Heft 04. Rückkehr zum alten Herbergswirt

Inhaltsverzeichnis
01. I. Rückkehr zum alten Herbergswirt
02. II. Erlebnisse bei Sonnenaufgang
03. III. Gastmahl im Haus des Julius
04. IV. Rafael erklärt das Leben im Wassertropfen, sowie das Leben in unserer Innenwelt und im Engel
05. V. Das grosse, herrliche Ziel dieses Lebens aus Gott in allen Wesen
06. VI. Abschied vom Wirt und Rückkehr nach Nazareth
07. VII. Jesu Versuchung
08. VIII. Josefs Heimgang zu seinen Vätern

(In Klammern gesetzte Anmerkungen, die dem Original vom Verfasser hinzugefügt wurden)
 


 
 
I. Rückkehr zum alten Herbergswirt

Schweigend gingen Jesus und Jakob vom alten Zachäus fort, bis Jakob nicht mehr still sein konnte. — Doch Jesus bat: „Sei doch stille, wir verstehen uns auch so! Es geht ja heim; dort kannst du wieder deine Zunge gebrauchen. Aber heute noch kehren wir wieder bei dem alten Wirt ein, der sich im Geist viel mit uns beschäftigt." — Und so kamen sie schweigend, nach langer Wanderung, müde und abgespannt dort an.
Der alte Wirt konnte vor Freude gar nicht genug tun, weil diese beiden nun wieder seine Gäste waren! Besorgt war er bedacht, dass sich beide erfrischten und stärkten und holte den besten Wein aus seinem Keller; nicht weggehen mochte er, bis er überzeugt war: jetzt sind sie gesättigt.
Wie strahlten seine Augen vor Freude, als er sprach: „Oh, Gott sei gedankt, dass ich diese Freude erlebe: Ihr seid wieder meine Gäste! Doch dieses Mal sollt ihr länger bleiben; denn ich muss sagen, seit ihr fort wart, da musste ich immer an euch denken, vor allem an Dich, Du liebster junger Freund!" —
Sagte Jesus: „Auch wir freuen uns, dass dein Herz in Liebe uns entgegenschlägt! Und um so grösser ist Meine Freude, da deine Liebe wahr und echt ist! Und nun du uns dein Haus angeboten hast, so bleiben wir auch bis morgen Nacht bei euch! Denn wir waren fleissig, — da können wir uns schon einen Tag Ruhe gönnen, trotzdem Ich weiss, dass wir zu Hause mit Sehnsucht erwartet werden."
Der alte Wirt fragt nun nach dem Erlebten und Geschaffenen; und so erzählt Jakob von dem Verlauf ihrer Arbeit und zeichnet mit einem Stück Holzkohle den Saal mit Aufgang und Terrasse auf den Tisch. Der alte Wirt staunte und konnte es fast nicht glauben: in der kurzen Zeit — diese Arbeit? Da sprach dann Jesus zu ihm: „Freilich, hätte Jehova nicht mitgeholfen mit Seinem Segen, wären wir heute noch dort beim alten Zachäus! — Doch, Mein lieber Wirt, erlaube Mir, eine Bitte an dich zu richten."
Der alte Wirt nickte mit dem Kopf.
Jesus sagte weiter zu ihm: „Nimm es nicht für ungut, — wir sind heute müde. Wir wünschen nichts sehnlicher als Ruhe und möchten schlafen gehen! — Doch wenn du willst, dann wollen wir morgen, noch vor Sonnenaufgang, einen Gang auf den nahen Berg machen! — Bist du einverstanden?" Eifrig sagte der Wirt zu, führte die beiden in ihre Kammer und wünschte ihnen angenehme Ruhe! —
Dann sagte Jesus zu Jakob: „Diesem Menschen dürfen wir noch die Wunder in der Natur zeigen und ihn aufmerksam machen auf den heiligen, geistigen Sinn in allem Geschehen!"
In kurzer Zeit trat dann völlige Ruhe ein, denn in der Herberge waren heute keine Gäste.


