Jugend Jesu - Das Jakobus - Evangelium
Biographisches Evangelium des Herrn von der Zeit an, da Joseph Mariam zu sich
nahm.
( Text )
Durch das Innere Wort empfangen von Jakob Lorber.
Nach der 11. Auflage 1996.
(Persönliches: Das war mein erstes Buch das ich von den ganzen Kundgaben gelesen habe. Gott musste mir dieses Buch doppelt und neu verpackt in mein Antiquariat legen, sonst liegen da je eher alte und gebrauchte Bücher. Da lag es dann Wochenlang, die Engel waren wohl schon am Verzweifeln, dass ich so lange daran vorbeigelaufen bin. Als ich es dann gelesen hatte, war das schon sehr eindrücklich, schwierig zu erklären, so wie das erste mal wirklich die Wahrheit zu hören)
Inhaltsverzeichnis
- Vorrede
- Das Jakobus-Evangelium über die Jugend Jesu.
- Kapitel
1 /
2 / 3 /
4 / 5 /
6 / 7 /
8 / 9 /
10 / 11 /
12 / 13 /
14 / 15 /
16 / 17 /
18 / 19 /
20 / 21 /
22 / 23 /
24 / 25 /
26 / 27 /
28 / 29 /
30 / 31 /
32 / 33 /
34 / 35 /
36 / 37 /
38 / 39 /
40 / 41 /
42 / 43 /
44 / 45 /
46 / 47 /
48 / 49 /
50 / 51 /
52 / 53 /
54 / 55 /
56 / 57 /
58 / 59 /
60 / 61 /
62 / 63 /
64 / 65 /
66 / 67 /
68 / 69 /
70 / 71 /
72 / 73 /
74 / 75 /
76 / 77 /
78 / 79 /
80 / 81 /
82 / 83 /
84 / 85 /
86 / 87 /
88 / 89 /
90 / 91 /
92 / 93 /
94 / 95 /
96 / 97 /
98 / 99 /
100 / 101 /
102 / 103 /
104 / 105 /
106 / 107 /
108 / 109 /
110 / 111 /
112 / 113 /
114 / 115 /
116 / 117 /
118 / 119 /
120 / 121 /
122 /
123 / 124 /
125 / 126 /
127 / 128 /
129 / 130 /
131 / 132 /
133 / 134 /
135 /
136 / 137 /
138 / 139 /
140 / 141 /
142 / 143 /
144 / 145 /
146 / 147 /
148 /
149 / 150 /
151 / 152 /
153 / 154 /
155 / 156 /
157 / 158 /
159 / 160 /
161 /
162 / 163 /
164 / 165 /
166 / 167 /
168 / 169 /
170 / 171 /
172 / 173 /
174 /
175 / 176 /
177 / 178 /
179 / 180 /
181 / 182 /
183 / 184 /
185 / 186 /
187 /
188 / 189 /
190 / 191 /
192 / 193 /
194 / 195 /
196 / 197 /
198 / 199 /
200 /
201 / 202 /
203 / 204 /
205 / 206 /
207 / 208 /
209 / 210 /
211 / 212 /
213 /
214 / 215 /
216 / 217 /
218 / 219 /
220 / 221 /
222 / 223 /
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263 / 264 /
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300
Vorrede
Vom Herrn Selbst kundgegeben als Einleitung zu Seiner Jugendgeschichte unterm
22. Juli 1843 und 9. Mai 1851 durch denselben Mund, den Er zum Organ dieses
Werkes erwählte.
[JJ.01_000,01] 1. Ich lebte die bekannte Zeit bis zum dreißigsten Jahre
geradeso, wie da lebt ein jeder wohlerzogene Knabe, dann Jüngling und dann Mann,
und mußte durch den Lebenswandel nach dem Gesetze Mosis die Gottheit in Mir – wie ein jeder Mensch Mich in sich
– erst erwecken.
[JJ.01_000,02] Ich Selbst habe müssen so gut wie ein jeder andere ordentliche
Mensch erst an einen Gott zu glauben anfangen und habe Ihn dann stets mehr und
mehr mit aller erdenklichen Selbstverleugnung auch müssen mit stets mächtigerer
Liebe erfassen und Mir also nach und nach die Gottheit erst völlig untertan
machen.
[JJ.01_000,03] Also war Ich, als der Herr Selbst, ein lebendiges Vorbild für
jeden Menschen, und so kann nun deshalb auch ein jeder Mensch Mich geradeso
anziehen, wie Ich Selbst die Gottheit in Mir angezogen habe, und kann mit Mir
selbständig ebenalso völlig Eins werden durch die Liebe und durch den Glauben,
wie Ich Selbst als Gottmensch in aller endlosen Fülle vollkommen Eins bin mit
der Gottheit.
[JJ.01_000,04] 2. Auf die Frage, wie die Kindes-Wunder Jesu und dessen göttlich
geistige Tätigkeit mit Seinem gleichsam isolierten Menschsein in den Jünglings-
und Mannesjahren und in diesen wieder die in denselben verrichteten Wunder
zusammenhängen, wenn man sich Ihn in diesen Jahren nur als Mensch denken solle,
– diene als Antwort der Anblick eines Baumes vom Frühjahre bis in den Herbst.
[JJ.01_000,05] Im Frühjahre blüht der Baum wunderbar und beherrscht ihn eine
große Tätigkeit. Nach dem Abfalle der Blüte wird der Baum wieder, als wäre er
untätig. Gegen den Herbst hin aber erscheint der Baum wieder in seiner vollsten
Tätigkeit: die Früchte, die sicher wunderbaren, werden gewürzt, gefärbt, schöner
denn vorher die Blüte, und also gereift, und der ihnen gegebene Segen wird
seiner Bande los und fällt als solcher in den Schoß der hungrigen Kindlein.
[JJ.01_000,06] Mit dem Auge des Herzens wird man imstande sein, dies Bild zu
fassen, aber niemals mit den Augen des Weltverstandes. – Die fraglichen Stellen,
ohne der Gottheit Jesu nahe zu treten, sondern diese im Glauben des Herzens, der
da ist ein Licht der Liebe zu Gott, festhaltend – lassen sich nur zu leicht
erklären, sobald man aus dem Herzen heraus rein wird, daß die volle Einung der
Fülle der Gottheit mit dem Menschen Jesu nicht auf einmal, wie mit einem
Schlage, sondern – wie alles unter der Leitung Gottes – erst nach und nach,
gleich dem sukzessiven Erwachen des göttlichen Geistes im Menschenherzen, und
erst durch den Kreuzestod vollends erfolgt ist; obschon die Gottheit in aller
ihrer Fülle auch schon im Kinde Jesus wohnte, aber zur Wundertätigkeit nur in
der Zeit der Not auftauchte.
[JJ.01_000,07] 3. Der leibliche Tod Jesu ist die tiefste Herablassung der
Gottheit in das Gericht aller Materie und somit die eben dadurch mögliche
vollends neue Schaffung der Verhältnisse zwischen Schöpfer und Geschöpf.
[JJ.01_000,08] Durch den Tod Jesu erst wird Gott Selbst vollkommen Mensch und
der geschaffene Mensch zu einem aus solcher höchsten göttlichen Gnade neu
gezeugten Kinde Gottes, also zu einem Gotte, und kann erst also als Geschöpf
seinem Schöpfer als dessen vollendetes Ebenmaß gegenüberstehen und in Diesem
seinen Gott, Schöpfer und Vater schauen, sprechen, erkennen und über alles
lieben und allein dadurch gewinnen das vollendete ewige, unzerstörbare Leben in
Gott, aus Gott und neben Gott. Dadurch ist aber auch des Satans Gewalt (besser:
Wille) dahin gebrochen, daß er die vollste Annäherung der Gottheit zu den
Menschen, und umgekehrt dieser ebenalso zur Gottheit, nicht mehr verhindern
kann.
[JJ.01_000,09] Noch kürzer gesagt: Durch den Tod Jesu kann nun der Mensch
vollends mit Gott fraternisieren, und dem Satan ist da kein Zwischentritt mehr
möglich; darum es auch im Worte zu den grabbesuchenden Weibern heißt: „Gehet hin
und saget es Meinen Brüdern!“ – Des Satans Walten in der äußeren Form mag wohl
stets noch bemerkbar sein, aber den einmal zerrissenen Vorhang zwischen der
Gottheit und den Menschen kann er ewig nicht mehr errichten und so die alte
unübersteigbare Kluft zwischen Gott und den Menschen von neuem wiederherstellen.
[JJ.01_000,10] Aus dieser kurzen Erörterung der Sache aber kann nun jeder im
Herzen denkende und sehende Mensch sehr leicht und klar den endlosesten Nutzen
des leiblichen Todes Jesu einsehen. Amen.
Das Jakobus-Evangelium über die Jugend Jesu.
Biographisches Evangelium des Herrn von der Zeit an, da Joseph Mariam zu sich
nahm.
[JJ.01_43.07.22] 22. Juli 1843
[JJ.01_43.07.22] Jakobus, ein Sohn Josephs, hat solches alles aufgezeichnet;
aber es ist mit der Zeit so sehr entstellt worden, daß es nicht zugelassen
werden konnte, als authentisch in die Schrift aufgenommen zu werden. Ich aber
will dir das echte Evangelium Jakobi geben, aber nur von der obenerwähnten
Periode angefangen; denn Jakobus hatte auch die Biographie Mariens von ihrer
Geburt an mit aufgenommen, wie die des Joseph. – Und so schreibe denn als erstes
Kapitel:
[JJ.01_001] 1. Kapitel – Joseph der Zimmermann. Die Verlosung Mariens im Tempel.
Gottes Zeugnis über Joseph. Josephs Gebet. Maria im Hause Josephs.
[JJ.01_001,01] Joseph aber war mit einem Hausbaue beschäftigt in der Gegend
zwischen Nazareth und Jerusalem.
[JJ.01_001,02] Dieses Haus ließ ein vornehmer Bürger aus Jerusalem dort der
Herberge wegen erbauen, da sonst die Nazaräer bis Jerusalem kein Obdach hatten.
[JJ.01_001,03] Maria aber, die im Tempel auferzogen ward, ist reif geworden und
war nach dem Mosaischen Gesetze not, sie aus dem Tempel zu geben.
[JJ.01_001,04] Es wurden darum Boten in ganz Judäa ausgesandt, solches zu
verkünden, auf daß die Väter kämen, um, so jemand als würdig befunden würde, das
Mägdlein zu nehmen in sein Haus.
[JJ.01_001,05] Als solche Nachricht auch zu Josephs Ohren kam, da legte er
sobald seine Axt weg und eilte nach Jerusalem und daselbst an den bestimmten
Versammlungs- und Beratungsplatz in dem Tempel.
[JJ.01_001,06] Als sich aber nach Ablauf von drei Tagen die sich darum gemeldet
Habenden wieder am vorbestimmten Orte versammelt hatten und ein jeder Bewerber
um Maria einen frischen Lilienstab so bestimmtermaßen dem Priester dargereicht
hatte, da ging der Priester sobald mit den Stäben in das Innere des Tempels und
betete dort.
[JJ.01_001,07] Nachdem er aber sein Gebet beendet hatte, trat er wieder mit den
Stäben heraus und gab einem jeglichen seinen Stab wieder.
[JJ.01_001,08] Alle Stäbe aber wurden sobald fleckig, nur der zuletzt dem Joseph
überreichte blieb frisch und makellos.
[JJ.01_001,09] Es hielten sich aber darob einige auf und erklärten diese Probe
für parteiisch und somit für ungültig und verlangten eine andere Probe, mit der
sich durchaus kein Unfug verbinden ließe.
[JJ.01_001,10] Der Priester, darob etwas erregt, ließ sobald Mariam holen, gab
ihr eine Taube in die Hand und behieß sie zu treten in die Mitte der Bewerber,
auf daß sie daselbst die Taube frei solle fliegen lassen,
[JJ.01_001,11] und sprach noch vor dem Auslassen der Taube zu den Bewerbern:
„Sehet, ihr Falschdeuter der Zeichen Jehovas! – Diese Taube ist ein unschuldig
reines Tier und hat kein Gehör für unsere Beredung,
[JJ.01_001,12] sondern lebt allein in dem Willen des Herrn und verstehet allein
die allmächtige Sprache Gottes!
[JJ.01_001,13] Haltet eure Stäbe in die Höhe! – Auf dessen Stab diese Taube, so
sie das Mägdlein auslassen wird, sich niederlassen und auf dessen Haupt sie sich
setzen wird, der solle Mariam nehmen!“
[JJ.01_001,14] Die Bewerber aber waren damit zufrieden und sprachen: „Ja, dies
soll ein untrüglich Zeichen sein!“
[JJ.01_001,15] Da aber Maria die Taube auf Geheiß des Priesters freiließ, da
flog dieselbe sobald zu Joseph hin, ließ sich auf seinen Stab nieder und flog
dann vom selben sogleich auf das Haupt Josephs.
[JJ.01_001,16] Und der Priester sprach: „Also hat es der Herr gewollt! Dir, du
biederer Gewerbsmann, ist das untrügliche Los zugefallen, die Jungfrau des Herrn
zu empfangen! So nehme sie denn hin im Namen des Herrn in dein reines Haus zur
ferneren Obhut, Amen.“
[JJ.01_001] 24. Juli 1843
[JJ.01_001,17] Als aber der Joseph solches vernommen hatte, da antwortete er dem
Priester und sprach: „Siehe, du gesalbter Diener des Herrn nach dem Gesetze
Mosis, des getreuen Knechtes des Herrn Gott Zebaoth, ich bin schon ein Greis und
habe erwachsene Söhne zu Hause und bin seit lange her schon ein Witwer; wie
werde ich doch zum Gespötte werden vor den Söhnen Israels, so ich dies Mägdlein
nehme in mein Haus!
[JJ.01_001,18] Daher lasse die Wahl noch einmal ändern und lasse mich draußen
sein, auf daß ich nicht gezählt werde unter den Bewerbern!“
[JJ.01_001,19] Der Priester aber hob seine Hand auf und sprach zum Joseph:
„Joseph! Fürchte Gott den Herrn! Weißt du nicht, was Er getan hat an Dathan, an
Korah und an Abiram?
[JJ.01_001,20] Siehe, es spaltete sich die Erde, und sie alle wurden von ihr
verschlungen um ihrer Widerspenstigkeit willen! – Meinst du, Er könnte dir nicht
desgleichen tun?
[JJ.01_001,21] Ich sage dir: Da du das Zeichen Jehovas untrüglich gesehen und
wahrgenommen hast, so gehorche auch dem Herrn, der allmächtig ist und gerecht
und allzeit züchtiget die Widerspenstigen und die Abtrünnlinge Seines Willens!
[JJ.01_001,22] Sonst aber sei gewaltig bange dir in deinem Hause, ob der Herr
solches nicht auch an deinem Hause verübe, was Er verübet hat an Dathan, Korah
und Abiram!“
[JJ.01_001,23] Da ward dem Joseph sehr bange, und er sprach in großer Angst zum
Priester: „So bete denn für mich, auf daß der Herr mir wieder gnädig sein möchte
und barmherzig, und gebe mir dann die Jungfrau des Herrn nach Seinem Willen!“
[JJ.01_001,24] Der Priester aber ging hinein und betete für Joseph vor dem
Allerheiligsten, – und der Herr sprach zum Priester, der da betete:
[JJ.01_001,25] „Betrübe Mir den Mann nicht, den Ich erwählet habe; denn
gerechter als er wandelt wohl keiner in Israel, und keiner auf der ganzen Erde,
und keiner vor Meinem ewigen Throne in allen Himmeln!
[JJ.01_001,26] Und gehe hinaus und gebe die Jungfrau, die Ich Selbst erzogen
habe, dem gerechtesten der Männer der Erde!“
[JJ.01_001,27] Hier schlug sich der Priester auf die Brust und sprach: „O Herr,
Du allmächtiger einiger Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, sei mir Sünder vor Dir
barmherzig; denn nun erkenne ich, daß Du Dein Volk heimsuchen willst!“
[JJ.01_001,28] Darauf erhob sich der Priester, ging hinaus und gab segnend im
Namen des Herrn das Mägdlein dem geängstigten Joseph
[JJ.01_001,29] und sprach zu ihm: „Joseph, gerecht bist du vor dem Herrn, darum
hat Er dich erwählt aus vielen Tausenden! Und so magst du im Frieden ziehen,
Amen.“
[JJ.01_001,30] Und Joseph nahm Mariam und sprach: „Also geschehe denn allzeit
der allein heilige Wille meines Gottes, meines Herrn! Was Du, o Herr, gibst, ist
ja allzeit gut; daher nehme ich ja auch gerne und willigst diese Gabe aus Deiner
Hand! Segne sie aber für mich und mich für sie, auf daß ich ihrer würdig sein
möchte vor Dir jetzt, wie allzeit; Dein Wille, Amen.“
[JJ.01_001] 26. Juli 1843
[JJ.01_001,31] Da aber Joseph solches geredet hatte vor dem Herrn, da ward er
gestärkt im Herzen, ging sodann mit Maria aus dem Tempel und führte sie dann in
die Gegend von Nazareth und daselbst in seine ärmliche Behausung.
[JJ.01_001,32] Es wartete aber die nötige Arbeit des Joseph; daher machte er in
seiner Behausung diesmal auch nicht Säumens und sprach daher zur Maria:
[JJ.01_001,33] „Maria, siehe, ich habe dich nach dem Willen Gottes zu mir
genommen aus dem Tempel des Herrn, meines Gottes; ich aber kann nun nicht bei
dir verbleiben und dich beschützen, sondern muß dich zurücklassen, denn ich muß
gehen, um meinen bedungenen Hausbau zu besorgen an der Stelle, die ich dir auf
der Reise hierher gezeigt habe!
[JJ.01_001,34] Aber siehe, du sollest darum nicht allein zu Hause sein! Ich habe
ja eine mir nahe anverwandte Häuslerin, die ist fromm und gerecht; die wird um
dich sein und mein jüngster Sohn; und die Gnade Gottes und Sein Segen wird dich
nicht verlassen.
[JJ.01_001,35] In aller Bälde aber werde ich mit meinen vier Söhnen wieder nach
Hause kommen zu dir und werde dir ein Leiter sein auf den Wegen des Herrn! Gott
der Herr aber wird nun über dich und mein Haus wachen, Amen.“
[JJ.01_002] 2. Kapitel – Der neue Vorhang im Tempel. Marias Arbeit am Vorhang.
[JJ.01_002,01] Es war aber zu der Zeit noch ein Vorhang im Tempel vonnöten, da
der alte hie und da schon sehr schadhaft geworden war, um zu decken das
Schadhafte.
[JJ.01_002,02] Da ward denn von den Priestern ein Rat gehalten, und sie
sprachen: „Lasset uns einen Vorhang machen im Tempel des Herrn zur Deckung des
Schadhaften.
[JJ.01_002,03] Denn es könnte ja heute oder morgen der Herr kommen, wie es
geschrieben steht, – wie würden wir dann vor Ihm stehen, so Er von uns den
Tempel also verwahrlost fände?“
[JJ.01_002,04] Der Hohepriester aber sprach: „Urteilet nicht doch gar so blind,
als wüßte der Herr, dessen Heiligtum im Tempel ist, nicht, wie nun da bestellet
ist der Tempel!
[JJ.01_002,05] Rufet mir aber dennoch sieben unbefleckte Jungfrauen aus dem
Stamme Davids, und wir wollen dann eine Losung halten, wie da die Arbeit
ausgeteilt sein solle!“
[JJ.01_002,06] Nun gingen die Diener aus, zu suchen die Jungfrauen aus dem
Stamme Davids und fanden mit genauer Not kaum sechs und zeigten solches dem
Hohenpriester an.
[JJ.01_002,07] Der Hohepriester aber erinnerte sich, daß die dem Joseph erst vor
wenigen Wochen zur Obhut übergebene Maria ebenfalls aus dem Stamme Davids sei,
und gab solches sobald den Dienern kund.
[JJ.01_002,08] Und sobald gingen die Diener aus, zeigten solches dem Joseph an,
und er ging und brachte Mariam wieder in den Tempel, geleitet von den Dienern
des Tempels.
[JJ.01_002] 27. Juli 1843
[JJ.01_002,09] Als aber die Jungfrauen in der Vorhalle versammelt waren, da kam
sobald der Hohepriester und führte sie allesamt in den Tempel des Herrn.
[JJ.01_002,10] Und als sie da versammelt waren in dem Tempel des Herrn, da
sprach sobald der Hohepriester und sagte:
[JJ.01_002,11] „Höret, ihr Jungfrauen aus dem Stamme Davids, der da verordnet
hatte nach dem Willen Gottes, daß da die feine Arbeit am Vorhange, der da
scheidet das Allerheiligste vom Tempel, allzeit solle von den Jungfrauen aus
seinem Stamme angefertigt werden,
[JJ.01_002,12] und solle nach seinem Testamente die mannigfache Arbeit durch
Verlosung ausgeteilt werden, und solle dann eine jede Jungfrau die ihr
zugefallene Arbeit nach ihrer Geschicklichkeit bestens verfertigen!
[JJ.01_002,13] Sehet, da ist vor euch der schadhafte Vorhang, und hier auf dem
goldenen Tische liegen die mannigfachen rohen Stoffe zur Verarbeitung schon
bereitet!
[JJ.01_002,14] Ihr sehet, daß solche Arbeit not tut; daher loset mir sogleich,
auf daß es sich herausstelle, diewelche aus euch da spinnen solle den Goldfaden
und den Amiant- und den Baumwollfaden,
[JJ.01_002,15] den Seidenfaden, dann den hyazinthfarbigen, den Scharlach und den
echten Purpur!“
[JJ.01_002,16] Und die Jungfrauen losten schüchtern, da der Hohepriester über
sie betete; und da sie gelost hatten nach der vorgezeichneten Ordnung, hatte es
sich herausgestellt, wie die Arbeit verteilt werden sollte.
[JJ.01_002,17] Und es fiel der Jungfrau Maria, der Tochter Annas und Joakims,
durchs Los zu der Scharlach und der echte Purpur.
[JJ.01_002,18] Die Jungfrau aber dankte Gott für solche gnädige Zuerkennung und
Zuteilung solch rühmlichster Arbeit zu Seiner Ehre, nahm die Arbeit und begab
sich damit, von Joseph geleitet, wieder nach Hause.
[JJ.01_002,19] Daheim angelangt machte sich Maria sogleich an die Arbeit
freudigen Mutes; Joseph empfahl ihr allen Fleiß, segnete sie und begab sich dann
sogleich wieder an seinen Hausbau.
[JJ.01_002,20] Es begab sich aber dieses zur selbigen Zeit, als der Zacharias,
da er im Tempel das Rauchopfer verrichtete, zufolge seines kleinen Unglaubens
ist stumm geworden, darum für ihn ein Stellvertreter ward erwählt worden, unter
dem diese Arbeit ist verloset worden.
[JJ.01_002,21] Maria aber war verwandt sowohl mit Zacharias wie mit dessen
Stellvertreter, darum sie denn auch ums Doppelte ihren Fleiß vermehrte, um ja
recht bald, ja womöglich als erste mit ihrer Arbeit fertig zu werden.
[JJ.01_002,22] Aber sie verdoppelte ihren Fleiß nicht etwa aus Ruhmlust, sondern
nur um nach ihrer Meinung Gott dem Herrn eine recht große Freude dadurch zu
bereiten, so sie baldmöglichst und bestmöglichst ihre Arbeit zu Ende brächte.
[JJ.01_002,23] Zuerst kam die Arbeit an dem Scharlach, der da mit großer
Aufmerksamkeit mußte gesponnen werden, um den Faden ja nicht hier und da dicker
oder dünner zu machen.
[JJ.01_002,24] Mit großer Meisterschaft wurde der Scharlachfaden von der Maria
gesponnen, so daß sich alles, was nur ins Haus Josephs kam, höchlichst
verwunderte über die außerordentliche Geschicklichkeit Mariens.
[JJ.01_002,25] In kurzer Frist von drei Tagen ward Maria mit dem Scharlach zu
Ende und machte sich sodann alsogleich über den Purpur; da sie aber diesen stets
annässen mußte, so mußte sie während der Arbeit öfter den Krug nehmen und
hinausgehen, sich Wasser zu holen.
[JJ.01_003] 3. Kapitel – Die Ankündigung der Geburt des Herrn durch einen Engel.
Marias demutvolle Ergebenheit.
