebe Brüder
und geliebte Schwestern! Nun habt ihr alle es selber gesehen: der Meister lebt!
Er ist unter uns und in Seiner Liebe immer gegenwärtig! Nun liegt es an uns, Ihm
nur Freude zu bereiten! Unermesslich ist dieses Glück, dass Er Selbst uns
erschienen ist. Und was Er uns nicht sagte, das fühlen wir: dass Seine
unendliche Liebe zu uns immer noch dieselbe ist wie einst, als Er unter uns als
Mensch lebte. Einer aber ist unter uns, der Zeuge Seiner allergrössten Erbarmung
war. Und ich bin mir bewusst, dass diese Grosstat Jesu kein Mensch je erfassen
und ermessen kann! Wie hoch steht doch Seine Liebe da gegen unsere schwache
Liebe! Wie waren wir selbstsüchtig, haben nur gehofft auf ein Zeichen Seiner
Liebe und Allmacht und kümmerten uns nicht um die Anderen! Hier muss ich an
Bruder Judas erinnern! Warum liessen wir ihn in seiner Seelennot allein? Aber
der Herr wusste auch darum und erweckte einen anderen Bruder, der sich des
Verirrten liebend annahm.
Wir, die wir dauernd an Seinem Tische sassen und Liebe um Liebe von Ihm und
Gnade um Gnade genossen haben, wir fühlten uns verlassen und voll Trauer! O, der
grossen Armut unserer Seelen an Liebe, die wir hier an den Tag legten, möchte
ich mich schämen! Statt zu glauben, waren wir verzagt! Doch nun wir den Meister
gesehen und gehört, sind wir erst wieder froh geworden! Darum lasset uns alle
Ihm danken für dieses neue Glücksgefühl: O Herr Jesu! Bleibe Du bei uns, dass es
nicht mehr Abend werde in uns! Schütte aus das Füllhorn Deines Geistes auf
unsere noch so schwachen Seelen, auf dass wir gesunden an Seele und Leib! Auf
dass wir ein rechtes Zeugnis werden für Deine ewig unendliche Liebe! Amen!"
Heilige Stille, heiliger Friede umgab alle Herzen. Dann stand Lazarus auf,
dankte nochmals dem Herrn für die unendliche Gnade Seines Kommens und bat die
Jünger und alle Anwesenden, mit nach Bethanien zu kommen, auf dass auch dort
alle erführen, dass Jesus lebt, und auf dass Frieden und Freude auch in ihre
Herzen einzöge. Nach einem Liebesmahl, als die allgemeine Freude ihren Höhepunkt
erreicht hatte, mahnte Lazarus nochmals zum Aufbruch. Der Abschied war bewegt,
da viele erst später nachkommen wollten. Jeder fühlte, wie gemeinsames Leid und
gemeinsame Freude alle Herzen fester zusammenschmiedet.
04. In der Gottesstadt
Auf dem Wege nach Bethanien zogen die Männer durch Jerusalem, wo alle Gemüter
sichtlich erregt waren. Die Templer hatten das Felsengrab durchsucht, römische
Besatzung verstärkte ihre Wachen, und neue Truppen waren im Anmarsch, die von
den Einwohnern mit verängstigten Blicken beobachtet wurden. Überall hatten sich
lebhaft redende Menschen angesammelt, weshalb die römischen Befehlshaber alle
öffentlichen Plätze mit doppelten Posten besetzen liessen. Und dies alles —
wegen Jesus!
Als der Hauptmann mit Lazarus am Palast des Pontius Pilatus vorbeikam, erbat er
sich noch einige Soldaten als Begleitung zur Sicherung auf dem Weg nach
Bethanien. Auch in der Umgebung des Tempels herrschte grosse Unruhe: aus dem
Allerheiligsten strömte eine Glut, dass der Hohepriester nicht an den
Räucheraltar treten konnte, und der Vorhang hing noch zerrissen herab. War der
Tempelvorhof sonst der Ort, wo so manche ihr gutes Geschäft machten, so ruhte
heute alles; denn die Menschen hatten nur Interesse für das Wunder der
Auferstehung Jesu. Der Karfreitag-Schrecken wirkte sich aus, und die
Einsichtigeren riefen laut: „Einen Unschuldigen habt ihr gekreuzigt! Wer hilft
uns, damit uns das Strafgericht Gottes erlassen werde!"
Der Hauptmann ging mit Lazarus zu ihnen, gebot Ruhe und rief: „Ihr Bürger von
Jerusalem, bewahret Ruhe und geht heim in eure Wohnungen! Jesus, der
Gekreuzigte, lebt! Fürchtet Ihn nicht! Denn, war Er als Mensch euer Freund, so
ist Er es heute als der aus dem Grabe Auferstandene noch mehr! Und alle Seine
Lehren der Liebe und Demut leben fort! Darum glaubet an Ihn, liebet euch
untereinander und vergesset das Traurige der letzten Tage; denn ,Er hat gelitten
für fremde Schuld und hat gesühnt all unser verkehrtes Tun!', wie im Jesaias
schon geschrieben steht, und hat damit Gottes Wort eingelöst! Nun sollen wir Ihm
beweisen, dass Er nicht umsonst gelitten und gerungen hat! , Vater, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!' — Dies Sein letztes Wort gibt uns den
Beweis Seiner übergrossen Liebe zu den Menschen. Nun bedürfet ihr keiner
Priesterkaste mehr; denn Jesus hat das Amt des Hohenpriesters übernommen. Er
lebt! Aber Er will unser eigenes Herz als Seinen von Gott Ihm geweihten Tempel
bewohnen. Darum ziehet in Frieden heim und bewahret allezeit Ruhe! Wir als
römische Heiden schützen euren neuen Glauben!" Der Hauptmann trat grüssend
zurück. Lazarus aber freute sich über den neuen Bruder und sagte: „Welch ein
Feuer! Welch ein Geist! Wahrlich, das Evangelium ist eine Gotteskraft, die alle
selig macht, die daran glauben!"
05. In Bethanien.
Nach längerem Ritt waren die Freunde in Bethanien angelangt, wo ihnen alles
Erdenkliche an Liebe zuteil ward. Auch hierhin war bereits die Kunde gedrungen,
dass Jesus nicht mehr im Grabe sei. Nun aber wurde allen Bewohnern, auch den
Knechten und Mägden, die Wahrheit verkündet: Jesus lebt! Jesus ist durch die
finstere Nacht des Todes hindurchgedrungen und hat somit dem Tode alles Traurige
und Schwere genommen! Nun verstand die Schwester Martha Sein Wort: „Ich bin die
Auferstehung und das Leben!" Doch Maria, die sonst so ruhige, war jetzt erregt
und stellte so viele Fragen, dass keiner ihr eine rechte Antwort zu geben
vermochte. Da trat der Hauptmann an sie heran und sprach: „Beruhige und freue
Dich! Jesus lässt auch dich, wie alle anderen hier, grüssen!" Sogleich wurde sie
ruhiger und dankte dem Hauptmann für das rechte Wort. Dieser Gruss war das Brot,
nach dem ihre Liebe sich sehnte, und so reichte sie dem Römer beide Hände,
dankte ihm nochmals und bat ihn, dieses Heim als das seine zu betrachten.
Nach einer kleinen Ruhepause, während der sich die Wanderer reinigten und
erfrischten, konnte dann erzählt werden von dem Gang der einzelnen Erlebnisse
mit dem Auferstandenen. Die Nacht kam und verging, niemand dachte an Müdigkeit
oder Ruhe; das Neue, Ungeahnte liess kein anderes Gefühl aufkommen als das
grosse Glück: Der Meister lebt und kommt vielleicht auch zu uns?! — Und Maria,
die Schwester Lazarus' gab schon Anweisung, zur Bewillkommnung des Meisters
alles bereit zu halten. So vergingen einige Tage der Ruhe und der
Beschaulichkeit! Gäste und Freunde kamen und gingen; der Hauptmann freute sich
besonders, als Maria, die Mutter Jesu, und Magdalena ankamen, um für längere
Zeit in Bethanien bleiben zu wollen.
Eines Morgens brachte ein Bote aus Kis die Nachricht vom Nahen Kisjonahs; und
als die Mitte des Tages erreicht war, kam er selber schon in Bethanien an. Welch
ein freudiges Wiedersehen! Die Freude steigerte sich zur Seligkeit, als Kisjonah
und Maria gemeinsam etwas schauen durften von dem grossen Erlösungswerk ihres
geliebten Jesus in der geistigen Welt! Himmlische Geistwesen verkündeten ihnen
von dem überseligen Glück, dass alle, die längst verstorben waren und in der
Dunkelheit ihrer Begriffe über Aufgabe und Ziel ihres Daseins umherirrten, nun
die Gnadenhand Jesu ergreifen konnten, um zur lichtklaren Erlösung von allem
Irrtum geführt zu werden.
Ein leuchtender Engel erklärte den beiden: „Seit Bestehen der gesamten Schöpfung
ist so etwas noch nie erlebt worden, dass das Gute sich behauptet und die Liebe
siegt! Wohl erschauerten wir vor Weh, als der Herr in der Hülle des
Menschensohnes Jesus sterbend sich opferte und dadurch Seiner Schöpfung einen
neuen Geist verlieh. Aber welch ein Segen, welch eine Freude war es dann, das
lebendige Glück all derer zu sehen und zu fühlen, die in ihren engen Gräbern
schmachteten. Nun ist kein Tor mehr geschlossen! Es ist kein Wächter mehr
vonnöten! Jeder ist über sich selber sein eigener Wächter. Wir aber stehen
ehrfurchtsvoll vor dem Leben dieses neuen Geistes in all den Herzen, die Jesum
lieben und im Geiste mitbauen wollen am Erlösungswerk des Herrn! In dankbarer
Liebe drängen viele schon hin zu solcher Arbeit. Denn der seligste Himmelsort
ist von nun an Gemeingut derer, welche auf dieser Erde Jesus als unsern Herrn
erkennen, wodurch die Macht des Bösen gewaltig im Schwinden begriffen ist!"
Nach einer Pause fuhr der Engel fort: „Ihr hättet nur sehen und erleben sollen,
wie Luzifer, der gefallene Bruder, mit seinen Engeln sich um Golgatha
versammelte, um seinen Vasallen den Beweis zu erbringen: ,Ein Grosser bleibt ein
Grosser!' (d. h.: Er beugt sich nicht in Demut dem göttlichen Willen!) Deshalb
werde ihm, Luzifer, die Herrschaft bald ganz gehören! Doch da erlebte er seine
grösste Niederlage! Denn das Grosse wurde nicht nur zum Kleinen, nein, es wurde
freiwillig zum Allergeringsten! Und dadurch ist für alle Ewigkeit die
Möglichkeit gegeben, dass das Allergeringste in Jesu Geist zum Allerhöchsten
erhoben werden kann. Konnte sich das Auge unseres Gottes bis jetzt an der
Reinheit einer Seele erfreuen und mit Wohlgefallen auf alle schauen, die da in
Ordnung und Gewissenhaftigkeit sich bemühten, das Gesetz zu erfüllen, so ist
Sein Blick jetzt denen besonders zugewandt, die tief in Sünde und Schuld stehen.