II. Erlebnisse bei Sonnenaufgang

Frühmorgens, als der Wirt wecken will, stehen die beiden schon in der Stube, und sogleich gehen die drei in
den taufrischen Morgen hinein. Schweigend gehen sie; und noch ist es dunkel, da sind sie am Ziel, an einem Berg mit Waldungen, wo reine Zedern in übergrosser Zahl auf den leicht abfallenden Höhen standen. Einen Weg nach der Bergesspitze gab es nicht, doch in kurzer Zeit waren sie oben, wo nur noch wilde Sträucher und Grasarten wuchsen.
Jesus legte sich ins nasse Gras und wischte sich den Tau ins Gesicht, als wollte Er das nasse Gras liebkosen; — dann stand Er auf und wendete Sein Gesicht nach der Morgenröte, die schon die neu aufsteigende Sonne verursachte. „Nun gebt acht auf die Vorgänge auf der Erde, in der Luft und am Himmel", sprach Er, „damit wir einen Fingerzeig erhalten, wie wir uns heute einzustellen haben, wenn alles restlos erfüllt werden soll!"
Blutrot ist alles gefärbt, und die Spitzen der Wolken geben einen überirdisch schönen Glanz; es sieht aus, als wenn ein Gletscher oder ein Wasserfall von vielen Lichtern beleuchtet würde! — Das Bild verändert sich dann, die Wolken teilen sich, und die ersten Strahlen der Sonne machen diesem Bild ein Ende. Unter ihnen, im Wald, ist es lebendig geworden; es ist, als ob alle Vögel sich ein Stelldichein gegeben hätten, und ein Rudel Rehe äugt und eilt zur nahen Quelle. Noch kein Mensch ist zu hören oder zu sehen, — und so geben sich die drei den Schönheiten hin und geniessen in Ruhe den lieblichen Morgen!
Der alte Wirt ist erstaunt, dass die beiden solche Naturliebenden sind und schildert nun auch seine Liebe und Freude an der Natur. Er gibt dann in seinen Worten kund, dass der Mensch doch arm sein müsse, der all diesen Vorgängen in der Natur gegenüber innerlich unberührt bliebe.
Jesus nickt und antwortet: „Arm, ja, insoweit er nichts von dieser Sprache verstehen will, die sein Schöpfer zu ihm spricht! Denn wie kann sich der Schöpfer allen Seinen Geschöpfen gegenüber anders offenbaren", als durch Seine Sprache? Alles Geschaffene trägt Seinen göttlichen Stempel und gibt Zeugnis, dass es nur vom Schöpfer und von der alles durchdringenden Kraft aus dem Schöpfer abhängt!"
Nach einer kleinen Pause spricht Jesus weiter: „Aber nun kommt das Aber: Soll alles Geschaffene nur des Schöpfers wegen da sein? Glaubet ja nicht, dass es so ist! — Viel Grösseres und Schöneres zeigt uns doch die herrliche Pracht in aller Schöpfung! Denn diese Pracht ist da, damit sich die Bevorzugten und Begnadeten, und diese sind die Menschen, daran erfreuen und wünschen sollten, selber Gott oder ihrem Schöpfer in all Seinem Tun ähnlicher zu werden!
Und so ihr nun alles um euch beachtet mit euren Sinnen und mit dem Geist in euch auch verbindet, dann erst werdet ihr erfahren, wie herrlich und schön alles im Innern eingerichtet und auch untereinander eingeordnet ist! Denn aller Schöpfung Glanz ist nur der gerechte Abdruck eurer herrlichen Innenwelt! Ja — froh muss den Menschen alles Schöne stimmen! Doch trüb ist es im Menschen, wenn er nur Trübes zu schauen bekommt. Tagtäglich könnt ihr die Wahrheit dieser Meiner Worte beobachten."
Jesus spricht weiter: „Nun schauet hinunter in das Tal! Dort um den Bach und über dem Wasser die Nebel, wie sie aufsteigen wollen! Aber das Licht der höhersteigenden Sonne drückt sie wieder zurück! Sehet, der aufsteigende Dunst beginnt in seinem Vergehen sich zu realisieren als Tau, als Wassertropfen, um am Grashalm noch Zeugnis zu geben von dem Leben der Siegerin, der Sonne! Ein Funkeln, ein Glitzern! — Ein Meer leuchtender Sternlein bekundet uns das Leben des Lichts selbst im kleinsten Tautropfen!
Schauet weiter: Das Getier, gross wie klein, holt sich seinen Trunk! Beim Suchen von Futter sieht man den Neid, beim Trinken jedoch — Zufriedenheit! Wieder eine rechte Mahnung an das Innere eines Menschen: Alle Eigenliebe, die da aufsteigen will zur vorherrschenden Macht in oder ausser dem Menschen (als Neid, als Nebel in unserm Gemüt)), muss doch zurück in ihre Grenzen! Ja, von der Liebe Gottes in uns, welche das geistige Sonnenlicht ist, wird sie überwunden! Und so wird uns dann alles in der Natur zum Zeugnis für das gewaltige Liebeleben in und aus Gott!
Wie eifern mitunter die Menschen gegeneinander und übersehen so leicht die Grenzen, welche Gottes Ordnung ihnen zog; und daher Verwirrung und Zerrissenheit! Während im Hinnehmen aus Gottes wahrem Lebensquell (Trinken aus diesem Quell bezeichnet: Erkenntnisse über göttliche Gesetze in sich aufnehmen) Alles gelabt wird, der Eiferer wie der ruhig Nehmende! Und so gibt die herrlich-schöne Natur uns manche Kunde von all dem Ahnen, Blühen und Sehnen im Menschenherzen!
Schauet nun die Lämmerwolken ohne Zahl und ohne Grössenmass; ein Zittern durcheilt sie, und wie lieblich blaut der Hintergrund! Wie ruhig und sanft gleiten sie dahin am unermesslichen Firmament und lassen sich ziehen und treiben zum Ziel! Habt ihr schon bedacht, dass diese Wolken euren ganzen grossen Lebensplan darstellen? Seid ihr euch wohl bewusst, dass auch ihr immer getrieben und gezogen werdet von einer Kraft, von einem Geist, der euch, manchmal unbewusst, das grosse Ziel zeigt? —
Wohin aber richtet ihr euer Sehnen und euer Ziel? — Wahrlich, Ich sage euch aus wahrer Bruder- und Freundesliebe: Wo alles Sehnen, alles Treiben und Ziehen im Herzen aufhört (in der Liebe), wird bald auch das innere Leben aufhören! Denn dieses herrliche Innenleben erst ist die Krönung aller menschlichen Kämpfe. Dieses Leben ist Bewusstsein von Fülle und Kraft! Dieses Leben erst ist das Zeugnis von und für die Grösse des Schöpfers! Doch nur derjenige wird hineingeführt in dieses sein Leben, der in allen Lebenslagen bekunden kann: «über mir — der Schöpfer! Alles andere in mir und um mich — durch den Schöpfer!»
Darum, du lieber, alter Freund, bin Ich ja nochmals bei dir eingekehrt, um dir dies zu sagen! — Und so du es glauben, d. h. in dein Leben umsetzen, könntest, würdest du nicht mehr eines Messias warten, sondern schon arbeiten und schaffen in dir für den Erlöser! Denn siehe, was würde einem Volke ein Messias nützen, wenn es nicht an Ihn glauben würde? —
Schau nur die Sonne an! — Unentwegt geht sie ihren Lauf! In der Nacht aber oder an regenschweren Tagen, wie wird sie von den Menschen herbeigesehnt! Was nützt jedoch die herbeigesehnte Sonne, wenn sich die Menschen hernach in die Keller ihrer Häuser verstecken? Was haben sie von den Segnungen des Tages, wenn sie die Nacht lieben? — Denn das Licht der Sonne hat den Tag gebracht!
Siehe, wer die Liebe nicht erkennen lernen will, diese Sonne für alles innere geistige Leben, wer sich nicht bemühen will, Liebe zu üben, Liebe zu pflegen, gleicht denen, die sich verstecken in die dunklen Kammern ihrer Eigenliebe, die keinen Strahl der Bruder- und Nächstenliebe anerkennen wollen.
Und wer hier auf Erden ein Leben ohne diese Liebe gelebt, kann auch nicht durch einen Messias oder Erlöser geheilt werden, weil alles Innenleben, wie geschrieben stehet, auf den Glauben an Göttliches im Menschen gegründet sein muss! — Und nun sage du Mir: Hast du Mich verstanden?" —
„Lieber junger Freund, eine Art hast Du zu reden, dass man, ehrlich genommen, sagen muss: Du hast recht! — Und wenn mir auch nicht gleich alles klar ist, dagegen aber wüsste ich rein gar nichts zu sagen! — Doch, lieber junger Freund, nun kommt ein Aber! — Kannst Du hier alle Bedenken zerstreuen, dann bin ich schon jetzt der Deine und werde mir Deine Reden zur Lebens-Richtschnur machen!
Sage mir, wie kommt es, da es doch allezeit grosse Weise, Gelehrte und Lebenskünstler gab, dass die Menschheit noch keine höhere Stufe erreicht hat? — Siehe: Die Blindheit der Menschen ausnutzend, suchen zum Beispiel die Templer und Genossen nur das Volk auszubeuten, und das auf eine Art, dass einem die Haare zu Berge stehen! — Andererseits siehe die Macht des Geldes, siehe die Macht des Fleisches und die Macht der Herrschsucht! — Alles dies trägt dazu bei, dass der Mensch nicht vorwärts schreitet!
Denn immer dachte ich: Gott ist gewiss gut; und der Mensch, aus Gott, müsste demzufolge auch gut sein! Siehe aber die Menschen an, und du kannst das Gute suchen! Wohl findest du einzelne, aber die bedeuten ein Nichts; und so kannst du wohl verstehen meine Sehnsucht, meine Hoffnung auf einen Erlöser (von all diesen Übeln)! Fünfundzwanzig Jahre warte ich; — doch heute sehe ich ein, es war eine törichte Hoffnung!"
„Du Mein lieber Wirt und Menschenfreund!" antwortet Jesus, „deine Rede und Antwort zeigt mir deutlich, dass du Mich nicht verstanden hast; und so will Ich dir deinen Irrtum zeigen, doch nicht jetzt! Gehen wir ins Haus, du bekommst einen Gast. Aber im Lauf des Tags soll dir Licht und auch Trost werden, dass du dich freuen wirst über deine noch zu erlebenden Erdentage!" Und so gingen sie zurück, ruhig und schweigend. — Der Tag versprach herrlich zu werden; und die taufrischen Wiesen erfrischten und ermunterten die drei stillen Wanderer.