28. Juli 1843
[JJ.01_003,01] An einem Freitage morgens aber nahm Maria abermals den Wasserkrug
und ging hinaus, ihn mit Wasser zu füllen, und horch! – eine Stimme sprach zu
ihr:
[JJ.01_003,02] „Gegrüßet seist du, an der Gnade des Herrn Reiche! Der Herr ist
mit dir, du Gebenedeite unter den Weibern!“
[JJ.01_003,03] Maria aber erschrak gar sehr ob solcher Stimme, da sie nicht
wußte, woher sie kam, und sah sich darum auch behende nach rechts und links um;
aber sie konnte niemanden entdecken, der da geredet hätte.
[JJ.01_003,04] Darum aber ward sie noch voller von peinigender Angst, nahm
eiligst den gefüllten Wasserkrug und eilte von dannen ins Haus.
[JJ.01_003,05] Als sie da bebend anlangte, stellte sie sobald den Wasserkrug zur
Seite, nahm den Purpur wieder zur Hand, setzte sich auf ihren Arbeitssessel und
fing den Purpur wieder gar emsig an fortzuspinnen.
[JJ.01_003,06] Aber sie hatte sich noch kaum so recht wieder in ihrer Arbeit
eingefunden, siehe, da stand schon der Engel des Herrn vor der emsigen Jungfrau
und sprach zu ihr:
[JJ.01_003,07] „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast eine endlos große Gnade
gefunden vor dem Angesichte des Herrn; siehe, du wirst schwanger werden vom
Worte Gottes!“
[JJ.01_003,08] Als Maria aber dieses vernommen hatte, da fing sie an, diese
Worte hin und her zu erwägen, und konnte nicht erfassen ihren Sinn; darum sprach
sie denn zum Engel:
[JJ.01_003,09] „Wie solle denn das vor sich gehen, bin ich doch noch lange nicht
eines Mannes Weib und habe auch noch nie dazu eine Bekanntschaft mit einem Manne
gemacht, der mich sobald nähme zum Weibe, auf daß ich gleich andern Weibern
schwanger würde und dann gebäre ihnen gleich?“
[JJ.01_003,10] Der Engel aber sprach zur Maria: „Höre, du erwählte Jungfrau
Gottes! Nicht also solle es geschehen, sondern die Kraft des Herrn wird dich
überschatten.
[JJ.01_003,11] Darum wird auch das Heilige, das da aus dir geboren wird, der
Sohn des Allerhöchsten genannt werden!
[JJ.01_003,12] Du sollst Ihm aber, wann Er aus dir geboren wird, den Namen Jesus
geben; denn Er wird erlösen Sein Volk von all den Sünden, vom Gerichte und vom
ewigen Tode.“
[JJ.01_003,13] Maria aber fiel vor dem Engel nieder und sprach: „Siehe, ich bin
ja nur eine Magd des Herrn; daher geschehe mir nach Seinem Willen, wie da
lauteten deine Worte!“ – Hier verschwand der Engel wieder, und Maria machte sich
wieder an ihre Arbeit.
[JJ.01_004] 4. Kapitel – Marias kindlich-unschuldiges Gespräch mit Gott und die
Antwort von oben.
1. August 1843
[JJ.01_004,01] Als aber darauf der Engel sobald wieder verschwand, da lobte und
pries Maria Gott den Herrn und sprach also bei sich in ihrem Herzen:
[JJ.01_004,02] „O was bin ich denn doch vor Dir, o Herr, daß Du mir solche Gnade
erweisen magst? –
[JJ.01_004,03] Ich solle schwanger werden, ohne je einen Mann erkannt zu haben;
denn ich weiß ja nicht, was Unterschiedes da ist zwischen mir und einem Manne.
[JJ.01_004,04] Weiß ich denn, was das so in der Wahrheit ist: schwanger sein? O
Herr! siehe, ich weiß es ja nicht!
[JJ.01_004,05] Weiß ich wohl, was das ist, wie man sagt: ,Siehe, ein Weib
gebäret‘? – O Herr! siehe mich gnädig an; ich bin ja nur eine Magd von vierzehn
Jahren und habe davon nur reden gehört – und weiß aber darum doch in der Tat
nichts!
[JJ.01_004,06] Ach, wie wird es mir Armseligen ergehen, so ich werde schwanger
sein – und weiß nicht, wie da ist solch ein Zustand!
[JJ.01_004,07] Was wird dazu der Vater Joseph sagen, so ich ihm sagen werde,
oder er es etwa also merken wird, daß ich schwanger sei?!
[JJ.01_004,08] Etwas Schlimmes kann das Schwangersein ja doch nicht sein,
besonders wenn eine Magd, wie einst die Sara, vom Herrn Selbst dazu erwählet
wird?
[JJ.01_004,09] Denn ich habe es ja schon öfter im Tempel gehört, welch eine
große Freude die Weiber haben, wenn sie schwanger sind!
[JJ.01_004,10] Also muß das Schwangersein wohl etwas recht Gutes und überaus
Beseligendes sein, und ich werde mich sicher auch freuen, wann mir das von Gott
gegeben wird, daß ich schwanger werde!
[JJ.01_004,11] Aber wann, wann wird das geschehen, und wie? – oder ist es schon
geschehen? Bin ich schon schwanger, oder werde ich es erst werden?
[JJ.01_004,12] O Herr! Du ewig Heiliger Israels, gebe mir, Deiner armen Magd,
doch ein Zeichen, wann solches geschehen wird, auf daß ich Dich darob loben und
preisen möchte!“
[JJ.01_004,13] Bei diesen Worten ward Maria von einem lichten Ätherhauche
angeweht, und eine gar sanfte Stimme sprach zu ihr:
[JJ.01_004,14] „Maria! sorge dich nicht vergeblich; du hast empfangen, und der
Herr ist mit dir! – Mache dich an deine Arbeit, und bringe sie zu Ende, denn
fürder wird für den Tempel keine mehr gemacht werden von dieser Art!“
[JJ.01_004,15] Hier fiel Maria nieder, betete zu Gott und lobte und pries Ihn
für solche Gnade. – Nachdem sie aber dem Herrn ihr Lob dargebracht hatte, erhob
sie sich und nahm ihre Arbeit zur Hand.
[JJ.01_005] 5. Kapitel – Die Übergabe der beendeten Tempelarbeit Mariens. Maria
und der Hohepriester. Maria besucht ihre Muhme Elisabeth.
2. August 1843
[JJ.01_005,01] In wenigen Tagen ward Maria auch mit dem Purpur fertig, ordnete
ihn dann und nahm den Scharlach und legte ihn zum Purpur.
[JJ.01_005,02] Darauf dankte sie Gott für die Gnade, daß Er ihr hatte lassen
ihre Arbeit so wohl vollenden, wickelte dann das Gespinst in reine Linnen und
machte sich damit nach Jerusalem auf den Weg.
[JJ.01_005,03] Bis zum Hausbau, da Joseph arbeitete, ging sie allein; aber von
da an begleitete sie wieder Joseph nach Jerusalem und daselbst in den Tempel.
[JJ.01_005,04] Da angelangt, übergab sie sobald die Arbeit dem Hohenpriester.
[JJ.01_005,05] Dieser besah wohl den Scharlach und den Purpur, fand die Arbeit
allerausgezeichnetst gut und belobte und begrüßte darum Mariam mit folgenden
Worten:
[JJ.01_005,06] „Maria, solche Geschicklichkeit wohnet nicht natürlich in dir,
sondern der Herr hat mit deiner Hand gewirket!
[JJ.01_005,07] Groß hat dich darum Gott gemacht; gebenedeiet wirst du sein unter
allen Weibern der Erde von Gott dem Herrn, da du die erste warst, die da ihre
Arbeit dem Herrn in den Tempel überbracht hat.“
[JJ.01_005,08] Maria aber, voll Demut und Freude in ihrem Herzen, sprach zum
Hohenpriester:
[JJ.01_005,09] „Würdiger Diener des Herrn in Seinem Heiligtume! O lobe mich
nicht zu sehr, und erhebe mich nicht über die andern; denn diese Arbeit ist ja
nicht mein Verdienst, sondern allein des Herrn, der da meine Hand leitete!
[JJ.01_005,10] Darum sei Ihm allein ewig alles Lob, aller Ruhm, aller Preis und
alle meine Liebe und alle meine Anbetung ohne Unterlaß!“
[JJ.01_005,11] Und der Hohepriester sprach: „Amen, Maria! du reine Jungfrau des
Herrn, du hast wohl geredet vor dem Herrn! – So denn ziehe nun wieder hin im
Frieden; der Herr sei mit dir!“
[JJ.01_005,12] Darauf erhob sich Maria und ging mit Joseph wieder bis zur
Baustelle hin, allda sie eine kleine Stärkung, bestehend aus Brot und Milch und
Wasser, zu sich nahm.
[JJ.01_005,13] Es wohnte aber bei einer halben Tagereise weit vom Bauplatze über
einem kleinen Gebirge eine Muhme Mariens, namens Elisabeth; diese möchte sie
besuchen und bat den Joseph darum um die Erlaubnis.
[JJ.01_005,14] Joseph aber gestattete ihr gar bald, solches zu tun, und gab ihr
zu dem Behufe auch den ältesten Sohn zum Führer mit, der sie so weit begleiten
mußte, bis sie das Haus Elisabeths erschaute.
[JJ.01_006] 6. Kapitel – Der wunderbare Empfang Mariens bei Elisabeth. Demut und
Weisheit der Maria. Marias Heimkehr zu Joseph.
3. August 1843
[JJ.01_006,01] Bei der Elisabeth angelangt, d.h. bei ihrem Hause, pochte sie gar
bald schüchternen Gemütes an die Türe nach dem Gebrauche der Juden.
[JJ.01_006,02] Als aber Elisabeth vernommen hatte das schüchterne Pochen,
gedachte sie bei sich: „Wer pochet denn da so ungewöhnlich leise?
[JJ.01_006,03] Es wird ein Kind meines Nachbars sein; denn mein Mann, der da
stumm noch ist im Tempel und harret der Erlösung, kann es nicht sein!
[JJ.01_006,04] Meine Arbeit aber ist wichtig; solle ich sie wohl weglegen des
unartigen Kindes meines Nachbars wegen?
[JJ.01_006,05] Nein, das will ich nicht tun, denn es ist eine Arbeit für den
Tempel, und diese steht höher denn die Unart eines Kindes, das da sicher wieder
nichts anderes will, als mich bekanntermaßen necken und ausspötteln.
[JJ.01_006,06] Daher werde ich fein bei der Arbeit sitzen bleiben und das Kind
lange gut pochen lassen.“
[JJ.01_006,07] Maria aber pochte noch einmal, und das Kind im Leibe der
Elisabeth fing an vor Freude zu hüpfen, und die Mutter vernahm eine leise Stimme
aus der Gegend des in ihr hüpfenden Kindes, und die Stimme lautete:
[JJ.01_006,08] „Mutter, gehe, gehe eiligst; denn die Mutter meines und deines
Herrn, meines und deines Gottes ist es, die da pochet an die Türe und besucht
dich im Frieden!“ –
[JJ.01_006,09] Elisabeth aber, als sie das gehört hatte, warf sogleich alles von
sich, was sie in den Händen hatte, und lief und öffnete der Maria die Türe,
[JJ.01_006,10] gab ihr dann nach der Sitte sogleich ihren Segen, umfing sie dann
mit offenen Armen und sagte zu ihr:
[JJ.01_006,11] „O Maria, du Gebenedeite unter den Weibern! Du bist gebenedeit
unter allen Weibern, und gebenedeiet ist die Frucht deines Leibes!
[JJ.01_006,12] O Maria, du reinste Jungfrau Gottes! – Woher wohl kommt mir die
hohe Gnade, daß mich die Mutter meines Herrn, meines Gottes besucht?!“
[JJ.01_006,13] Maria aber, die nichts von all den Geheimnissen verstand, sagte
zu Elisabeth:
[JJ.01_006,14] „Ach liebe Muhme! – ich kam ja nur auf einen freundlichen Besuch
zu dir; was sprichst du denn da für Dinge über mich, die ich nicht verstehe? – Bin ich denn schon im Ernste schwanger, daß du mich eine Mutter nennst?“
[JJ.01_006,15] Elisabeth aber erwiderte der Maria: „Siehe, als du zum zweiten
Male pochtest an die Türe, da hüpfte sobald das Kindlein, das ich unter meinem
Herzen trage, vor Freude und gab mir solches kund und grüßte dich in mir schon
zum voraus!“
[JJ.01_006,16] Da blickte Maria auf zum Himmel und gedachte, was da der Erzengel
Gabriel zu ihr geredet hatte, obwohl sie von all dem noch nichts verstand, und
sprach:
[JJ.01_006,17] „O Du großer Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, was hast Du wohl
aus mir gemacht? Was bin ich denn, daß mich alle Geschlechter der Erde selig
preisen sollen?“
[JJ.01_006,18] Elisabeth aber sprach: „O Maria, du Erwählte Gottes, trete in
mein Haus und stärke dich; da wollen wir uns besprechen und gemeinschaftlich
Gott loben und preisen aus allen unseren Kräften!“
[JJ.01_006] 4. August 1843
[JJ.01_006,19] Und die Maria folgte sobald der Elisabeth in ihr Haus und aß und
trank und stärkte sich und ward voll heiteren Mutes.
[JJ.01_006,20] Elisabeth aber fragte die Maria um vieles, was alles sie im
Tempel während ihres Dortseins als Zuchtkind des Herrn erfahren habe, und wie
ihr alles das vorgekommen sei.
[JJ.01_006,21] Maria aber sagte: „Teure, vom Herrn auch gar wohl gesegnete
Muhme! – Ich meine, diese Dinge stehen für uns zu hoch, und wir Weiber tun
unklug, so wir uns über Dinge beraten, darüber der Herr die Söhne Aarons gesetzt
hat.
[JJ.01_006,22] Daher bin ich der Meinung, wir Weiber sollen die göttlichen Dinge
Gott überlassen und denen, die Er darüber gestellt hat, und sollen nicht darüber
grübeln.
[JJ.01_006,23] So wir nur Gott lieben über alles und Seine heiligen Gebote
halten, da leben wir ganz unserem Stande gemäß; was darüber ist, gebühret den
Männern, die der Herr beruft und erwählt.
[JJ.01_006,24] Ich meine, liebe Muhme, das ist recht, darum erlasse mir die
Ausschwätzerei aus dem Tempel; denn er wird darum nicht besser und nicht
schlechter. Wann es aber dem Herrn recht sein wird, dann wird Er schon den
Tempel züchtigen und umstalten zur rechten Zeit.“
[JJ.01_006,25] Elisabeth aber erkannte in diesen Worten die hohe Demut und
Bescheidenheit Mariens und sagte zu ihr:
[JJ.01_006,26] „Ja, du gnaderfüllte Jungfrau Gottes! Mit solchen Gesinnungen muß
man ja auch die höchste Gnade vor Gott finden!
[JJ.01_006,27] Denn also, wie du sprichst, kann nur die höchst reinste Unschuld
sprechen; – und wer darnach lebt, der lebt sicher gerecht vor Gott und aller
Welt.“
[JJ.01_006,28] Maria aber sagte: „Das gerechte Leben ist nicht unser, sondern
des Herrn, und ist eine Gnade!
[JJ.01_006,29] Wer da aus sich gerecht zu leben glaubt, der lebt vor Gott sicher
am wenigsten gerecht; wer aber stets seine Schuld vor Gott bekennt, der ist es,
der da gerecht lebt vor Gott.
[JJ.01_006,30] Ich aber weiß nicht, wie ich lebe, mein Leben ist eine pure Gnade
des Herrn; daher kann ich auch nichts anderes tun, als Ihn allzeit lieben, loben
und preisen aus allen meinen Kräften! – Ist dein Leben wie das meinige, da tue
desgleichen, und der Herr wird daran mehr Wohlgefallen haben, als möchten wir
noch soviel über die Verhältnisse des Tempels miteinander verplaudern.“
[JJ.01_006,31] Elisabeth aber erkannte gar wohl, daß aus der Maria ein
göttlicher Geist wehe, stellte daher ihre Tempelfragen ein und ergab sich, Gott
lobend und preisend, in Seinen Willen. –
[JJ.01_006] 5. August 1843
[JJ.01_006,32] Also verbrachte aber Maria noch volle drei Monate bei der
Elisabeth und half ihr wie eine Magd alle Hausarbeit verrichten.
[JJ.01_006,33] Mittlerweile hatte aber auch unser Joseph seinen Bau beendet und
befand sich mit seinen Söhnen wieder zu Hause und besorgte da seinen kleinen,
freilich nur gemieteten Grund.
[JJ.01_006,34] Eines Abends aber sagte er zum ältesten Sohne: „Joel, gehe und
rüste mir für morgen früh mein Lasttier; denn ich muß Mariam holen gehen!
[JJ.01_006,35] Das Mädchen ist nun schon bei drei Monate aus meinem Hause, und
ich weiß nicht, was da mit ihr geschieht.
[JJ.01_006,36] Ist sie auch beim Weibe des stumm gewordenen Hohenpriesters, so
kann man aber doch nicht wissen, ob dieses Haus von allen Versuchen dessen, der
Eva verlocket hatte, frei ist!
[JJ.01_006,37] Also will ich denn morgen hinziehen und mir das Mädchen wieder
holen, auf daß mir nicht etwa mit der Zeit Israels Söhne übel nachreden sollen
und der Herr mich züchtige ob meiner Sorglauheit des Mädchens willen.“
[JJ.01_006,38] Und Joel ging und tat nach den Worten des Joseph; aber der Joel
war kaum fertig mit seiner Arbeit, so stand auch schon Maria vor der Hausflur
und grüßte den Joseph und bat ihn um die Wiederaufnahme in sein Haus.
[JJ.01_006,39] Joseph, ganz überrascht von dieser Erscheinung Mariens, fragte
sie sogleich: „Bist du es wohl, du Ungetreue meines Hauses?“
[JJ.01_006,40] Und Maria sprach: „Ja, ich bin es, aber nicht ungetreu deinem
Hause; denn ich wäre lange schon wieder gerne dagewesen, aber ich habe mich
nicht getraut, allein über das waldige Gebirge zu ziehen, – und du sandtest auch
keinen Boten um mich! Also mußte ich ja wohl so lange ausbleiben!
[JJ.01_006,41] Nun aber besuchten drei Leviten das Weib Zacharias', und da sie
wieder heimkehrten nach Jerusalem, so nahmen sie mich mit, brachten mich an die
Grenze deines Grundes, segneten mich dann und dein Haus und zogen dann ihres
Weges weiter, und ich eilte hierher zu dir wieder, mein lieber Vater Joseph!“
[JJ.01_006,42] Obschon der Joseph gerne die Maria ein wenig ausgezankt hätte ob
ihres langen Ausbleibens, so konnte er aber solches doch nicht über sein Herz
bringen; denn fürs erste hatte die Stimme Mariens sein edelstes Herz zu sehr
gerührt, und fürs zweite sah er sich selbst als Schuldigen, da er Mariam so
lange nicht durch einen Boten hatte holen lassen.
[JJ.01_006,43] Er ließ daher das Mädchen zu sich kommen, um es zu segnen, und
das Mädchen sprang zu Joseph hin und kosete ihn, wie da die unschuldigsten
Kinder ihre Eltern und sonstigen Wohltäter zu kosen pflegen.
[JJ.01_006,44] Joseph aber ward darüber ganz gerührt und ward voll hoher Freude
und sprach: „Siehe, ich bin ein armer Mann und bin schon bejahrt, aber deine
kindliche Liebe macht mich vergessen meine Armut und mein Alter! Der Herr hat
dich mir gegeben zu einer großen Freude, darum will ich ja auch ziehen und
arbeiten mit Freuden, um dir, mein Kindlein, ein gutes Stückchen Brot zu
verschaffen!“
[JJ.01_006,45] Bei diesen Worten fielen dem alten Manne Tränen aus seinen Augen.
Maria aber trocknete behende dessen feuchte Wangen und dankte Gott, daß Er ihr
einen so guten Nährvater gegeben hatte.
[JJ.01_006,46] In der Zeit aber vernahm Joseph plötzlich, als würden Psalmen
gesungen vor seinem Hause. – –
[JJ.01_007] 7. Kapitel – Josephs Ahnungen und Prophezeiung. Marias Trost. Das
gesegnete Abendbrot. Das Sichtbarwerden von Mariens Schwangerschaft.
7. August 1843
[JJ.01_007,01] Joseph aber ward von hohen Ahnungen erfüllt und sprach zur Maria:
„Kind des Herrn! Viel Freude ist meinem Hause in dir gegeben, meine Seele ist
von hohen Ahnungen erfüllt!
[JJ.01_007,02] Aber ich weiß es auch, daß der Herr diejenigen, die Er liebhat,
allzeit schmerzlich heimsucht; daher wollen wir Ihn allzeit bitten, daß Er uns
allen allzeit gnädig und barmherzig sein möchte!
[JJ.01_007,03] Es ist sogar möglich, daß der Herr durch dich und mich die alte,
schon morsch gewordene Bundeslade wird erneuert haben wollen?!
[JJ.01_007,04] Sollte so etwas aber im Zuge sein, da wehe mir und dir; wir
werden da eine gar harte Arbeit zu überstehen haben! – Doch nun nichts mehr
davon!
[JJ.01_007,05] Was da kommen muß, das wird auch sicher kommen, und wir werden es
nicht zu verhindern vermögen; aber so es kommen wird, dann wird es uns ergreifen
mit allmächtiger Hand, und wir werden zittern vor dem Willen Dessen, der die
Festen der Erde gestellet hat!“
[JJ.01_007,06] Maria aber verstand von all diesem nichts und tröstete daher den
sehr bekümmert aussehenden Joseph mit solchen Worten:
[JJ.01_007,07] „Lieber Vater Joseph! Werde nicht betrübt ob des Willens des
Herrn; denn wir wissen es ja, daß Er mit Seinen Kindern ja allzeit nur das Beste
will! – Ist der Herr mit uns, wie Er es war mit Abraham, Isaak und Jakob, und
wie Er noch allzeit war mit denen, die Ihn liebten, was Leids und Arges sollte
uns da wohl begegnen?“
[JJ.01_007,08] Joseph aber war mit dieser Tröstung zufrieden und dankte dem
Herrn in seinem Herzen aus allen seinen Kräften, darum Er ihm in der Maria einen
solchen Trostengel hatte gegeben, und sagte darauf:
[JJ.01_007,09] „Kinder, es ist schon spät des Abends geworden; darum stimmen wir
den Lobgesang an, verzehren dann unser gesegnetes Abendbrot und begeben uns dann
zur Ruhe!“
[JJ.01_007,10] Solches geschah, und Maria eilte dann und brachte das Brot her,
und Joseph teilte es aus; es nahm aber alle wunder, daß das Brot diesmal von
einem gar so guten Geschmacke war.
[JJ.01_007,11] Joseph aber sagte: „Dem Herrn alles Lob! Was Er segnet, das
schmecket allzeit wohl und ist vom besten Geschmacke!“
[JJ.01_007,12] Und die Maria aber bemerkte dann dem Joseph gar liebreichst
weise: „Siehe, lieber Vater, also sollst du dich ja auch nicht fürchten vor den
Heimsuchungen des Herrn; denn sie sind ja eben auch Seine gar köstlichen
Segnungen!“
[JJ.01_007,13] Und der Joseph sprach: „Ja, ja, du reine Tochter des Herrn, du
hast recht! Ich will ja in aller Geduld tragen, was immer der Herr mir aufbürden
wird; denn zu schwer wird Er mir Seine Bürde und zu hart Sein Joch ja nicht
machen, denn Er ist ja ein Vater voll Güte und Erbarmung – auch in Seinem Eifer!
Und so geschehe denn allzeit Sein heiliger Wille!“
[JJ.01_007,14] Darauf begab sich die fromme Familie zur Ruhe und arbeitete zu
Hause die folgenden Tage. –
[JJ.01_007,15] Tag für Tag aber ward der Leib Marias voller; da sie solches wohl
merkte, so suchte sie ihre Schwangerschaft vor den Augen Josephs und seiner
Söhne so gut als nur immer möglich zu verbergen.
[JJ.01_007,16] Aber nach einer Zeit von zwei Monaten half ihr ihr Verbergen
nichts mehr, und Joseph fing an Argwohn zu schöpfen und beriet sich insgeheim
mit einem seiner Freunde in Nazareth über den sonderbaren Zustand Mariens.