Liebend reicht Er ihnen Seine Vaterhand, auf dass auch sie das Heil ergreifen
und ihr Innenleben eintauchen in das ihres Erlösers!
Und so vernehmet: „Was wir sehen, sieht auch Luzifer! Und sein grösster Kummer
ist, dass er diesem Leben des Geistes aus Gethsemane und Golgatha keinen
Widerstand mehr entgegensetzen kann. Freuet euch! Freuet euch, ihr Menschen
dieser Erde: Der Himmel hat sich zu euch herniedergesenkt! Seine seligen
Bewohner drängen zur Erde und möchten mitbauen an dem neuen Himmel, der seine
Grundfeste auf dieser Erde errichtet hat und allen offenbar wird durch den
lebendigen Jesugeist im Menschen! Amen!"
Tränen der Freude stiegen in allen Anwesenden auf, als diese geistigen
Erlebnisse wortgetreu berichtet wurden; doch das Schönste fehlte ihren Herzen
dennoch: ihr geliebter Jesus selbst! Und schon schwand die Hoffnung, Ihn hier zu
sehen.
06. Wo weilt Jesus?
Dann kamen noch Freunde aus Tyrus und Sidon, um sich bei Lazarus über Jesus
Gewissheit zu holen. „Denn" — so sagten sie — „in Jerusalem ist die Wahrheit von
der Lüge nicht mehr zu trennen. Es gehen viele Legenden um, wo Jesus gesehen
worden sein soll. Und so sage du uns, treuer Freund und Bruder Lazarus, hast du
Jesum gesehen oder gar gesprochen?"
Lazarus zeigte mit der Hand auf Maria und Magdalena und sagte: „Diese waren die
ersten, die Jesum sahen! Wir anderen sahen Ihn auch, aber erst später. Doch, so
ihr den tiefen Glauben an Seine Mission hättet und Seinen Worten mehr
nachgegangen wäret, hättet auch ihr das Wunderbare Seiner Auferstehung schon
erleben können! Doch nicht das ist das Wichtigste, dass jemand Ihn gesehen hat;
nein, das Wichtigste ist, dass wir glauben, dass Er lebt und dass Er durch
unseren lebendigen Glauben auch in uns leben kann. Dann führt unser Glaube uns
zum Innenleben mit Ihm und zeigt uns die Notwendigkeit, noch mehr auf Seinen
Willen zu achten und zu versuchen, ihn zu erfüllen.
Seid versichert, nun wird aller Welt offenbart: Der Mensch Jesus hat Fleisch und
Blut getragen, um im Opfer damit unsere und aller Menschen vergangene Schuld zu
bezahlen! Nun sollen wir Ihn tragen in unserem Fleisch, damit wir bezahlen, was
noch schuldig blieb in uns selber an dem geheiligten Gottestrieb. So wird uns
Sein Leben zum Vorbild und Sein Sterben und Auferstehen zum Rettungsanker, an
dem sich anklammern kann, wer nur will! Wo aber ein ernstes Wollen vorhanden
ist, kommt die Kraft von oben dazu. Denn durch Jesu Fortgehen von uns Menschen
hier fliesst uns geistige Kraft aus Seiner Kraft und geistiges Leben aus Seinem
Leben zu.
Solange Er unter uns weilte, nahmen wir Gnade um Gnade von Ihm. So wir aber
jetzt Seinen geheiligten Willen annehmen und danach tun, dürfen wir geben! Und
so wird es bis in alle Ewigkeit bleiben, dass der Seligkeiten grösste im
glücklichen Geben bestehen wird. Was wir aber geben dürfen, ist Seine Liebe in
unserem Sein!"
Alle blickten ernst auf Lazarus, dessen Rede auf die Neu-Angekommenen einen
tiefen Eindruck gemacht hatte. Doch das heimliche Verlangen, Jesus, wenn
möglich, auch zu sehen, war grösser als ihr Glaube und ihr Verlangen nach
solchem inneren Verkehr mit Ihm!
Der Hauptmann las ihre Gedanken und äusserte seine Bedenken, indem er sagte:
„Verzeiht, liebe Freunde! Hier sucht ihr Jesum, in Bethanien? Wisset ihr nicht,
was er allen so eindringlich ans Herz legte: ‚Verbleibet in meinem Geiste! Dann
verbleibe Ich bei euch und in euch!' — Glaubet ihr, liebe Freunde, Jesus als der
Auferstandene würde euch nochmals so entgegenkommen, wie er als Mensch getan?
Nein! Sein von Ewigkeit her geplantes Werk ist vollbracht! Nun haben die
Menschen durch Sein Menschsein den Geist Seiner Liebe empfangen! Und Sein
Sterben am Kreuz war das Siegel, die Bestätigung vom Schlussakt Seiner
Menschwerdung! Himmel und Erde sind Ihm nun gleich nahe! Doch durch Seinen
heiligen Liebegeist und Wahrheitssinn finden wir den Weg zu Ihm und auch die
Kraft in uns, diesen oft beschwerlichen Weg zu gehen. Leuchtend gibt der in
jedem Menschen wohnende Geistfunke aus Gott uns die Richtung an und stellt an
uns das Verlangen, stets so zu handeln, wie Er es uns vorgelebt hat.
O, hätte ich Jesum früher gekannt! Ich, der das Schmachvollste an Ihm ausführen
liess, gerade ich habe das Wunderbarste Seiner Liebe erleben dürfen. Denn Er als
die ewige Liebe hat mir verziehen, und himmlische Freude belebt mein Herz,
seitdem ich weiss, dass Jesus lebt. Darum suchet Jesus nicht äusserlich! Suchet
zu werden, wie Jesus war — und Er ist bei euch und in euch! Auch ihr werdet
Seine Segnungen erfahren, wie ich sie erfahren durfte! Doch nun will ich
schweigen, weil mein Herz mir Ruhe gebietet."
Erstaunt blickten alle Anwesenden auf den römischen Hauptmann und blieben still.
Lazarus fühlte, wie die Gnade mächtig in allen Herzen wirkte, und sprach zu
sich: „Nur ruhig, mein Herz! Je ruhiger ich bin, umso aufnahmefähiger wird es
für diesen Seinen Gnadengeist."
Dann wurde zu Ehren der Freunde ein Mahl der Liebe bereitet, wobei ein Platz
frei blieb für den immer noch so sehnsüchtig Erwarteten. Lazarus und Kisjonah
erzählten so manches aus Jesu Leben, und alle wurden recht froh; bis Lazarus
seine Gäste aufforderte, nun der Ruhe zu pflegen und lieber am frühen Morgen vom
nahen Hügel aus den Sonnenaufgang zu betrachten.
07. Morgenandacht auf dem Hügel
Die wenigen Stunden der Nacht vergingen schnell. Lazarus hatte auf dem Hügel
schon alles vorbereiten lassen; als er die bereitliegenden Decken und Teppiche
noch einmal überschaute, kam von der anderen Seite ein Mann auf ihn zu. Lazarus
schaute den Wanderer an und ging ihm entgegen, um ihn zu begrüssen und nach dem
Woher und Wohin zu fragen. Da stockte sein Atem und er sank fast wie tot zu
Boden: Er hatte in dem Fremden den Meister erkannt!
Dieser legte ihm Seine Hände aufs Haupt, fasste nach seiner Hand, hob ihn wieder
auf und sprach: „Mein Bruder, zu dir zieht es Mich gewaltig hin, denn deine
Liebe ist Balsam für Mein Herz! Stärke nun auch du dich in Meiner Liebe, damit
du deine Liebepflichten erfüllen kannst und ein Träger Meines Liebelebens bist
und bleibst. Und nun hole auch deine Freunde hierher; doch verrate Mich nicht,
sie selber sollen Mich erkennen!"
Lazarus küsste des Meisters Hände, und Tränen reinster Freude rannen über sein
Gesicht; dann eilte er ins Haus zurück und lud alle ein, schnell nach dem Hügel
zu kommen; auch seinen Schwestern gebot er, die Arbeit den Mägden zu überlassen
und bestimmt mitzukommen.
Voll Verwunderung schauten Maria und Martha ihren Bruder an und sahen, dass er
geweint hatte; da fragte Maria ihn: „Bruder, warum bist du traurig und hast du
geweint?" Lazarus antwortete lächelnd: „Nicht Traurigkeit, sondern Freude war
die Ursache. Ihr werdet es auch noch sehen, kommt nur, kommt!" Voll heiliger
Ahnung im Herzen folgten sie schnell dem voraneilenden Lazarus.
Die anderen konnten sich diese Eile nicht erklären. Sie waren auch so ins
Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie ein Mann im weissen Mantel
unter sie trat und mit nach dem Hügel ging. Nun kamen auch Kisjonah, Nikodemus
und die Freunde aus Tyrus in sehr ernster Unterhaltung an, und Lazarus hörte
noch die Worte: „Nicht dies ist die Hauptsache, dass ihr bezeugen könnt: ,Ich
habe Jesus gesehen! Er ist wahrhaft von den Toten auferstanden!', sondern es
wird jetzt und in aller Zukunft wichtiger sein, dass wir Seinen Liebegeist in
unserem Leben offenbaren, und dass alle Welt dadurch erfahren muss, dass Jesus
lebt! Dann ist er nicht umsonst gestorben! Dann ist Seine Auferstehung in uns
Wahrheit geworden und für jeden Seiner Nachfolger der untrügliche Beweis: nun
darf auch ich wahrhaft leben durch Seinen Geist in mir!" Lazarus freute sich
über den Eifer seiner Freunde und sah dabei den still lächelnden Meister an. Nun
blieben die Freunde stehen, schauten wie unwillkürlich in die Ferne — und dann
erkannten auch sie den Meister. Auch die Anderen sahen Ihn nun und erkannten
Ihn, und alle waren in himmlischer Freude zu Tränen gerührt. Erwartungsvoll
lauschten sie dann den Worten des Meisters, der sprach: „Friede, Friede,
heiliger Friede sei mit euch! Meine Liebe zu euch treibt mich noch einmal in
eure Mitte, um euch die Zeichen Meiner Liebe und Demut zu zeigen. Sehet Meine
Hände! Sehet Meine Füsse! Durchbohrt von den Händen Meiner blinden Kinder!
Segensvoll lege ich diese Meine Hände euch auf das Haupt!" Dabei ging Jesus von
einem zum Anderen und legte Seine Hände segnend auf ihre Häupter. Bei Maria,
Seiner Leibesmutter, fing er an und sagte: „Dass du Mich liebst, weiss nicht nur
Ich, sondern alle wissen es, die dich kennen. In Zukunft aber wird deine Liebe
zu Mir sein wie eine aufgehende Sonne am Himmel. Und durch dich wird noch
manches Kindlein erfahren, was Liebe zu ertragen vermag und vollbringen kann!
Wir bleiben eins!"