III. Gastmahl im Haus des Julius

Es kam aber schon frühzeitig Julius, der Römer. Eine Ahnung sagte ihm, dass die beiden Freunde wieder in dieser Herberge weilten, und sein Herz schlug freudig, als die drei auf das Haus zugeschritten kamen.
Ein inniges Begrüssen; der Wirt ladet alle ein zum Morgenmahl, und Julius nimmt dankend daran teil. Es wird über dieses und jenes gesprochen. Dann bittet Julius die drei: „Kommt heute zu mir in mein Haus! Seid für heute meine Gäste! Für mich wäre es ein unaussprechliches Glück!"
Jesus sieht den alten Wirt an und bemerkt dessen inneren Kampf; da fragt Jesus: „Warum kannst du dich so schwer dazu entscheiden? Glücklich machen sei in Zukunft deine Aufgabe, und dein Leben wird von Sonnenschein durchdrungen! Ob du Jude und Julius ein Heide? Sag, bist du bis jetzt unrein geworden, wenn dich die Römer besuchten?" Der alte Wirt kämpft mit sich, und die Liebe siegt: „Ja, wir nehmen deine Einladung an, hoher Herr und Gebieter!"
Doch Julius wehrt ab: „So nicht, mein lieber Wirt! Entweder du kommst als Freund und Bruder, oder du bleibst hier! Denn dieser junge Mann zeigte mir, dass alle Menschen Brüder werden sollen; und nur im Sinne dieser Liebe lade ich dich und euch ein."
Er hält dem Wirt die Rechte hin, die der Alte auch ergreift; da nimmt Jesus beide Hände, drückt sie an Seine Brust und sagt: „Auf dass dieser Bund für Ewigkeiten gelte, weihe Ich ihn aus Meinem inneren Geist und sage euch: Bleibet eins im Geiste der wahren, ewigen Gottesliebe! Du, lieber Julius, lasse deinen Geist des Liebelebens leuchten, und du, alter Wirt, bleibe der Gotteswahrheit treu, dann kann kein Sturm euren Bund knicken und zerbrechen! Amen!" — —
Nun drängt Julius zum Aufbruch, und in kurzer Zeit gehen sie der Behausung des Julius zu. Unterwegs erzählte Julius so manches aus seinem Leben, und so währte es nicht lange, und sie waren beim Haus angelangt. An der Tür begrüsste nun nochmals Julius seine Gäste und hiess sie von Herzen willkommen!
Dann gab Julius seiner zahlreichen Dienerschar den Befehl zum Anrichten eines Gastmahls nach der Art der Juden. Vorerst besichtigten sie die grossen mit Reichtum und Pracht geschmückten Räume; dann ging es in den Speisesaal, wo die Diener den Tisch deckten.
Als Jesus nun die goldenen Schüsseln und Teller und Weinkelche sah, die verziert waren nach der Art der reichen Heiden, da bat Jesus den Julius um Entfernung der kostbaren Geräte, um ihn vor Enttäuschung zu bewahren! „Denn", sagte Jesus zu ihm, „wohl könnte Ich Mich meistern und trinken aus einem Kelch mit einem Götzenbild; aber Meinem inneren Geist ist es zuwider! Und darum bitte Ich dich um Erfüllung dieser Bitte!"
Sofort befahl Julius seinem Hausmeister: „Alle goldenen und verzierten Gefässe kommen weg vom Tisch! — Und morgen geht alles Geschirr zum Goldhandwerker, um alles glatt und ohne Verzierung zu machen!" Da reichte Jesus dem Julius dankbar die Hand und sagte: „Mein Julius! Da du mehr tun wolltest, als Ich dich bat, so tue auch Ich es und bitte dich: Alles möge auf seinem Platz verbleiben, denn es ist schon geschahen, was du mit vielen Kosten tun wolltest." Julius erschrak ob dieser grossen Liebe und diesem Wundergeist! Aber Jesus sprach: „Erschrecke nicht! Denn der grossen Gottesliebe ist es eins um Grosses oder um Kleines! Doch prüfe dich und dein Herz, damit es durch diesen Wechsel nicht Schaden leide!" •—
Die Diener sind ebenfalls sehr erstaunt; doch sind sie gewohnt, stumm ihre Pflicht zu tun; und so wurde ein Mahl aufgetragen, eines Fürsten würdig, trotzdem Julius keine Hausfrau sein eigen nannte.
Nach dem Segen durch Jesus begann das Mahl; der goldige Wein liess bei allen die Augen feuriger blicken, und der alte Wirt fand vor Freude fast keine Worte.
Und so verging dieser Tag unter freudigen, heiteren Gesprächen, nur Jesus blieb ruhig. Er freute sich innerlich über die anderen.
Trotzdem Julius oft bat, Jesus möge doch von Seinen Plänen erzählen, antwortete Jesus jedesmal: „Noch ist der Ruf in Mir nicht ergangen! Doch darum seid froh, heiter und glücklich! Ich bin es mit euch! Denn kommen wir morgen nacht heim, dann erwartet Mich wiederum schwere Pflicht! Und Aufgabe ist es für Mich, diese zu erfüllen (sehr wichtiger Hinweis für jeden Höherstrebenden: seine oft schweren irdischen Pflichten als Begrenzung trotz der göttlichen Aufgaben doch willig zu erfüllen, um völlig an ihnen auszureifen), damit Ich nicht über die Grenzen trete, die das Gesetz göttlicher Liebeordnung auch in Mich legte.
Erst wenn alles dieses restlos erfüllt ist, wenn alles in Mir sich heimgefunden zu dem grossen ewigen Lebensziel aus Gott, dann erst sind alle diese Grenzen für Mich verschwunden! Dann bin ich frei und bin eins mit Gott, dem ewigen Urgeist. —
Darum freuet euch heute! Und so ihr einen Wunsch habt, der sich in eurem eigenen inneren Lebenskreis bewegt, und Ich sehe, dass ihr in eurer Entwicklung nicht gefährdet werdet, dann kann er euch heute erfüllt werden!"