[JJ.01_008] 8. Kapitel – Die Ansicht des Arztes. Joseph verhört Maria. Marias
Erklärung.
9. August 1843
[JJ.01_008,01] Der Freund Josephs aber war ein Sachkundiger; denn er war ein
Arzt, der da die Kräuter kannte und bei gefährlichen Geburten nicht selten den
Wehmüttern beistand.
[JJ.01_008,02] Dieser ging mit Joseph und besah insgeheim Mariam, – und als er
sie beschaut hatte, sprach er zu Joseph:
[JJ.01_008,03] „Höre mich an, Bruder aus Abraham, Isaak und Jakob, deinem Hause
ist ein großes Unheil widerfahren, – denn siehe, die Magd ist hochschwanger!
[JJ.01_008,04] Du bist aber auch selbst schuld daran; denn siehe, es ist nun der
sechste Mond, da du aus warest auf deinem Hausbaue! – Sage, wer hätte denn da
wohl achthaben sollen auf die Magd?“
[JJ.01_008,05] Joseph aber antwortete: „Siehe, Maria war unter der Zeit kaum
drei Wochen in einem fort zu Hause, und das im Anfange, da sie in mein Haus kam;
dann brachte sie volle drei Monde bei ihrer Muhme Elisabeth zu!
[JJ.01_008,06] Nun aber sind bereits auch zwei Monde, da sie unter meiner
beständigen Aufsicht sich befindet, verflossen, und ich habe nie jemanden
gesehen, der da zu ihr offen oder heimlich gekommen wäre!
[JJ.01_008,07] Und in der Zeit meiner Abwesenheit aber war sie ja ohnehin in den
besten Händen; mein Sohn, der sie geleitet hat zur Elisabeth, gab mir den
teuersten Eid zuvor, daß er, außer im Notfalle, auch nicht einmal ihr Kleid
anrühren wolle auf dem ganzen Wege!
[JJ.01_008,08] Und so weiß ich mit großer Bestimmtheit, daß da Maria von meinem
Hause aus völlig rein sein müsse; ob aber solches auch der Fall ist mit dem
Hause des Zacharias, das unterliegt freilich wohl einer andern Frage!
[JJ.01_008,09] Sollte ihr das etwa im Tempel begegnet sein von einem Diener
desselben? – Davor wolle mich der Herr bewahren, so ich da möchte einer solchen
Meinung sein; denn so was hätte der Herr längst ruchbar gemacht durch die allzeitige Weisheit des Hohenpriesters!
[JJ.01_008,10] Ich aber weiß nun, was ich tun werde, um der Wahrheit der Sache
auf die rechte Spur zu kommen. – Du, Freund, magst nun wieder im Frieden ziehen,
und ich werde mein Haus einer starken Prüfung unterziehen!“
[JJ.01_008,11] Josephs Freund verzog nicht und ging sobald aus dem Hause
Josephs; Joseph aber wandte sich sobald an Maria und sprach zu ihr:
[JJ.01_008,12] „Kind! mit welcher Stirne solle ich nun aufschauen zu meinem
Gott? Was solle ich nun sagen über dich?
[JJ.01_008,13] Habe ich dich nicht als eine reine Jungfrau aus dem Tempel
empfangen, und habe ich dich nicht treulich gehütet durch mein tägliches Gebet
und durch die Getreuen, die da sind in meinem Hause?
[JJ.01_008,14] Ich beschwöre dich darum, daß du mir sagest, wer es ist, der es
gewagt hat, mich zu betrügen und sich also schändlichst zu vergreifen an mir,
einem Sohne Davids, und an dir, die du auch demselben Hause entsprossen bist!
[JJ.01_008,15] Wer hat dich, eine Jungfrau des Herrn, verführt und geschändet?!
– Wer hat es vermocht, deinen reinsten Sinn also zu trüben? – und wer, zu machen
aus dir eine zweite Eva?!
[JJ.01_008,16] Denn also wiederholt sich an mir ja leibhaftig die alte
Geschichte Adams, denn dich hat ja augenscheinlich gleich der Eva eine Schlange
betöret!
[JJ.01_008,17] Also antworte mir auf meine Frage! Gehe aber, und fasse dich;
denn dir solle es nicht gelingen, mich zu täuschen!“ – Hier warf sich Joseph vor
Gram auf einen mit Asche gefüllten Sack auf sein Angesicht und weinte.
[JJ.01_008,18] Maria aber zitterte vor großer Furcht, fing an zu weinen und zu
schluchzen und konnte nicht reden vor zu großer Furcht und Traurigkeit.
[JJ.01_008,19] Joseph aber erhob sich wieder vom Sacke und sprach mit einer
etwas gemäßigteren Stimme zur Maria:
[JJ.01_008,20] „Maria, Kind Gottes, das Er Selbst in Seine Obhut genommen, warum
hast du mir das getan? – Warum hast du deine Seele so sehr erniedrigt und
vergessen deines Gottes?!
[JJ.01_008,21] Wie konntest du solches tun, die du auferzogen wardst im
Allerheiligsten und hast deine Speise empfangen aus der Hand der Engel und hast
diese glänzenden Diener Gottes allzeit gehabt zu deinen Mitgespielen?! – O rede,
und schweige nicht vor mir!“
[JJ.01_008,22] Hier ermannte sich Maria und sprach: „Vater Joseph, du gerecht
harter Mann! Ich sage dir: So wahr ein Gott lebt, so wahr auch bin ich rein und
unschuldig und weiß bis zur Stunde von keinem Manne etwas!“
[JJ.01_008,23] Joseph aber fragte: „Woher ist denn hernach das, was du unter
deinem Herzen trägst?“
[JJ.01_008,24] Und Maria erwiderte: „Siehe, ich bin ja noch ein Kind und
verstehe nicht die Geheimnisse Gottes! Höre mich aber an, und ich will es dir ja
sagen, was mir begegnet ist! Solches aber ist auch so wahr, als wie da lebet ein
gerechter Gott über uns!“
[JJ.01_009] 9. Kapitel – Mariens Erzählung über die geheimnisvollen heiligen
Vorkommnisse. Josephs Kummer und Sorge und sein Entschluß, Maria heimlich zu
entfernen. Ein Engel des Herrn erscheint Joseph im Traum. Maria bleibt im Hause
Josephs.
10. August 1843
[JJ.01_009,01] Und Maria erzählte dem Joseph alles, was ihr, da sie noch am
Purpur arbeitete, begegnet ist, und schloß dann ihre Erzählung mit dieser
Beteuerung:
[JJ.01_009,02] „Darum sage ich dir, Vater, noch einmal: So wahr Gott, der Herr
Himmels und der Erde lebt, so wahr auch bin ich rein und weiß von keinem Manne
und kenne auch ebensowenig das Geheimnis Gottes, das ich unter meinem Herzen, zu
meiner eigenen großen Qual, nun tragen muß!“ –
[JJ.01_009,03] Hier verstummte Joseph vor Maria und erschrak gewaltig; denn die
Worte Mariens drangen tief in seine bekümmerte Seele, und er fand bebend seine
geheime Ahnung bestätigt.
[JJ.01_009,04] Er aber fing darum an, hin und her zu sinnen, was er da tun
solle, und sprach so bei sich in seinem Herzen:
[JJ.01_009,05] „So ich ihre vor der Welt, wie sie nun ist, doch unwiderlegbare
Sünde darum verberge, weil ich sie nicht als solche mehr erkenne, so werde ich
als Frevler erfunden werden gegen das Gesetz des Herrn und werde der sichern
Strafe nicht entgehen!
[JJ.01_009,06] Mache ich sie aber wider meine innerste Überzeugung als eine
feile Sünderin vor den Söhnen Israels offenbar, da doch das, was sie unter ihrem
Herzen trägt, nur – nach ihrer unzweideutigen Aussage – von einem Engel
herrühret,
[JJ.01_009,07] so werde ich ja von Gott dem Herrn erfunden werden als einer, der
ein unschuldig Blut überliefert hat zum Gerichte des Todes?!
[JJ.01_009,08] Was solle ich also mit ihr beginnen? – Solle ich sie heimlich
verlassen, d.h., solle ich sie heimlich von mir tun und sie irgend verbergen im
Gebirge, nahe an der Grenze der Griechen? – Oder solle des Tages des Herrn ich
harren, auf daß Er mir am selben kundtue, was ich da tun solle?
[JJ.01_009,09] Wenn aber morgen oder übermorgen jemand zu mir kommt aus
Jerusalem und erkennet Mariam, was dann? – Ja, es wird wohl das Beste sein, ich
entferne sie heimlich und sorge für sie geheim, ohne daß da jemand anderer außer
meinen Kindern etwas davon erfährt!
[JJ.01_009,10] Ihre Unschuld wird mit der Zeit der Herr sicher offenbar machen,
und dann ist alles gerettet und gewonnen; und so geschehe es denn im Namen des
Herrn!“
[JJ.01_009,11] Darauf tat Joseph solches der Maria ganz insgeheim kund, und sie
fügte sich vorbereitend in den beabsichtigten guten Willen Josephs und begab
sich dann, da es schon spät abends geworden war, zur Ruhe.
[JJ.01_009,12] Joseph aber versank über seinen mannigfachen Gedanken ebenfalls
in einen Schlummer; und siehe, ein Engel des Herrn erschien ihm im Traume und
sprach zu ihm:
[JJ.01_009,13] „Joseph, sei nicht bange ob der Maria, der reinsten Jungfrau des
Herrn! – Denn was sie unter dem Herzen trägt, ist erzeuget vom heiligen Geiste
Gottes, und du sollst ihm, wenn es geboren wird, den Namen Jesus geben!“ –
[JJ.01_009,14] Hier erwachte Joseph vom Schlafe und pries Gott den Herrn, der
ihm solche Gnade erwiesen hatte.
[JJ.01_009,15] Da es aber schon des Morgens war, so kam Maria schon für die
beabsichtigte Reise fertig zum Joseph und zeigte ihm an, daß es schon an der
Zeit sein dürfte.
[JJ.01_009,16] Joseph aber umfaßte das Mädchen, drückte es an seine Brust und
sprach zu ihr: „Maria, du Reine, du bleibst bei mir; denn heute hat mir der Herr
ein mächtig Zeugnis über dich gegeben, denn das aus dir geboren wird, solle
Jesus heißen!“
[JJ.01_009,17] Hieran erkannte Maria sobald, daß der Herr mit Joseph geredet
hatte, da sie denselben Namen vernahm, den ihr der Engel gab, da sie davon dem
Joseph doch nichts erwähnt hatte zuvor!
[JJ.01_009,18] Und der Joseph hütete darauf das Mädchen sorgsam und ließ es an
nichts gebrechen, das ihr in dem Zustande vonnöten war. – –
[JJ.01_010] 10. Kapitel – Die römische Volkszählung. Josephs Nichtbeteiligung am
Volksrat in Jerusalem. Der Verräter Annas.
11. August 1843
[JJ.01_010,01] Es ist aber zwei Wochen nach diesem Begebnisse ein großer Rat in
Jerusalem gehalten worden, und zwar darüber, da man von einigen in Jerusalem
wohnenden Römern vernommen hatte, daß der Kaiser werde das gesamte jüdische Volk
zählen und beschreiben lassen.
[JJ.01_010,02] Solche Nachricht hatte einen großen Schreck bei den Juden, denen
es verboten war, Menschen zu zählen, hervorgebracht.
[JJ.01_010,03] Darum berief der Hohepriester zu dem Behufe eine große
Versammlung zusammen, zu der alle Ältesten und Kunstmänner, wie da der Joseph
einer war, erscheinen mußten.
[JJ.01_010,04] Joseph aber hatte gerade eine kleine Reise ins Gebirge wegen
Bauholz unternommen und blieb etliche Tage aus.
[JJ.01_010,05] Der Bote aus Jerusalem aber, der unter der Zeit zu Joseph kam und
ihm die Einladung zur großen Versammlung überbrachte, gab, da er Joseph nicht
antraf, dessen älterem Sohne die Beheißung, daß dieser solches, sobald Joseph
nach Hause käme, ihm ja unverzüglich auf das dringendste zu benachrichtigen
habe!
[JJ.01_010,06] Joseph aber kam schon am nächsten Tage morgens wieder nach Hause.
Der Sohn Joses benachrichtigte ihn sogleich davon, was da gekommen ist aus
Jerusalem.
[JJ.01_010,07] Joseph aber sagte: „Nun bin ich fünf Tage lang im Gebirge
herumgestiegen und bin daher überaus müde geworden, und meine Füße würden mich
nimmer tragen, so ich nicht zuvor ein paar Tage werde geruht haben; daher bin
ich diesmal genötigt, dem Rufe Jerusalems nicht zu folgen.
[JJ.01_010,08] Übrigens ist diese ganze große Versammlung keine hohle Nuß wert;
denn der mächtige Kaiser Roms, der sein Zepter nun schon sogar über die Länder
der Skythen schwingt, wird wenig Notiz nehmen von unserer Beratung und wird tun,
was er will! Daher bleibe ich nun fein zu Hause!“
[JJ.01_010,09] Es kam aber nach drei Tagen ein gewisser Annas aus Jerusalem, der
da ein großer Schriftgelehrter war, zu Joseph und sprach zu ihm:
[JJ.01_010,10] „Joseph, du kunstverständiger und schriftgelehrter Mann aus dem
Stamme Davids! – Ich muß dich fragen, warum du nicht in die Versammlung gekommen
bist?“
[JJ.01_010,11] Joseph aber wandte sich zum Annas und sprach: „Siehe, ich war
fünf Tage lang im Gebirge und wußte nicht, daß ich berufen ward.
[JJ.01_010,12] Da ich aber nach Hause kam und durch meinen Sohn Joses die
Nachricht erhielt, war ich zu müde und schwach, als daß es mir möglich gewesen
wäre, mich sobald gen Jerusalem auf die Beine zu machen! – Zudem aber ersah ich
ja aber ohnehin auf den ersten Blick, daß diese ganze große Versammlung wenig
oder gar nichts nützen wird.“
[JJ.01_010,13] Während aber Joseph solches gesprochen hatte, sah sich der Annas
um und entdeckte unglücklicherweise die hochschwangere Jungfrau.
[JJ.01_010,14] Er verließ daher auch wie ganz stumm den Joseph und eilte, was er
nur konnte, nach Jerusalem.
[JJ.01_010,15] Allda ganz atemlos angelangt, eilte er sogleich zum Hohenpriester
und sagte zu ihm:
[JJ.01_010,16] „Höre mich an, und frage mich nicht, warum der Sohn Davids nicht
in die Versammlung kam; denn ich habe unerhörte Greueldinge in seinem Hause
entdeckt!
[JJ.01_010,17] Siehe, Joseph, dem Gott und du das Zeugnis gabst dadurch, daß du
ihm die Jungfrau anvertraut hast, hat sich unbeschreiblich tief und grob vor
Gott und vor dir verfehlt!“
[JJ.01_010,18] Der Hohepriester aber war ganz entsetzt über die Nachricht Annas'
und fragte ganz kurz: „Wie so, wie das? – Rede mir die vollste Wahrheit, oder du
bist heute noch des Todes!“
[JJ.01_010,19] Und der Annas sprach: „Siehe, die Jungfrau Maria, die er laut des
Zeugnisses Gottes aus diesem Tempel des Herrn zur Obhut erhielt, hat er
weidlichst geschändet; denn ihre schon hohe Schwangerschaft ist ein lebendiges
Zeugnis davon!“
[JJ.01_010,20] Der Hohepriester aber sprach: „Nein, Joseph hat das nimmer getan!
– Kann auch Gott ein falsches Zeugnis geben?!“
[JJ.01_010,21] Annas aber sprach: „So sende denn deine vertrautesten Diener hin,
und du wirst dich überzeugen, daß da die Jungfrau im Vollernste hochschwanger
ist; ist sie es aber nicht, so will ich hier gesteiniget werden!“
[JJ.01_011] 11. Kapitel – Des Hohenpriesters Bedenken wegen Marias Zustand. Das
Verhör Marias und Josephs im Tempel. Josephs Klage und Hader mit Gott. Das
Todesurteil über Joseph und Maria und ihre Rechtfertigung durch ein
Gottesurteil. Maria wird Josephs Weib.
16. August 1843
[JJ.01_011,01] Der Hohepriester aber besann sich eine Zeitlang und sprach also
bei sich: „Was soll ich tun? Annas ist voll Eifersucht seit der Wahl der
Jungfrau, und man soll nie auf den Rat eines Eifersüchtigen handeln.
[JJ.01_011,02] Wenn sich's aber mit Maria dennoch also verhalten würde, und ich
hätte die Sache gleichgültig behandelt, was werden dann die Söhne Israels sagen,
und zu welch einer Rechenschaft werden sie mich fordern?
[JJ.01_011,03] Ich will daher dennoch insgeheim Diener hinsenden zu Joseph, die,
falls sich die schlimme Sache bestätigen sollte, die Jungfrau samt Joseph
sogleich hierher ziehen sollen!“
[JJ.01_011,04] Also ward es gedacht und beschlossen. Der Hohepriester berief
insgeheim vertraute Diener und gab ihnen kund, was sich im Hause Josephs
zugetragen habe, und sandte sie dann sobald zu Joseph hin mit der Bestimmtheit,
wie sie zu handeln haben, falls sich die Sache bestätigen sollte.
[JJ.01_011,05] Und die Diener begaben sich eiligst hin zu Joseph und fanden
alles so, wie es ihnen der Hohepriester bezeichnet hatte.
[JJ.01_011,06] Und der älteste aus ihnen sagte zu Joseph: „Siehe, darum sind wir
aus dem Tempel hierher gesandt worden, auf daß wir uns überzeugen sollen, wie es
mit der Jungfrau stehet, da von ihr üble Gerüchte zu den Ohren des
Hohenpriesters gelangt sind.
[JJ.01_011,07] Wir aber fanden die traurige Mutmaßung leider bestätigt; daher
lasse dir keine Gewalt antun, und folge uns mit der Maria in den Tempel, allda
du aus dem Munde des Hohenpriesters das gerechte Urteil vernehmen sollst!“
[JJ.01_011,08] Und Joseph folgte mit Maria sobald ohne Widerrede den Dienern vor
das Gericht in den Tempel.
[JJ.01_011,09] Als er da vor dem Hohenpriester anlangte, fragte der erstaunte
Hohepriester sobald die Maria, in ernstem Tone redend:
[JJ.01_011,10] „Maria! Warum hast du uns das getan und hast mögen gar so
gewaltig erniedrigen deine Seele?
[JJ.01_011,11] Vergessen hast du des Herrn, deines Gottes, – du, die du auferzogen wardst im Allerheiligsten, und hast deine tägliche Speise empfangen
aus der Hand des Engels,
[JJ.01_011,12] und hast allzeit vernommen seine Lobgesänge, und hast dich
erheitert, hast gespielt und getanzt vor dem Angesichte Gottes! – Rede, warum
hast du uns solches getan?“
[JJ.01_011,13] Maria aber fing an bitterlich zu weinen und sprach unter
gewaltigem Schluchzen und Weinen: „So wahr Gott, der Herr Israels, lebet, so
wahr auch bin ich rein und habe noch nie einen Mann erkannt! – Frage den von
Gott erwählten Joseph!“
[JJ.01_011,14] Und der Hohepriester wandte sich darauf zu Joseph und fragte ihn:
„Joseph, ich beschwöre dich im Namen des ewig lebendigen Gottes, sage mir es
unverhohlen, wie ist das geschehen? Hast du solches getan?“
[JJ.01_011,15] Und der Joseph sprach: „Ich sage dir bei allem, was dir und mir
heilig ist, so wahr der Herr, mein Gott, lebet, so wahr auch bin ich rein vor
dieser Jungfrau, wie vor dir und vor Gott!“
[JJ.01_011,16] Und der Hohepriester erwiderte: „Rede nicht ein falsches Zeugnis,
sondern sprich vor Gott die Wahrheit! – Ich aber sage dir: Du hast erstohlen dir
deine Hochzeit, hast nicht Kunde gegeben dem Tempel und hast nicht zuvor dein
Haupt gebeugt unter die Hand des ewig Gewaltigen, auf daß Er gesegnet hätte
deinen Samen! – Daher rede die Wahrheit!“
[JJ.01_011] 18. August 1843
[JJ.01_011,17] Joseph aber ward stumm auf solche Rede des Hohenpriesters und
mochte kein Wörtlein erwidern; denn zu bitter ungerecht ward er vom
Hohenpriester beschuldigt.
[JJ.01_011,18] Da aber Joseph tief schweigend vor dem Hohenpriester dastand und
nicht reden mochte, da öffnete sobald wieder der Hohepriester seinen Mund und
sprach:
[JJ.01_011,19] „Gib uns die Jungfrau wieder, wie du sie erhalten hast aus dem
Tempel des Herrn, da sie war so rein wie eine aufgehende Sonne an einem
allerheitersten Morgen!“
[JJ.01_011,20] In Tränen zerfließend stand Joseph da und sprach nach einem
mächtigen Seufzer:
[JJ.01_011,21] „Herr, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, was habe ich armer Greis
denn vor Dir so Arges getan, daß Du mich nun so gewaltig schlägst?!
[JJ.01_011,22] Nehme mich von der Welt; denn zu hart ist es, als ein allzeit
Gerechter vor Dir und aller Welt solch eine Schmach zu erleiden!
[JJ.01_011,23] Meinen Vater David hast Du gezüchtiget, darum er gesündigt hatte
am Urias.
[JJ.01_011,24] Ich aber habe noch nie an einem Menschen mich versündiget und
vergriffen mich an irgendeines Menschen Sache, noch an einem Tiere, und habe das
Gesetz allzeit beobachtet bis auf ein Häkchen; o Herr, warum schlägst Du mich
denn?
[JJ.01_011,25] O zeige mir eine Sünde vor Dir, und ich will ja gerne die Strafe
des Feuers erleiden! – Habe ich aber gesündigt vor Dir, da sei verflucht der Tag
und die Stunde, da ich geboren ward!“
[JJ.01_011,26] Der Hohepriester aber ward erbittert ob dieser Rede Josephs und
sprach in großer Aufgeregtheit seines Gemütes:
[JJ.01_011,27] „Wohl denn, da du vor Gott deine laute Schuld bekämpfest, so will
ich euch beide trinken lassen das Fluchwasser Gottes, des Herrn; und es werden
offenbar werden eure Sünden in euren Augen und vor den Augen alles Volkes!“ –
[JJ.01_011,28] Und sobald nahm der Hohepriester das Fluchwasser und ließ davon
den Joseph trinken und sandte ihn dann nach dem Gesetze in ein dazu bestimmtes
Gebirge, das da nahe an Jerusalem lag.
[JJ.01_011,29] Und desgleichen gab er auch solches Wasser der Jungfrau zu
trinken und sandte sie dann ebenfalls ins Gebirge.
[JJ.01_011,30] Nach drei Tagen aber kamen beide gänzlich unverletzt zurück, und
alles Volk wunderte sich, daß an ihnen keine Sünde ist offenbar gemacht worden.
[JJ.01_011,31] Der Hohepriester aber sprach dann selbst ganz über alle Maßen
erstaunt zu ihnen: „So Gott der Herr eure Sünde nicht hat offenbar machen
wollen, da will auch ich euch nicht richten, sondern spreche euch für schuldlos
und ledig.
[JJ.01_011,32] Da aber die Jungfrau schon schwanger ist, so soll sie dein Weib
sein zur Buße, darum sie mir unbewußtermaßen ist schwanger geworden, und solle
fürder nimmer einen andern Mann bekommen, so sie auch eine junge Witwe würde!
Also sei es! – Und nun ziehet wieder im Frieden von dannen.“
[JJ.01_011,33] Joseph aber nahm nun Mariam und ging mit ihr in seine Heimat und
ward voll Freuden und lobte und pries seinen Gott. Und seine Freude war nun um
so größer, da nun Maria sein rechtmäßiges Weib ist geworden.
[JJ.01_012] 12. Kapitel – Das Gebot des Augustus zur Schätzung und Zählung aller
Landesbewohner. Neuer Kummer und Trost.
19. August 1843
[JJ.01_012,01] Und Joseph verbrachte nun ganz wohlgemut mit Maria, die nun sein
Weib war, noch zwei Monate in seinem Hause und arbeitete für den Unterhalt
Mariens.