An Maria Magdalena richtete Er die Worte: „O Kindlein! So lange die Sehnsucht,
Mich zu sehen, grösser ist, als Mein Liebeleben dir anzueignen, wird dein Sehnen
ungestillt bleiben! Liebe! Liebe! Liebe! Und nie werde Ich dich verlassen! Doch
darfst du Mich nicht mit deinen Armen erfassen wollen, sondern mit deinem
Herzen!" Jesus ging segnend weiter, indem er zu jedem Worte der Liebe und
Verheissung sprach. Als Er zu Kisjonah kam, sagte Er: „Bruder, nun fehlt noch
eins, und dies ist, dass du den Deinen und allen, mit denen du in Berührung
kommst, Mich ersetzest."
Nun kam Er zu Maria, Martha und Lazarus, segnete sie und sprach: „Auch ihr,
Meine Geliebten, gebt allen, die zu euch kommen, Kunde Meiner Liebe! Ihr wisst,
dass Bethanien dem Himmel geweiht ist. Jeder, auch der Geringste soll hier
erfahren, dass ihr Mein seid, und dass alles, was euch gehört, allen gehört,
wenn Meine Getreuen in Not und Leid kommen. Tretet nun ein in die Gemeinschaft
mit Meinem Geiste, nicht nur ihr Anwesenden, nein alle, die das Wort und der
Geist Meiner Liebe verbindet! Denn so Ich dem Auge nach nicht mehr unter euch
weile, soll doch niemand Mich vermissen! Euer Herz soll es allen verkünden: Ich
bin bei euch alle Tage, zu jeder Zeit und Stunde! Und nun setze Ich euch an
Meiner statt: Alles, was ihr in diesem Geiste sagt und tut, soll sein, als ob
Ich es gesagt oder getan hätte! Denn in Zukunft soll sich dieses Wort völlig
bestätigen: Von nun an werdet ihr nichts mehr ohne Mich tun. Und nun gebt der
hungernden und blinden, nach Liebelicht verlangenden Welt Mein Wort und einen
Abglanz Meines ewigen Lebens. So wie aller Tod aus Mir gewichen ist und Mein
Leben nun die ganze Unendlichkeit durchdringen kann, so soll auch euch
geschehen! Darum verbleibet in Mir, und Ich werde bei euch verbleiben bis in
alle Ewigkeit!
Und nun werdet frei! Frei von allen Schwächen, von aller geistigen Dunkelheit!
Frei von allen falschen Begriffen über Mein Dasein als euer Gott, der euch als
der Menschensohn Jesus zu eurem liebevollen Vater geworden ist! Werdet Zeugen
Meines Seins, und ihr sprenget die Bande, Ketten und Tore der Hölle! Alles, was
noch gebunden ist, hofft auf Befreiung durch euch, was noch unerlöst ist, sei
euch ans Herz gelegt! Und so scheide Ich nun von euch und bleibe doch bei euch
und unter euch! Ihr werdet euch manchmal einsam fühlen, und doch bin Ich euch
nahe! Leid und Prüfung werden euch schwächen wollen, und doch bin Ich in euch
die Kraft! Darum bedenket: Mein Wort und Meine Lehre, die euch doch verbleiben,
verlangen Selbständigkeit und ein freies, zufriedenes Wesen! Immer bin Ich zu
finden in euch, wie Ich auch euch finden will in Mir für alle Ewigkeit! Mein
Segen und Mein Frieden sei mit euch! Amen!"
Nach diesen Worten war der Herr ihren Blicken entschwunden. Auf dem Hügel aber
war es totenstill, alle waren tief ergriffen, einige weinten. Nach einer Zeit
des inneren Lauschens auf den Nachhall Seiner Worte im eigenen Herzen sprach
dann Lazarus: „Geliebte Freunde! Es drängt mich, euch nochmals für euer Hiersein
zu danken. Ich bin mir bewusst: hättet ihr mich nicht besucht, so hätte ich die
Gnade nicht gehabt, unsern geliebten Herrn und Meister noch einmal zu schauen.
Und ebenso erkenne ich auch dankbar an diese Liebe unseres treuen Gottes und
Vaters, der da weiss, warum und wozu alles geschieht. Aber nun ist mein Rat an
euch wie an mich selber: Wir wollen nicht der Vergangenheit und Erinnerung
leben, sondern der Gegenwart und der Zukunft. Wir wissen nun, dass
nur dies eine not tut: nämlich in allen Dingen auf den Herrn zu schauen. Denn
durch Seine Auferstehung ist uns allen der untrügliche Beweis geworden, dass Er
lebt! Und so Er lebt, lebt auch Seine Liebe zu uns, zu allen Menschen. Jetzt, in
dieser Morgenstunde, erlebten wir den Anbruch eines Ewigkeitsmorgens. Von nun an
sind wir Menschen berufen, in dieser Ewigkeit zu leben und fort und fort zu
zeugen, dass auch wir leben dürfen, denn Sein Zeugnis hier auf dem Hügel ist
unser Freiheitsbrief und Siegel."
Plötzlich, in geistiges Schauen versetzt, sprach Lazarus: „O Erde, was durftest
du erleben! Kaum, dass du dich von dem Schrecken erholtest, als dein Schöpfer
dem Fleischleibe nach starb, da geht schon eine neue Erschütterung durch deinen
Leib! Du durftest erfahren, dass dein Schöpfer nicht im Tod geblieben ist, und
deine Wunden heilten rasch. Aber nun du gewürdigt warst, dass dein Schöpfer
wiederum mit Seinen heiligen Füssen dich, o Erde, betrat, da hast du einen neuen
Samen empfangen! O du Erde, du reich gesegnete! Bitte du den Schöpfer, dass Er
Menschen erwecke und Engel berufe, die diesen neuen Samen schützen! Denn nur
unter den allergrössten Schmerzen wird diese neue Geistesfrucht hier ausgeboren
werden! Ich sehe Völker kommen und Völker vergehen, aber leben wird dieser neue
Samen aus Gott, unserem Herrn! Und ich sehe eine Zeit erstehen, wo alles, alles
darnieder liegt! Die Liebe wird erkalten, und der Fluch der bösen Taten wird
weiter zeugen und einen anderen Geist gebären. Und dieser wird das Ende
beschleunigen! O Erde, noch einmal wirst du eine Zeit erleben, blutend aus
abertausend Wunden, und selbst die Elemente werden drohen, dich zu vernichten.
Dann wird der Geist der Sanftmut und Liebe, gepaart mit reinster Demut, hier und
da erstehen und deinen Fluch lösen! Eine neue Welle von Liebe wird über deinen
wunden Leib ziehen, und wie Tau und Balsam wirst du nach langer Zeit wieder den
Geist der Gottesliebe empfinden.
Alle grossen Geister drängen hin zu dir! Jeder möchte helfen und Helfer sein auf
dieser Erde! Denn das allergrösste Wunder darfst du dann erleben: Luzifer, dein
Gefangener, öffnet selbst die Pforten seines Gefängnisses und beugt sich vor dem
neuerstandenen Geist der Liebe aus Gott! Ja, du Erde, du wirst dann im
Hochzeitsglanz erstehen; denn dein Schöpfer, Gott und Erhalter geht Hand in Hand
mit Luzifer über deinen mit Blumen und Früchten lieblich geschmückten Leib. Das
aus Jesu Wunden vergossene Blut, welches deinen Boden heiligte, wird zu einer
Quelle ewiger Kraft und Herrlichkeit. Und du, Hügel Golgatha, du wirst zu einer
Warte im Geistesleben! Du wirst zu einer Stätte ewigen Friedens, denn kein Feind
wird es mehr wagen, dich schief anzusehen! Für ewig ist dann der Feind
überwunden! Dann bist du der Ort und die Zufluchtsstätte, wo Irrende das für die
Ewigkeit notwendige Heil erfahren. Und nun, du Erde, du heilige Schöpfung, nimm
hin den Dank, dass wir dieses hier schon erfahren durften. Amen!"
Staunend hörten alle diese Worte des Lazarus, die er zur Erde gesprochen hatte.
Und dann sagte Lazarus: „Ja, liebe Brüder, ich erschaute dies in meinem Geiste!
Und da ich es so erleben durfte, wird es wohl auch so sein, denn noch nie trog
mich solches Schauen! Doch halten wir uns nicht dabei auf!. Wichtiger ist, dass
wir des Herrn nicht vergessen und unsere Pflicht erfüllen als Mensch zum
Menschen und zu aller Kreatur - und so auch der Erde gegenüber. Dann wird Sein
Segen nicht ausbleiben! Doch all das Geschehene dieses Morgens nimmt uns fast
den Sinn für das Materielle; darum forderte ich euch auf, ins Haus
zurückzukommen, etwas zu essen und den heutigen Tag noch nützlich zu
verbringen!"
Die Trennung von dem schönen Hügel wurde allen schwer. Doch Maria und Martha
dachten sogleich an ihre Pflichten gegen die Gäste und eilten als erste zurück
ins Haus. Lazarus war der Letzte. Beim Mahl wurde wieder lebhaft über die
letzten Ereignisse gesprochen, und alle waren fröhlich im Herzen.
08. Pilatus
Mitten im fröhlichen Mahl öffnete sich die Tür, und herein kam ein Soldat in
römischer Kleidung, um dem Hauptmann einen Brief zu übergeben. Beim Empfang
erkannte der Hauptmann in dem Soldaten seinen Engels-Freund und sprach heiter:
„Nun, Freund, seit wann bist du in römischen Diensten?" Der Engel aber
antwortete in seiner himmlischen Art: „Nicht in römischen Diensten stehe ich,
sondern im Dienste der ewigen Liebe! Lies diesen Brief, dann wirst du sehen, wie
nötig du meiner Dienste bedarfst!"
Der Hauptmann brach das Siegel, las und erblasste; denn es war seine
Rückberufung nach Jerusalem! So er nicht dem Befehl nachkomme, habe er mit
seiner Verhaftung zu rechnen, stand in dem Brief zu lesen. Denn der Hohepriester
habe ihn bei Pilatus beschuldigt, den Raub Jesu aus dem Grabe unterstützt zu
haben! Für Jesu Auferstehung von dem Tode fehlten aber alle Beweise! In dem
Schreiben war noch vermerkt, allen Gerüchten zufolge sei Jesus nur bei Seinen
Freunden erschienen, warum aber nicht im Tempel? Nun gab es für den Hauptmann
keinen Aufenthalt mehr! Es galt Abschied zu nehmen von Bethanien und all den
Freunden, die ihm so lieb geworden waren! Länger als sonst ruhte seine Hand in
Maria Magdalenas Hand, und Glück- und Friedens-Wünsche folgten ihm auf den Weg.
Nikodemus wollte gleichfalls zurück nach Jerusalem, und so ward es ein
wunderbarer Ritt, denn der Engel begleitete sie.