IV. Rafael erklärt das Leben im Wassertropfen sowie das Leben in unserer Innenwelt und im Engel

Da leuchtete das Auge des Julius auf und bittend reicht er Jesus die Hand, sagend: „Oh, lass noch ein Stündchen den holden Jüngling kommen, damit auch der alte Wirt ein Zeuge werde von dem grossen, so vielseitigen Gottesleben!"
„Es sei!" sprach Jesus, und die Tür öffnete sich, ein junger Bote trat grüssend an den Tisch, verneigte sich vor Jesus und den anderen und bat, seine Dienste als Geschenk von seinem Herrn annehmen zu wollen. Der alte Wirt staunte den Jüngling an, begrüsste ihn als der Älteste im Hause des Julius und fragte nach dem Woher und Wohin?
Darauf antwortete der Bote: „Lieber Freund der Wahrheit aus Gott! Es bedarf wahrlich nicht der Frage: «Woher und wohin?» bei mir, denn ich bin dort, wo mich mein Herr und Gebieter braucht! Seinen Willen zu erfüllen, ist mir oberstes Gesetz! Und ich könnte auch gar nicht anders, weil ich nur von dem einen Trieb durchdrungen bin, zu erfüllen meine heilige Pflicht aus Gott, dem ewigen Schöpfer Himmels und der Erden.
Dir erscheint dies unglaublich? Und doch wirst du später diese Wahrheit und auch den erkennen, der die ewige Wahrheit ist, der mich rief in diese Mitte, um dir, gerade dir, einen Beweis dankbarer Gottesliebe zu erbringen, weil Er dich würdigte, dem zu dienen, dem wir mit innerster Freude dienen.
— Und so gebt nun auch ihr, meine Freunde, eure Wünsche kund, damit ich euch diene!"
Da fragte nochmals der alte Jude: „Wer ist denn dein Herr, was tut Er, und was tut ihr? Denn es ist nicht Neugierde von mir, nur klar sehen möchte ich. Und so plötzlich zur Tür hereinzukommen!"
„Lieber alter Freund! Frage nicht um Nichtiges!" antwortete der Jüngling. „Denn mein Herr ist auch der deinige; es ist der ewige Gott und Schöpfer, dem wir Alle unser Sein verdanken! — Seit Ewigkeiten bin ich mir dessen bewusst! — Und es gibt keine grössere Seligkeit für mich, als Ihm zu dienen!
Und darum bin ich hier! Mein Herr und Gott berief mich, und so nehmet nun meine Dienste an!"
Erstaunt schaut der alte Wirt; — er schaut von oben bis unten den Himmelsbewohner an und schüttelt ungläubig das Haupt.
Da sagt Julius: „Meine teuren Freunde, o glaubt mir: Wie will ich in Zukunft mich bemühen, um eurem und nun auch meinem Gott zu dienen! Denn es ist offenbar geworden für mich: Er ist die ewige Liebe! All Sein Leben zeugt von dieser Liebe, und darum glaube ich an Ihn! Und du, junger Bote aus den Himmeln, zeige du uns noch etwas von all dem Leben, das mit unserem Gott und gütigen Schöpfer so eng verbunden ist!" —
Da sprach Rafael: „Da ihr keinen besonderen Wunsch äussert, so lasse doch von einem Diener einen Krug Wasser und einige Becher bringen!" — Das geschah auch sofort. Rafael schenkte zwei Becher voll und sagte: „Was wir hier haben, ist Wasser, reines, dem Brunnen entnommenes Wasser! Und da ihr keinerlei Ahnung habt, was alles in diesem Wasser sich befindet, so will ich hier, durch die Kraft und Güte Gottes, nur einen Tropfen von diesem Wasser vergrössern ums Hundertfache!"
Und er tauchte mit dem Finger ins Wasser, zog ihn wieder heraus, und ein Tropfen Wasser hielt sich an dem Finger fest. „Ich will, dass der Tropfen sich vergrössere! — Und nun schaut einmal, was sich da alles in diesem Tropfen befindet!" — Da wurden ihre Augen gross, als sie Leben über Leben sahen! Tierchen, wie sie sich paarten, Junge zur Welt brachten und auch wieder starben! Und sie konnten es nicht begreifen, all dieses Leben und Sterben! —
Und so wurden sie belehrt; dass diese Tierchen sonst längere Lebensdauer haben, aber das Licht von aussen tötet sie; und doch, im Sterben noch, geben sie nochmals jüngeren Lebewesen das Sein. Und so wiederholte Rafael noch öfter dasselbe. Auch die anderen hielten an ihrem Finger einen Tropfen Wasser und konnten nicht genug diese Wunder über Wunder beschauen.
In einen Becher mit Wasser liess nun Rafael eine Rinde Brot fallen und machte den Becher durchsichtig. Und so sahen sie, wie durch das Brot dem Wasser andere Lebewesen zugeführt wurden! — Und sie besahen den Kampf dieser sonst für das Auge unsichtbaren Lebewesen. Nach einer halben Stunde aber hörte alles Leben auf.
Und so füllte Rafael mit frischem Wasser den durchsichtigen Becher und sagte: „Nun wollen wir das Licht abhalten!" Er hauchte den Becher an, und alsbald hatte er eine tief dunkelrote Farbe; doch gegen das Licht gehalten, war noch alles klar und deutlich zu sehen, und so beschauten sie noch eine Weile den Inhalt.
Dann legte Rafael eine halbe frische Feige ins Wasser, und was die Freunde nun schauten, ging fast über ihr Verstehen. Aus der Feige kamen immer mehr Lebewesen, und es war, als wenn jedesmal ein Grösseres und viele Kleinere hervorgingen! Das Grössere war in der Mitte und die anderen um dasselbe; und so bewegte sich alles doppelt und dreifach. Doch leider mussten sie auch sehen, dass alle früher dagewesenen Tierchen von den Grösseren aufgefressen wurden! Und so fragte Rafael: „Möchtet ihr nun diesen Becher austrinken?" Da verneinten alle.
Nun liess Rafael die dunkle Hülle fallen, und hell erstand das Wasser wieder vor ihnen, jedoch nach einer Weile hörte wieder alles Leben darin auf. — Nur kleine Bläschen kamen noch aus der Feige und stiegen in die Höhe. Weiter wurden sie belehrt, dass dieser Vorgang aus dem Licht hervorginge, und dass auch in diesen Bläschen noch Lebewesen existierten, jedoch auch hundertfach vergrössert, für das Auge noch unsichtbar! „Späteren Geschlechtern erst wird es vorbehalten sein, auch dieses zu erschauen, was ihr hier erschauen durftet!
Und so habt ihr hier Gelegenheit gehabt, einiges aus all dem Leben dieser herrlichen Welt zu schauen, die nur um euretwillen der Herr ins Dasein stellte. So klein auch dieses Leben in der gesamten Materie beginnt, wie ich es euch hier zeigen durfte, so gross ist es aber doch auf anderen Welten! So gross, dass all dieses Leben unfassbar wäre für eure Sinne!
Doch es sollen meine Worte ja nicht dazu dienen, um euch neugierig zu machen! O nein, nur bezeugen sollen sie die grosse Allmacht und Weisheit unseres Herrn, des lebendigen Gottes, der sich in diesem Leben aller Seiner Schöpfungen widerspiegeln will!"
Rafael fuhr fort: „Und weiter will ich euch nun Kunde geben von der mir innewohnenden Kraft und Intelligenz als Leben aus Gott in mir! Du alter Wirt und treuer Jude, dir könnte ich dein ganzes Leben aufrollen von der ersten Stunde deines Daseins an! Und so will ich, dass du selbst auf einige Minuten dein vergangenes Leben in dir erschaust!"
Damit erfasste Rafael seine rechte Hand, und was Worte nicht vermochten, das brachte diese Gnade zuwege! Denn hier griff die ewige Liebe in sein innerstes Herz und stellte alle früheren Momente seines Lebens vor sein geistiges Auge, bis er selbst sagte: „Nun ist es genug! Es ist alles Wahrheit! Lebendige Wahrheit ist es! Und so erlebte ich jetzt nochmals mein ganzes Leben! — Wie ist es aber nur möglich in dieser kurzen Zeit?" —
Auch hier belehrt nun Rafael die Anwesenden, dass, wenn die Seele die Leibeshülle verlässt, es kein Vergangenes, sowie auch kein Zukünftiges mehr für sie gibt, sondern alles ist Gegenwart. — Doch gilt dies Gesagte nur bedingt, nur für die in der Gottesordnung verlebte Erdenzeit.
„Du, alter Freund, der du dich treu bemühtest, vor Gott und Menschen gerecht zu leben, du konntest Vergangenes erschauen ohne zu erschrecken! Und Zukünftiges hielt ich mit meinem Willen zurück, damit du in deiner Entwicklung zur geistigen Freiheit nicht gebunden bist! — Und so geschehe nun der Wille Gottes an euch allen!" Und nun lässt Rafael die Freunde schauen die herrliche, gnadenvolle Liebe und Erbarmung Gottes in schönen Bildern und Gleichnissen und schliesst mit dem herrlichen Wort: „Niemand kann vom Himmel reden, als nur der, der vom Himmel kommt! Nun aber die ewige Gottesliebe selbst Fleisch angezogen, so wird nun das Geschlecht der Menschen zubereitet, sich selbst im eigenen Innern einen neuen Himmel zu gründen! Und dies durch den Geist dieses Lebens aus Gott, und dieser Geist heisst und wird ewig heissen: Liebe! Liebe, die herrliche reine, für menschliche Sinne unfassbare! Aber im Herzen derer wahrnehmbar, die da ernstlich suchen und sich bemühen, zu helfen, zu fördern und zu erlösen.
Dieser Liebe gehört die Zukunft! Von dieser Liebe hängen ab alle Geschicke der Menschen und Wesen! Von dieser reinen, ewigen Gottesliebe ist nur ein Stäubchen nötig, um jedes Menschenherz froh und frei zu machen! So lasset nun in euch das Fünkchen Liebe wachsen, denn es ist das Leben Gottes in euch!
Es ist geboren aus der Allkraft Seiner Liebe zu euch und ist und bleibt ein ewiges Eigentum unseres Herrn und Gottes! Denn auch in Zukunft wird und kann kein einziger Mensch solche Taten der Liebe aus sich vollbringen, die auch ich nicht aus mir, sondern im klarsten Bewusstsein aus der Kraft Gottes in mir wirkte!



V. Das grosse, herrliche Ziel dieses Lebens aus Gott in allen Wesen

Der Tag ging seinem Ende entgegen. — Da bat Jesus: „Lasset uns auseinander gehen, es ist genug für heute! Und du, lieber Rafael, zeige uns zum Abschied noch das grosse Ziel all dieses Lebens aus Gott in dieser dunklen Materie hier; dann sei es genug!"
Da vergingen die Wände vor ihren Augen, und alle Materie löste sich in geistige Welten auf! Und aus dem Dunkel quoll Licht über Licht! Und in diesem Licht der Wahrheit erschien noch ein anderes Licht. Und Wesen über Wesen lebten in diesem Licht und wurden eins mit demselben!
Und eine Stimme ertönte:
„Es ist vollbracht das grosse Werk der Liebe und ausgelöscht der Hass und Neid, vergeistigt alles, was noch bös' und trübe, und trägt nun der Erlösung Kleid! Halleluja! Amen!"
Ehe sich die Anderen besinnen konnten, war Rafael verschwunden. Noch über eine Stunde waren alle still und zehrten von dem grossen, wuchtigen Erlebnis.
Da sagte Jesus zu Jakob: „Dieses war der Abschluss unserer Reise! Verschweige es vor Meinen Brüdern; nur Maria und Joseph kannst du davon erzählen. Und ihr, liebe Freunde, seid auch ihr so klug und schweiget vor jedermann; und hoffet ja nicht, dass Ich euren stillen Wünschen entgegenkomme! Erst dann, wenn Gott Mich beruft! — —
Wann dieses geschieht, ist ungewiss! Noch muss Ich vieles einen in Mir und um Mich! Und so wollen wir noch gegenseitig uns dienen und uns dann trennen in dem Geist dieser Liebe nach dem Willen Gottes!"
Und so geschah es. Niemand fragte nach Rafael; es war so selbstverständlich, dass er verschwunden war, und innerlich doch so beglückend, dass Gott ihnen so vieles Schöne gab.
Der Abschied zwischen Julius und Jesus war rührend, und einmal über das andere Mal umarmte Julius seinen Jesus.
Und dann wurde Julius samt seinem ganzen Haus noch gesegnet von dem alten, biederen Wirt. Bis ziemlich an dessen Behausung begleitete Julius seine lieben Gäste, dann eilte er heim.