[JJ.01_012,02] Als aber diese Zeit verstrichen und Maria der Zeit der Entbindung
nahe war, da geschah ein neuer Schlag, welcher unseren Joseph in eine große
Bekümmernis versetzte.
[JJ.01_012,03] Der römische Kaiser Augustus ließ nämlich in allen seinen Landen
einen Befehl ergehen, demzufolge alle Völker seines Reiches sollten beschrieben
und gezählt und der Steuer und der Rekrutierung wegen klassifiziert werden.
[JJ.01_012,04] Und so waren auch die Nazaräer von diesem Gebote nicht
ausgenommen, und Joseph ward genötigt, sich auch nach Bethlehem, der Stadt
Davids, zu begeben, in welcher die römische Beschreibungskommission aufgestellt
war.
[JJ.01_012,05] Als er aber dieses Gebot vernahm, dessentwegen er schon ohnehin
zu einer Versammlung nach Jerusalem ist berufen worden, da sprach er bei sich
selbst:
[JJ.01_012,06] „Mein Gott und mein Herr, das ist ein harter Schlag für mich
gerade zu dieser Zeit, da Maria der Entbindung so nahe ist!
[JJ.01_012,07] Was soll ich nun tun? – Ich muß wohl meine Söhne einschreiben
lassen, denn diese sind dem Kaiser leider waffenpflichtig; aber was soll ich, um
Deines Namens willen, o Herr, mit Maria machen?!
[JJ.01_012,08] Daheim kann ich sie nicht lassen; denn was würde sie da machen,
wenn ihre Zeit sie zu drängen anfinge?
[JJ.01_012,09] Nehme ich sie aber mit, wer steht mir da dafür, daß ihre Zeit sie
nicht schon unterm Wege befällt und ich dann nicht wissen werde, was da mit ihr
zu machen sein wird, da sie doch noch mehr ein Kind als ein so ganz festes Weib
ist?
[JJ.01_012,10] Und bringe ich sie auch noch mit genauer Not hin vor die Amtleute
Roms, wie soll ich sie da einschreiben lassen?
[JJ.01_012,11] Etwa als mein Weib, davon doch niemand außer mir und dem
Hohenpriester bis jetzt noch etwas weiß?
[JJ.01_012,12] Wahrhaftig, dessen schäme ich mich beinahe vor den Söhnen
Israels; denn sie wissen es, daß ich ein über siebzig Jahre alter Greis bin! – Was werden sie sagen, so ich das kaum fünfzehnjährige Kind, im hochschwangeren
Zustande noch dazu, als mein rechtmäßiges Weib einschreiben lasse?!
[JJ.01_012,13] Oder soll ich sie als meine Tochter einschreiben lassen? – Es
wissen aber ja die Söhne Israels, woher Maria ist, und daß sie nimmer meine
Tochter ist!
[JJ.01_012,14] Lasse ich sie als die mir anvertraute Jungfrau des Herrn
einschreiben, was dürften da einige, die noch nicht wissen möchten, daß ich mich
im Tempel gerechtfertiget habe, zu mir sagen, so sie Mariam hochschwanger
erschauen würden?
[JJ.01_012,15] Ja, ich weiß, was ich nun wieder tun will: den Tag des Herrn will
ich abwarten! An diesem wird der Herr, mein Gott, machen, was Er wird wollen,
und das wird auch das Beste sein. Und also geschehe es denn!“
[JJ.01_013] 13. Kapitel – Ein alter Freund stärkt und segnet Joseph. Josephs
Reiseanordnungen an seine fünf Söhne. Das tröstliche Zeugnis von oben. Die
fröhliche Abreise.
21. August 1843
[JJ.01_013,01] Am selben Tage aber noch kam ein alter weiser Freund aus Nazareth
zu Joseph und sagte zu ihm:
[JJ.01_013,02] „Bruder! siehe, also führet der Herr Sein Volk über allerlei
Wüsten und Steppen! – Die aber willig folgen, dahin Er lenket, die kommen ans
rechte Ziel!
[JJ.01_013,03] Wir schmachteten in Ägypten und weinten unter Babels Ketten, und
der Herr hat uns dennoch wieder frei gemacht!
[JJ.01_013,04] Nun haben die Römer ihre Adler über uns gesandt; es ist des Herrn
Wille! – Daher wollen wir auch tun, was Er will; denn Er weiß es sicher, warum
Er es also will!“
[JJ.01_013,05] Joseph aber verstand wohl, was der Freund zu ihm geredet hatte,
und als der Freund ihn segnete und wieder verließ, da sprach der Joseph zu
seinen Söhnen:
[JJ.01_013,06] „Höret mich an! Der Herr will es, daß wir alle nach Bethlehem
ziehen müssen; also wollen wir uns denn auch Seinen Willen gefallen lassen und
tun, was Er will.
[JJ.01_013,07] Du, Joel, sattle die Eselin für Maria und nehme den Sattel mit
der Lehne; und du, Joses, aber zäume den Ochsen und spanne ihn an den Karren, in
dem wir Lebensmittel mitführen wollen!
[JJ.01_013,08] Ihr drei, Samuel, Simeon und Jakob, aber bestellet den Karren mit
haltbaren Früchten, Brot, Honig und Käse, und nehmet davon so viel, daß wir auf
vierzehn Tage versehen sind; denn wir wissen es nicht, wann die Reihe an uns
kommen wird, und wann wir frei werden, und was mit Maria geschehen kann
unterwegs! Darum leget auch frische Linnen und Windeln auf den Karren!“
[JJ.01_013,09] Die Söhne aber gingen und bestellten alles, wie es ihnen der
Joseph anbefohlen hatte.
[JJ.01_013,10] Als sie aber alles nach dem Willen Josephs bestellt hatten, kamen
sie zurück und zeigten es dem Joseph an.
[JJ.01_013,11] Und Joseph kniete nieder mit seinem ganzen Hause, betete, und
empfahl sich und all die Seinen in die Hände des Herrn.
[JJ.01_013,12] Als er aber mit solchem Gebete, Lobe und Preise zu Ende war, da
vernahm er eine Stimme wie außerhalb des Hauses, welche da sprach:
[JJ.01_013,13] „Joseph, du getreuer Sohn Davids, der da war ein Mann nach dem
Herzen Gottes!
[JJ.01_013,14] Als David auszog zum Kampfe mit dem Riesen, da war mit ihm die
Hand des Engels, den ihm der Herr zur Seite stellte, und siehe, dein Vater ward
ein mächtiger Sieger!
[JJ.01_013,15] Mit dir aber ist nun Der Selbst, der ewig war, der Himmel und
Erde erschaffen hat, der zu Noahs Zeiten regnen ließ vierzig Tage und Nächte und
ersaufen ließ alle Ihm widrige Kreatur,
[JJ.01_013,16] der dem Abraham gab den Isaak, der dein Volk führte aus Ägypten
und mit Moses erschrecklich redete auf dem Sinai!
[JJ.01_013,17] Siehe, Der ist in deinem Hause nun leibhaftig und wird ziehen mit
dir auch nach Bethlehem; daher sei ohne Furcht, denn Er wird es nicht zulassen,
daß dir ein Haar gekrümmet werde!“
[JJ.01_013,18] Als aber Joseph solche Worte vernommen hatte, da ward er
fröhlich, dankte dem Herrn für diese Gnade und ließ dann sogleich alles zur
Reise sich bereiten.
[JJ.01_013,19] Er nahm Mariam und setzte sie so weich und bequem als nur immer
möglich auf das Lasttier und nahm dann den Zügel in seine Hand und führte die
Eselin.
[JJ.01_013,20] Die Söhne aber machten sich um den beladenen Karren und fuhren
mit demselben nach der Eselin Getrabe.
[JJ.01_013,21] Nach einiger Zeit aber übergab Joseph den Zügel seinem ältesten
Sohne; er aber ging Mariam zur Seite, da diese manchmal schwach ward und sich im
Sattel nicht selbst zu halten imstande war.
[JJ.01_014] 14. Kapitel – Marias Gesicht von den zwei Völkern. Der Eintritt der
Wehen. Zuflucht in einer nahen Höhle.
23. August 1843
[JJ.01_014,01] Also kam unsere frömmste Gesellschaft nahe bis auf sechs Stunden
vor Bethlehem hin und machte da eine Rast im Freien.
[JJ.01_014,02] Joseph aber sah nach der Maria und fand, daß sie voll Schmerzes
sein mußte; daher gedachte er ganz verlegen bei sich selbst:
[JJ.01_014,03] „Was kann das sein? Marias Antlitz ist voll Schmerzes, und ihre
Augen sind voll Tränen! – Vielleicht bedränget sie ihre Zeit?“
[JJ.01_014,04] Darum sah Joseph Mariam noch einmal genauer an; und siehe, da
fand er sie zu seinem großen Erstaunen lachend!
[JJ.01_014,05] Darum fragte er sie auch sobald: „Maria, sage mir, was wohl gehet
in dir vor? – Denn ich sehe dein Angesicht bald voll Schmerzes, bald aber wieder
lachend und vor großer Freude glänzend!“
[JJ.01_014,06] Maria aber sagte darauf zu Joseph: „Siehe, ich sah nun zwei
Völker vor mir; das eine weinte, und da weinte ich notgedrungen mit.
[JJ.01_014,07] Das andere aber wandelte lachend vor mir und war voll Freude und
Heiterkeit; und ich mußte mitlachen und in seine Freude übergehen! – Das ist
alles, was meinem Antlitze Schmerz und Freude entwand.“
[JJ.01_014,08] Als Joseph solches vernommen hatte, da ward er wieder beruhigt,
denn er wußte, daß Maria öfter Gesichte hatte; daher ließ er denn auch wieder
zur Weiterreise aufbrechen und zog hinauf gen Bethlehem. –
[JJ.01_014,09] Als sie aber in die Nähe von Bethlehem kamen, da sprach Maria auf
einmal zum Joseph:
[JJ.01_014,10] „Höre mich an, Joseph! – Das in mir ist, fängt an mich ganz
gewaltig zu bedrängen; lasse daher stillehalten!“
[JJ.01_014,11] Joseph erschrak völlig vor diesem plötzlichen Aufrufe Mariens;
denn er sah nun, daß das gekommen ist, was er eben am meisten befürchtet hatte.
[JJ.01_014,12] Er ließ daher auch plötzlich stillehalten. Maria aber sprach
wieder sobald zu Joseph:
[JJ.01_014,13] „Hebe mich herab von der Eselin; denn das in mir ist, bedränget
mich mächtig und will von mir! Und ich vermag dem Drange nicht mehr zu
widerstehen!“
[JJ.01_014,14] Joseph aber sprach: „Aber um des Herrn willen! Du siehst ja, daß
hier nirgends eine Herberge ist, – wo solle ich dich denn hintun?“
[JJ.01_014,15] Maria aber sprach: „Siehe, dort in den Berg hinein ist eine
Höhle; es werden kaum hundert Schritte dahin sein! Dorthin bringet mich; weiter
zu kommen, ist mir unmöglich!“
[JJ.01_014,16] Und Joseph lenkte sobald sein Fuhr- und Reisewerk dahin und fand
zum größten Glücke in dieser Höhle, da sie den Hirten zu einem Notstalle diente,
etwas Heu und Stroh, aus welchem er sogleich für Maria ein notdürftiges Lager
bereiten ließ.
[JJ.01_015] 15. Kapitel – Maria in der Grotte. Joseph auf der Suche nach einer
Hebamme in Bethlehem. Josephs wunderbare Erfahrungen. Das Zeugnis der Natur. Die
Begegnung Josephs mit der Wehmutter.
24. August 1843
[JJ.01_015,01] Als aber das Lager bereitet war, brachte Joseph Mariam sobald in
die Höhle, und sie legte sich aufs Lager und fand Erleichterung in dieser Lage.
[JJ.01_015,02] Als Maria aber also erleichtert sich auf dem Lager befand, da
sagte Joseph zu seinen Söhnen:
[JJ.01_015,03] „Ihr beiden Ältesten bewachet Mariam und leistet ihr im Falle
früher Not die gerechte Hilfe, besonders du Joel, der du einige Kenntnisse in
dieser Sache dir durch den Umgang mit meinem Freunde in Nazareth erworben hast!“
[JJ.01_015,04] Den andern dreien aber befahl er, den Esel und den Ochsen zu
versorgen und den Karren auch irgend in der Höhle, welche so ziemlich geräumig
war, unterzubringen.
[JJ.01_015,05] Nachdem aber Joseph solches alles also wohl geordnet hatte, sagte
er zu Maria: „Ich aber will nun gehen hinauf auf den Berg und will in der Stadt
meines Vaters mir eine Wehmutter in aller Eile suchen und will sie bringen
hierher, dir zur nötigen Hilfe!“
[JJ.01_015,06] Nach diesen Worten trat der Joseph sobald aus der Höhle, da es
schon ziemlich spät abends war und man die Sterne am Himmel recht wohl ausnehmen
konnte.
[JJ.01_015,07] Was aber Joseph bei diesem Austritte aus der Höhle alles für
wunderliche Erfahrungen gemacht hat, wollen wir mit seinen eigenen Worten
wiedergeben, die er seinen Söhnen gab, als er mit der gefundenen Wehmutter in
die Höhle zurückkehrte und Maria schon geboren hatte.
[JJ.01_015,08] Die Worte Josephs aber lauten also: „Kinder! wir stehen am Rande
großer Dinge! – Ich verstehe nun dunkel, was mir die Stimme am Vorabende vor
unserer Abreise hierher gesagt hat; wahrlich, wäre der Herr unter uns – wennschon unsichtbar
– nicht gegenwärtig, so könnten unmöglich solche
Wunderdinge geschehen, wie ich sie jetzt geschaut habe!
[JJ.01_015,09] Höret mich an! – Als ich hinaustrat und fortging, da war es mir,
als ginge ich, und als ginge ich nicht; – und ich sah den aufgehenden Vollmond
und die Sterne im Aufgange wie im Niedergange, und siehe, alles stand stille,
und der Mond verließ nicht den Rand der Erde, und die Sterne am abendlichen
Rande wollten nimmer sinken!
[JJ.01_015,10] Dann sah ich Scharen und Scharen der Vöglein sitzen auf den Ästen
der Bäume; alle waren mit ihren Gesichtern hierher gewendet und zitterten wie zu
Zeiten großer bevorstehender Erdbeben und waren nicht zu verscheuchen von ihren
Sitzen, weder durch Geschrei noch durch Steinwürfe.
[JJ.01_015,11] Und ich blickte wieder auf dem Erdboden umher und ersah unweit
von mir eine Anzahl Arbeiter, die da um eine mit Speise gefüllte Schüssel saßen.
Einige hielten ihre Hände unbeweglich in der Schüssel und konnten keine Speise
aus der Schüssel heben.
[JJ.01_015,12] Die aber schon eher einen Bissen der Schüssel enthoben hatten,
die hielten ihn am Munde und mochten nicht den Mund öffnen, auf daß sie den
Bissen verzehreten; aller Angesichter aber waren nach aufwärts gerichtet, als
sähen sie große Dinge am Himmel!
[JJ.01_015,13] Dann sah ich Schafe, die von den Hirten getrieben wurden; aber
die Schafe standen unbeweglich da, und des Hirten Hand, der sie erhob, um zu
schlagen die ruhenden Schafe, blieb wie erstarrt in der Luft, und er konnte sie
nicht bewegen.
[JJ.01_015,14] Wieder sah ich eine ganze Herde Böcke, die hielten ihre Schnauzen
über dem Wasser und mochten dennoch nicht trinken, denn sie waren alle wie
gänzlich gelähmt.
[JJ.01_015,15] Also sah ich auch ein Bächlein, das hatte einen starken Fall vom
Berge herab, und siehe, des Wasser stand stille und floß nicht hinab ins Tal! – Und so war alles auf dem Erdboden anzusehen, als hätte es kein Leben und keine
Bewegung.
[JJ.01_015,16] Als ich aber also dastand oder ging und nicht wußte, ob ich stehe
oder gehe, siehe, da ersah ich endlich einmal wieder ein Leben!
[JJ.01_015,17] Ein Weib nämlich kam dem Berge entlang herabgestiegen gerade auf
mich an und fragte mich, als sie vollends bei mir war: ,Mann, wo willst du
hingehen so spät?‘
[JJ.01_015,18] Und ich sprach zu ihr: ,Eine Wehmutter suche ich; denn in der
Höhle dort ist eine, die gebären will!‘
[JJ.01_015,19] Das Weib aber antwortete und sprach: ,Ist sie aus Israel?‘ – Und
ich antwortete ihr: ,Ja, Herrin, ich und sie sind aus Israel; David ist unser
Vater!‘
[JJ.01_015,20] Das Weib aber sprach weiter und fragte: ,Wer ist die, welche in
der Höhle dort gebären will? Ist sie dein Weib, oder eine Anverwandte, oder eine
Magd?‘
[JJ.01_015,21] Und ich antwortete ihr: ,Seit kurzem – allein vor Gott und dem
Hohenpriester nur – mein Weib. Sie aber war noch nicht mein Weib, da sie
schwanger ward, sondern ward mir nur zur Obhut in mein Haus vom Tempel durch das
Zeugnis Gottes anvertraut, da sie früher auferzogen ward im Allerheiligsten!
[JJ.01_015,22] Wundere dich aber nicht über ihre Schwangerschaft; denn das in
ihr ist, ist wunderbar gezeuget vom heiligen Geiste Gottes!‘ – Das Weib aber
erstaunte darob und sagte zu mir: ,Mann, sage mir die Wahrheit!‘ – Ich aber
sagte zu ihr: ,Komm, siehe und überzeuge dich mit deinen Augen!‘“ – – –
[JJ.01_016] 16. Kapitel – Die Erscheinungen bei der Höhle. Das Traumgesicht der
Wehmutter und ihre prophetischen Worte. Die Wehmutter bei Maria und dem Kinde.
Salomes, ihrer Schwester, Zweifel an der Jungfräulichkeit Mariens.
25. August 1843
[JJ.01_016,01] Und das Weib willigte ein und folgte dem Joseph hin zur Höhle; da
sie aber zur Höhle kamen, da verhüllte sich dieselbe plötzlich in eine dichte
weiße Wolke, daß sie nicht den Eingang finden mochten.
[JJ.01_016,02] Ob dieser Erscheinung fing sich die Wehmutter hoch zu verwundern
an und sprach zu Joseph:
[JJ.01_016,03] „Großes ist widerfahren am heutigen Tage meiner Seele! – Ich habe
heute morgen ein großwunderbarstes Gesicht gehabt, in dem alles sich also
gestaltete, wie ich es jetzt in der Wirklichkeit gesehen habe, noch sehe und
noch mehr sehen werde!
[JJ.01_016,04] Du bist derselbe Mann, der mir im Gesichte entgegenkam; also sah
ich auch zuvor alle Welt ruhen mitten in ihrem Geschäfte und sah die Höhle, wie
eine Wolke über sie kam, und habe mit dir geredet, wie ich nun geredet habe.
[JJ.01_016,05] Und ich sah noch mehreres Wunderbarstes in der Höhle, als mir
meine Schwester Salome nachkam, der ich allein mein Gesicht am Morgen
anvertraute!
[JJ.01_016,06] Darum sage ich denn nun auch vor dir und vor Gott, meinem Herrn:
Israel ist ein großes Heil widerfahren! Ein Retter kam, von oben gesandt, zur
Zeit unserer großen Not!“
[JJ.01_016,07] Nach diesen Worten der Wehmutter wich sobald die Wolke von der
Höhle zurück, und ein gewaltiges Licht drang aus der Höhle der Wehmutter und dem
Joseph entgegen – so, daß es die Augen nicht zu ertragen imstande waren, und die
Wehmutter sprach: „Wahr ist also alles, was ich gesehen habe im Gesichte! – O
Mann! du Glücklicher, hier ist mehr denn Abraham, Isaak, Jakob, Moses und
Elias!“ –
[JJ.01_016,08] Nach diesen Worten aber fing das starke Licht an, nach und nach
erträglicher zu werden, und das Kindlein ward sichtbar, wie es gerade zum ersten
Male die Brust der Mutter nahm.
[JJ.01_016,09] Die Wehmutter aber trat mit Joseph nun in die Höhle, besah das
Kindlein und dessen Mutter, und als sie alles auf das herrlichste gelöset fand,
sagte sie:
[JJ.01_016,10] „Wahrlich, wahrlich, das ist der von allen Propheten besungene
Erlöser, der da ohne Bande frei sein wird schon im Mutterleibe, um anzudeuten,
daß er all die harten Bande des Gesetzes lösen wird!
[JJ.01_016,11] Wann aber hat jemand gesehen, daß ein kaum gebornes Kind schon
nach der Brust der Mutter gegriffen hätte!?
[JJ.01_016,12] Das bezeuget ja augenscheinlichst, daß dieses Kind einst als Mann
die Welt richten wird nach der Liebe und nicht nach dem Gesetze!
[JJ.01_016,13] Höre, du glücklichster Mann dieser Jungfrau, es ist alles in der
größten Ordnung; darum lasse mich aus der Höhle treten, denn mir fällt es schwer
nun auf die Brust, da ich empfinde, daß ich nicht rein genug bin, um die zu
heilige Nähe meines und deines Gottes und Herrn zu ertragen!“
[JJ.01_016,14] Joseph erschrak völlig über diese Worte der Wehmutter. – Sie aber
eilte aus der Höhle ins Freie.
[JJ.01_016,15] Als sie aber aus der Höhle trat, da traf sie draußen ihre
Schwester Salome, welche ihr ob des bewußten Gesichtes nachgefolgt ist, und
sprach sogleich zu ihr:
[JJ.01_016,16] „Salome, Salome! komme und sehe mein Morgengesicht in der
Wirklichkeit bestätigt! – Die Jungfrau hat in der Fülle der Wahrheit geboren,
was die menschliche Weisheit und Natur nimmer zu fassen vermag!“
[JJ.01_016,17] Die Salome aber sprach: „So wahr Gott lebt, kann ich eher nicht
glauben, daß eine Jungfrau geboren habe, als bis ich sie werde mit meiner Hand
untersucht haben!“
[JJ.01_017] 17. Kapitel – Der ungläubigen Salome Bitte an Maria. Salomes Zeugnis
der unverletzten Jungfräulichkeit Mariens. Das Gottesgericht. Des Engels Weisung
an Salome. Salomes Genesung.
26. August 1843
[JJ.01_017,01] Nachdem aber die Salome solches geredet hatte, trat sie sobald
hinein in die Höhle und sprach:
[JJ.01_017,02] „Maria, meine Seele beschäftiget kein geringer Streit; daher
bitte ich, daß du dich bereitest, auf daß ich mit meiner wohlerfahrnen Hand dich
untersuche und daraus ersehe, wie es mit deiner Jungfrauschaft aussehe!“
[JJ.01_017,03] Maria aber fügte sich willig in das Begehren der ungläubigen
Salome, bereitete sich und ließ sich untersuchen.
[JJ.01_017,04] Als aber die Salome Marias Leib anrührte mit ihrer prüfenden
Hand, da erhob sie sobald ein gewaltiges Geheul und schrie überlaut:
[JJ.01_017,05] „Wehe, wehe mir meiner Gottlosigkeit wegen und meines großen
Unglaubens willen, daß ich habe wollen den ewig lebendigen Gott versuchen! – denn sehet, sehet hierher!
– meine Hand verbrennt im Feuer des göttlichen Zornes
über mich Elende!!!“
[JJ.01_017,06] Nach diesen Worten aber fiel sie sobald vor dem Kindlein auf ihre
Knie nieder und sprach:
[JJ.01_017,07] „O Gott meiner Väter! Du allmächtiger Herr aller Herrlichkeit!
Gedenke mein, daß auch ich ein Same bin aus Abraham, Isaak und Jakob!
[JJ.01_017,08] Mache mich doch nicht zum Gespötte vor den Söhnen Israels,
sondern schenke mir meine gesunden Glieder wieder!“
[JJ.01_017,09] Und siehe, sobald stand ein Engel des Herrn neben der Salome und
sprach zu ihr: „Erhört hat Gott der Herr dein Flehen; tritt zu dem Kindlein hin
und trage Es, und es wird dir darob ein großes Heil widerfahren!“
[JJ.01_017,10] Und als solches die Salome vernommen hatte, da ging sie auf den
Knien vor Maria hin und bat sie um das Kindlein.