Gegen Mittag meldete sich der Hauptmann bei Pilatus, der sehr erstaunt war, ihn
schon zu sehen, worauf der Hauptmann erklärte: „Ja, wenn es nicht der Wille des
Nazareners gewesen wäre, so hätte ich jetzt erst die Botschaft in Händen. Nun
aber sandte mir der Nazarener diesen Boten, und so bin ich sogleich hier, um die
Anklage gegen mich zu entkräften! Vor allem aber dürfte es endlich an der Zeit
sein, den Hohenpriester Kaiphas unschädlich zu machen! Siehe, mein Bruder:
entweder sind die Aussagen der Templer Wahrheit, und die Auferstehung des
Nazareners ist Lüge! Oder umgekehrt: die Auferstehung ist Wahrheit! Ich aber
weiss bestimmt: Jesus, der Gekreuzigte und Begrabene lebt, wie ich es dir schon
verkündete. In Bethanien ist Er heute bei uns gewesen; wir haben Ihn gesehen,
und Er hat zu uns gesprochen und uns versichert, dass durch Sein Leben auch wir
dieses neue Geistes-Leben erhalten können! Sende darum sofort diesen Boten — er
ist ein Diener und Engel Gottes — nach Bethanien und lasse dir schriftlich
berichten über all diese Vorgänge am heutigen Morgen! Während der Bote unterwegs
ist, schildere ich dir schon unsere Erlebnisse mit Jesus. Dies dürfte dir doch
dann ein Beweis sein für die Wahrheit der Auferstehung, wenn die Antwort von
Bethanien mit meiner Schilderung übereinstimmt. Denn hier handelt es sich nicht
um meine Ehre, sondern um die Wahrheit des von den Toten auferstandenen Jesus!"
Pilatus liess ein Schreiben an Lazarus in Bethanien anfertigen und brachte darin
die Bitte zum Ausdruck, alle Vorgänge in Bethanien seit dem Osterfeste so gut
wie möglich zu schildern, da er Beweise brauche! Denn der Hauptmann stehe unter
Anklage, den Leichnam Jesu mit Freunden geraubt zu haben und einen anderen dem
Volke vorzustellen, als ob Jesus lebe! Pilatus glaubte dem Hauptmann zunächst
nicht, dass dieser Soldat ein Engel Gottes sei; vielmehr war er der Ansicht,
dass der Hauptmann schon auf der Rückkehr begriffen gewesen sei und unterwegs
den Soldaten getroffen habe. Pilatus liess sich nun vom Hauptmann im Beisein von
anderen Hauptleuten alles schildern; er schaute ihn manchmal betroffen an,
unterbrach ihn aber nicht.
Als der Hauptmann seinen Bericht beendet hatte, gab Pilatus ihm die Hand und
sagte: „Kommt der Bericht von Bethanien deinem nur in etwa nahe, dann bist du
gerechtfertigt, und ich glaube dir! Alles Weitere warte ich nun ab."
Es vergingen kaum zwei Stunden, da meldete sich der Bote zurück, worüber Pilatus
nun wieder sehr erstaunt war. Der Bote übergab ihm eine vollgeschriebene Rolle;
Pilatus las zuerst die Unterschriften, deren Namen schon allein für die Wahrheit
bürgten! Laut las Pilatus dann dem kleinen Forum den ganzen Bericht vor, und es
war fast dasselbe, was der Hauptmann erzählt hatte. Aufgeregt ging er hin und
her, reichte dem Hauptmann die Hand und sagte: „Verzeihe, dass ich dir, einem
Römer, einen Augenblick nicht glaubte, sondern die geschickt gewählten Anklagen
des Tempels für Wahrheit hielt. Nun aber sende ich dich in geheimer Mission nach
Rom! Der Kaiser muss von den Vorgängen hier erfahren, das ist einfach unsere
Pflicht! Denn wir haben einen Unschuldigen getötet, wir haben nach dem Schein
geurteilt! Doch Geschehenes lässt sich nicht ändern! Mache dich sofort zu dieser
Reise bereit, eine Kohorte wird dich begleiten! Doch es muss geheim bleiben,
damit der Tempel nichts vereitelt! Nimm diesen deinen Freund nur mit, so er
will, und morgen früh beim Aufbruch nimmst du meine Schriftstücke an den Kaiser
in Empfang." Damit verabschiedete Pilatus sich. —
Der Hauptmann aber war innerlich ergriffen von dieser Wendung, die ihn nun
zwang, von Jerusalem wegzugehen! Vor seine Augen trat das Bild der Maria
Magdalena. „So gerne ich von hier weggehe, so ungerne gehe ich aus deiner Nähe",
dachte er — — „doch Befehl ist Befehl!" Und sogleich kam ihm der Gedanke,
nochmals nach Bethanien zu gehen und beim Vorbeiziehen dort eine kurze Rast zu
machen. Der Engel reichte ihm nun die Hand und sprach: „Lieber Freund! Freue
dich dieser deiner Mission, denn du darfst von Jesus zeugen! Kein Weg darf dir
zu weit sein, keine Mühe zu gross und kein Opfer zu schwer! Denn was du für
Jesus, den Auferstandenen, tust, das tust du für dich und für alle Menschen.
Pilatus hat Furcht, weil er einen Unschuldigen gerichtet hat, und hofft, da du
Zeuge Seiner Auferstehung bist, die Strenge des Kaisers durch dich zu mildern,
um seinen Platz hier in Jerusalem weiter zu behalten. Ich gehe nicht mit dir,
sondern komme nur gelegentlich, je nach dem Willen des Herrn, sichtbar zu dir.
In Kürze aber wird Jesus, wie in einer Wolke, sichtbar von dieser Erde enthoben
werden! Und dieses wird das Zeichen sein, dass Seine Mission als Mensch hier
beendet ist, und dass eine neue Zeit beginnt! Nicht etwas anderes sollt ihr dann
tun, o nein! Nur was Er als Mensch allen vorgelebt, sollet auch ihr stets tun,
und was Er alle Menschen gelehrt, sollen sie glauben und dann ihr Leben darnach
einrichten! Dann wird Er zu allen denen kommen, die diese Seine Bedingungen
erfüllt haben, und wird sie erfüllen mit Seinem Geist der Liebe und der
Wahrheit! Darum gehe getrost! Der Herr sei mit dir und in dir! Friede sei mit
dir!" — und verschwunden war der Engel.
Nun kam Pilatus noch einmal zurück und lud den Hauptmann ein, als Gast in seinem
Hause ein Mahl einzunehmen. Er fragte noch: „Wo ist dein wunderbarer Freund
hingegangen?", und war sehr erstaunt, zu hören: ,,Er ist in sein wahres Sein
zurückgekehrt! Denn er ist ja kein Mensch, sondern ein Engel, ein Diener
Gottes!" Kopfschüttelnd schaute Pilatus seinen Hauptmann an, dann gingen sie
nach oben in seine Wohnung. Beim Eintritt kam das Weib des Pilatus ihnen schon
entgegen, und lachend sprach Pilatus: „Nun siehe dir unseren Gast nur recht an,
denn er ist, gleich dir, ein Schwärmer für den Nazarener! Und denke dir: ein
Zeuge Seiner Auferstehung! Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass Jesus von
Nazareth mir jetzt mehr Sorgen macht, als da Er noch lebte! Und wer weiss, was
noch kommen wird."
Der Hauptmann aber entgegnete: „Dieses stimmt nicht ganz, denn Sorgen kann Er
nur denen machen, die an Seiner hohen Mission zweifelten und Ihn, ohne zu
prüfen, verurteilten, wie der Tempel es getan! Bruder, gehe einmal zu Seinen
Freunden, welche biedere Männer, ehrenwerte Juden und achtungswerte Römer sind!
Dort wird dir Wahrheit über Seine Lehre gegeben. Welch herzliches Verhältnis
waltet unter Jesu Freunden, und welcher Eifer, nur Gutes zu tun! Ähnliches habe
ich unter Römern, Griechen und Juden noch nie gefunden! Das Allerherrlichste von
Jesu Lehre aber ist: Wir alle sind Brüder untereinander! Und Er, Jesus, als
unser Schöpfer, unser Gott und Erhalter, will allen denen Vater sein, die Sein
Göttliches Leben in sich aufnehmen wollen! Dieses Leben aber wird sich als
selbstlose Liebe und segnende Tatkraft zuerst im innersten Herzen bekunden! Und
mit solchem Innen-Leben wird man Ihm erst nachfolgen können, um das herrliche
Ziel zu erreichen, im Geiste Jesu wahrhaft vollkommen zu werden! Bewusster in
der Liebe, bewusster in der Wahrheit, um mit diesem Ur-Grund-Leben in uns dann
auf dieser Erde ein neues Geschlecht erstehen zu lassen! Denn aufhören können
erst der Hass und die Lüge, wenn sie aus dem Gottes-Geiste Jesu im Menschen —
sofort erkannt werden, und wir uns dadurch nicht mehr täuschen oder von ihnen
beherrschen lassen. Darum gehe ich gern nach Rom! Aber vorher möchte ich noch
einmal nach Bethanien, um von meinen neuen Freunden Abschied zu nehmen.
Vielleicht gehet ihr mit und lernet in jenem Kreise diesen neuen Geist
brüderlicher Liebe und gegenseitiger Achtung kennen?"
Pilatus lehnte ab; aber sein Weib Claudia bat so dringend, dass er seine
Einwilligung gab, dann nahmen sie das Mahl ein. Inzwischen wurde der Bericht an
den Kaiser geschrieben, den ein Sekretär nach den Anweisungen Pilatus
anfertigte. Pilatus unterschrieb, versiegelte die Rolle und überreichte sie dem
Hauptmann, der feierlich versprach, dieselbe im Sinne des Pilatus dem Kaiser zu
überreichen, so es der Wille Gottes sei! Claudia bat, doch noch am Abend nach
Bethanien aufzubrechen; und beide Männer gaben ihre Anweisungen, damit die
Abreise bald erfolgen konnte. Zwei Unterführer erhielten von Pilatus den Befehl,
in zwei Stunden mit zwanzig Mann in vollständiger Ausrüstung und Verpflegung für
zwei Monate im Hofe zu sein und nur die tüchtigsten Leute auszuwählen. Ebenso
bat Pilatus den Hauptmann, in zwei Stunden abmarschbereit sich wieder
einzufinden. Dieser eilte in seine Wohnung, wo schnell gepackt wurde; einige
Zeilen sendete er noch an Nikodemus, um ihm mitzuteilen, dass er in Sachen Jesu
nach Rom ziehen müsse.
Zur festgesetzten Zeit waren Soldaten und Pferde im Hofe des Landpflegers zur
Abreise bereit, und die Leute waren voll Neugierde, wohin wohl diese Reise, so
schnell und unvorbereitet, gehen werde. Pilatus, den Hauptmann an seiner Seite,
trat mit seinem Weibe unter die von Waffen starrenden, herkulischen Gestalten
und sprach zu ihnen: „Soldaten! Ich sende diesen meinen und euren Hauptmann in
besonderer Mission zu unserem Kaiser nach Rom! Es ist eine besondere Ehre für
euch, ihn zu begleiten! Und darum erwarte ich auch, dass ihr jederzeit einsteht
für das Leben eures Hauptmanns! Denn von dieser Mission hängen ab die Geschicke
Roms wie auch die unsrigen! Der Kaiser wird entscheiden über unsere Zukunft
hier, und ich hoffe, euch alle gesund wieder zu sehen nach eurer Rückkehr! Es
geschehe!" Nun erhielt der Hauptmann das Kommando über die kleine Schar und
sagte dann: „Im Namen des Allmächtigen wollen wir die weite Reise antreten! Sein
Beistand wird uns zum Ziele führen!" Pilatus nahm mit seinem Weibe in dem
besonders bereitgestellten Wagen Platz, und im scharfen Trab ging es auf die
Reise.