VI. Abschied vom Wirt und Rückkehr nach Nazareth

Der alte Wirt frohlockte innerlich, er wusste nun: Dieser ist der Messias! Und im Hause angekommen, bat er Jesus und Jakob, dauernd hier zu bleiben, was aber Jesus entschieden ablehnte, indem Er dem alten Wirt Seine Pflichten und Seine Mission begreiflich machte! — „Dass du Mich erkannt hast, ist ein grosses Glück!" sagte Jesus zu ihm. „Lebst du aber erst einmal aus Meinem Geist, dann bist du selig und bist entbunden von aller Welt! Denn der in Mir lebt, will auch leben in dir! Dann sind wir Brüder auf ewig! Noch aber ist es nicht soweit; ringen wir darnach, damit es werde! Gott gibt Kraft und Segen!"
Nun musste Jakob noch so manches erzählen, und nach dem Abendmahl suchten sie ihr Lager auf.
Zeitig verliessen sie das Haus. Der alte Wirt begleitete die beiden noch eine Stunde weit, bis Jesus bat: „Gehe nun heim, denn dort erwarten dich Pflichten! Und wenn Ich dich bitten darf, besuche Mich nicht in Nazareth, denn dort könnte Ich dir nicht so dienen, wie du wünschst, und könnte dir nicht geben, was du suchst! Suche es in dir, und du wirst es finden!
Begnüge dich mit dem, dass du immer Gott vor Augen und noch mehr im Herzen hast! — Und niemand wird dich mehr enttäuschen, ob Jude, Priester oder Heide!
Wenn Meine Zeit gekommen, bringe Ich euch auch keinen Himmel und keinen Gott, sondern zeige nur und bereite allen den Weg zu Ihm! Und dieser Weg führt ins eigene Innere! (Da besiegt die Feinde des Lebens! Da pflegt die sanfte Stimme des Gewissens)
Und darum ziehe nun heim in diesem Frieden und grüsse herzlich aus Meinem Liebegeist Meinen Bruder Julius! Friede sei mit dir! Und gesegnet seien deine Schritte, gesegnet dein Tun, so es immer aus dem Geiste der ewigen Gottesliebe geschieht!"
Und so trennten sich die drei. Der Alte beschattete seine Augen, Tränen rollten in seinen Bart; und so lange er noch die beiden sehen konnte, blieb er stehen und segnete sie mit beiden Händen. -— Dann ging er heim in seine Behausung. Die beiden aber gingen schnell; sie unterhielten sich nochmals ausführlich über all das Geschehene, bis dann Jesus sagte: „Weisst du, lieber Jakob, um eines ist Mir manchmal bange, und Ich wage gar nicht daran zu denken, dass gerade du umfällst! (nicht standhältst — wegen der wiederkehrenden Zweifel!) Und so lass Mich dich herzlich bitten: Blicke nur auf Mich und Mein Tun! Frage du, wie früher, nur in deinem Herzen, dann wird dir alles klar, und du wirst Mir Helfer und Stütze!
Kommen wir heim, beginnt wieder neuer Kampf, und schwerer noch wird er werden! Denn Ich versichere dir, die Gegner setzen alle Hebel in Bewegung, um Mich zu erschüttern in Meinem Lebensprinzip! Und Ich muss zu vielem schweigen! — Schweigen und immer wieder schweigen! Wo aber glaubst du denn, wo Ich zu dem allen den Mut finde und woher die Kraft Mir wird zum Widerstand?
Im Schweigen. —
Und so füllt sich Mein Herz mit Trauer und mit Liebe! Denn ein jeder Tag zeigt Mir Mein grosses Ziel! Doch immer, in der Stille, da rufe Ich Mir selbst zu: «Bleibe fest! Bleibe stark! Nicht einen Schritt zurück! Nur vorwärts sei Mein Streben!» Und so habe Ich Mich erprobt und habe gefunden, dass Ich, wenn Ich will, auch kann! Denn alles Können hängt vom Willen ab! Doch aller Wille muss sich dem erkannten Gotteswillen beugen! Dann erst wird frei das Innere und voll, übervoll das Herz, das in Liebe schlägt für Gott und alle Menschenbrüder!
Somit freuen wir uns unserer Liebe! Denn auch diese ist ein Geschenk aus Gott und ist uns gegeben zum Dienen!"
„Mein lieber Jesus", sprach Jakob langsam, „nun kommt schon wieder ein Zweifel, und ich glaube, das muss an Nazareth liegen! Denn fern von der Heimat da glaubte ich, du seiest Gott, und war froh und frei! Doch nun wir wieder bald zu Hause sind, da sehe ich, Du bist Mensch und doch nicht Gott! Sage, wie kommt das?"
Jesus lächelte und reichte Seinem Jakob die Hand, sagend: „Du musst noch vieles lernen und alles alte begraben lernen! Merke auf: Ich bin Mensch wie du und trage göttliches in Mir, genau wie du!
Gehe ein in Gott, wie Ich es tue, dann einest du dich mit Gott! Denn Gott will Seinem inneren Liebewesen nach nichts mehr sein, sondern nur in Seinem Kind alles!
Darnach ringe Ich! Ringe auch du darnach! Dann wirst du nicht nur mit Gott dich einen, sondern auch mit Mir!
Und so, wie wir eins geworden, kommen dann andere Menschen noch dazu! Und dann erst ist Gewähr vorhanden, dass diese Saat der ewigen Liebe aus Gott Wurzel geschlagen hier auf dieser Erde! Und aus dieser Saat werden Kinder des Lichts, Kinder der Liebe gezogen und erzogen, die da mithelfen und fördern das Leben aus Gott. Und darum lerne du von Mir, und dein Wille werde zur Tat!"
Ruhig zogen sie des Wegs. — Und mit dem Untergang der Sonne erreichten sie ermüdet, von den daheim Gebliebenen sehnsüchtig erwartet, ihre Heimat!
Jakob erzählte abends noch von dem schönen Bau und von der Liebe und Gastlichkeit des alten sowie der Anhänglichkeit des jungen Zachäus.
Und der alte, greise Josef umarmte Jakob und Jesus aus Freude über das Gehörte; denn er hatte keinen anderen Dank. Josef, der immer Worte hatte, heut war er still, denn seine Freude nach dieser Trennung war zu gross. Und so gingen alle nach dem Abendsegen zur Ruhe. — —
Und somit ist beendet diese Szene, welche ein geweihter Akt war in dem Leben des Jünglings Jesus!