[JJ.01_017,11] Maria aber gab ihr willig das Kindlein und sprach zu ihr: „Es
möge dir zum Heile gereichen nach dem Ausspruche des Engels des Herrn; der Herr
erbarme Sich deiner!“
[JJ.01_017,12] Und die Salome nahm das Kindlein auf ihre Arme und trug es kniend
und sprach, sobald sie das Kindlein auf dem Arme hatte:
[JJ.01_017,13] „O Gott! Du allmächtiger Herr Israels, der Du regierest und
herrschest von Ewigkeit! – In aller, aller Fülle der Wahrheit ist hier Israel
ein König der Könige geboren, welcher mächtiger sein wird denn da war David, der
Mann nach dem Herzen Gottes! Gelobet und gepriesen sei Du von mir ewig!“
[JJ.01_017,14] Nach diesen Worten ward die Salome sobald völlig wieder geheilt,
gab dann unter der dankbarsten Zerknirschung ihres Herzens das Kindlein der
Maria wieder und ging also gerechtfertigt aus der Höhle wieder.
[JJ.01_017,15] Als sie aber draußen war, da wollte sie sobald laut zu schreien
anfangen über das große Wunder aller Wunder und hatte auch ihrer Schwester
sogleich zu erzählen angefangen, was ihr begegnet ist.
[JJ.01_017,16] Aber sobald meldete sich eine Stimme von oben und sprach zur
Salome: „Salome, Salome! verkündige ja niemandem, was Außerordentliches dir
begegnet ist; denn die Zeit muß erst kommen, wo der Herr von Sich Selbst zeugen
wird durch Worte und Taten!“
[JJ.01_017,17] Hier verstummte sobald die Salome, und Joseph ging hinaus und bat
die beiden Schwestern, nun wieder in die Höhle zurückzutreten nach dem Wunsche
Marias, auf daß da niemand etwas merken solle, was Wunderbarstes in dieser Höhle
nun vorgefallen sei. – Und die beiden traten wieder demütig in die Höhle.
[JJ.01_018] 18. Kapitel – Die Nachtruhe der hl. Familie in der Höhle. Die
Lobgesänge der Engel am Morgen. Die Anbetung der Hirten. Des Engels aufklärende
Worte an Joseph.
28. August 1843
[JJ.01_018,01] Als aber alle also in der Höhle versammelt waren, da fragten die
Söhne Josephs ihren Vater (den Joseph nämlich):
[JJ.01_018,02] „Vater, was sollen wir nun tun? Es ist alles wohl versorgt! Die
Reise hat ermüdet unsere Glieder, dürfen wir uns denn nicht zur Ruhe legen?“
[JJ.01_018,03] Und Joseph sprach: „Kinder! ihr sehet ja, welch eine endlose
Gnade von oben uns allen widerfahren ist; daher sollet ihr wachen und Gott loben
mit mir!
[JJ.01_018,04] Ihr aber habt ja gesehen, was da der Salome begegnet ist in der
Höhle, da sie ungläubig war; daher sollen auch wir nicht schläfrig sein, wann
uns der Herr heimsucht!
[JJ.01_018,05] Gehet aber hin zur Maria, und rühret an das Kindlein; wer weiß
es, ob eure Augenlider nicht sobald also gestärkt werden, als hättet ihr mehrere
Stunden lang fest geschlafen!“
[JJ.01_018,06] Und die Söhne Josephs gingen hin und rührten das Kindlein an; das
Kindlein aber lächelte sie an und streckte Seine Händchen nach ihnen, als hätte
Es sie als Brüder erkannt.
[JJ.01_018,07] Darob sie sich alle hoch verwunderten und sprachen: „Fürwahr, das
ist kein natürliches Kind! Denn wo hat je jemand so etwas erlebt, daß jemand
wäre von einem kaum gebornen Kinde gottseligst also begrüßet worden!?
[JJ.01_018,08] Zudem sind wir nun auch im Ernste noch obendrauf plötzlich also
gestärkt worden in allen unseren Gliedern, als hätten wir nie eine Reise gemacht
und befänden uns daheim an einem Morgen mit völligst ausgerastetem Leibe!“
[JJ.01_018,09] Und der Joseph sagte darauf: „Sehet, also war mein Rat gut. Aber
nun merke ich, daß es anfängt, mächtig kühl zu werden; daher bringet den Esel
und Ochsen hierher! Die Tiere werden sich um uns lagern und werden durch ihren
Hauch und ihre Ausdünstung einige Wärme bewirken; und wir selbst wollen uns
darum auch um die Maria lagern!“
[JJ.01_018,10] Und die Söhne taten solches. Und als sie brachten die beiden
Tiere in die Nähe Marias, da legten sich diese sogleich am Hauptteile des Lagers
Mariens und hauchten fleißig über Mariam und das Kindlein hin und erwärmten es
also recht gut.
[JJ.01_018,11] Und die Wehmutter sprach: „Fürwahr, nichts Geringes kann das sein
vor Gott, dem sogar die Tiere also dienen, als hätten sie Vernunft und
Verstand!“
[JJ.01_018,12] Die Salome aber sprach: „O Schwester! Die Tiere scheinen hier
mehr zu sehen als wir! – Was wir uns noch kaum zu denken getrauen, da beten
schon die Tiere an Den, der sie erschaffen hat!
[JJ.01_018,13] Glaube mir, Schwester, so wahr Gott lebt, so wahr auch ist hier
vor uns der verheißene Messias; denn wir wissen es ja, daß sich nie bei der
Geburt selbst des größten Propheten solche Wunderdinge zugetragen haben!“
[JJ.01_018,14] Maria aber sagte zur Salome: „Gott der Herr hat dir eine große
Gnade erwiesen, darum du solches erschauest, davor selbst meine Seele erbebt!
[JJ.01_018,15] Aber schweige davon, wie es dir zuvor der Engel des Herrn geboten
hat; denn sonst könntest du uns ein herbes Los bereiten!“
[JJ.01_018,16] Die Salome aber gelobte der Maria zu schweigen ihr Leben lang,
und die Wehmutter folgte dem Beispiele ihrer Schwester.
[JJ.01_018,17] Und so ward nun alles ruhig in der Höhle. In der ersten Stunde
aber vor dem Sonnenaufgange vernahmen alle gar mächtige Lobgesänge draußen vor
der Höhle.
[JJ.01_018,18] Und Joseph sandte sogleich seinen ältesten Sohn, nachzusehen, was
es sei, und wer so gewaltig singe die Ehre Gottes im Freien.
[JJ.01_018,19] Und Joel ging hinaus und sah, daß alle Räume des Firmaments
erfüllt waren hoch und nieder mit zahllosen Myriaden leuchtender Engel. Und er
eilte erstaunt in die Höhle zurück und erzählte es allen, was er gesehen.
[JJ.01_018] 29. August 1843
[JJ.01_018,20] Alle aber waren hoch erstaunt über die Erzählung des Joel und
gingen hinaus und überzeugten sich von der Wahrheit der Aussage Joels.
[JJ.01_018,21] Als sie solche Herrlichkeit des Herrn aber gesehen hatten, da
gingen sie wieder in die Höhle und gaben Maria auch das Zeugnis. Und der Joseph
sagte zur Maria:
[JJ.01_018,22] „Höre, du reinste Jungfrau des Herrn, die Frucht deines Leibes
ist wahrhaftig eine Zeugung des heiligen Geistes Gottes; denn alle Himmel zeugen
nun dafür!
[JJ.01_018,23] Aber wie wird es uns gehen, so nun alle Welt notwendig erfahren
muß, was hier vor sich gegangen ist? Denn daß nicht nur wir, sondern auch alle
andern Menschen nun sehen, welch ein Zeugnis für uns durch alle Himmel strahlet,
– das habe ich an vielen Hirten nun gesehen, wie sie ihre Angesichter gen oben
gerichtet hielten!
[JJ.01_018,24] Und sangen mit gleicher Stimme mit den mächtigen Chören der
Engel, welche nun – allen sichtbar – erfüllen alle Räume der Himmel hoch und
nieder bis zur Erde herab!
[JJ.01_018,25] Und ihr Gesang lautete wie der der Engel: ,Tauet herab, ihr
Himmel, den Gerechten! Friede den Menschen auf der Erde, die eines guten Willens
sind!‘ – Und: ,Ehre sei Gott in der Höhe in Dem, der da kommt im Namen des
Herrn!‘
[JJ.01_018,26] Siehe, o Maria, solches vernimmt und sieht nun die ganze Welt;
also wird sie auch kommen hierher und wird uns verfolgen, und wir werden müssen
fliehen über Berg und Tal!
[JJ.01_018,27] Daher meine ich, wir sollten uns so bald als nur immer möglich
heben von hier und, sobald ich werde beschrieben sein – was heute früh noch
geschehen soll – , uns wieder begeben nach Nazareth zurück und von dort gehen zu
den Griechen über, von denen ich einige recht wohl kenne. – Bist du nicht meiner
Meinung?“
[JJ.01_018,28] Maria aber sprach zu Joseph: „Du siehst aber ja, daß ich heute
noch nicht dies Lager verlassen kann; daher lassen wir alles dem Herrn über! Er
hat uns bisher geführt und beschützt, so wird Er uns auch sicher noch weiter
führen und gar treulich beschützen!
[JJ.01_018,29] Will Er uns vor der Welt offenbaren, sage: wohin wollen wir
fliehen, da Seine Himmel uns nicht entdecken möchten?!
[JJ.01_018,30] Daher geschehe Sein Wille! – Was Er will, das wird recht sein.
Siehe, hier auf meiner Brust ruht ja, Dem dieses alles gilt!
[JJ.01_018,31] Dieser aber bleibet bei uns, und so wird auch die große
Herrlichkeit Gottes von uns nicht weichen, und wir können da fliehen, wohin wir
nur immer wollen!“
[JJ.01_018,32] Als Maria aber noch kaum solches ausgeredet hatte, siehe, da
standen schon zwei Engel als Anführer einer Menge Hirten vor der Höhle und
zeigten den Hirten an, daß hier Derjenige geboren ist, dem ihre Lobgesänge
gelten.
[JJ.01_018,33] Und die Hirten traten ein in die Höhle und knieten nieder vor dem
Kindlein und beteten Es an; und die Engel kamen auch scharenweise und beteten an
das Kindlein.
[JJ.01_018,34] Joseph aber blickte mit seinen Söhnen ganz erstaunt hin nach der
Maria und dem Kindlein und sprach: O Gott, was ist denn das? – Hast Du denn
Selbst Fleisch angenommen in diesem Kinde?
[JJ.01_018,35] Wie wohl wäre es möglich sonst, daß Es angebetet würde selbst von
Deinen heiligen Engeln? Bist Du aber hier, o Herr, was ist denn nun mit dem
Tempel – und mit dem Allerheiligsten?!“
[JJ.01_018,36] Und ein Engel trat hin zum Joseph und sprach zu ihm: „Frage
nicht, und sorge dich nicht; denn der Herr hat die Erde erwählt zum Schauplatze
Seiner Erbarmungen und hat nun heimgesucht Sein Volk, wie Er es vorhergesagt
durch den Mund Seiner Kinder, Seiner Knechte und Propheten!
[JJ.01_018,37] Was aber geschieht nun vor deinen Augen, das geschieht nach dem
Willen Dessen, der da ist heilig, überheilig!“
[JJ.01_018,38] Hier verließ der Engel den Joseph und ging wieder hin und betete
an das Kindlein, welches nun alle die Betenden mit offenen Händchen anlächelte.
[JJ.01_018,39] Als aber nun die Sonne aufging, da verschwanden die Engel; aber
die Hirten blieben und erkundigten sich beim Joseph, wie möglich doch solches
vor sich gegangen ist.
[JJ.01_018,40] Joseph aber sagte: „Höret, wie wunderbar das Gras wächst aus der
Erde, also geschah auch dieses Wunder! Wer aber weiß, wie das Gras wächst? – So
wenig weiß ich euch auch von diesem Wunder kundzugeben! Gott hat es also
gewollt; das ist alles, was ich euch sagen kann!“
[JJ.01_019] 19. Kapitel – Josephs Beschreibungssorge. Der Wehmutter Bericht vor
dem römischen Hauptmann Cornelius. Des Hauptmanns Besuch in der Grotte. Joseph
und Cornelius. Des Cornelius Frieden und Freude in der Nähe des Jesuskindes.
30. August 1843
[JJ.01_019,01] Die Hirten aber waren mit diesem Bescheide zufrieden und fragten
den Joseph nicht weiter und gingen von dannen und brachten der Maria allerlei
Stärkungen zum Opfer.
[JJ.01_019,02] Als die Sonne aber schon eine Stunde der Erde geleuchtet hatte,
da fragte der Joseph die Wehmutter:
[JJ.01_019,03] „Höre mich an, du meine Freundin und Schwester aus Abraham, Isaak
und Jakob! – Siehe, mich drückt die Beschreibung ganz gewaltig, und ich wünsche
nichts sehnlicher, als sie hinter mir zu haben!
[JJ.01_019,04] Ich aber weiß nicht, wo in der Stadt sie gehalten wird; lasse
daher die Salome hier bei der Maria, mich aber führe mit meinen Söhnen hin zu
dem römischen Hauptmann, der da die Beschreibung führt!
[JJ.01_019,05] Vielleicht werden wir sogleich vorgenommen werden, so wir sicher
die ersten dort sein werden?“
[JJ.01_019,06] Und die Wehmutter sagte zum Joseph: „Gnadenvoller Mann, höre mich
an! – Der Hauptmann Cornelius aus Rom wohnt in meinem Hause, das schier eines
der ersten ist in der Stadt.
[JJ.01_019,07] und hat daselbst auch seine Amtsstube. Er ist zwar ein Heide,
aber sonst ein guter und rechtlicher Mensch; ich will hingehen und ihm alles
anzeigen bis auf das Wunder, und ich meine, die Sache wird abgetan sein!“
[JJ.01_019,08] Dieser Antrag gefiel Joseph wohl, da er ohnehin eine große Scheu
vor den Römern, besonders aber vor der Beschreibung hatte; er bat daher
obendrauf noch die Wehmutter, solches zu tun.
[JJ.01_019,09] Und die Wehmutter ging und fand den Cornelius, der noch sehr jung
war und am Morgen gerne lang schlief, noch im Bette und gab ihm alles kund, was
da notwendig war.
[JJ.01_019,10] Cornelius aber stand sogleich auf, warf seine Toga um und sprach
zu seiner Hausherrin: „Weib, ich glaube dir alles; aber ich will dennoch selbst
mit dir hingehen, denn ich fühle einen starken Drang dazu!
[JJ.01_019,11] Es ist nach deiner Erzählung nicht weit von hier, und so werde
ich zur rechten Zeit noch am Arbeitstische sein! Führe mich also nur gleich
hin!“
[JJ.01_019,12] Und die Wehmutter erfreute sich dessen und führte den ihr
wohlbekannten biederen, jungen Hauptmann hin, welcher ihr vor der Höhle gestand
und sagte: „O Weib, wie leicht gehe ich in Rom zu meinem Kaiser, und wie schwer
wird es mir hier, in diese Höhle einzutreten!
[JJ.01_019,13] Das muß etwas Besonderes sein! – Sage mir doch, ob du irgendeinen
Grund weißt; denn ich weiß, daß du eine biedere Jüdin bist!“
[JJ.01_019,14] Die Wehmutter aber sprach: „Guter Hauptmann des großen Kaisers!
Harre hier vor der Höhle nur einen Augenblick; ich will hineingehen und will dir
die Lösung bringen!“
[JJ.01_019,15] Und sie ging und sagte es dem Joseph, daß der gute Hauptmann
selbst draußen vor der Höhle harre, und daß er herein möchte, aber sich nicht
getraue aus einem ihm unerklärlichen Grunde.
[JJ.01_019,16] Als der Joseph solches vernahm, ward er gerührt und sprach: „O
Gott, wie gut bist Du, daß Du sogar das vor mir in Freude verwandelst, davor ich
mich am meisten gefürchtet habe! – Darum sei Dir allein alles Lob und alle
Ehre!“
[JJ.01_019,17] Nach diesen Worten eilte er sogleich aus der Höhle und fiel dem
Cornelius zu Füßen, sagend: „Machtträger des großen Kaisers, habe Erbarmen mit
mir armem Greise! Siehe, mein junges Weib, das mir durchs Los im Tempel zuteil
ward, hat hier sich entledigt ihrer Frucht diese Nacht, und gestern bin ich erst
hier angekommen, daher mochte ich nicht mich sogleich bei dir melden lassen!“
[JJ.01_019,18] Und der Cornelius sagte, den Joseph aufhebend: „O Mann! sei des
unbesorgt, es ist schon alles in der Ordnung! Lasse mich aber auch hineintreten
und sehen, wie du hier eingelagert bist!“
[JJ.01_019,19] Und Joseph führte den Cornelius in die Höhle. Als aber dieser das
Kindlein erblickte, wie Es ihm entgegenlächelte, da erstaunte er ob solchen
Benehmens des Kindleins und sagte: „Beim Zeus, das ist selten! Ich bin ja wie
neu geboren, und nie noch habe ich eine solche Ruhe und Freude in mir gewahret!
– Fürwahr, heute sind Geschäftsferien, und ich bleibe euer Gast.“
[JJ.01_020] 20. Kapitel – Des Cornelius Fragen über den Messias. Josephs
Verlegenheit. Des Hauptmanns Fragen an Maria, Salome und die Wehmutter. Der
Engel Warnung vor dem Verrat des göttlichen Geheimnisses. Des Cornelius heilige
Ahnung von der Göttlichkeit des Jesuskindes.
31. August 1843
[JJ.01_020,01] Joseph aber, darüber hoch erfreut, sprach zum Hauptmann:
„Machtträger des großen Kaisers, was wohl kann ich armer Mann dir für deine
große Freundschaft entgegenbieten? – Womit werde ich dir in dieser feuchten
Höhle aufwarten können?
[JJ.01_020,02] Wie dich bewirten deinem hohen Stande gemäß? – Siehe, hier in dem
Karren ist meine ganze Habseligkeit, teils mitgebracht aus Nazareth, teils aber
ein Geschenk schon von den hierortigen Hirten!
[JJ.01_020,03] Wenn du davon etwas genießen kannst, so sei ein jeder Bissen, den
du in deinen Mund führen möchtest, tausendfach gesegnet!“
[JJ.01_020,04] Cornelius aber sagte: „Guter Mann, kümmere und sorge dich ja
nicht um mich; denn siehe, hier ist ja meine Hausherrin, diese wird schon Sorge
tragen für die Küche, und wir werden alle genug haben um ein lichtes Geldstück,
das da gezieret ist mit des Kaisers Haupte!“
[JJ.01_020,05] Hier gab der Hauptmann der Wehmutter eine Goldmünze und hieß sie
sorgen für ein gutes Mittag- und Abendmahl und, sobald es der Kindbetterin
möglich wird, auch für eine bessere Wohnung.
[JJ.01_020,06] Joseph aber sagte darauf zum Cornelius: „O herrlicher Freund! Ich
bitte dich, mache dir doch unsertwegen keine Unkosten und Bemühungen; denn wir
sind für die wenigen Tage, die wir hier noch zubringen werden, ohnehin – dem
Herrn, Gott Israels, alles Lob! – gut versorgt!“
[JJ.01_020,07] Hier sagte der Hauptmann: „Gut ist gut, aber besser ist besser!
Daher laß es nur geschehen, und lasse mich dadurch deinem Gotte auch ein freudig
Opfer bringen; denn siehe, ich ehre aller Völker Götter!
[JJ.01_020,08] Also will ich auch den deinigen ehren; denn Er gefällt mir, seit
ich Seinen Tempel zu Jerusalem gesehen habe. Und Er muß ein Gott von großer
Weisheit sein, da ihr solch eine große Kunst von Ihm erlernt hattet!?“
[JJ.01_020,09] Joseph aber sprach: „O Freund! wäre es möglich mir, dich von der
alleinigen einigen Wesenheit unseres Gottes zu überführen, wie gerne würde ich
es tun zu deinem größten ewigen Wohle!
[JJ.01_020,10] Aber ich bin ein schwacher Mensch nur und vermag solches nicht;
aber suche du irgend unsere Bücher auf und lese sie, da du unserer Sprache so
wohl kundig bist, und du wirst da Dinge finden, die dich ins höchste Erstaunen
setzen werden!“
[JJ.01_020,11] Und der Cornelius sagte: „Guter Mann, was du mir nun freundlichst
geraten hast, das habe ich schon getan, habe auch wirklich Erstaunliches
darinnen gefunden!
[JJ.01_020,12] Unter anderem aber bin ich auch auf eine Vorhersage gekommen, in
der den Juden ein neuer König für ewig verheißen ist; sage mir, ob du wohl
weißt, nach der Auslegung solcher Vorsage, wann da dieser König kommen wird – und von woher?“
[JJ.01_020,13] Hier ward der Joseph etwas verlegen und sagte nach einer Weile:
„Dieser wird kommen aus den Himmeln als der Sohn des ewig lebendigen Gottes! Und
Sein Reich wird nicht von dieser, sondern von der Welt des Geistes und der
Wahrheit sein!“
[JJ.01_020,14] Und der Cornelius sprach: „Gut, ich verstehe dich; aber ich habe
auch gelesen, daß dieser König in einem Stalle bei dieser Stadt solle geboren
werden von einer Jungfrau! – Wie ist denn das zu nehmen?“
[JJ.01_020,15] Joseph aber sprach: „O guter Mann, du hast scharfe Sinne! – Ich
kann dir nichts anderes sagen als: Gehe hin, und siehe an das Mägdlein mit dem
neugebornen Kinde; dort wirst du finden, das du finden möchtest!“
[JJ.01_020] 1. September 1843
[JJ.01_020,16] Und der Cornelius ging hin und betrachtete die Jungfrau mit dem
Kindlein mit scharfen Augen, um aus ihr und in dem Kinde den künftigen König der
Juden zu entdecken.
[JJ.01_020,17] Er fragte daher auch die Maria, auf welche Weise sie also früh
ihres Alters ist schwanger geworden.
[JJ.01_020,18] Maria aber erwiderte: „Gerechter Mann, so wahr mein Gott lebt, so
wahr auch habe ich nie einen Mann erkannt!
[JJ.01_020,19] Es geschah aber vor drei Vierteln des Jahres, da ein Bote des
Herrn zu mir kam und unterrichtete mich mit wenig Worten, daß ich vom Geiste
Gottes aus solle schwanger werden.
[JJ.01_020,20] Und also geschah es denn auch; ich ward, ohne je einen Mann
erkannt zu haben, schwanger; und siehe, hier vor dir ist die Frucht der
wunderbaren Verheißung! Gott aber ist mein Zeuge, daß solches alles also
geschehen ist!“ –
[JJ.01_020,21] Hier wandte sich der Cornelius an die beiden Schwestern und
sagte: „Was sagt denn ihr zu dieser Geschichte? Ist das ein feiner Trug von
diesem alten Manne, ein für ein blindes, abergläubiges Volk guter Vorschutz, um
sich bei solchen Umständen der gesetzlichen Strafe zu entziehen?
[JJ.01_020,22] Denn ich weiß, daß Juden für derlei Fälle die Todesstrafe gesetzt
haben! – Oder sollte daran im Ernste etwas sein, – das noch schlimmer wäre als
im ersten Falle, weil da des Kaisers Gesetz müßte in schärfste Anwendung
gebracht werden, das da jeden Aufwiegler schon im ersten Keime erstickt haben
will?! O redet die Wahrheit, damit ich weiß, wie ich mit dieser sonderbaren
Familie daran bin!“
[JJ.01_020,23] Die Salome aber sprach: „Höre mich an, o Cornelius, ich bitte
dich bei aller deiner großkaiserlichen Vollmacht! Habe ja mit dieser armen und
doch wieder endlos reichen Familie nichts Ernstes und Gesetzliches zu schaffen!
[JJ.01_020,24] Denn du kannst es mir glauben, denn ich stehe mit meinem Kopfe
für die Wahrheit: dieser Familie stehen alle Mächte der Himmel, wie dir dein
eigener Arm, zu Gebote, davon ich die lebendigste Überzeugung erhielt.“
[JJ.01_020,25] Hier stutzte Cornelius noch gewaltiger und fragte die Salome:
„Also auch Roms heilige Götter, Roms Helden, Waffen und unbesiegbare Macht? – O
Salome! was redest du?!“
[JJ.01_020,26] Salome aber sagte: „Ja, wie du gesagt, also ist es! – Davon bin
ich lebendigst überzeugt; magst du es aber nicht glauben, da gehe hinaus und
sehe an die Sonne! Sie leuchtet heute schon bei vier Stunden, und siehe, sie
steht noch im Osten und getraut sich nicht weiterzuziehen!“
[JJ.01_020,27] Und der Cornelius ging hinaus, sah an die Sonne, kam sobald
wieder zurück und sagte ganz erstaunt: „Fürwahr, du hast recht; wenn die Sache
mit dieser Familie in Beziehung steht, so gehorcht dieser Familie sogar der Gott
Apollo!