Der Tag neigte sich. In Bethanien war man ebenso erstaunt wie hocherfreut über
die Gäste, die der Hauptmann mitbrachte. Lazarus begrüsste Pilatus und sein Weib
auf das herzlichste — und führte sie in sein Haus, indem er zu Pilatus sprach:
„Betrachte es als das deinige, hoher Herr, und fühle und empfinde den Geist, der
in diesem Hause herrscht!" Dann machte er ihn mit den anderen Gästen bekannt.
Pilatus wurde bis ins Innerste erschüttert, als Lazarus ihm Maria als die Mutter
Jesu vorstellte! Aber ihr stiller, reiner Blick und ihr sanfter Händedruck
sagten ihm: „Hier ist mehr denn menschliches Verzeihen! Hier ist himmlisches
Verstehen!" Und jetzt erst fühlte er die Schuld, die grosse Schuld, die er mit
Wasser von seinen Händen glaubte abwaschen zu können, und so stammelte er fast:
„Hätte ich gewusst, was ich heute weiss: Jesus würde noch leben!"
Maria antwortete ihm sanft: „Jesus lebt! Er hat den Tod überwunden und aus
Seiner tiefen Liebe heraus allen vergeben! Darum habe ich dir nichts mehr zu
verzeihen! Im Sinne des Herrn aber sage ich dir und deinem lieben Weibe: Seid
herzlich willkommen in Bethanien! Der Geist des Friedens und der Liebe erfülle
auch euch, dass ihr eingedenk bleibet dieser heiligen Stunde! Auch mir bereitet
euer Kommen nur Freude! War unser Leid auch überwältigend und der Schmerz fast
unerträglich, so ist doch die Freude über Seine Auferstehung noch tausendfältig
grösser! Denn hier wirkt unseres Gottes Gnade übermächtig!"
Auch der Hauptmann begrüsste die Freunde und gab ihnen seine neue Mission kund.
Dann suchte er Maria Magdalena; lange hielt er ihre Hand in der seinen, schaute
ihr tief in die Augen und sagte: „Nur um deinetwillen kam ich noch einmal nach
Bethanien; morgen bin ich schon über die Grenzen Judäas hinaus."
Lazarus fragte die Diener, ob auch alle Soldaten und Pferde gut untergebracht
wären, was ihm zugesichert wurde. Der Hauptmann sprach: „Wenn deine Diener
sagen, dass es in Ordnung ist, so glaube ich es auch; doch, lieber Bruder, wenn
es dir recht ist, so lass mich in dieser Nacht einmal mit dir allein etwas
besprechen." Hier sagte Lazarus ihm gern zu.
Beim Mahle herrschte fröhliche Stimmung, da alle eines Sinnes waren, und fast
hatte man vergessen, dass der oberste römische Befehlshaber unter ihnen weilte.
Johannes, in seiner sanfternsten Art, erzählte manche Begebenheit aus dem Leben
des Herrn. Als aber Lazarus von seiner Auferweckung durch Jesus erzählte, da
schluchzte der stolze Römer. Pilatus sagte: „O, meine Schuld, meine grosse
Schuld an Ihm! — Jetzt wird sie zu einem Berg, der mich zu erdrücken droht! Wer,
wer nimmt solche Schuld von mir?"
Lazarus legte seine Hände auf Pilatus' Schultern und sprach: „Nicht so, Bruder!
Es gibt keine Schuld, die nicht durch Gutes-Tun getilgt werden könnte! Doch,
willst du wahrhaft gut machen, wo du glaubst, gesündigt zu haben, so biete
deinen ganzen Einfluss auf, dass den Freunden Jesu nicht zu viel Übles vom
Tempel aus geschieht; denn die Templer werden nicht aufhören, Jesu Lehre zu
bekämpfen, da sie argen Herzens sind. Bei solchem Gutes-Tun wirst du in dir
selber dann erfahren, dass Jesus dir vergeben hat! Wohl sind wir überzeugt von
Seiner göttlichen Wahrheit, Kraft und Herrlichkeit! Aber soll diese Erkenntnis
nur uns nützen? O nein! Die ganze Menschheit muss es nun erfahren: In Jesus
lebte die Kraft und Herrlichkeit Gottes!"
Lazarus schwieg. Pilatus aber gab ihm keine Antwort auf seine Worte, sondern
verblieb in tiefem Sinnen. In seinem Inneren arbeitete es übermächtig, und noch
einmal zogen all die Szenen an seinen Augen vorüber! Noch einmal trat die
schwere Frage: „Was ist hier Wahrheit?" vor seine Seele; da war es ihm, als sehe
er, in sich, eine Sonne mit mildem Licht aufgehen; er stand auf und ging
schweigend hinaus.
Claudia beobachtete ihren Mann und sprach zur Mutter Maria: „Lasset ihn jetzt
gehen; er braucht Alleinsein; zu mächtig sind die Eindrücke, die wir hier
erleben. Warum sind wir nicht früher mit euch zusammengekommen? Es wäre uns
allen viel Kampf und Leid erspart geblieben."
Tröstend antwortete Maria ihr: „Claudia, lasse alles Vergangene vergangen sein!
Wenn die Nacht vorüber ist, und der Tag mit seinem Licht uns alle Schönheiten
des Lebens offenbart, da gedenken wir auch nicht mehr der Nacht, sondern freuen
uns und danken beschwingten Herzens dem gütigen Schöpfer, dass Er uns einen
winzigen Teil Seiner so herrlichen Schöpfung zeigt. So lasse es auch in dir
sein! Die letzten Tage glichen einer Nacht, in der schwere Gewitter und
Erderschütterungen sich abwechselten. Sie ist vergangen, und vor uns liegt ein
Tag, der nicht mehr vergehen wird! Denn Jesus ist nicht tot! Er war uns nur eine
kleine Zeit genommen, um für ewig bei uns, um uns und in uns zu bleiben, je nach
unserem Wollen und unserer Hingabe an Ihn!"
Claudia sprach: „Allerbeste Mutter! Dies verstehe ich noch nicht ganz, aber
deine Worte erfüllen mich mit einer seligen Wonne, die ich noch nie in meinem
Leben erlebte. Eure Liebe, eure Verbundenheit untereinander zeigen mir ja, was
ich in meinem Leben immer vermisste. Was in der Stadt, in unseren Kreisen,
Höflichkeit und Sitte verlangen, finde ich hier ungekünstelt in eurer Liebe, in
dem Geiste, nach dem sich längst mein Herz sehnte."
Der Hauptmann unterhielt sich unterdessen mit Maria Magdalena, und für beide
Seelen war dies wie ein Gnaden-Geschenk. Als Pilatus hinausging, folgte ihm auf
dem Fusse Lazarus. Pilatus setzte sich unter einem grossen Baum auf eine
Ruhebank, zu der auch Lazarus kam und sprach: „Mein Freund, ich fühle in mir das
Verlangen, dich nicht allein zu lassen mit deinem inneren Kampf. Auch uns ist es
so ergangen, da die Jesus-Wahrheit alle Irrtümer in uns erschütterte! Sprich
dich nur nicht selbst schuldig, sondern lege alle Schuld Dem zu Füssen, dem du
glaubst das grösste Unrecht zugefügt zu haben! Mir ist dein innerer Kampf
bewusst, und darum bin ich dir gefolgt, da es im Sinne Jesu liegt, einen jeden,
der da kämpft und leidet, zu stützen und zu stärken! Wie bei uns, wird es auch
bei dir werden: Das Alte wird vergehendes wird alles neu werden! Schon künden
sich in dir Hoffnungsstrahlen des kommenden Friedens; sei versichert, dies ist
ein Beweis der Vergebung durch unseren Jesus! Trage auch du dazu bei und erhalte
dir dann diese Gnade der ewigen Gottesliebe, indem du Jesum als den allmächtigen
Herrn Himmels und der Erden erkennst und anerkennst! Er hat allen Tod
überwunden! Und auch Seinen Kindern, Seinen Brüdern und Anhängern ist dasselbe
zugesagt, wie ich selber als Beweis dir gelten kann. Darum, mein Bruder, lebe
nicht mehr der Vergangenheit nach, sondern dem Kommenden entgegen!"
Pilatus sprach: „Lazarus! Du rechter Freund! Wahrlich, der heutige Tag gibt und
gab mir ein neues Leben! Noch ist es nicht so klar in mir, wie es sein sollte
nach dieser erlebten Stunde; denn ganz hinwegwischen lassen sich die
Erinnerungen dieser vergangenen Tage nicht. Gerne hätte ich Jesus gerettet, da
mein Weib mir erzählte, sie hätte im Traum Jesus gesehen, umgeben von unzähligen
Engeln. Diese herrlichen Engel hätten immer gerufen: »Heil dem ewigen Überwinder
des Todes und der Hölle! Wehe aber euch in Jerusalem, da ihr Jesum richtet und
ihn kreuzigt; euer Teil wird sein der ewige Tod!« Es gelang mir nicht, Ihn zu
retten, und die Vorwürfe in mir, doch nicht alles getan zu haben, was zu tun
nötig gewesen wäre, legen sich nicht. Auf der einen Seite zieht es mich
innerlich hin zu euch und zu Jesus, aber auf der anderen Seite steht meine
Schuld!"
Lazarus antwortete ihm: „Bruder! In dem Kommenden findest du neue Aufgaben, um
Dem zu dienen, zu dem dein Herz dich zieht. Dann fallen von selbst die
Schranken, die die Schuld in dir errichtet! Denn, im Geiste Jesu sich betätigen,
darin liegt das erlösende Abtragen unserer Schuld! So viel ich abtrage, eben so
viel baue ich auf! Und bald wird es auch dir offenbar werden, dass dein Tun
gesegnet ist! Willst du dich würdig machen dieser grossen Gottes-Gnade, dann
wache über die Templer; denn in ihrem Hochmut kennen sie nun keine Grenzen, nur
der Macht eines Römers beugen sie sich. Du wirst in dir die Bestätigung
erhalten, dass du gewürdigt wirst von Ihm, für Ihn und Sein herrliches Werk zu
arbeiten! Siehe, alle Schönheiten des Himmels sind nichts gegen das, was Gott
bereitet hat denen, die für Ihn die Hände und Füsse regen und mit ihrem Herzen
bekunden: »Er ist mein Herr und Gott, mein Vater und Erhalter!« Komme mit ins
Haus, die Stunden eilen und vergehen, aber der Geist der ewigen Liebe bleibt, so
wir in der Liebe verbleiben!"