VII. Jesu Versuchung

Die rauhe Jahreszeit war vorüber; — der einsetzende Regen sagte den kommenden Frühling, doch auch die vermehrte Arbeit an, und so begann auch im Hause Josefs ein reges Leben.
Der alte, greise Josef konnte nun nichts mehr tun; nur müde fühlte er sich; und Maria gegenüber verhehlte er auch nicht, dass er am liebsten heimginge zu seinen Vätern.
„Aber die Sorge um Jesus beengt mein Herz! Hätten wir doch Jesus und Jakob im vorigen Jahr nicht ziehen lassen, denn mit Seiner Ruhe und Seinem Verschlossensein hat Er sogar Jakob angesteckt! Arbeiten tun sie beide mehr als zuviel - aber es gefällt mir nicht: Warum bleiben sie so allein? — Warum öffnen sie uns gegenüber nicht ihr Herz? Das ist mein Kummer! O Gott! Wie wird das enden? — Wann hören diese Prüfungen auf?" —
Und jede Klage tat Maria weh, denn sie wusste nicht, was sie dem Josef antworten sollte.
„Wie gerne", spricht Josef, „hätte ich Enkelkinder auf meinen Armen getragen; — aber es ist mir leider nicht vergönnt! Sage doch: Warum will Jakob nicht ehelichen? — Bei Jesus ist es ja ausgeschlossen, da Seine geistige und göttliche Mission dieses nicht zulässt! Aber bei Jakob? — O Mein Gott! Lass mich nicht irre werden!"
So gehen seit Wochen die Reden, doch Jesus und Jakob tun, als hören und sehen sie nichts!
Es ist wie eine stumme Abmachung zwischen diesen beiden. Förmlich verwachsen sind sie, ruhig bei der Arbeit, noch ruhiger bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten, und auch der häufige Besuch bringt sie nicht aus ihrer Reserve.
Maria ist dies gewöhnt und fügt sich; sie weiss bei Jesus warum und wozu, aber Jakob macht auch ihrem Herzen Unruhe.
Da kommt eine entfernte Verwandte auf Besuch, um, wenn möglich, dauernd im Hause Josefs zu verbleiben, wie es unter den Vätern schon vereinbart ward. Gabi hiess dieses Mädchen, und gross, schlank, flink wie ein Wiesel war sie; Josef gedachte Jakob mit der Gabi zu verehelichen, und so sagte er auch dieses zu Jakob.
Doch Jakob antwortete: „Lieber Vater! So es Gottes Wille ist, will ich es ja tun; doch muss ich mich und Gabi vorerst prüfen, ehe ich sie zum Weibe begehren kann! So lass mir Zeit; — sei versichert, ich werde mich bemühen, dir ein guter Sohn zu bleiben!"
Ebenfalls freute sich Maria über Jakob, dass er doch diesem Gedanken einmal näher trat; und so taten alle ihre Pflicht. — Was aber tat die neue Hausgenossin? Vorerst fügte sie sich streng der Hausordnung Josefs, doch ihr Herz und ihre Sinne zogen sie zu Jesus hin!
Jakob merkte dies bald, und so gab es auch bald eine Aussprache, die dem Haus Josefs unendlichen Kummer brachte.
Gabi liebte Jesus und nicht Jakob, und sie erklärte kurz: „Nie können wir uns ehelichen! Diesen Betrug an meiner Liebe kann ich nicht begehen! Entweder Jesus oder keinen!" —
Wie litt Maria um dieses schöne, tugendsame und fromme Mädchen; wie eine Mutter hütete sie sie; doch wo nur Jesus allein war, da war das Mädchen bei Ihm!
Bis Jesus sagte: „Gabi! So geht es nicht weiter! Ich kann und darf dich nicht freien! Du bildest dir ein, Mich zu lieben, doch es ist Selbstbetrug! Was du Liebe nennst, ist nur ein Begehren Meines Leibes. Gehe! Gehe! Unter diesen Verhältnissen bist du Mir lästig!"
Gabi aber hörte nicht und warb ganz offen um Jesus.
Noch einmal verwies Jesus, erst demütig bittend, dann scharf, dem Mädchen diese Art und sagte klipp und klar:
„Nie kannst du Mein Weib werden, weil Gott Mich zu Anderem, Gewaltigerem bestimmt! Darum, Gabi, nimm Vernunft an, und du kommst einem endlos grösseren Glück näher! Einem Glück, welches diese Erde noch nicht kennt! Darum halte Mich nicht auf! Durch Mich wird der Weg gebahnt zu diesem grossen, gewaltigen Lebensglück!"
Gabi liess sich beruhigen; aber nach kurzer Zeit begann der Kampf aufs neue.
Jesus war allein im Haus, es war am Sabbat. Josef, Maria und die anderen waren alle in der Synagoge, — nur Jesus blieb im Haus. Denn seit Gabi im Haus war, sonderte sich Jesus noch mehr auch von Jakob ab, um einerseits Jakob nicht zu beeinflussen und andererseits, um sich noch mehr zu verinnerlichen!
Gabi musste es wohl wissen, dass Jesus im Hause verweilte, und suchte Ihn in Seiner Kammer auf, wo Er auf Seiner Liegestatt ruhte.
Jesus wollte sich erheben, da bat Gabi: „Bleibe ruhig liegen, — ich muss mit Dir sprechen und ins Reine kommen, denn ich halte es nicht mehr länger im Hause Josefs aus." Und so enthüllte Gabi nochmals ihr inneres Liebeleben und bat Jesus, doch Sein Vorhaben aufzugeben und in ihren Vorschlag einzuwilligen.
Jesus stand auf und sagte: „Gabi! Und wenn du Mir alle Schätze der Erde geben, und wenn du Mich tragen würdest auf deinen Händen: Ich darf der Deine nicht werden, nie sein! Bedenke doch, was Ich dir schon so oft sagte! Warum verfolgst du Mich mit deiner Sinnlichkeit! Ich kenne nur eine Liebe, und diese ist frei von Leidenschaft! Diese reine Liebe will nichts begehren, nur opfern! Und weil Ich auch dich in und mit dieser Liebe liebe, so sage Ich dir: Gehe fort! Gehe so lange fort, bis du überwunden! — Dann komme wieder, und unser Haus steht dir offen!"
„Mein Jesus! Nie gehe ich fort! Selbst Deine Mutter sagte mir, ich bin ihr als Tochter willkommen; und so weiche ich nicht von hier, von dem Platz, der meiner Liebe gehört!"
So wollte nun Jesus gehen, und traurig war Sein Blick. — Da eilte Gabi zur Tür und schob den Riegel vor. „Nein, ich lasse Dich nicht!" rief sie und wollte Jesus umarmen. Er aber schob sie sachte zurück und ging zur Tür. — Da stürzte Gabi vor Ihn hin: „Jesus! Tue mir das nicht an! Gehe nicht fort! Siehe mich an, ich bettle Dich an um Deine Liebe!"
Doch Jesus lächelte traurig und schüttelte verneinend den Kopf. —
Gabi aber stand entschlossen auf, riss ihre Kleider vom Leibe und stand im nächsten Augenblick nackend vor Jesus. „Hier, nimm mich! Ich kann nicht anders!" — So waren ihre Worte, und Jesus wollte schon Seine Hände nach ihr ausstrecken, da auf einmal erschauerte Er vor dieser grossen Versuchung. -
Er schob den Riegel zurück, liess das Mädchen allein in der Kammer, und wie von Furien getrieben eilte Er aus dem Haus, nach dem Wald, dem Gebirge zu!
Beschämt erwartete Gabi Jesus. — Er aber kam nicht! — Und so ging sie vor das Haus, um die Familie Josefs zu erwarten.
Zu Ehren Gabis muss hier gesagt werden: Sofort nach Erscheinen der Familie verlangte Gabi eine Aussprache mit Josef und Maria und verheimlichte nichts und bat um Verzeihung: „Denn meines Bleibens ist nun nicht länger!" Und so ward beschlossen, Gabi sollte noch zwei Tage bleiben, wollte sie doch von Jesus erst Verzeihung erhalten, dann aber heimkehren.
Aber Jesus kam nicht zurück! Eine volle Woche verging. Von Jesus kam keine Kunde! Niemand hatte Ihn gesehen! Da ward im Hause Josefs wieder grosser Kummer; Gabi weinte von früh bis abends, und selbst des Nachts fand sie keinen Schlaf.