[JJ.01_020,28] Also muß hier Zeus sein, der mächtigste aller Götter, und es
scheint sich die Zeit Deukalions und der Pyrrha zu erneuen; wenn aber das der
Fall ist, so muß ich solch eine Begebenheit ja sogleich nach Rom vermelden!?“
[JJ.01_020,29] Bei diesen Worten erschienen zwei mächtige Engel; ihre
Angesichter leuchteten wie die Sonne und ihre Kleider wie der Blitz. Und sie
sprachen: „Cornelius! – Schweige sogar gegen dich von dem, was du gesehen hast,
– sonst gehest du und Rom heute noch zugrunde!“
[JJ.01_020,30] Hier überfiel den Cornelius eine große Furcht. Die beiden Engel
verschwanden; er aber ging hin zum Joseph und sprach: „O Mann! – Hier ist endlos
mehr als ein werdender König der Juden! Hier ist Der, dem alle Himmel und Höllen
zu Gebote stehen! Daher laß mich wieder ziehen von hier; denn ich bin's nicht
wert, in solcher Nähe Gottes mich zu befinden!“ – –
[JJ.01_021] 21. Kapitel – Josephs Worte über den freien Willen des Menschen und
sein Rat an Cornelius. Des Hauptmanns Fürsorge für die heilige Familie.
2. September 1843
[JJ.01_021,01] Und der Joseph, selbst ganz frappiert durch diese Äußerung des
Cornelius, sagte zu ihm: „Wie groß dieses Wunder ist in sich, wüßte ich dir
selbst zu künden nicht!
[JJ.01_021,02] Daß aber große und mächtige Dinge dahinterstecken, das kannst du
mir glauben; denn um geringer Sachen wegen würden sich nicht alle Mächte der
ewigen Himmel Gottes also bewegen!
[JJ.01_021,03] Aber darum ist dennoch kein Mensch in seinem freien Willen
gehemmt und kann tun, was er will; denn das erkenne ich aus dem Gebote, das dir
die zwei Engel des Herrn gegeben haben!
[JJ.01_021,04] Denn siehe, der Herr könnte ja unsern Willen bei dieser
Gelegenheit gerade also durch Seine Allmacht binden, wie Er den Willen der Tiere
bindet, und wir müßten dann handeln nach Seinem Willen!
[JJ.01_021,05] Aber Er tut das nicht und gibt dafür nur ein freies Gebot, daraus
wir ersehen können, daß wir frei aus uns das wollen und tun können, was da ist
Sein heiliger Wille.
[JJ.01_021,06] Also bist auch du in keiner Fiber deines Lebens im geringsten
gebunden und kannst daher tun, was du willst! Willst du heute mein Gast sein, da
bleibe; willst du aber das nicht oder getrauest dir es nicht, so hast du
ebenfalls den freiesten Willen.
[JJ.01_021,07] Hätte ich dir aber zu raten, da würde ich freilich dir wohl also
raten und sagen: O Freund, bleibe! – denn besser aufgehoben bist du nun wohl in
der ganzen Welt kaum irgendwo, als hier unter dem sichtbaren Schutze aller
himmlischen Mächte!“
[JJ.01_021,08] Und der Cornelius sagte: „Ja, du gerechter Mann vor den Göttern
und vor deinem Gotte, und vor allen Menschen, dein Rat ist gut, und ich will ihn
befolgen und will bleiben bis morgen bei dir!
[JJ.01_021,09] Aber nur so viel werde ich mich jetzt mit meiner Hausherrin auf
eine kurze Zeit entfernen, daß ich Anstalten treffen kann, durch die ihr alle – wenn schon hier in dieser Höhle
– besser gelagert werdet.“
[JJ.01_021,10] Und der Joseph sagte: „Guter Mann, tue, was du willst! Gott, der
Herr, wird es dir dereinst vergelten!“
[JJ.01_021,11] Hier ging der Hauptmann mit der Wehmutter in die Stadt und ließ
zuerst verkünden durch alle Gassen, daß an dem Tage Amtsferien seien, nahm dann
dreißig Kriegsknechte, gab ihnen Bettzeug, Zelte und Brennholz und hieß sie dies
alles hinaustragen zur Höhle.
[JJ.01_021,12] Die Wehmutter nahm Speise und Trank in gerechter Menge mit sich
und ließ noch mehr nachtragen.
[JJ.01_021,13] In der Höhle angelangt, ließ der Hauptmann sogleich drei Zelte
aufrichten: ein reiches für Maria, eines für sich, Joseph und seine Söhne und
eines für die Wehmutter und ihre Schwester.
[JJ.01_021,14] Und im Zelte Mariens ließ er ein frisches und gar weiches Bett
aufrichten und versah das Zelt noch mit andern nötigen Einrichtungen. Also
richtete er auch die andern Zelte zweckmäßig ein, ließ dann einen Kochherd in
aller Geschwindigkeit von seinen Knechten erbauen, legte selbst Holz darauf und
machte Feuer zur Erwärmung der Höhle, in welcher es sonst ziemlich kalt war in
dieser Jahreszeit.
[JJ.01_022] 22. Kapitel – Cornelius bei der heiligen Familie in der Grotte. Die
Hirten und der Hauptmann. Die neue ewige Geistessonne. Des Cornelius Abschied.
Josephs Dankesworte über die Güte des heidnischen Hauptmanns.
4. September 1843
[JJ.01_022,01] Also versorgte unser Cornelius die fromme Familie und blieb den
ganzen Tag und die ganze Nacht bei ihr.
[JJ.01_022,02] Des Nachmittags aber kamen auch wieder die Hirten, anzubeten das
Kindlein, und brachten allerlei Opfer.
[JJ.01_022,03] Als sie aber in der Hütte Zelte und den römischen Hauptmann
erschauten, da wollten sie fliehen aus großer Furcht vor ihm;
[JJ.01_022,04] denn es waren mehrere Beschreibungsflüchtlinge unter ihnen, die
sich vor der auf solche Flüchtlinge gesetzten Strafe gar gewaltigst fürchteten.
[JJ.01_022,05] Der Hauptmann aber ging hin zu ihnen und sprach: „Fürchtet euch
nicht vor mir, denn ich will euch nun alle Strafe nachlassen; aber bedenket, was
da nach dem Willen des Kaisers geschehen muß, und kommet daher morgen, und ich
werde euch so zart und sanft als nur möglich beschreiben!“
[JJ.01_022,06] Da nun die Hirten erfahren hatten, daß der Cornelius ein so
sanfter Mensch ist, da verloren sie ihre Scheu und ließen sich am nächsten Tage
alle beschreiben.
[JJ.01_022,07] Nach der Rede mit den Hirten aber fragte der Hauptmann den
Joseph, ob die Sonne diesmal nimmer den Morgen verlassen werde.
[JJ.01_022,08] Und der Joseph erwiderte: „Diese Sonne, die heute der Erde
aufgegangen ist, ewig nimmer! Aber die natürliche gehet ihren alten Weg nach dem
Willen des Herrn fort und wird in etlich Stündlein untergehen.“
[JJ.01_022,09] Solches aber sprach der Joseph prophetisch und wußte und verstand
im Grunde selbst kaum, was er geredet hatte!
[JJ.01_022,10] Und der Hauptmann aber fragte den Joseph: „Was sagst du hier? – Siehe, ich habe deiner Worte Sinn nicht begriffen; daher rede verständlicher zu
mir!“
[JJ.01_022,11] Und der Joseph sprach: „Es wird eine Zeit kommen, in der du dich
wärmen wirst in den heiligen Strahlen dieser Sonne und baden in den Strömen
ihres Geistes!
[JJ.01_022,12] Mehr zu sagen aber weiß ich dir nicht und verstehe selbst nicht,
was ich dir nun gesagt habe; die Zeit aber wird es dir enthüllen, da ich nicht
mehr sein werde, in aller Fülle der ewigen Wahrheit.“
[JJ.01_022,13] Und der Hauptmann fragte den Joseph nicht mehr und behielt diese
tiefen Worte in seinem Lebensgrunde.
[JJ.01_022,14] Am nächsten Tage aber grüßte der Hauptmann die gesamte Familie
und gab ihr die Versicherung, daß er so lange für sie sorgen werde, als sie sich
allda aufhalten werde, und werde sie in seinem Herzen behalten sein Leben lang.
[JJ.01_022,15] Nachdem aber begab er sich an sein Geschäft und gab der Wehmutter
wieder eine Münze, zu sorgen für die Familie.
[JJ.01_022,16] Joseph aber sprach zu seinen Söhnen, als der Hauptmann schon fort
war: „Kinder, wie ist denn das, daß ein Heide besser ist als so mancher Jude? – Sollten etwa hierher die Worte Isaias passen, da er spricht:
[JJ.01_022,17] ,Siehe, Meine Knechte sollen vor gutem Mute jauchzen; ihr aber
sollt vor Herzeleid schreien und vor Jammer heulen!‘?“ – Und die Söhne Josephs
erwiderten: „Ja, Vater, diese Stelle wird hier in ihrer Fülle erklärt und
verstanden.“
[JJ.01_023] 23. Kapitel – Die liebevolle Fürsorge des Cornelius. Des Engels
Anweisung an Joseph zum Aufbruch nach Jerusalem zur Darstellung im Tempel.
Marias Traum. Die militärische Wache vor der Grotte.
5. September 1843
[JJ.01_023,01] Also verlebte Joseph sechs Tage in der Höhle und ward an jedem
Tage besucht von Cornelius, der da emsigst sorgte, daß dieser Familie ja nichts
abgehen solle.
[JJ.01_023,02] Am sechsten Tage frühmorgens aber kam ein Engel zu Joseph und
sprach: „Verschaffe dir ein Paar Turteltauben, und ziehe am achten Tage von hier
nach Jerusalem!
[JJ.01_023,03] Maria solle die Turteltauben nach dem Gesetze opfern, und das
Kind muß beschnitten werden und erhalten den Namen, der dir und der Maria ist
angezeigt worden!
[JJ.01_023,04] Nach der Beschneidung aber ziehet wieder hierher, und verweilet
hier so lange, bis ich es euch anzeigen werde, wann und wohin ihr von hier
ziehen sollet!
[JJ.01_023,05] Du, Joseph, wirst dich zwar früher zur Abreise anschicken; aber
ich muß dir sagen: Du wirst nicht um einen Pulsschlag eher von hier kommen, als
bis es der Wille Dessen sein wird, der bei dir ist in der Höhle!“
[JJ.01_023,06] Nach diesen Worten verschwand der Engel, und der Joseph ging hin
zur Maria und zeigte ihr solches an.
[JJ.01_023,07] Maria aber sprach zu Joseph: „Siehe, ich bin ja allzeit eine Magd
des Herrn, und so geschehe mir nach Seinem Worte!
[JJ.01_023,08] Ich aber hatte heute einen Traum, und in diesem Traume kam das
alles vor, was du mir jetzt eröffnet hast; daher sei nur besorgt um das
Taubenpaar, und ich werde mit dir am achten Tage getrost ziehen nach der Stadt
des Herrn.“
[JJ.01_023,09] Es kam aber bald nach dieser Erscheinung eben auch wieder der
Hauptmann auf einen Morgenbesuch, und der Joseph zeigte ihm sogleich an, warum
er am achten Tage werde nach Jerusalem ziehen müssen.
[JJ.01_023,10] Und der Hauptmann bot dem Joseph sogleich alle seine Gelegenheit
an und wollte ihn führen lassen nach Jerusalem.
[JJ.01_023,11] Aber Joseph dankte ihm darum für den herrlich guten Willen und
sprach: „Siehe, also ist es der Wille meines Gottes und Herrn, daß ich also
ziehen solle nach Jerusalem, wie ich hierher gezogen kam!
[JJ.01_023,12] Und so will ich denn auch die kurze Reise also anstellen, auf daß
der Herr mich nicht züchtige meines Ungehorsams willen.
[JJ.01_023,13] So du aber schon bei dieser Gelegenheit mir etwas tun willst, so
verschaffe mir zwei Turteltauben, die da zu opfern sind in dem Tempel, und
erhalte mir die Wohnstätte!
[JJ.01_023,14] Denn am neunten Tage werde ich wieder hierher kommen und werde
mich darinnen so lange aufhalten, als es da von mir verlangen wird der Herr!“
[JJ.01_023,15] Und der Cornelius versprach dem Joseph, all das Verlangte zu
bieten, und ging darauf fort und brachte dem Joseph selbst eine ganze
Taubensteige voll Turteltauben, aus denen sich Joseph die schönsten aussuchen
mußte.
[JJ.01_023,16] Nachdem aber ging der Hauptmann wieder an sein Geschäft und ließ
die Taubensteige (Taubenhaus) unterdessen bis auf den Abend in der Höhle, allda
er sie dann selbst wieder abholte.
[JJ.01_023,17] Am achten Tage aber, als Joseph nach Jerusalem abgereist war,
ließ Cornelius eine Wache hinstellen vor die Höhle, die da niemanden aus und ein
gehen ließ, außer die zwei ältesten von Joseph zurückgelassenen Söhne und die
Salome, die sie mit Speise und Trank versah; denn die Wehmutter zog mit nach
Jerusalem.
[JJ.01_024] 24. Kapitel – Die Beschneidung und Namensgebung des Kindleins und
die Reinigung der Maria. Die Darstellung des Kindes im Tempel durch die Mutter.
Der fromme Simeon und das Jesuskind.
6. September 1843
[JJ.01_024,01] Am achten Tage nachmittags aber – nach gegenwärtiger Rechnung um
die dritte Stunde – ward das Kindlein im Tempel beschnitten und bekam den Namen
Jesus, den der Engel genannt hatte, ehe noch das Kindlein im Mutterleibe
empfangen war.
[JJ.01_024,02] Da aber für den äußersten Fall der erwiesenen Jungfrauschaft
Marias auch ihrer Reinigung Zeit konnte als gültig angesehen werden, so wurde
Maria auch sogleich gereinigt im Tempel.
[JJ.01_024,03] Darum nahm Maria bald nach der Beschneidung das Kindlein auf
ihren Arm und trug Es in den Tempel, auf daß sie Es mit Joseph darstellete dem
Herrn nach dem Gesetze Mosis.
[JJ.01_024,04] Wie es denn auch geschrieben steht im Gesetze Gottes: „Allerlei
Erstgeburt solle dem Herrn geheiligt sein.
[JJ.01_024,05] Und solle darum geopfert werden ein Paar Turteltauben oder ein
Paar junge Tauben!“
[JJ.01_024,06] Und Maria opferte ein Paar Turteltauben und legte es auf den
Opfertisch; und der Priester nahm das Opfer und segnete Mariam.
[JJ.01_024,07] Es war aber auch ein Mensch zu Jerusalem, namens Simeon, der war
überaus fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels; denn er war
erfüllt mit dem Geiste Gottes!
[JJ.01_024,08] Diesem Manne hatte zuvor der Geist des Herrn gesagt: „Du wirst
nicht den Tod des Leibes sehen, bevor du nicht sehen wirst Jesum, den Gesalbten
Gottes, den Messias der Welt.“
[JJ.01_024,09] Darum kam er nun aus einer inneren Anregung in den Tempel, da
gerade Joseph und Maria sich mit dem Kinde noch in dem Tempel befanden und noch
taten, was alles das Gesetz verlangte.
[JJ.01_024,10] Als er aber das Kindlein erblickte, da ging er sobald hin zu den
Eltern und verlangte bittend, daß sie ihn möchten dasselbe auf eine kurze Zeit
auf seine Arme nehmen lassen.
[JJ.01_024,11] Das frommste Elternpaar aber tat das gerne dem alten, überfrommen
Manne, den sie wohl kannten.
[JJ.01_024,12] Und Simeon nahm das Kindlein auf seine Arme, kosete es, lobte
dabei Gott inbrünstigst und sprach endlich:
[JJ.01_024,13] „Herr! nun lasse Du Deinen Diener im Frieden fahren, wie Du es
gesagt hast;
[JJ.01_024,14] denn meine Augen haben nun den Heiland gesehen, den Du verheißen
hast den Vätern und den Propheten.
[JJ.01_024,15] Dieser ist es, den Du bereitet hast vor allen Völkern!
[JJ.01_024,16] Ein Licht zu leuchten den Heiden, ein Licht zum Preise Deines
Volkes Israel.“
[JJ.01_024,17] Joseph und Maria aber wunderten sich selbst über die Worte
Simeons; denn sie verstanden noch nicht, was er von dem Kinde ausgesagt hatte.
[JJ.01_024,18] Simeon aber gab das Kindlein nun der Maria wieder, segnete darauf
beide und sprach dann zur Maria:
[JJ.01_024,19] „Siehe, dieser wird gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler
in Israel, und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird!
[JJ.01_024,20] Ein Schwert aber wird durch deine Seele dringen, auf daß da
vieler Herzen offenbar werden!“
[JJ.01_024,21] Maria aber verstand die Worte Simeons nicht; aber
dessenungeachtet behielt sie dieselben tief in ihrem Herzen.
[JJ.01_024,22] Desgleichen tat es auch der Joseph und lobte und pries Gott darum
gar mächtig in seinem Herzen. – –
[JJ.01_025] 25. Kapitel – Die Prophetin Hanna im Tempel und ihr Zeugnis über das
Jesuskind. Hannas Warnung an Maria. Das Notquartier der heiligen Familie beim
reichen Israeliten.
7. September 1843
[JJ.01_025,01] Es war aber zu dieser Zeit auch eine Prophetin im Tempel – Hanna
war ihr Name; sie war eine Tochter Phanuels vom Stamme Assers.
[JJ.01_025,02] Diese war schon im hohen Alter und war so fromm, daß sie, als sie
sich in ihrer Jugend mit einem Manne verband, aus Liebe zu Gott sieben Jahre
sich nicht enthüllte dem Manne und behielt diese Zeit ihre Jungfrauschaft.
[JJ.01_025,03] In ihrem achtzigsten Jahre ward sie Witwe, ging da sobald in den
Tempel und verließ denselben nicht mehr.
[JJ.01_025,04] Sie diente hier ausschließlich Gott dem Herrn allein durch Beten
und Fasten nahe Tag und Nacht aus eigenem Antriebe.
[JJ.01_025,05] Bei dieser Gelegenheit aber war sie schon vier Jahre also im
Tempel und kam nun auch herzu, pries Gott den Herrn und redete also zu allen,
die da auf den Erlöser harrten zu Jerusalem, was ihr der Geist Gottes gab.
[JJ.01_025,06] Als sie aber zu Ende war mit ihren prophetischen Worten, da bat
auch sie um das Kindlein, kosete es und pries und lobte Gott.
[JJ.01_025,07] Nachdem aber gab sie das Kindlein wieder der Maria und sagte zu
ihr: „Glücklich und gebenedeiet bist du, o Jungfrau, darum du die Mutter meines
Herrn bist.
[JJ.01_025,08] Lasse dir es aber ja nie gelüsten, dich darum preisen zu lassen;
denn Das nur, was da sauget an deiner Brust, ist allein würdig, von uns allen
gelobt, gepriesen und angebetet zu werden!“
[JJ.01_025,09] Nach diesen Worten kehrte die Prophetin wieder zurück, und Joseph
und Maria gingen, nachdem sie bei drei Stunden im Tempel zugebracht hatten,
wieder aus demselben und suchten bei einem Verwandten Herberge.
[JJ.01_025,10] Als sie aber dahin kamen, fanden sie das Haus verschlossen; denn
der Verwandte befand sich diesmal eben auch in Bethlehem bei der Beschreibung.
[JJ.01_025,11] Joseph aber wußte nicht, was er nun tun solle; denn fürs erste
war es bereits tiefe Nacht, wie es in dieser kürzesten Tageszeit gewöhnlich zu
sein pflegt, und es war auch fast kein Haus mehr offen um diese Zeit, und das um
so mehr, da es ein Vorsabbat war.
[JJ.01_025,12] Im ganz Freien zu übernachten, war es zu kalt, indem der Reif auf
den Feldern lag und dazu noch ein kalter Wind wehte.
[JJ.01_025,13] Als Joseph also hin und her dachte und den Herrn bat, daß Er ihm
helfen möchte aus dieser Not,
[JJ.01_025,14] siehe, da kam auf einmal ein junger vornehmer Israelit auf den
Joseph zugeschritten und fragte ihn: „Was machst du denn so spät mit deinem
Gepäck auf der Gasse? Bist du nicht auch ein Israelit – und weißt nicht den
Gebrauch?“
[JJ.01_025,15] Joseph aber sagte: „Siehe, ich bin aus dem Stamme Davids! Ich war
aber im Tempel und habe geopfert dem Herrn; da hat mich die frühe Nacht
übereilt, und nun kann ich keine Herberge finden und bin in großer Angst ob
meines Weibes und ihres Kindes!“
[JJ.01_025,16] Und der junge Israelit sagte zu Joseph: „So kommt mit mir denn;
ich will euch bis morgen eine Herberge vermieten um einen Groschen oder um
dessen Wert!“
[JJ.01_025,17] Und Joseph folgte mit Maria, welche sich auf dem Lasttiere
befand, und mit seinen drei Söhnen dem Israeliten in ein prachtvollstes Haus und
nahm dort in einer niederen Kammer Herberge.
[JJ.01_026] 26. Kapitel – Der Tadel des Herbergsbesitzers Nikodemus. Josephs
Rechtfertigungsrede. Das Zeugnis der Wehmutter. Ein Gnadenwink an Nikodemus, der
den Herrn erkennt.
9. September 1843
[JJ.01_026,01] Am Morgen aber, als Joseph sich schon zur Abreise nach Bethlehem
angeschickt hatte, kam der junge Israelit und war willens, den Mietgroschen zu
verlangen.
[JJ.01_026,02] Aber als er in die Kammer trat, befiel ihn alsobald eine so
mächtige Angst, daß er darob keinen Laut über seine Lippen zu bringen vermochte.
[JJ.01_026,03] Joseph aber trat hin zu ihm und sagte: „Freund! siehe, was wohl
hältst du an mir für einen Groschen wert? – Das nehme, da ich kein Geld in
meinem Besitze habe!“
[JJ.01_026,04] Nun erholte sich der Israelit etwas und sagte mit bebender
Stimme: „Mann aus Nazareth, nun erst erkenne ich dich! – Du bist Joseph, der
Zimmermann, und bist derselbe, dem vor neun Monden Maria, die Jungfrau des
Herrn, aus dem Tempel durchs Los zugefallen ist!
[JJ.01_026,05] Hier ist dieselbe Jungfrau! – Wie hast du sie gehütet, da sie nun
Mutter ist in ihrem fünfzehnten Jahre? – Was ist da vorgefallen?
[JJ.01_026,06] Wahrlich, du bist der Vater nicht! Denn Männer von deinem Alter
und von deiner Gottesfurcht, die anerkannt ist in ganz Israel, tun desgleichen
nimmer.
[JJ.01_026,07] Aber du hast erwachsene Söhne; kannst du bürgen für deren
Unschuld? Hast du sie stets in den Augen gehabt und hast beobachtet all ihr
Denken, Handeln, Tun und Lassen?“
[JJ.01_026,08] Joseph aber entgegnete dem jungen Manne und sprach: „Nun habe
auch ich dich erkannt; du bist Nikodemus, ein Sohn Benjams aus dem Stamme Levi!
Wie magst du mich erforschen wohl, da dir solches nicht zukommt? – Mich aber hat
der Herr erforschet darum im Heiligtume und auf dem Berge des Fluches und hat
mich gerechtfertiget vor dem Hohen Rate; was für Schuld willst du noch an mir
und meinen Söhnen finden?
[JJ.01_026,09] Gehe aber hin in den Tempel und erforsche den Hohen Rat, und es
wird über mein ganzes Haus dir ein rechtes Zeugnis gegeben werden!“
[JJ.01_026,10] Diese Worte drangen dem jungen reichen Manne tief ins Herz, und
er sagte: „Aber um des Herrn willen, wenn es also ist, so sage mir doch, wie es
zugegangen ist, daß diese Jungfrau also geboren hat! – Ist das ein Wunder, oder
ist es natürlich?“
[JJ.01_026,11] Hier trat die anwesende Wehmutter hin zum Nikodemus und sprach:
„Mann! Hier ist der Mietgroschen für die höchst dürftige Herberge! Halte uns
aber nicht vergeblich länger auf; denn wir müssen noch heute in Bethlehem
eintreffen!