Beide erhoben sich, und im Gehen sprach Pilatus: „Bruder, Bruder bist du mir,
dies fühle ich lebendig! Sei mir auch weiterhin Bruder, um mich zu stützen und
zu stärken! Sollte ich aber in meine alten Zweifel zurückfallen, so rüttle mich
auf und erinnere mich an diesen Tag! Doch ich hoffe, dass Jesus den Sieg über
mich feiern kann." Lazarus sprach: „Freue, freue dich; denn des Menschen
grösstes Glück kommt nur von Jesus!" Beide traten wieder ins Haus, und Pilatus
sah sein Weib glücklich an der Seite Marias. Er ging hin zu den beiden und
sprach: „Meine Teuren! Der heutige Tag ist ein Wendepunkt in meinem Leben! Von
heute an weiss ich, dass ich ohne diese Liebe nicht mehr leben kann! Es ist
nicht zu begreifen, was wir bis jetzt versäumt haben. Wohl versuchte ich, in
Wahrheit, Recht und Pflichterfüllung meinem Kaiser und meinem Volk zu dienen!
Aber ich sehe ein: Ohne diesen Geist von Liebe, Achtung und Hingabe ist jede
Pflichterfüllung einseitig! Darum danke ich euch allen! Dir, meinem Hauptmann,
zuerst, da du den Mut fandest, dein in dir gewecktes Gottes-Leben in meiner
Gegenwart nach aussen zu stellen! Und euch, ihr lieben Bethanier, weil ihr mir
zeigtet und mich erleben liesset den Geist des Jesus von Nazareth! Es hätte
dieser Worte nicht bedurft, denn in Bethanien ist alles durchdrungen vom Geiste
der Liebe und des Verstehens! Aber ich hoffe, euch allen den Beweis zu
erbringen, dass auch ich mich an eure Seite stelle und mit helfen will, im
Geiste des Gekreuzigten und Auferstandenen Sein göttliches Werk zu fördern!
Lasset uns für heute Abschied nehmen und nochmals danken!"
Auch Claudia verabschiedete sich und sprach: „Die wenigen Stunden unter euch
haben es fertiggebracht, dass ich sagen muss: Ihr seid mir teuer geworden! Was
ich heute Liebes und Gutes erlebte, was ich heute empfangen habe an Liebe und
Verstehen, ist unaussprechlich! Darum Dank, herzlichen Dank Dir, o guter Jesus!
Über welche Herrlichkeiten musst Du verfügen, wenn Du uns schon so beglücken
kannst, die wir nicht mit Dir gingen! Darum erbitte ich mir Deine Huld und
Gnade, damit ich Dein sein und bleiben kann für alle Zeiten! Bald sehen wir uns
wieder, damit wir Eins werden im Lieben — wie im Dienen!"
Lazarus aber sprach: „Ziehet in Frieden heim nach Jerusalem! Der Geist der Liebe
und des Friedens geleite euch — und festigte euch im Glauben und im Vertrauen
auf Jesus — unseren Herrn!" —
09. Maria Magdalena
Dann sprach Lazarus zum Hauptmann: „Komm Bruder, wir wollen noch einige
Augenblicke in den Garten gehen, da du mit mir zu sprechen wünschest." Dort
liessen sie sich an einem Tisch nieder, und der Hauptmann sprach: „Höre, mein
Bruder! Deine Liebe war mir eine grosse Wohltat, wie ich sie in meinem Leben
bisher nie empfunden habe. Die Umstände zwingen mich nun, an deine Liebe eine
grosse Bitte zu richten; du weisst, ich muss jetzt nach Rom, doch mein Herz
bleibt in Bethanien! Ich liebe Maria Magdalena und möchte sie zu meinem Weibe
machen, habe aber noch kein Wort zu ihr davon gesprochen, und so liegt die
Zukunft ungewiss vor mir. Maria Magdalena befindet sich als Gast in deinem
Hause, lieber Bruder Lazarus, behalte sie so lange hier, bis ich wieder zurück
bin. Ich denke, wenn ich solch ein Heim mir gründen könnte, wie du es hier
besitzest als eine Pflegestätte für den Geist unseres Meisters Jesus, so würde
ich gern aufhören, Soldat zu sein!"
Lazarus antwortete erfreut: „Tue erst deine Pflicht in dieser gerechten
göttlichen Sache! Denn die Gnade, die du erfahren, und alles, was du im
Geistigen schon erleben durftest, verpflichtet dich zu grösstem Eifer für die
Sache Jesu! In Magdalena aber würdest du ein Geschenk des Himmels erhalten, denn
noch keiner hat solche Liebe dem Herrn entgegengebracht wie sie. Sie ist nicht
arm, und eure Zukunft wäre nicht dunkel, sondern könnte sonnig und von
Gnadenwellen der ewigen Liebe erfüllt sein, wenn du eine Pflegestätte gründen
würdest für unsere noch verirrten, suchenden Menschenbrüder! — Lass mich
unterdessen Umschau halten danach, aber nicht hier, in meinem Heimatlande,
sondern ausserhalb Judäas müsste es sein! Denn der Meister hat mir offenbart:
»Hier wird einst kein Stein auf dem Anderen bleiben!«, und bei der Verkündigung
Seiner Lehre sollten wir gleichzeitig Schutzstätten gründen für obdachlose
Brüder und Flüchtlinge! — Nun lass uns hineingehen! Meinen Segen und meine
Wünsche hast du schon jetzt zu deiner Wahl."
Wieder im Saale angelangt, bat der Hauptmann nun Magdalena um einige Minuten
Beisammensein im Garten; zögernd stand sie auf und ging mit ihm hinaus. Draussen
aber fiel ihm das Reden schwer; doch als endlich der Bann gewichen, sagte er
entschlossen: „Maria Magdalena! Morgen bin ich schon weit von hier; die Pflicht
gebietet, und ich muss gehorchen! Aber mein Herz bleibt hier zurück, und nur
darum habe ich nochmals Bethanien aufgesucht, um mit dir zu sprechen. Siehe, ich
liebe dich mehr als eine Schwester! Die Umstände verlangen, wenig Worte zu
machen, und so frage ich dich: Willst du mein Weib werden? Ich brauche dich als
Helfer und Berater für mein neues Leben! Ich möchte aus Dank gegen Jesus ein
Heim gründen, wie es hier bei Lazarus ist, zur Aufnahme vieler Freunde der Lehre
Jesu! Mit Lazarus habe ich gesprochen; er will mir gern dabei behilflich sein;
und so bitte ich dich um deine offene Antwort. Wie sie auch ausfallen möge: ich
bleibe immer dein Bruder im Geiste Jesu!"
Magdalena antwortete sinnend: „Lieber Bruder! Auch ich habe schon darüber
nachgedacht, wie ich mein Leben künftig gestalten möchte, um dem geliebten
Meister am besten zu dienen! Ich wollte vorläufig dem Bruder Lazarus mit seinen
Schwestern Maria und Martha hier helfend zur Seite stehen. Siehe, ich liebe nur
Jesus! — Doch Er lehrte mich, Ihn so zu lieben, dass mir aus Seiner Gegenliebe
stets die Kraft zuströme, um andere zu lieben und ihnen ihr Erdenleid zu
erleichtern! Darum könnte dein Wunsch nach einer rechten Pflegestätte für Jesu
Freunde wohl auch der meinige werden. Doch muss ich dir zuvor bekennen: Ich bin
keine Jungfrau mehr! Ich war einst eine tief Gefallene, und nur Jesus allein
danke ich es, dass ich wieder zu einem Menschen wurde! Darum überlege dir deine
Frage noch, lieber Bruder! Nur, wenn ich wüsste, dass dies auch Jesu Wille ist,
möchte ich dir wohl
angehören, da du den Geist und die Erbarmung Jesu in dich aufgenommen hast! Und
nun rede du und sei auch du offen zu mir."
Der Hauptmann antwortete beglückt: ,.Maria Magdalena! Was kümmert mich deine
Vergangenheit? Bist du gewürdigt worden vom Herrn alles Lebens, dass Er, in
Seiner unendlichen Liebe und Gnade, einen Schlussstrich unter dein vergangenes
Leben zog, und dass du Ihm nun dienen darfst, so will ich mich als glücklichsten
Menschen betrachten, wenn du mein Weib werden willst, das ich als ein
Gnadengeschenk der ewigen Liebe dankbar annehme. Ich verspreche dir im
Angesichte Jesu, so zu leben, dass du nie bereuen brauchst, mich als Fremden
deines Landes mit deiner Liebe beschenkt zu haben!"
Magdalena sank bewegt auf ihre Knie und betete laut: „O Jesus! Du Gütiger! In
Deine Hände wollen wir unsere Zukunft legen! Wache Du über uns! Und gibt uns die
rechten Gedanken und richtigen Erkenntnisse, damit wir unseren Bund, gestützt
auf Deinen Geist und Deinen Segen, in Deinem Sinne verwirklichen und zeugen
dürfen von Deiner Liebe, Kraft und Herrlichkeit! Amen."
Da, auf einmal wurde es Licht um sie, und Jesus stand plötzlich vor ihnen. Sanft
sprach Er: „Meine Kinder! Im Geiste reichte Ich euch beiden schon Meine Hände,
nun du Mich aber nochmals gebeten hast um Meinen Segen, so will Ich auch
sichtbar bei euch sein und sage euch: Werdet eins in allen Dingen, im Wirken,
Tun und Schaffen, und lasst Mich jederzeit in eurer Mitte sein, damit ihr allen
drohenden Stürmen gewachsen seid! Denn bis jetzt konnte Ich euer Wächter sein
und konnte wie eine Mutter sorgen und wie ein Vater schaffen! Wenn Ich aber
aufgefahren sein werde, dann kann Ich nur noch in euch wirken und schaffen! Und
dazu ist viel Kraft, viel Demut und volle Hingebung eurerseits nötig! Kein
Schmerz darf euch niederdrücken! Doch den Schmerz eurer Mitmenschen müsst ihr
mitfühlen. Kein Leid darf euch die Freude am Dienen nehmen! Doch das Leid der
anderen soll euch stark machen, das Übel zu beseitigen, welches Leid verursacht!
Keine Sünde darf trennend stehen zwischen euch und den Menschen, denn Ich war
und bin es und werde es für ewig bleiben, der über allen Sünden steht! Überall,
wo die Sünde mit ihrem Verderben verheerend eingebrochen, dahin gehet und
reichet liebend eure Hände zum Helfen und Erretten! Dies sei der Grundstein für
eueren Lebensbund! Sage, meine Tochter, damit alle Engel es aus deinem Munde
erfahren, hast du ein anderes Ziel?"
Tränenden Auges sprach Magdalena: „Nun ich es nochmals aus Deinem Munde erfahre,
Jesus, weiss ich: Das höchste Ziel, es ist nicht an Dir, sondern Du in mir! O,
Herr Jesus, gib mir Kraft zum Gelingen! Dein Wille geschehe und sei auch der
meine." Liebreich antwortete Jesus ihr: „Nun komm an Meine Brust, Mein Kind;
denn jetzt bist du gereinigt! Und nun komm auch du, Mein Sohn, und fühlet beide,
was für Seligkeiten Ich denen bereiten kann, die Mir ihr Erdenleben weihen!"