Einmal, mitten in der Nacht, ruft jemand: „Gabi! Komme! Ich brauche dich!" — Da steht sie auf, sagte zu Maria noch: „Jesus ruft! Er braucht mich! Ich gehe zu Ihm!" — und so eilte sie zur Türe hinaus.
Finster war es, und allein eilte sie fort, unbekannten Weges; alle ihre Sinne sind nur auf Jesus gerichtet, und so merkt sie nicht, wie Stunden vergehen, wie der Tag anbricht, um mitten in der Einöde, auf dem Gebirgskamm an Schluchten vorüber eilend, endlich anzukommen an einem unbekannten Ort, wo Jesus sehnsuchtsvoll sie erwartet!
Endlich ist sie bei Ihm! —
Doch als sie auf Ihn zustürzen will, da bleibt sie drei Schritte vor Ihm stehen, sieht Ihn an und fängt an zu weinen: „O mein Jesus! Was habe ich Dir angetan! O vergib mir! Ich vergass, was Du mir so oft sagtest." Mit diesen Worten geht sie auf Ihn zu und reicht Ihm beide Hände hin.
Jesus aber spricht: „Gabi! Um Meinet- und um deinetwillen musste Ich alleine sein! Um Meinetwillen, weil Ich überwinden muss, was noch als Seele, als Niedriges in Mir lagert! Um deinetwillen, weil du für Ewigkeiten glücklich sein sollst!
Siehe, dein Leben darf nicht an das Meine, nach irdischen Begriffen, gekettet sein, — weil du einen anderen Mann noch lieben lernen wirst! Und später wirst du Mir danken, wenn Ich dich und deine Kinder segne! Und wirst dann auch dieses, Mein hohes, heiliges Liebeswerk erkennen, das Ich vollbringen werde zum Heil aller Menschen!
Und so, Gabi, verstehe Mich und lass uns diesen Tag hier allein sein; bei Nacht gehen wir dann heim!"
Erschreckt sieht sie Jesus an und sieht sich um und erschrickt noch mehr, als sie die Umgebung sieht! Denn auf dem Hinweg eilte sie achtlos an allen Gefahren vorüber.
„Jesus! Jesus! Wo sind wir?" fragt sie entsetzt. — „Warum hast Du mich hierher gerufen? Warum kamst Du nicht heim? Denn dort lebt doch alles in Sorge und Kummer um Dich! Und nun ich auch noch fort bin, vergrössere ich noch das Leid! Komm, lass uns heimgehen und gutmachen, was ich an Leid euch zufügte."
„Gabi! So gefällst du Mir besser! Aber heimkehren werden wir erst zur Nacht, damit dein Ruf nicht leidet. Wir beide aber müssen uns wahrhaft erproben, ob alles Sinnliche und Fleischliche überwunden. Schaue Mich aber nicht so entsetzt an! Fürchte dich nicht, sondern freue dich, weil dieser Kampf in Mir zu Ende, und du brauchbar gemacht wurdest zum Werkzeug der ewigen Liebe!
Gabi! Schaue um dich! Die am Himmel stehende Sonne, als Bundesschwester der ewigen Liebe, grüsst uns. — Ihr Licht zeigt uns unsere Bestimmung: Diesem Liebelicht entgegen zu eilen, um selbst zum Lichtspender zu werden: als Mensch — für den Menschen, und als Mensch für alles Geschaffene!
Und darum müssen wir hoch — und entbunden dastehen; hoch über allem Niedrigen, entbunden von dem, was uns noch zur Sünde reizen könnte! Dann erst dürfen wir anfangen, zu wirken im Sinne Jehovas, das heisst im Geist Seiner erlösenden Liebe!"
Wie Schuppen fällt es dem Mädchen von den Augen, und sie ersieht nun in Jesus die allerreinste Gottesliebe! Sie geht auf Ihn zu und spricht feierlich: „O Jesus! So hilf mir, dass ich Dir dienen lerne und Dir Schwester werde!"
Vergangen war alle Leidenschaft, vergangen der Wunsch, Jesus zu besitzen!
So fragte sie Ihn: „Ja, wovon lebst Du denn hier oben? Auch ich habe Hunger; hast Du gesorgt für Speise und Trank?" — Da lächelte Jesus. — Ein Strahl von reinster Liebe traf das Mädchen, und Er sprach:
„Gabi! Sorge dich nicht darum: Was werden wir essen und trinken?
Wir zehren von dem, was der innere Mensch uns gibt. Und gerne und willig lässt sich der äussere Mensch, wenn einmal die Grenze des Natürlichen überschritten, erhalten davon!
Denn siehe: im Grunde ist ja auch alles dieses, was wir irdisch geniessen, aus dem Geist und dem Leben einst hervorgegangen, das da eins ist mit dem inneren Menschen! Du verstehst dieses nicht, weil du noch nicht in diese hohe Lebensschule gestellt wurdest. Doch sei unbesorgt, wir hungern nicht!"
Nun erzählte Jesus dem Mädchen von Seinem grossen Kampf und schilderte die Art und Weise, wie Er sich stählte, und wie alles sich beugen musste diesem Seinem in der Tiefe erkannten Lebenswillen.
Und Gabi lebte sich in Jesu Innenleben hinein und ersah dann all das innere Leben, das sich in Ihm offenbarte, hier in dieser Einsamkeit!
Und so bezeugte Jesus: „Diese Versuchung war einer Meiner stärksten Kämpfe! Und darum, Gabi, enthülle dich nun! Fürchte dich nicht, etwas zu entweihen, sondern suche zu heiligen und zu weihen das wachsende und treibende Gottesleben in dir!"(Das Liebeleben in seiner vollen Selbstlosigkeit)
Und so enthüllte sich Gabi. Aber nicht schamerfüllt, sondern wie mit himmlischer Glorie umhüllt, so stand sie vor Ihm. Und ihr Leib ward Ihm zum Tempel voll heiliger, tiefer Gottesgedanken!
Und Jesus sah den Sieg in Sich und erlebte die himmlische Freude: Er hatte überwunden! Kein leisester Gedanke von Sinnlichkeit entstieg Seinem Herzen! Tief, tief unter Seine Füsse hatte Er dieses, der Menschen allergrösstes, Übel bezwungen!
„So, liebes Schwesterherz, nun bekleide dich! Ewigkeiten hindurch wirst du den Dienst erkennen, den du der Menschheit geleistet! Und wenn auch kein Mensch von diesem deinem Dienst erfährt, so wirst du doch einmal belohnt sein, als wenn dir alle Menschen dankten!
Nun werde glücklich als Mensch unter den Deinen und erfülle in Liebe deine kommende Pflicht, wenn du vor Aufgaben gestellt wirst, die deiner harren.
Vergiss aber diesen heiligen Tag nicht! Denn er war der schwerste, aber auch der schönste! Der schwerste, als Endkampf alles Sinnlichen in Mir; der schönste, als der gekrönte Schlussakt von diesem Drama, welches gewaltiges Leid hätte bringen können!"
Wie Kinder durchlebten sie diesen Tag, wie unter den Augen der liebenden Mutter (der Sonne) — , und so auch traten sie den Heimweg an; an den gefährlichen Stellen gingen sie Hand in Hand wie Liebende, gehalten von der Hand der heiligen Gottesliebe.
Spät in der Nacht kamen sie heim und Hand in Hand betraten sie das Haus. Nur Maria und Jakob waren noch auf. Maria erstaunte nicht wenig, als sie Jesus sah, wie Er Hand in Hand mit dem Mädchen kam.
Da eilte Gabi auf Maria zu, küsste sie und sprach: „Nun ist alles gut, liebe Mutter, und kein Leid, noch Weh, wird mehr hervorgerufen durch mich oder durch ein anderes Weib! Jesus hat überwunden!"
Maria weinte vor Freude, als sie Jesus ansah, denn in Seinem Gesicht spiegelte sich Freude, und Seine Augen bezeugten Sein sieghaftes Innenleben. Nun schilderte Jesus Seinen Kampf. — Und das Schönste wurde Ihm zum Lohn: Er wurde verstanden.
Und so ist wieder ein Abschnitt beendet, der Jesus Seinem grossen Ziel näher brachte!