[JJ.01_026,12] Bedenke aber, was das ist, was heute in deinem Hause dürftig
beherberget war um einen Groschen! – Wahrlich, wahrlich! deine herrlichsten
Zimmer, die mit Gold und Edelsteinen gezieret sind, wären zu schlecht für solche
Herrlichkeit Gottes, die da eingekehrt ist in diese Kammer, die sich höchstens
für Sträflinge schickt!
[JJ.01_026,13] Gehe aber hin und rühre an das Kindlein, auf daß von deinen Augen
falle die grobe Decke und du sehest, wer dich heimgesucht hatte! – Ich als
Wehmutter aber habe das alte Recht, dir zu gestatten, das Kindlein anzurühren.“
[JJ.01_026,14] Hier ging Nikodemus hin und rührte an das Kindlein; und als er es
berührt hatte, da ward ihm die innere Sehe auf eine kurze Zeit erschlossen, daß
er ersah die Herrlichkeit Gottes.
[JJ.01_026,15] Er fiel sobald nieder vor dem Kinde und betete es an und sprach:
„Welche Gnade, welche Liebe und welche Erbarmung muß, o Herr, in Dir sein, daß
Du also dein Volk heimsuchest!
[JJ.01_026,16] Was solle aber ich nun mit meinem Hause geschehen lassen, und was
mit mir, daß ich die Herrlichkeit Gottes also verkannt habe?!“
[JJ.01_026,17] Die Wehmutter aber sprach: „Bleibe in allem, wie du bist; aber
allertiefst schweige von dem, was du gesehen, sonst unterliegst du dem Gerichte
Gottes!“ – Hier gab Nikodemus den Groschen zurück, ging weinend hinaus und ließ
hernach diese Kammer mit Gold und Edelsteinen verzieren. – Joseph aber machte
sich sogleich auf die Reise.
[JJ.01_027] 27. Kapitel – Die Rückkehr der heiligen Familie nach Bethlehem. Der
herzliche Empfang in der Grotte durch die Zurückgebliebenen. Eine Futterkrippe
als Bettchen für das Kindlein. Gute Ruhe in der Frostnacht.
11. September 1843
[JJ.01_027,01] Abends, noch eine Stunde vor dem Untergange der Sonne, erreichten
die hohen Reisenden Bethlehem wieder und zogen ein in die schon bekannte Höhle.
[JJ.01_027,02] Die beiden zurückgebliebenen Söhne, die Salome und der Hauptmann
kamen ihnen mit offenen Armen entgegen und fragten die Zurückkehrenden
sorglichst, wie es ihnen ergangen sei auf der Reise.
[JJ.01_027,03] Und Joseph erzählte alles, was ihnen begegnet ist, bekannte aber
auch zuletzt, daß er an diesem Tage noch völlig nüchtern sei samt allen den
Mitreisenden; denn der höchst geringe Vorrat hatte kaum für die schwache Maria
hingereicht.
[JJ.01_027,04] Als der Hauptmann solches von Joseph vernommen hatte, da ging er
sogleich in den Hintergrund der Höhle und brachte eine Menge den Juden erlaubter
Speisen hervor und sprach dann zum Joseph:
[JJ.01_027,05] „Hier segne es dir dein Gott, und segne es du nach deiner Sitte,
und stärket und sättiget euch alle daran!“
[JJ.01_027,06] Und der Joseph dankte Gott und segnete die Speise und aß dann
ganz wohlgemut mit Maria und seinen Söhnen und mit der Wehmutter.
[JJ.01_027,07] Es war aber der Maria das Kindlein den ganzen Tag hindurch schon
schwer geworden, darum sie denn auch zum Joseph sagte:
[JJ.01_027,08] „Joseph, siehe, wenn ich nur neben mir ein Plätzchen hätte, das
Kindlein niederzulegen, um meinen Armen eine kleine Ruhe zu gönnen, da wäre ich
für alles versorgt, und das Kindlein Selbst könnte Sich ruhiger im Schlafe
stärken!“
[JJ.01_027,09] Als der Hauptmann solchen Wunsch Mariens noch kaum gemerkt hatte,
da sprang er sogleich in den Hintergrund der Höhle zurück und brachte eilends
eine kleine Futterkrippe hervor, welche für Schafe bestimmt war (und also
aussah, wie heutzutage die Futtertröge vor den Gasthöfen auf dem Lande).
[JJ.01_027,10] Die Salome aber nahm sogleich schönstes frisches Heu und Stroh,
belegte das Kripplein damit, deckte dann ein frisches Tuch darüber und machte
also ein weiches Bettchen fürs Kindlein.
[JJ.01_027,11] Maria aber wickelte das Kindlein in frische Linnen, drückte Es
dann an ihre Brust, küßte Es und gab Es dann dem Joseph zu küssen und dann auch
allen Anwesenden und legte Es dann in das wohl sehr ärmliche Bettchen für den
Herrn Himmels und der Erde!
[JJ.01_027,12] Gar ruhig schlief das Kindlein, und Maria konnte nun ruhig essen
und sich stärken am Mahle, welches ihnen der überaus gutherzige Hauptmann
bereitet hatte.
[JJ.01_027,13] Nach der Mahlzeit aber sprach wieder Maria zu Joseph: „Joseph,
lasse mir mein Lager zurechtmachen, denn ich bin gewaltig müde von der Reise und
möchte mich darum zur Ruhe begeben!“
[JJ.01_027,14] Salome aber sprach: „O Mutter meines Herrn, siehe, dafür ist
schon lange bestens gesorgt; komm und siehe!“
[JJ.01_027,15] Und Maria erhob sich, nahm wieder das Kindlein und ließ sich auch
das Kripplein in ihr Zelt tragen und begab sich also zur Ruhe; und das war die
erste völlige Schlafnacht für Maria nach der Geburt.
[JJ.01_027,16] Der Hauptmann aber ließ ja fleißig heizen auf dem Herde und weiße
Steine wärmen und mit selben das Zelt Mariens umstellen, auf daß sie mit dem
Kindlein ja keine Kälte leiden solle; denn es war dies eine kalte Nacht, in der
das Wasser im Freien zu festem Eise ward.
[JJ.01_028] 28. Kapitel – Joseph drängt zum Aufbruch nach Nazareth. Des
Hauptmanns Rat zu warten. Die Kunde von der persischen Karawane und von des
Herodes Fahndung nach dem Kinde. Marias Furchtlosigkeit und Gottvertrauen.
12. September 1843
[JJ.01_028,01] Am Morgen des kommenden Tages aber sprach Joseph: „Was sollen wir
nun noch länger hier? Maria ist wieder gestärkt, daher wollen wir aufbrechen und
uns nach Nazareth begeben, allwo wir doch eine ordentliche Unterkunft haben!“
[JJ.01_028,02] Als aber der Joseph schon sich zum Aufbruche anzuschicken anfing,
da kam der Hauptmann, welcher vor Tagesanbruch schon in der Stadt etwas zu tun
hatte, wieder zurück und sprach zum Joseph:
[JJ.01_028,03] „Gotteswürdiger Mann! – Du willst aufbrechen zur Heimreise; aber
für heute, morgen und übermorgen widerrate ich es dir!
[JJ.01_028,04] Denn siehe, soeben sind Nachrichten durch meine Leute, die heute
gar früh schon von Jerusalem angekommen sind, zu meinen Ohren gekommen, daß da
in Jerusalem drei mächtige persische Karawanen eingezogen sind!
[JJ.01_028,05] Drei oberste Anführer als Magier hatten sich bei Herodes um den
neugeborenen König der Juden angelegentlichst erkundigt!
[JJ.01_028,06] Dieser, von der Sache als ein römischer Mietfürst aus
Griechenland nichts wissend, wandte sich an die Hohenpriester, auf daß sie ihm
kundgäben, wo der Neugesalbte geboren werden sollte.
[JJ.01_028,07] Diese aber gaben ihm kund, daß solches in Judäa, und zwar in
Bethlehem, geschehen solle; denn also stünde es geschrieben!
[JJ.01_028,08] Darauf entließ der Herodes die Priester und begab sich mit seiner
ganzen Dienerschaft wieder zu den drei Anführern und gab ihnen kund, was er von
den Hohenpriestern erkundschaftet hatte,
[JJ.01_028,09] und empfahl darauf den dreien, in Judäa ja sorglichst den
Neugesalbten der Juden zu suchen und, wenn sie ihn fänden, ja sobald wieder zu
ihm zurückzukehren, auf daß auch dann er käme und dem Kinde seine Huldigung
darbrächte.
[JJ.01_028,10] Weißt du aber, mein geliebtester Freund Joseph, daß ich weder den
Persern, am allerwenigsten aber dem überaus herrschsüchtigen Herodes traue?!
[JJ.01_028,11] Die Perser sollen Magier sein und sollen die Geburt durch einen
sonderbaren Stern entdeckt haben. Das will ich gar nicht in Abrede stellen; denn
haben sich hier bei der Geburt dieses Knäbleins so große Wunder gezeigt, so hat
solches auch in Persien geschehen können.
[JJ.01_028,12] Aber das ist für die Sache eben auch der mißlichste Umstand; denn
offenbar geht es dieses Kind an. Finden es die Perser, so wird es auch der
Herodes finden!
[JJ.01_028,13] Und wir werden uns dann sehr auf die Hinterbeine zu stellen
haben, um dem alten Fuchse aus den Krallen zu kommen!
[JJ.01_028,14] Daher mußt du, wie gesagt, wenigstens drei Tage noch hier
verweilen an diesem abseitigen Orte, binnen welcher Zeit ich mit den
Königsuchern sicher eine gute Wendung machen werde; denn siehe, ich gebiete hier
über zwölf Legionen Soldaten! – Mehr brauche ich dir zu deiner Ruhe nicht zu
sagen. Nun weißt du das Nötigste; bleibe daher! Ich aber gehe nun wieder und
werde um des Tages Mitte wieder zu dir kommen!“
[JJ.01_028] 13. September 1843
[JJ.01_028,15] Joseph, durch diese Nachricht samt seiner Familie
eingeschüchtert, blieb und wartete in aller Ergebung in den Willen des Herrn ab,
was da aus dieser sonderbaren Fügung werden solle.
[JJ.01_028,16] Und er ging hin zur Maria und erzählte ihr, was er soeben vom
Hauptmanne vernommen hatte.
[JJ.01_028,17] Die Maria aber sprach: „Des Herrn Wille geschehe! Was alles für
bittere Dinge sind uns schon bisher begegnet, – und der Herr hat sie alle in
Honig verwandelt!
[JJ.01_028,18] Sicher werden uns auch die Perser nichts zuleide tun, falls sie
im Ernste zu uns kommen sollten; und sollten sie an uns irgendeine bedungene
Gewalt verüben wollen, so haben wir ja durch die Gnade Gottes den Schutz des
Hauptmanns für uns!“
[JJ.01_028,19] Und der Joseph sagte: „Maria, das alles ist in der Ordnung! Die
Perser fürchte ich auch eben nicht so sehr; aber den graubärtigen Herodes,
dieses reißende Tier in menschlicher Gestalt, – der ist es, den ich fürchte, und
auch der Hauptmann sich scheut vor ihm!
[JJ.01_028,20] Denn wird es durch die Perser allenfalls erwiesen, daß da unser
Knäblein der neugesalbte König ist, dann wird uns nichts als eine schnöde Flucht
übrigbleiben!
[JJ.01_028,21] Denn dann wird auch unser Hauptmann aus staatlichen römischen
Rücksichten uns seines Heiles willen zum Feinde werden müssen und wird uns,
statt zu retten, nur verfolgen müssen, will er nicht als ein Abtrünniger und als
ein geheimer Verräter seines Kaisers angesehen werden!
[JJ.01_028,22] Und das sieht er heimlich auch sicher ein, da er selbst zu mir
bezüglich des Herodes nicht unbedeutende Bedenklichkeiten zu erkennen gab.
[JJ.01_028,23] Darum, meine ich, läßt er uns auch noch drei Tage hier harren!
Geht es gut, so bleibt er sicher unser Freund;
[JJ.01_028,24] geht es aber schlecht, so hat er uns aber auch bei der Hand, um
uns der Grausamkeit Herodis auszuliefern, und wird dadurch noch obendrauf von
seinem Kaiser eine große Auszeichnung erhalten, darum er auf eine so feine Art
einen jüdischen König, der einst dem Staate gefährlich werden könnte, aus der
Welt befördert hat!“
[JJ.01_028,25] Maria aber sagte darauf: „Joseph! Ängstige dich und mich nicht
vergeblich! – Siehe, haben wir doch das Fluchwasser getrunken, und es ist uns
nichts geschehen! Warum sollen wir uns denn nun ängstigen, da wir doch schon so
viel der Herrlichkeit Gottes ob dieses Kindes gesehen und erprobet haben?!
[JJ.01_028,26] Gehe es, wie es wolle, ich sage dir: Der Herr ist mächtiger denn
die Perser, der Herodes, der Kaiser Roms und der Hauptmann samt seinen zwölf
Legionen! Daher sei ruhig, wie du siehst, daß ich ruhig bin!
[JJ.01_028,27] Übrigens aber bin ich überzeugt, daß der Hauptmann eher alles
aufbieten wird, als bis er notgedrungen unser Feind werden wird!“
[JJ.01_028,28] Damit ward der gute, frommste Joseph wieder beruhigt und ging hin
und erwartete den Hauptmann und ließ von seinen Söhnen die Höhle beheizen und
einige Früchte kochen für Maria und für sich und die Söhne.
[JJ.01_029] 29. Kapitel – Des bangen Joseph Bitte an den Herrn. Die persische
Karawane vor der Grotte. Der erstaunte Hauptmann. Der drei Weisen Zeugnis über
das Kind: ein König der Könige, ein Herr der Herren von Ewigkeit! Ihre Warnung
vor Herodes.
14. September 1843
[JJ.01_029,01] Der Mittag war herangekommen, aber der Hauptmann verzog diesmal,
und Joseph zählte mit banger Erwartung die Augenblicke; aber der Hauptmann kam
nicht zum Vorscheine.
[JJ.01_029,02] Darum wandte sich Joseph zum Herrn und sprach: „Mein Gott und
mein Herr, ich bitte Dich, daß Du mich doch nicht so sehr möchtest ängstigen
lassen; denn siehe, ich bin alt und schon ziemlich schwach in allen meinen
Gelenken!
[JJ.01_029,03] Daher stärke mich durch eine Verkündung, was ich tun solle, um
nicht zuschanden zu werden vor allen Söhnen Israels!“
[JJ.01_029,04] Als der Joseph also gebetet hatte, siehe, da kam der Hauptmann
fast außer Atem und sprach zu Joseph:
[JJ.01_029,05] „Mann meiner höchsten Achtung! – Soeben komme ich von einem
Marsche zurück, den ich selbst mit einer ganzen Legion nahe auf den drittel Weg
gen Jerusalem gemacht habe, um etwas von den Persern zu erspähen,
[JJ.01_029,06] und habe auch allorts Spione aufgestellt, aber bis jetzt konnte
ich nichts entdecken! Sei aber nur ruhig; denn wenn sie kommen, müssen sie auf
meine ausgestellten Posten stoßen!
[JJ.01_029,07] Da aber solle es ihnen eben nicht zu leicht werden, irgendwo
durchzubrechen und hierher zu gelangen, bevor sie nicht von mir sind verhört und
beurteilt worden! – Ich gehe nun darum sogleich wieder und werde die Wachen
verstärken; am Abende bin ich bei dir!“
[JJ.01_029,08] Hier eilte der Hauptmann wieder fort, und der Joseph lobte Gott
und sprach zu seinen Söhnen: „Nun setzet die Speisen auf den Tisch, und du,
Salome, frage die Maria, ob sie mit uns am Tische essen will, oder sollen wir
ihr die Speisen aufs Lager bringen?“
[JJ.01_029,09] Maria aber kam selbst mit dem Kindlein ganz heiteren Mutes heraus
aus ihrem Zelte und sprach: „Weil ich stark genug bin, will ich bei euch am
Tische essen; nur das Kripplein schaffet her fürs Kindlein!“
[JJ.01_029,10] Joseph aber war darüber voll Freuden und setzte vor Maria die
besten Stücke hin; und sie lobten Gott den Herrn und aßen und tranken.
[JJ.01_029,11] Als sie aber noch kaum abgespeist hatten, siehe, da entstand auf
einmal vor der Höhle ein starkes Lärmen. Joseph sandte den Joel, nachzusehen,
was es gäbe.
[JJ.01_029,12] Als der Joel aber hinausblickte zur Türe (denn die Höhle war am
Ausgange gezimmert), da sah er eine ganze Karawane von Persern mit belasteten
Kamelen und sprach mit ängstlicher Stimme:
[JJ.01_029,13] „Vater Joseph! Um des Herrn willen, wir sind verloren! – Denn
siehe, die berüchtigten Perser sind hier mit vielen Kamelen und großer
Dienerschaft!
[JJ.01_029,14] Sie schlagen ihre Zelte auf und lagern sich in einem weiten
Kreise, unsere Höhle ganz umringend, und drei mit Gold, Silber und Edelsteinen
gezierte Anführer packen goldene Säcke aus und machen Miene, sich herein in die
Höhle zu begeben!“
[JJ.01_029,15] Diese Nachricht machte unseren guten Joseph beinahe
sprachunfähig; mit großer Mühe brachte er die Worte heraus: „Herr, sei mir armem
Sünder barmherzig! – Ja, jetzt sind wir verloren!“ – Maria aber nahm das
Kindlein und eilte damit in ihr Zelt und sprach: „Nur wenn ich tot bin, werdet
ihr Es mir entreißen!“
[JJ.01_029,16] Joseph aber ging nun hin zur Türe, geleitet von seinen Söhnen,
und sah verstohlen hinaus, was da macheten die Perser.
[JJ.01_029,17] Als er aber die große Karawane und die aufgerichteten Zelte
erschaute, da ward es ihm doppelt bange ums Herz, daß er darob inbrünstigst zu
flehen anfing, der Herr möchte ihm nur diesmal aus solcher großen Not helfen.
[JJ.01_029,18] Als er aber also flehte, siehe, da kam der Hauptmann in ganz
kriegerischer Rüstung, geleitet von tausend Kriegern, und stellte die Krieger zu
beiden Seiten der Höhle auf.
[JJ.01_029,19] Er selbst aber ging hin und befragte die drei Magier, aus welcher
Veranlassung und wie – von ihm also ganz unbemerkt – sie hierher gelanget seien.
[JJ.01_029,20] Und die drei sprachen einstimmig zum Hauptmann: „Halte uns ja
nicht für Feinde; denn du siehst ja, daß wir keine Waffen mit uns führen, weder
offene noch verborgene!
[JJ.01_029,21] Wir sind aber Sternkundige aus Persien, und wir haben eine alte
Prophezeiung, in dieser steht es geschrieben, daß in dieser Zeit den Juden wird
ein König der Könige geboren werden, und seine Geburt wird durch einen Stern
angezeigt werden.
[JJ.01_029,22] Und die da den Stern sehen werden, die sollen sich auf die Reise
machen und ziehen, dahin sie der mächtige Stern führen wird; denn sie werden
dort den Heiland der Welt finden, wo der Stern wird seinen Stand nehmen!
[JJ.01_029,23] Siehe aber, ob diesem Stalle stehet der Stern, sicher jedermann
sichtbar am hellen Tage sogar! – Dieser war unser Führer hierher; hier aber
blieb er stehen ob diesem Stalle, und wir haben sicher ohne allen Anstand die
Stelle erreicht, allwo das Wunder aller Wunder sich lebendig vorfindet, ein
neugebornes Kind, ein König der Könige, ein Herr der Herren von Ewigkeit!
[JJ.01_029,24] Diesen müssen wir sehen, anbeten und Ihm die allerhöchste
Huldigung darbringen! – Daher wolle uns ja nicht den Weg verrammen; denn sicher
hat uns kein böser Stern hierher geführt!“
[JJ.01_029,25] Hier sah der Hauptmann nach dem Sterne und verwunderte sich hoch
über ihn; denn fürs erste stand er ganz nieder, und fürs zweite war sein Licht
nahe so stark wie das Naturlicht der Sonne.
[JJ.01_029,26] Als der Hauptmann aber sich von alledem überzeugt hatte, da
sprach er zu den dreien: „Gut, ich habe nun aus euren Worten und aus dem Sterne
die Überzeugung erlangt, daß ihr redlichen Sinnes hierher gekommen seid; aber
nur sehe ich nicht ein, was ihr zuvor in Jerusalem bei Herodes zu tun hattet! – Hat euch der Stern auch jenen Weg gezeigt?
[JJ.01_029,27] Warum hat euch denn euer Wunderführer nicht sogleich hierher
geführt, indem doch alsonach sicher hier der Ort eurer Bestimmung ist? – Darüber
verlange ich noch eine Antwort von euch, sonst kommt ihr nicht in die Höhle!“
[JJ.01_029,28] Die drei aber sagten: „Der große Gott wird das wissen! Sicher muß
es in Seinem Plane liegen; denn keiner aus uns hatte je den Sinn gefaßt, sich
Jerusalem auch nur von ferne zu nahen!
[JJ.01_029,29] Und du kannst uns völlig glauben, uns gefielen die Menschen in
Jerusalem gar nicht, am wenigsten aber der Fürst Herodes! Da wir aber schon dort
waren und aller Stadt Aufmerksamkeit auf uns gerichtet war, so mußten wir doch
zeigen, was da ist unsere Absicht!
[JJ.01_029,30] Die Priester gaben uns Kunde durch den Fürsten, der uns bat, daß
wir ihm wieder die Kunde überbringen sollen von dem gefundenen Könige, auf daß
auch er käme und brächte dem neuen Könige seine Huldigung dar.“
[JJ.01_029,31] Der Hauptmann aber sprach: „Das werdet ihr nimmer tun; denn ich
kenne die Absicht dieses Fürsten! Eher bleibet ihr hier als Geiseln! – Ich aber
gehe nun hinein und will mich mit dem Vater des Kindes über euch besprechen.“
[JJ.01_030] 30. Kapitel – Der Stern der drei Weisen und die alte Prophezeiung
der persischen Sternkundigen. Die Anbetung des Herrn, des Schöpfers der
Unendlichkeit und Ewigkeit, im Kinde durch die drei Weisen. Ihre Namen: Chaspara,
Melcheor und Balthehasara. Die sie begleitenden Geister: Adam, Kain und Abraham.
Sie huldigen dem Herrn und bringen Ihm Geschenke dar.
16. September 1843
[JJ.01_030,01] Als der gute Joseph alles das vernommen hatte, da ward es ihm
leichter ums bedrängte Herz; und da er vernommen hatte, daß der Hauptmann zu ihm
kommen werde, so machte er sich auf seinen Empfang bereit.
[JJ.01_030,02] Und der Hauptmann trat ein, grüßte den Joseph und sprach dann zu
ihm: „Mann meiner höchsten Achtung!
[JJ.01_030,03] Siehe, durch wunderbare Fügung sind diese draußen nun harrenden
Morgenländer hierher gekommen. – Ich habe sie scharf geprüft und habe an ihnen
nichts Arges entdeckt!
[JJ.01_030,04] Sie wünschen dem Kinde nach der Beheißung ihres Gottes ihre
Huldigung darzubringen, und so bin ich der Meinung, du kannst sie ohne die
allergeringste Furcht hereinlassen, wann es dir gelegen ist.“
[JJ.01_030,05] Und der Joseph sprach: „Wenn es also ist, da will ich meinen Gott
loben und preisen; denn Er hat wieder einen glühenden Stein von meinem Herzen
genommen!
[JJ.01_030,06] Aber es hat sich zuvor die Maria etwas entsetzt, als sich die
Perser um diese Höhle zu lagern anfingen; darum muß ich doch zuvor nachsehen,
wie sie bestellt ist, auf daß da ein unvorbereitetes Eintreten dieser Gäste sie
nicht noch mehr erschreckt, als sie sich schon ehedem vor ihnen erschreckt hat.“
[JJ.01_030,07] Der Hauptmann aber billigte diese Vorsicht Josephs; und Joseph
ging hin zur Maria und benachrichtigte sie von allem, was er vom Hauptmann
vernommen hatte.