Nun hörten beide den Gesang himmlischer Engel-Chöre, denn auch viele aus dem
grossen Geisterreiche waren Zeuge dieser gnadenvollen Szene. Dann sprach Jesus:
„Nun habet ihr die Weihe von Mir empfangen für euren Lebensbund! Doch nur
Wenigen kann solch sichtbare Gnade zuteil werden. Bleibet gut und treu! Haltet
fern von euch alle Einflüsse der Finsternis und leuchtet wie ein heller Stern in
aller geistigen Nacht, damit Mein Werk gedeihe, damit der Anfang der Erlösung
allen offenbar werde! Und nun seid gesegnet aus Meinem Geiste der Liebe und der
Tatkraft, damit die Fussspuren eurer Tritte überall verraten und verkünden: Hier
wandelten Gotteskinder! Amen!"
Der Meister war verschwunden! Schweigend und tiefbewegt verharrten beide, dann
sprach der Hauptmann: ,,Maria Magdalena! Vor Gott sind wir nun eins geworden!
Bleibe nun in Bethanien; hier findest du genügend Zeit, allen von unserer Weihe
durch Ihn, unseren Gott, zu erzählen! Ich aber gehe nun gern nach Rom, denn nun
habe ich ein so herrliches Ziel vor mir! Und so wollen wir hier Abschied nehmen,
es ist der Wille des Herrn! Sein Wille geschehe!" Und so gingen sie beglückt
zurück ins Haus.
Lazarus aber schlug vor, noch etwas der Ruhe zu pflegen, da der Hauptmann ja
eine weite Reise antrete, und so lagerten sich die Gäste und machten es sich
bequem; für die Frauen aber waren Zimmer hergerichtet. Als sich der erste
Sonnenstrahl zeigte, wurde es im Hause lebendig; der Hauptmann weckte seine
Soldaten, die Pferde wurden versorgt, und im grossen Gastzimmer hatten sich
schon die Freunde versammelt, um Abschied zu nehmen. Noch einmal drückten sie
sich die Hände, und Magdalena konnte sich der Tränen nicht erwehren. Als der
Befehl zum Abmarsch gegeben war, scheute das Pferd des Hauptmanns (als
Entsprechung der Schwierigkeiten, die ihm noch bevorstanden). Magdalena schrie
auf, aber die starke Faust des Römers behielt die Oberhand. — Noch einmal
grüsste er zurück, und dann ging es in scharfem Trab ins Ungewisse, einem weiten
Ziel entgegen.
10. Rom
Von weitem schon sah der Hauptmann die grosse Stadt, und nun konnte er nicht
unterlassen, seinen Untergebenen zu danken für ihre Treue und Aufmerksamkeit,
wodurch die ganze Karawane nicht einen einzigen Unfall oder Zwischenfall auf
ihrer langen Reise hatte. Mit einem letzten scharfen Ritt erreichten sie Rom und
suchten sogleich die Wachen des Stadt- und Palast-Kommandanten auf. Als der
Hauptmann von seiner Mission an den Kaiser berichtete, sprach der Kommandant:
„Das trifft sich gut! Denn auch der hohe Cyrenius ist hier anwesend; ich werde
dich sogleich anmelden; und die Quartiere für deine Soldaten werden auch
sogleich verteilt."
Hocherfreut dankte der Hauptmann dem Kommandanten, aber im Herzen noch mehr
seinem herrlichen Gott, der alles so wunderbar führte. Nach einer Stunde, als er
sich etwas erfrischt hatte, kam schon eine Ordonnanz mit dem Befehl, sobald wie
möglich sich im Empfangszimmer seines obersten Herrn zu melden, und wenige
Minuten darauf befand er sich dem Kaiser und Cyrenius gegenüber.
Lange schauten die beiden den Hauptmann an, dann erst begrüsste der Kaiser
seinen Hauptmann. Dieser überreichte ihm die versiegelte Rolle des Pilatus,
welche der Kaiser sofort erbrach und las. Inzwischen unterhielten sich Cyrenius
und der Hauptmann miteinander; sie kamen aber zu keinem rechten Austausch, da
sich der Kaiser beim Lesen erregte und dem Cyrenius die Rolle überreichte.
Sinnend schritt der Kaiser im Zimmer auf und ab; als aber Cyrenius alles gelesen
hatte, sagte er zu seinem Bruder, dem Kaiser: „Nun, zweifelst du noch daran? Ich
wusste es längst, dass der Tempel zu Jerusalem nur Lüge und Rache im Schilde
führt."
Der Hauptmann musste nun ausführlich alles berichten, was er wusste und selber
erlebt hatte. Cyrenius konnte nicht genug Einzelheiten darüber hören, denn jetzt
wurde Jesus ihm wieder persönlich lebendig; doch der Kaiser war nicht davon zu
überzeugen, Jesus sei von den Toten auferstanden! Dann erfuhr der Hauptmann,
dass auch der Tempel schon Boten nach Rom gesandt habe, die gestern ihre
Anklagen gegen Pilatus und gegen ihn selber vorgebracht hätten; Cyrenius aber
habe diese Tempelbotschaft sogleich als Lüge erkannt. Hierbei konnte nun der
Hauptmann einen tiefen Einblick in das innere Getriebe des Tempels tun; und nun
erst sah er ein — wie notwendig seine eilige Mission an den Kaiser war.
Vor seinen geistigen Augen erschien das Bild Jesu — in Seiner grossen
unendlichen Liebe zu den Menschen. So erbat er sich noch einmal das Wort, um die
traurige Szene auf Golgatha zu schildern, und schloss mit den Worten: „So endete
dieser wunderbare Mensch, der in Seinem Herzen eine Liebe entfaltete, die auch
das allergrösste Unrecht vergeben konnte! Nicht ein einziger Blick verriet, dass
Er etwa diesem ganzen Vorgang ohnmächtig gegenüber stehe! Nein! — Auch Seine
Jünger und Seine Anhänger geben Ihm dieses Zeugnis: »Er wollte, dass es so an
Ihm geschehe!« Ihre ehrliche Liebe und Liebe-Tätigkeit zu allen Menschen zeugen
von dem Geist der Wahrheit und der Selbstlosigkeit ihres Meisters. Ich selber
habe Jesus nach Seiner Auferstehung gesehen und bekenne frei und freudig: Jesus
lebt! Und wir dürfen nun auch in Seinem Geiste leben."
Cyrenius dankte dem Hauptmann und lud ihn als Gast in sein Haus. Der Kaiser aber
zweifelte an der Rede seines Hauptmanns, zweifelte aber auch an der Botschaft
des Tempels — und überliess darum dem Cyrenius die Fortführung der weiteren
Verhandlungen. Der Hauptmann verlebte nun einige ruhige Tage als Gast im Hause
des Cyrenius und durfte von der Kraft und Herrlichkeit Jesu zeugen. Die Boten
des Tempels jedoch hatten es schwer, denn Cyrenius ging mit ihnen scharf ins
Gericht; doch konnte er sie nicht gefangen setzen, denn sie überbrachten ja nur
den Bericht des Hohenpriesters Kaiphas.
So endete in Rom die Mission des Hauptmanns. Eine grosse Genugtuung war ihm,
dass er hier noch manchen Freund für die Lehre Jesu gewinnen konnte. Dann sehnte
er sich wieder fort nach Bethanien und erbat sich bei Cyrenius, aus dem
Wehrstand austreten zu dürfen, um ganz für das Werk Jesu wirken zu können!
Dieser Wunsch wurde ihm gern erfüllt. Als Kommissar nach Sidon und Asien wurde
er entlassen und trat eine leichtere Rückreise mit seinen Soldaten an. Die Fahrt
auf dem Meere zeigte ihm wiederholt die grosse Herrlichkeit Gottes in Seinen
Werken! Und dankbar lernten auch seine Begleiter dies anerkennen!
11. Ein Fest in Bethanien
Nach Monaten kamen alle wohlbehalten in Jerusalem wieder an. Als die
Formalitäten beim Landpfleger Pilatus erledigt waren, und der Hauptmann in
seinem neuen Beruf als römischer Kommissar anerkannt war, machte er zuerst einen
Besuch bei Nikodemus. Hier erfuhr nun der Römer von den Vorgängen bei Jesu
Himmelfahrt und von der Ausgiessung des lebendigen Heiligen Geistes über Seine
Jünger. Nikodemus schilderte ihm: „Die Templer waren ratlos gegen diese
plötzlich so gewaltige Redemacht der Apostel! Und als einige Priester
versuchten, es so hinzustellen, als seien diese Jünger in trunkenem Zustande, da
ging eine helle Empörung durch alle Zuhörer, und, gleich ob Jude oder Fremder,
alle traten auf die Seite der Jesu-Jünger und verlangten auch nach der Taufe! Im
Tempel gärte es gewaltig! Der Hohepriester war voll Hass und Rache, und ich habe
mich darum vom Tempel losgesagt! Nun werden die Schlechtigkeiten nicht mehr
geheim, sondern öffentlich betrieben! Es wird nicht lange mehr währen, so sind
die Gefängnisse des Tempels voll; denn irgend eine Schuld werden sie an jedem
Anhänger Jesu finden." Bei diesen Worten krampfte sich des Nikodemus Herz in
tiefem Schmerz zusammen! Obgleich Pilatus von der Herrlichkeit des
Auferstandenen auch etwas erfahren und fühlen durfte, blieb er doch der alte,
der den Tempel gewähren liess und auch gewähren lassen musste; denn es waren ja
Juden, um die es sich handelte! Und diese selbst hatten nicht den Mut, von den
Römern - als ihren Feinden - Hilfe zu erbitten.
In der Nacht blieb der Hauptmann noch bei Nikodemus — am Morgen aber befand er
sich schon auf dem Ritt nach Bethanien. Unterwegs traf er zwei Wanderer, die
auch zu Lazarus wollten, und denen er den Weg beschreiben konnte. Von ihnen
erfuhr er, dass sie Flüchtlinge wären, die, um den Verfolgungen des Tempels aus
dem Wege zu gehen, in Bethanien Schutz suchen wollten; denn nach Bethanien
würden sich die Templer nicht getrauen.
Lazarus erwartete den Hauptmann schon voll Freude; denn der Herr hatte ihm sein
Kommen innerlich angezeigt. Gegen Mittag kam er, von allen Anwesenden herzlich
begrüsst, dort an; und lange hielt er Maria Magdalena umschlungen. Nun schlossen
sie auch vor aller Welt ihren Lebensbund, und wiederum war nur ihr Jesus, ihr
treuer Gott und Vater, der Frieden, Glück und Seligkeiten Gebende! Ihre Hochzeit
im Hause des Lazarus sollte ein Fest für alle Jünger und Freunde Jesu werden;
denn Lazarus hielt es für seine Pflicht, Maria Magdalena und dem Hauptmann ein
rechtes Hochzeitsmahl zu bereiten. Alle Freunde Jesu waren geladen, bis zum
einfachsten Arbeiter, und am Abend vereinten sie sich in innerster Verbundenheit
zu einer geistigen Feierstunde.