VIII. Josefs Heimgang zu seinen Vätern

Im Hause Josefs, wo Maria die Ordnungsfäden in der Hand hatte, doch alles Geschäftliche vom Joel geleitet wurde, ging alles seinen alten Gang, und es schien, als wenn Friede und Harmonie eingekehrt wären. Denn seit Jesus sich das letzte Mal, Gabis wegen, vom Haus entfernte, war Er immer bei der Arbeit und daheim geblieben; und wenn möglich, ging Jesus auch nicht mehr über Land mit den Brüdern.
Gabi hatte das Haus verlassen und die anderen Mädchen auch, so dass Maria, wenn sie manchmal Hilfe brauchte, Jesus darum bat, der ihr solche Bitten gern erfüllte.
Ja, es war mit Jesus und mit Jakob eine Umwandlung vorgegangen. Wenn am Abend nach dem Abendsegen sich alles zur Ruhe begeben wollte, da bat manchmal Jesus, noch ein Stündchen aufzubleiben, um sich gemeinsam zu unterhalten.
Nur Josef ging zur Ruhe; er war müde — immer müde, denn die Jahre drückten auf seinen Schultern; und der alte Josef lebte sich in einen Gebetsgeist hinein, der ihn mehr ins eigene Innere führte. — Und so er manchmal die innere Gottesnähe fühlte, da kam wie zufällig, immer Jesus zu ihm in die Stube; und so unterhielten sich dann beide mitunter stundenlang.
Und Wunder geschahen mit Josef! — Während er früher nie leiden konnte, wenn nur einer eine einzige Stunde Arbeit versäumte, es war ihm wie eine Sünde gegen Jehova, sah er jetzt ein, dass die Arbeit am eigenen Inneren auch notwendig sei! Und so half Jesus gerne mit solchen Hinweisen dem greisen Josef.
So auch heute. Die Brüder hatten eine grosse Arbeit in Kapernaum. Monate waren dazu nötig, und nur ein- bis zweimal in der Woche kamen sie abends heim, um jedesmal am Morgen schon wieder nach Kapernaum zu eilen. Zeitig waren die Brüder aufgestanden, und Maria hatte alle Hände voll zu tun, da sie auf mehrere Tage Lebensmittel für alle zurechtmachte.
Da erschien Josef in der Stube, sein Ausdruck war bittend, und so fragte er den Joel: „Kannst du mir nicht Jesus einen Vormittag hier lassen? Mein Herz verlangt nach Ihm!"
„Vater!" sprach Joel, „gerne erfülle ich dir den Wunsch! Nicht nur einen Vormittag, nein, mag Er erst morgen nachkommen, — wir schaffen es schon! Aber, lieber Vater, verzeihe mir die Frage: Wie kommt es, dass du jetzt Jesus brauchst?
Früher konnte die Mutter nicht ohne ihren Jesus sein, und jetzt scheint bei dir das Übel Platz zu greifen! Warum verlangst du nicht manchesmal nach einem von uns? Sind wir nicht deine Söhne und vertreten dich überall in deinem gerechten Sinn? Jehova mag wissen, was nun wieder werden wird."
„Mein Sohn Joel", antwortete Josef bekümmert, „die Antwort darauf wird dir die Zeit von allein geben! Bedenke aber: Ich, dein Vater, habe dir eine Bitte ans Herz gelegt - und du, mein Sohn, willst sie erfüllen mit Galle vermengt? Bedenke dich! Nie im Leben verlangte ich zuviel - und so auch heute nicht! Darum gehet nur, und auch Jesus mag mit euch gehen! Ich will heute allein bleiben!" — und tief bekümmert ging er zurück in seine Kammer.
Diese Antwort hatte Joel nicht erwartet, und so wollte er dem Vater nacheilen. — Da trat ihm Jesus entgegen und sprach: „Lass den Vater allein! — Ehe wir gehen, gehe Ich nochmals zu ihm!" — Und so machten sich alle fertig zum Abmarsch.
Zum Abschied gingen aber alle zusammen zu Josef in die Kammer, um sich den Segen für die kommenden Tage zu holen. Da sprach Josef: „Meine Söhne! Gehet, begleitet von meiner Liebe, an eure Arbeit! Zu segnen vermag ich euch heute nicht, denn in meinem Herzen fühle ich nicht die Kraft dazu.
Aber Dich, o Jesus, bitte ich: Segne Du mich und Deine Brüder! Denn wo Du segnest, ist wahrhaft Segen! Ja! Ich sehe jetzt immer klarer ein: Ohne Deinen Segen vermag ich nicht mehr zu sein; und alles, was wir bis jetzt genossen und erworben haben, ist allein auf Deinen Segen zurückzuführen!"
Hier kniet Josef — das erste Mal — vor Jesus, und Dieser legte beide Hände auf Josefs ergrautes Haupt und sprach: „Im Namen Jehovas, deines treuen Gottes, segne Ich dich! Damit du erfüllet werdest mit dem Geist, der dich in alle Lebenswahrheit führt, und du den bald erkennen lernst, der dich so reich gesegnet und geliebt hat! Amen.
Und ihr, lieben Brüder, und du, Maria: Seid gesegnet aus der Kraft der brüderlichen und kindlichen Liebe zu euch, die Jehova Selbst ist! Damit ihr den Willen und die Kraft in euch aufnehmet, den zu verstehen, der euch so nahe ist, euren Gott, euren Vater von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!"
Tief erschüttert standen alle um Josef; dann sprach Josef wie in Verzückung: „O mein treuer Gott! — Du mein Leitstern! — Du mein Lebensziel! Deine mir oft dunklen Wege lichten sich!
Alle die Prüfungen meines Lebens und dieses meines Hauses erkenne ich jetzt. Es war nur Deine grosse Liebe, die ich bisher nicht erkennen konnte!
Doch jetzt lass mich zurückkehren zu Dir!
Ich habe gefunden und erkannt: Du bist meines Lebens Heil, Ziel und Seligkeit!
Alles, was ich mit Aufbietung meiner eigenen Kräfte nicht erreichen konnte, schenkst Du mir jetzt aus Liebe und Gnade! Heissen Dank! O mein Gott! Mein Herr! Die Worte versagen, mein Herz schlägt nur für Dich! Amen."
Dann gingen die Brüder, auch Jesus, schweigend ihren Weg, und des Tages Aufgaben erfüllten ihr Sein.
Spät nachmittags aber kam ein Bote, geschickt von Maria: Jesus, und wenn möglich alle, sollten noch heute heimkommen! Der Vater verlange nach allen, vor allem nach Jesus.
Joel ging zu Jesus und fragte Ihn, ob Er ihm einen Rat erteilen könnte? „Denn der Ruf Marias ist mir merkwürdig! Willst Du allein heimkehren, oder sollen wir alle auf Vaters Verlangen die Arbeit verlassen?" —
Da sagte Jesus ernst: „Ja, mein Bruder Joel, gehen wir alle! Ich wusste, dass es so kommt! — Denn unser Josef, unser Vater, bereitet sich vor auf den letzten Schritt im Irdischen — und so verlangt sein Herz, uns alle noch zu sprechen."
Und alle kehrten heim. Der Tag, der so segenverheissend angefangen, wie würde er enden? — Gingen die Brüder morgens schweigend, so gingen sie jetzt noch mehr in sich gekehrt; ja es war, als wäre der ganze Weg ein Gebet.
Maria schaute immer sehnsüchtiger nach den Erwarteten aus, und Tränen kamen ihr in die Augen, als die Heimgekehrten die Wohnung betraten.
Der alte Vater war etwas eingeschlummert, doch durch das Reden erwachte er wieder und verlangte nach Jesus und seinen Söhnen. Als sie in die Kammer traten, wollte er sich vom Lager erheben, doch fühlte er sich zu schwach dazu.
Joel fragte: „Lieber Vater, wie fühlst du dich, oder was kann ich dir tun? Soll ich dich in die Stube tragen, denn dort machen wir es dir bequemer?" Josef nickte mit dem Kopf, und so geschah es.
Nun kam die Nacht, die die letzte sein sollte, wo sie mit ihrem alten Vater noch beisammen sein konnten. Josef fragte nichts mehr, er wollte auch nicht reden; nur bei den Seinen wollte er sein.
Und so waren in dieser Nacht nicht nur die zahlreiche Familie, sondern auch noch einige Verwandte und Freunde versammelt, die da ahnten: das Haus Josefs geht einer Trauer entgegen. Kurz nach Mitternacht legte sich nun Josef zur Ruhe — und auch um ihn wurde Ruhe. Wie losgelöst schon vom Irdischen, wusste er: Noch wenige Stunden weile ich unter den Meinen! Und Friede zog in sein Herz, denn er wusste: Jehova macht alles gut! —
Maria mit den Söhnen ruhte aber nicht, in ihren Herzen war die Gewissheit: Heute geht er von uns! — Und einer sagte es dem ändern.
Nur Jesus sagte kein Wort. Sein Wesen war ein feierliches, nichts zu merken von Trauer! Die Mutter konnte sich dieses nicht erklären. — Doch wäre ihr Herz nicht mit solcher Bangigkeit erfüllt gewesen, so hätte sich vielleicht eine Aussprache gelohnt.
Gegen Morgen verlangte Josef nochmals Maria und seine Söhne. Jeden einzelnen drückte er segensvoll an sein Herz, doch kostete es ihn Kraft und Anstrengung, und die Worte versagten ihm den Dienst!
Als nun Jesus vor Josef stand, da nahm nicht Josef, nein, Jesus den alten Josef an Sein Herz! — Alle umstanden weinend das Lager, nur Jesus war ruhig, und diese Ruhe ging auf Josef über. Und so lag Josef eine Stunde, von Jesus festgehalten, in Seinen Armen.
Ein verklärendes Leuchten ging von dem sterbenden Josef aus, und mit den inhaltsschweren Worten: „Mein Jesus! Mein Gott und mein Herr! Habe du Dank! Denn Du bist es! Du, mein treuer Gott und mein Herr!" — hauchte er noch einen tiefen Atemzug aus, und der Kampf war zu Ende.
Ruhig legte Jesus den Körper auf sein Lager; doch die Weinenden verstanden wiederum nicht, wie Jesus, trotz allem, so ruhig sein konnte! —
Jesus aber ging hinaus und liess die Weinenden allein. Für Ihn gab es keine Trennung. Der Tod war kein Schrecken für Ihn, nur ein notwendiges Übel, das aber aufgehoben werden muss, wenn Leben, heiliges Innenleben, erstehen soll.

Hiermit ist nun dieses Buch beendet, das den Herzen dienen soll, die da werden wollen — ein Kind, wie Jesus war ein Kind. Die da werden wollen — ein treuer Sohn, wie Jesus war ein Sohn! Die da werden wollen — ein überwinder alles Falschen und Verkehrten, wie Jesus war ein Überwinder!
Doch so wird es auch einem jeden ergehen: Wie da Jesus nicht verstanden wurde, so werden auch diese nicht verstanden werden. Damit der Zug des Herzens, nur zu Dem zu gehen, der das Leben und die ewige Liebe ist, nicht beeinflusst werde von all dem, was dieses heilige Innenleben noch verneinen
will! — Amen!