Lazarus und seine beiden Schwestern waren sehr glücklich in dem Bewusstsein:
»Auch der Meister nimmt teil an dieser Feier!«, und ganz erfüllt davon bat
Lazarus alle Gäste und Hausbewohner, noch bewusster den treuen Meister in ihre
Freude mit einzuschliessen! „Denn die wahre Freude", sprach Lazarus, „ist die
Bekundung rechter Dankbarkeit! So, wie wir nun bitten: Herr! Segne uns und diese
Feier durch Deine Gegenwart, so wollen wir auch gemeinsam danken in innigster
Freude, da Er uns gewürdigt hat, im Geiste himmlischer Harmonien unter uns zu
weilen! Sein herrliches Erlösungswerk
begann, für uns sichtbar, mit der Hochzeit zu Kana! Heute dürfen wir als Seine
Berufenen und Erwählten in der Fortsetzung Seines Werkes auch an einer Hochzeit
teilnehmen.
Damals sorgte Seine Liebe, dass es an Wein nicht mangelte. Heute wollen wir
besorgt sein um den geistigen Wein, der in unseren Herzen erst die wahre Freude
hervorruft! Und so bin ich gewiss, ganz im Sinne des Herrn zu handeln, so ich
dich, Bruder Johannes, bitte, aus dem Tiefinnersten deines Herzens uns etwas zu
schenken von dem, was Jesu Liebe in dich legte."
Nach dieser Aufforderung fühlte Johannes den Strom innerster Gott-Verbundenheit
in sich einziehen — und bat seinen Jesus um die rechten Worte. Dann erhob er
sich von seinem Platze, ging hin zu dem neuvermählten Paar, segnete es und
sprach: „Meine Geliebten! Dem Herrn und Heiland Jesus, welcher Seine Liebe uns
so herrlich offenbart hat, ist es eine rechte Freude, euch glücklich zu sehen!
Vergangen ist alle Trauer, Ihn nicht mehr unter uns zu sehen wie einst! Wissen
wir doch jetzt: Der Herr lebt! — Er ist bei uns und unter uns! Er weiss, warum
Er sich unseren suchenden Augen verbergen muss; Seine Liebe aber begleitet uns
fühlbar und sorgt immerdar, dass es uns, Seinen Kindern und Pfleglingen, an
nichts mangele! Auch dieser Abend und diese von Jesus gesegnete Hochzeitsfeier
sind ein Beweis Seiner fürsorgenden Liebe, mit der Er uns, vor allem dir, mein
lieber Bruder, und dir, liebe Schwester, die Bedeutung und Heiligkeit eurer Ehe
zeigen will!
Schon öfter war es uns, Seinen Jüngern, vergönnt, mit Ihm an einer
Hochzeitsfeier teilzunehmen, und stets legte der Meister Wert darauf, die
Neu-Vermählten, wie auch alle Teilnehmer, über den Zweck und das Wesen der von
Gott gewollten Ehe zu unterrichten. Nicht alle, die solchen Bund für das
Erdenleben schliessen, wissen, dass ohne den Segen von oben die Ehe keinen
glücklichen Bestand haben kann! Im Sinnen-Rausch wähnen viele, sich lieben zu
können; aber bald erkennen beide Teile, dass ihre Verbindung ein Irrtum war!
Eine Ehe aber, getragen vom Geiste wahrer Achtung und reiner Liebe, zeugt einen
besonderen, heiligen Geist, und zwar einen Geist, der nicht Eigentum der Erde,
sondern ein Teil der Himmel ist! Aller Himmel Herrlichkeiten aber liegen wie ein
wohlverwahrtes Gut in den Herzen der Menschenkinder noch verborgen und sollen
durch den Geist himmlischer Gemeinschaft erst geweckt werden! Wir durften es
erstmalig erleben an unserem Meister Selber, der nur mit dem Ihm innewohnenden
Himmelsgut alle glücklich zu machen suchte, die in innere Verbindung mit Ihm
kamen. Seiner Liebe heiligste Aufgabe war, alles zu erlösen, allen ein Helfer
und Heiland zu sein!
Wie eine liebende Mutter alles zu einen und zu ergänzen sucht, was die Welt mit
ihrem Unfrieden, mit ihrem zersetzenden Geist in Verwirrung bringt, so stehest
du, o Bruder, jetzt vor solcher gewaltigen Aufgabe! Und der Herr, unser heiliger
Gott und liebevollster Vater, gab dir darum dieses dein Weib zur Seite, das Ihn
und alle Seine Worte kennt und liebt! In drei Stufen liegt diese Lebensaufgabe
vor dir. Erstens: Suchet mit eurem Körper, welcher die Hülle eurer Seele ist,
stets in die rechte Ordnung zu kommen, damit die zweite Stufe, die Reinheit und
Lauterkeit der Seelenregungen, erreicht werden kann! Dann erst ist der Weg zur
dritten Stufe offen, wo der Geist alles Lebens, welcher der Geist alles
Verstehens und der wahren Liebe ist, sich in euch entfalten und auch entäussern
kann. Darum, lieber Bruder, sage ich dir nicht: Habet euch wahrhaft lieb und
haltet euch die Treue! Sondern ich sage euch: Ringet um diesen Geist, der sich
offenbarte in und durch Jesum, unsern Meister, auf dass euch die Fülle rechten
Gott-Erlebens werde! Dann bist du, o Schwester, ein Handlanger der ewigen Liebe
und ein Hüter und Bewahrer jenes Gutes, welches die ewige Liebe dir schenkte, um
zu dienen und zu beglücken! Ringet, ringet nach der inneren Einheit! Nur im
Eins-Sein könnt ihr vollbringen euer grosses Liebeswerk! Seid euch immer
bewusst: So ihr in der rechten Liebe bleibet, könnt ihr alles, was sich als
Gegensatz an euch herandrängt, auch überwinden! Denn dann werden auch Helfer
erstehen, die aus dem Herzen Gottes zu euch gesandt werden! Ergänzet nun
einander das euch noch Fehlende! Und haltet euch stets vor Augen: Wahre Ehen
werden im Himmel geschlossen! Dann wird all euer Tun zeugen von dem beglückenden
Geiste himmlischer Harmonien in euch! Dann kann es nicht fehlen, dass auch die
Früchte eurer Liebe ein Teil der lichtvollen Himmel sind.
Seid euch aber auch bewusst, dass die Schlange noch nicht tot ist, sondern ruhig
und versteckt auch in euch noch lebt! Darum hütet euch vor ihr und wachet über
den guten Geist in euch, damit der Geifer der Schlange eure Regungen nie
verunreinige. Einer trage in Geduld des anderen Last! Und für immer bedenke,
dass vereinte Kräfte, vereintes Wirken und Schaffen auf dem Wege zum Ziele
doppelt beglücken! Mein Bruder, du warst ein Heide; doch heilig war dir immer
Anderer Glaube. Da du aber nun ein Eingeweihter in unseren Glauben wurdest und
die Weihe dazu vom Herrn Selbst erhalten hast, so wird es dir nicht schwer
werden, deine selbstgewählte Lebensaufgabe, ein Heim für verfolgte Freunde Jesu
zu gründen, nun im Sinn des Herrn zu erfüllen. Dein Weib liebt den Herrn wie
keiner von uns allen, und in ihrem Herzen ist schon erbaut ein heiliger Altar
für Ihn! Achte darum ihr Innen-Leben, dann werdet ihr eins! Und Sein herrliches
Wort: »Mann und Weib — sollen Eines sein!«, wird in Erfüllung gehen! Und Jesus,
unser herrlicher Meister, kann fruchtbringend in euch und dann auch um euch das
Werk Seiner Erlösung fortsetzen. Die leiderlösende Liebe dränge euch zur
Verwirklichung des göttlichen Planes, der auch in euch liegt und euch ahnen und
empfinden lässt, was der Meister noch nicht mit Worten ausgesprochen hat! So
gehet nun euren Weg, getragen von der Liebe all derer, die euch kennen! Blicket
nicht nach dem, was hinter euch liegt, sondern nach oben! Denn von dort erhaltet
ihr alles, was da nötig ist zum Überwinden aller noch bestehenden Gegensätze!
Auch mein Segen begleite euch, und unseres Meisters Liebe und Gnade sei allezeit
mit euch! Amen!"
Aller Augen waren während dieser Rede auf Johannes gerichtet. Magdalena dankte
ihm mit den Worten: „Bruder Johannes! — Deine Worte waren wie ein Begiessen
unserer Herzensblumen, die da die ewige Liebe zu unsrer und zu anderer Freude in
uns wachsen liess! Wenn ich aber alle Worte so recht bedenke, die du aus deiner
Herzens-Liebe für uns beide gesprochen hast, da, lieber Bruder, erscheint mir
unsere Aufgabe doch sehr gross. Ja, so der Herr und Meister noch dann und wann
zu uns käme, so lebte ich in der Hoffnung, Ihm meine Sorgen und Nöte offenbaren
zu können und Rat von Ihm zu erhalten! — Denn erfüllen will und muss ich diese
unsere Aufgaben, das bin ich meinem geliebten Jesus schuldig." —
Johannes antwortete ihr: „Schwester, o Schwester! Mache dir deinen Lebens-Weg
nicht unnütz schwer! Der Meister hat dich geliebt und mit himmlischer Kost
beglückt als Dank für deine Liebe! Meinst du, der Herr könnte je nachlassen,
dich zu lieben? Siehe, erst wenn Er uns sichtbar genommen ist, beginnt für uns
die Zeit der Reife, da wir anfangen müssen, auf uns selber zu achten! Dann
entlasten wir Ihn und bringen Ihm unser Herz zur Freude und Stärkung dar! Dann
ist Seine Zeit gekommen, wo Sein innigster Wunsch erfüllt ist: dass wir immer
verbunden sind mit Ihm durch den Geist freiester, kindlicher Hingabe! Dann ist
nicht mehr Sorge, sondern Kraft und Friede unser Anteil. So lebe nun mit deinem,
von Ihm Selbst dir erwählten Lebensgefährten als Bundesgenosse für Ihn und Sein
Werk! Darum ist Er gegenwärtig, euch fühlbar und vielleicht euch schaubar! Seine
Liebe sei euer Leben und Sein, und eure Hingabe der Dank für alle Seine Liebe!
Amen."
Fröhlich wurde der Tag beschlossen. In allen Herzen glühte der Dank für Jesus,
den geliebten Meister! Denn sie wussten: Wenn auch unsichtbar ihren Augen,
weilte der Herr doch, alle beglückend, unter ihnen! —
So endete dieser Tag als ein Ereignis wie zu des Herrn Lebzeiten! Und lange noch
erzählte man in Bethanien von der Hochzeit des römischen Hauptmanns. Und wie
auch ein Heide ein Werkzeug der grossen Heilandsliebe wurde.
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O, ihr Leser! Wachet alle auf und erglühet in
der Liebe zu Dem, der in Seiner grossen Liebe Sein Leben für uns alle
dahingegeben hat! Der auch uns gedient bis zu dieser Stunde und uns dienen will
fort und fort zu unserer Vollendung! Dies gibt uns erst die Kraft, an Seinem
Erlösungswerke mitzuarbeiten und alle Herzen vorzubereiten, damit Sein heiliger
Fuss diese Erde wieder betreten kann, und Er, geführt von Kindeshand, in Sein
Eigentum einziehe!
Halleluja! Amen!
(Bruder Georg Riehle.)