[JJ.01_030,08] Und Maria ganz heiteren Mutes sprach: „Friede allen Menschen auf
Erden, die eines treuen und guten Herzens sind und haben einen Willen, der sich
von Gott lenken läßt!
[JJ.01_030,09] Diese sollen nur kommen, wann es ihnen des Herrn Geist anzeigen
wird, und sollen den Segen ihrer Treue ernten! – Denn ich habe nicht die
allergeringste Furcht vor ihnen!
[JJ.01_030,10] Aber wenn sie eintreten werden, mußt du doch mir recht nahe zur
Seite stehen; denn es würde sich doch nicht schicken, daß ich sie ganz allein
empfinge in diesem Zelte!“
[JJ.01_030,11] Joseph aber sagte: „Maria, so du Kraft hast, da stehe auf mit dem
Kinde, nehme das Kripplein und lege Es vor dir in dasselbe, und dann können die
Gäste eintreten und dem Kinde ihre Ehre geben!“
[JJ.01_030,12] Und die Maria vollzog sogleich diesen Willen Josephs, und Joseph
sprach darauf zum Hauptmann:
[JJ.01_030,13] „Siehe, wir sind bereit; so da die drei eintreten wollen, da
können wir es ihnen schon andeuten, daß wir nach unserer Armut ganz auf ihren
Empfang bereitet sind!“
[JJ.01_030,14] Und der Hauptmann ging hinaus und kündigte solches den dreien an.
– Die drei aber fielen sobald zur Erde nieder, lobten Gott für diese Gestattung,
nahmen dann die goldenen Säcke und begaben sich allerehrfurchtsvollst in die
Höhle.
[JJ.01_030] 18. September 1843
[JJ.01_030,15] Der Hauptmann öffnete die Tür, und die drei traten mit der
allerhöchsten Ehrfurcht in die Höhle; denn es ging im Augenblicke ihres
Eintretens ein mächtiges Licht vom Kinde aus.
[JJ.01_030,16] Als sie, die drei Weisen nämlich, sich auf ein paar Tritte dem
Kripplein, darinnen das Kindlein lag, näherten, da fielen sie sobald auf ihre
Angesichter nieder und beteten dasselbe an.
[JJ.01_030,17] Bei einer Stunde lang lagen sie, von der höchsten Ehrfurcht
ergriffen und gebeugt, vor dem Kinde; dann erst erhoben sie sich langsam und
richteten kniend ihre mit Tränen befeuchteten Angesichter auf und besahen den
Herrn, den Schöpfer der Unendlichkeit und Ewigkeit.
[JJ.01_030,18] Die Namen der drei aber waren: Chaspara, Melcheor und
Balthehasara.
[JJ.01_030,19] Und der erste, in Gesellschaft des Geistes Adams, sprach: „Gebet
Gott die Ehre, das Lob, den Preis! Hosianna, hosianna, hosianna Gott, dem
Dreieinigen, von Ewigkeit zu Ewigkeit!“
[JJ.01_030,20] Hier nahm er den goldgewirkten Beutel, in dem dreiunddreißig
Pfunde feinsten Weihrauchs waren, und übergab ihn mit der größten Ehrerbietung
der Maria mit den Worten:
[JJ.01_030,21] „Nimm ohne Scheu, o Mutter, dies geringe Zeugnis dessen, davon
mein ganzes Wesen ewig erfüllt sein wird! – Nimm hin den schlechten äußeren
Tribut, den jedes denkende Geschöpf aus dem Grunde seines Herzens seinem
allmächtigen Schöpfer schuldet für ewig!“
[JJ.01_030,22] Maria nahm den schweren Beutel und übergab ihn dem Joseph, und
der Spender erhob sich, stellte sich hin zur Türe und kniete da abermals nieder
und betete den Herrn in dem Kinde an.
[JJ.01_030,23] Und sobald erhob der zweite, der da ein Mohr war und des Kain
Geist in seiner Gesellschaft hatte, einen etwas kleineren Beutel, aber von
gleichem Gewichte, gefüllt mit reinstem Golde, und überreichte ihn der Maria mit
den Worten:
[JJ.01_030,24] „Was dem Könige der Geister und der Menschen auf Erden gebührt,
bringe ich dar, ein kleinstes Opfer Dir, Du Herr der Herrlichkeit ewig! – Nimm
es hin, o Mutter, die du geboren hast, das aller Engel Zunge ewig nie wird
auszusprechen imstande sein!“
[JJ.01_030,25] Hier übernahm Maria den zweiten Beutel und übergab ihn dem
Joseph. – Und der opfernde Weise erhob sich und ging hin zum ersten und tat, was
dieser tat.
[JJ.01_030,26] Sodann erhob sich der dritte, nahm seinen Beutel, gefüllt mit
allerfeinster Goldmyrrhe, einer damals allerkostbarsten Spezerei, und übergab
ihn der Maria mit den Worten:
[JJ.01_030,27] „Der Geist Abrahams ist in meiner Gesellschaft und sieht nun den
Tag des Herrn, auf den er sich so mächtig gefreut hat!
[JJ.01_030,28] Ich aber, Balthehasara, opfere hier in kleiner Gabe, was da
gebühret dem Kinde der Kinder! – Nimm es hin, o Mutter aller Gnade! – Ein
besseres Opfer aber berge ich in meiner Brust; es ist meine Liebe, – diese solle
diesem Kinde ewig ein wahrstes Opfer bleiben!“
[JJ.01_030,29] Hier nahm Maria den ebenfalls dreiunddreißig Pfunde schweren
Beutel und übergab ihn dem Joseph. – Der Weise aber erhob sich dann auch und
ging hin zu den zwei ersten, betete an das Kindlein und ging nach vollendetem
Gebete mit den ersten zweien hinaus, da ihre Zelte aufgerichtet waren.
[JJ.01_031] 31. Kapitel – Maria weist hin auf die Gnadenführung Gottes. Josephs
Redlichkeit und Treue. Die drei gesegneten Geschenke Gottes: Sein heiliger
Wille, Seine Gnade und Seine Liebe. Marias, des Hauptmanns und des Kindleins
edelstes Zeugnis für Joseph.
19. September 1843
[JJ.01_031,01] Als die drei Weisen aber völlig wieder draußen waren und sich zur
Ruhe begeben hatten in ihren Zelten, da sagte die Maria zum Joseph:
[JJ.01_031,02] „Siehe, siehe nun, du ängstlicher, sorgerfüllter Mann, wie
herrlich und gut der Herr, unser Gott, ist, wie gar so väterlich Er für uns
sorgt!
[JJ.01_031,03] Wer hätte von uns sich je im Traume etwas solches können
beifallen lassen? Aus unserer großen Angst hat Er solch einen Segen für uns
bewirkt und hat alle unsere große Furcht und Sorge in eine so große Freude
verwandelt!
[JJ.01_031,04] Von denen wir befürchteten, daß sie nach dem Leben des Kindes
trachten möchten, gerade von denen haben wir erlebt, daß sie Ihm nur eine Ehre
dargebracht haben, wie wir sie nur immer Gott, dem Herrn, schuldig sind!
[JJ.01_031,05] Und haben uns noch obendrauf so reichlich beschenkt, daß wir uns
um den Wert der Geschenke ein sehr ansehnliches Landgut völlig zu eigen ankaufen
können und können dort für die Erziehung des göttlichen Kindes sicher nach dem
Willen des Herrn bestens sorgen!
[JJ.01_031,06] O Joseph! – Heute erst will ich dem allerliebvollsten Herrn
danken, Ihn loben und preisen die ganze Nacht hindurch; denn Er ist nun unserer
Armut auch so sehr zuvorgekommen, daß wir uns jetzt recht gütlich behelfen
können! – Was sagst denn du dazu, lieber Vater Joseph?“
[JJ.01_031,07] Und der Joseph sprach: „Ja, Maria, unendlich gut ist Gott der
Herr denen, die Ihn lieben über alles und alle ihre Hoffnung auf Ihn allein
richten; – aber ich meine, nicht uns, sondern dem Kinde gelten die Geschenke,
und wir haben demnach nicht das Recht, sie zu gebrauchen nach unserem Gutdünken.
[JJ.01_031,08] Das Kind aber heißt Jesus und ist ein Sohn des Allerhöchsten;
daher müssen wir zuerst den allerhabensten Vater fragen, was da mit diesen
Schätzen geschehen solle!
[JJ.01_031,09] Und was Er damit anordnen wird, das wollen wir auch tun; ohne
Seinen Willen aber will ich sie nicht anrühren mein Leben lang und will dir und
mir lieber auf die beschwerlichste Art von der Welt ein gesegnetes Stückchen
Brotes verdienen!
[JJ.01_031,10] Habe ich dich und meine Söhne doch bis jetzt durch die vom Herrn
gesegnete Arbeit meiner Hände ernährt; also werde ich es mit der Hilfe des Herrn
auch noch fürder zu tun vermögen!
[JJ.01_031,11] Daher sehe ich nicht auf diese Geschenke, sondern allein auf den
Willen des Herrn und auf Seine Gnade und Liebe.
[JJ.01_031,12] Das sind die drei größten, uns allzeit mächtig segnenden
Geschenke Gottes; Sein heiliger Wille ist mir der köstlichste Weihrauch, Seine
Gnade das reinste und schwerste Gold, und Seine Liebe die allerköstlichste
Myrrhe!
[JJ.01_031,13] Diese drei Schätze dürfen wir allzeit ohne Scheu verschwenderisch
gebrauchen; aber diesen Weihrauch, dieses Gold und diese Myrrhen da in den
goldenen Säcken dürfen wir nicht anrühren ohne die ersten drei Hauptschätze, die
uns bis jetzt noch immer die reichlichsten Interessen abgeworfen haben.
[JJ.01_031,14] Also, liebe Maria, wollen wir tun, und ich weiß, der Herr wird
uns darum mit großem Wohlgefallen ansehen; Sein Wohlgefallen aber sei uns der
allergrößte Schatz!
[JJ.01_031,15] Was meinst du, holdeste Maria, habe ich recht oder nicht? Ist
also nicht am besten mit diesen Schätzen die rechte Bestimmung getroffen?“
[JJ.01_031,16] Hier wurde die Maria bis zu Tränen gerührt und lobte die Weisheit
Josephs. Und der Hauptmann fiel dem Joseph um den Hals und sprach: „Ja, du bist
noch ein wahrer Mensch nach dem Willen deines Gottes!“ – Das Kindlein aber sah
den Joseph lächelnd an, hob ein Händchen auf und tat, als segnete Es den
Nährvater, den frömmsten Joseph.
[JJ.01_032] 32. Kapitel – Der Engel als Ratgeber der drei Weisen. Der Abzug der
Weisen nach dem Morgenland. Die Ungeduld Josephs. Des Cornelius beruhigende
Worte an Joseph. Josephs Hinweis auf die Macht und Güte Gottes.
20. September 1843
[JJ.01_032,01] Die drei Weisen aber traten in einem Zelte zusammen und
besprachen, was sie nun tun sollten.
[JJ.01_032,02] Sollten sie dem Herodes das gegebene Wort halten, oder sollten
sie hier zum ersten Male wortbrüchig werden?
[JJ.01_032,03] Und so sie einen anderen Weg in ihr Land einschlagen sollten, da
frage es sich, welchen, der sie sicher wieder brächte in ihr Land.
[JJ.01_032,04] Und einer fragte den andern: „Wird wohl der wunderbare Stern, der
uns hierher geführt hatte, uns auch wieder anderen Weges nach Hause führen?“
[JJ.01_032,05] Als sie sich aber also berieten, siehe, da trat auf einmal ein
Engel unter sie und sprach zu ihnen: „Sorget euch nicht vergeblich, der Weg ist
schon gebahnt!
[JJ.01_032,06] So gerade als da fallet der Sonne Strahl auf die Erde am Mittage,
ebenso geraden Weges sollet ihr morgen in euer Land anderen Weges denn über
Jerusalem geleitet werden!“
[JJ.01_032,07] Darauf verschwand der Engel, und die drei begaben sich zur Ruhe.
Und früh am Morgen zogen sie von da hinweg und gelangten auf dem kürzesten Wege
bald wieder in ihr Land, allwo sie vielen Freunden die große Ehre Gottes
verkündeten und weckten sie wieder im rechten Glauben an den einigen Gott.
[JJ.01_032,08] Am selben Morgen aber fragte Joseph den Hauptmann, wie lange er
denn noch in dieser Höhle werde verweilen müssen.
[JJ.01_032,09] Der Hauptmann aber sagte freundlichst zu Joseph: „Mann meiner
höchsten Achtung! Glaubst du denn, ich halte dich hier wie einen Gefangenen?
[JJ.01_032,10] O welch ein Gedanke! – Wie sollte ich, ein Wurm im Staube vor der
Macht deines Gottes, dich wohl je gefangen halten!? – Was aber meine Liebe zu
dir tut, siehe, das ist ja keine Gefangenschaft!
[JJ.01_032,11] Von meiner Macht aus bist du zu jeder Stunde frei und kannst
ziehen, dahin du willst! – Aber nicht ebenso frei bist du von meinem Herzen aus;
das möchte dich freilich hier halten für alle Zeit, denn es liebt dich und dein
Söhnlein mit unbeschreiblicher Macht!
[JJ.01_032,12] Sei aber noch ein paar Tage ruhig; ich will sogleich Kundschafter
nach Jerusalem senden und dort erfahren, was da der graue Fuchs machen wird, so
die Perser ihm das Wort nicht gehalten haben!
[JJ.01_032,13] Dann aber werde ich mich schon zu richten wissen und werde dich
schützen gegen jede Verfolgung dieses Wüterichs.
[JJ.01_032,14] Denn du kannst es mir glauben, dieser Herodes ist der größte
Feind meines Herzens, und ich will ihn schlagen, wo ich nur immer mag und kann!
[JJ.01_032,15] Ich bin freilich nur ein Hauptmann und bin noch selbst ein
Untergebener dem höheren Feldherrn, der zu Sidon und Smyrna residiert und
befiehlt über zwölf Legionen in Asien.
[JJ.01_032,16] Aber ich bin kein gemeiner Zenturio, sondern bin ein Patrizier
und gebiete daher nach meinem Titel mit über die zwölf Legionen in Asien! So ich
eine oder die andere gebrauchen will, da brauche ich nicht erst nach Smyrna zu
senden, sondern als Patrizier nur zu gebieten, und die Legion muß mir gehorchen!
Daher kannst du auf mich schon rechnen, wenn sich Herodes erheben sollte!“
[JJ.01_032] 22. September 1843
[JJ.01_032,17] Joseph dankte dem Hauptmann für diese allerfreundlichste
Sorgfalt, setzte aber dann hinzu und sprach:
[JJ.01_032,18] „Höre mich nun auch an, du achtbarster Freund! – Siehe, du hast
dich ehedem wohl auch allerwachsamst gesorget wegen der Perser; aber was hat das
alles genützt?!
[JJ.01_032,19] Die Perser kamen ungesehen von all deinen tausend Augen und
hatten lange eher schon ihr Lager geschlagen, als du auch nur einen von ihnen
entdecken mochtest!
[JJ.01_032,20] Siehe, hätte mich da der Herr, mein Gott, nicht beschützt, wo
wäre ich nun schon mit deiner Hilfe? Ehe du zum Vorscheine kamst, hätten die
Perser mich samt meiner Familie schon lange erwürgen können!
[JJ.01_032,21] Daher sage ich dir nun als ein wärmsten Dankes vollster Freund:
Menschenhilfe ist zu nichts nütze; denn alle Menschen sind nichts vor Gott!
[JJ.01_032,22] So aber Gott der Herr uns helfen will und auch allein nur helfen
kann, da sollen wir uns gar nicht viel Mühens machen; denn es wird trotz alles
unseres Mühens dennoch alles also geschehen, wie es der Herr will, aber nie, wie
wir es wollen.
[JJ.01_032,23] Unterlasse daher das mühsame und gefährliche Auskundschaften in
Jerusalem, durch das du fürs erste wenig Erhebliches erfahren möchtest und fürs
zweite, so es aufkäme, dir noch meinetwegen ein herbes Los bereiten könntest!
[JJ.01_032,24] In dieser Nacht aber wird es mir der Herr ohnehin sicher
anzeigen, was da Herodes tun wird, und was ich werde tun müssen; daher magst du
nun samt mir ganz ruhig sein und den Herrn allein über mich und dich walten
lassen, und es wird schon alles recht sein.“
[JJ.01_032,25] Als der Hauptmann aber solche Rede von Joseph vernommen hatte,
ward er sehr bewegt in seinem Gemüte, und es tat ihm wehe, daß der Joseph seine
Hilfe abgelehnt hatte.
[JJ.01_032,26] Joseph aber sprach: „Guter, liebster Freund! dich schmerzt es,
weil ich dir es abgeraten habe, dich ferner noch um meine Wohlfahrt zu kümmern.
[JJ.01_032,27] Aber so du die Sache beim hellen Lichte betrachtest, da mußt du
ja doch selbst notwendig dasselbe finden!
[JJ.01_032,28] Siehe, wer von uns hat noch je die Sonne und den Mond und alle
die Sterne über das Firmament getragen? Wer von uns noch je den Winden, Stürmen
und Blitzen geboten?
[JJ.01_032,29] Wer hat dem mächtigen Meere sein Bett gegraben, wer von uns den
großen Strömen ihren Weg vorgezeichnet?
[JJ.01_032,30] Welchen Vogel haben wir den schnellen Flug gelehrt und wann sein
Gefieder geordnet? Wann für ihn die klang- und sangreiche Kehle gebildet?
[JJ.01_032,31] Wo wohl stehet das Gras, zu dessen Wachstume wir den lebendigen
Samen gebildet hätten?
[JJ.01_032,32] Siehe, das alles aber tut der Herr täglich! – So dich aber Sein
mächtiges wunderbares Walten doch in jedem Augenblicke an Seine unendlich
liebvollste Fürsorge erinnert, wie sollte es dich da wundern, wenn ich dich
freundlichst darauf aufmerksam mache, da vor Gott alle Menschenhilfe in den
Staub der Nichtigkeit zurücksinket?“
[JJ.01_032,33] Diese Worte brachten den Hauptmann wieder in eine günstige
Stimmung; aber dessenungeachtet sandte er dennoch heimlich Kundschafter nach
Jerusalem, um zu erfahren, was dort vor sich ginge.
[JJ.01_033] 33. Kapitel – Die Vorbereitungen zur Flucht nach Ägypten. Die
Vorsorge des Herrn. Joseph bespricht sich mit Cornelius.
23. September 1843
[JJ.01_033,01] In dieser Nacht aber erschien dem Joseph, wie der Maria, ein
Engel im Traume und sprach:
[JJ.01_033,02] „Joseph! verkaufe die Schätze und kaufe dir noch einige
Lasttiere; denn du mußt mit deiner Familie nach Ägypten fliehen!
[JJ.01_033,03] Siehe, Herodes ist in einen mächtigen Grimm ausgebrochen und hat
beschlossen, alle Kinder von ein bis zwölf Jahren Alters zu ermorden, darum er
von den Weisen hintergangen ward!
[JJ.01_033,04] Diese hätten es ihm anzeigen sollen, wo der neue König geboren
ward, auf daß er dann seine Schergen ausgesandt hätte, welche das Kind hätten
ermorden sollen, welches da ist der neue König.
[JJ.01_033,05] Wir Engel der Himmel aber haben die Weisung vom Herrn erhalten,
eher noch, als Er in die Welt ging, über alles das allsorglichst zu wachen, was
eure Sicherheit betrifft!
[JJ.01_033,06] Darum denn kam ich nun zu dir, um es dir anzuzeigen, was der
Herodes tun wird, da er des Einen nicht bestimmt habhaft werden kann.
[JJ.01_033,07] Der Hauptmann selbst wird müssen dem Herodes Subsidien leisten,
will er nicht von ihm beim Kaiser verraten werden; darum sollst du dich schon
morgen auf die Reise machen!
[JJ.01_033,08] Solches aber kannst denn du wohl auch dem Hauptmann anzeigen, und
er wird dir behilflich sein zur schleunigen Abreise! – Also geschehe im Namen
Dessen, der da lebet und sauget die Brüste Marias!“
[JJ.01_033,09] Hier ward Joseph wach, und also auch die Maria, die da sogleich
mit ängstlicher Stimme den Joseph zu sich rief und ihm dann sogleich ihren Traum
erzählte.
[JJ.01_033,10] Joseph aber ersah sobald sein Gesicht in der Erzählung Mariens
und sagte darauf: „Maria, sorge dich nicht, noch vor der Mitte des Tages sind
wir schon übers Gebirge – und in sieben Tagen in Ägypten!
[JJ.01_033,11] Ich will aber nun, da es schon helle wird, sogleich ausgehen und
alles bestellen zur schnellen Abreise.“
[JJ.01_033,12] Hier ging der Joseph auch sobald mit den drei ältesten Söhnen,
nahm die Schätze und trug sie hin zu einem Wechsler, welcher ihm sobald die Türe
öffnete und ihm alles ablöste um den gerechten Betrag.
[JJ.01_033,13] Dann ging Joseph zu einem Lasttierhändler, geleitet von einem
Diener des Wechslers, und kaufte sogleich noch sechs lastbare Esel und kam also
wohl ausgerüstet wieder in die Höhle zurück.
[JJ.01_033,14] Daselbst harrte auch schon der Hauptmann seiner und erzählte ihm
sogleich, was für allergrausamst schändlichste Nachrichten ihm von Jerusalem
überbracht worden sind.
[JJ.01_033] 25. September 1843
[JJ.01_033,15] Joseph aber verwunderte sich nicht sehr über diese Erzählung des
Hauptmanns, sondern sprach nur in einem gottergebenen Tone:
[JJ.01_033,16] „Geehrter Freund! was du mir hier kundgibst, das alles und viel
genauer ließ mir in dieser Nacht, wie ich es dir gestern meldete, der Herr
kundgeben, was alles der Herodes beschlossen hat!
[JJ.01_033,17] Siehe, du selbst wirst ihm noch obendrauf müssen Subsidien
leisten; denn er will um Bethlehem und in der Stadt selbst alle Kinder von
etlichen Wochen Alters bis ins zwölfte Jahr erwürgen lassen, um unter ihnen auch
auf das meine zu kommen!
[JJ.01_033,18] Darum muß ich heute noch fliehen von hier, dahin mich des Herrn
Geist führen wird, um der Grausamkeit Herodis zu entkommen.
[JJ.01_033,19] Darum aber ersuche ich dich, daß du mir den sicheren Weg gen
Sidon weisest; denn schon in einer Stunde muß ich aufbrechen!“
[JJ.01_033,20] Als der Hauptmann aber solches vernommen hatte, ward er ergrimmt
über alle Maßen über den Herodes und schwor ihm unversiegbare Rache, sagend:
[JJ.01_033,21] „Joseph, so wahr es jetzt Tag wird und die Sonne schon über dem
Horizonte steht, so wahr dein Gott lebt, so wahr will ich mich als edelster
Patrizier Roms eher ans Kreuz binden lassen, ehe ich solch ein Unternehmen den
Wüterich werde ungestraft verüben lassen!
[JJ.01_033,22] Führen will ich dich sogleich übers Gebirge selbst mit einer
guten Bedeckung; und weiß ich dich in Sicherheit, dann werde ich zurückeilen und
sogleich einen Eilboten nach Rom senden, der dem Kaiser alles anzeigen soll, was
da der Herodes zu unternehmen gedenkt.
[JJ.01_033,23] Ich aber werde alles Mögliche aufbieten, um hier das Vorhaben des
Scheusals zu hintertreiben.“
[JJ.01_033,24] Und der Joseph erwiderte: „Guter, achtbarster Freund! Wenn du
schon etwas tun kannst, da beschütze wenigstens die Kinder von drei bis zwölf
Jahren! Solches wird in deiner Macht stehen!
[JJ.01_033,25] Aber die Kindlein von der Geburt an bis ins zweite Jahr wirst du
nicht zu schützen vermögen!
[JJ.01_033,26] Ersteren Schutz aber wirst du auch nicht durch Gewalt, sondern
allein durch Klugheit zu bewerkstelligen imstande sein!
[JJ.01_033,27] Der Herr aber wird dich in solcher Klugheit leiten! Darum denke
nicht viel, was du tun wirst; denn der Herr wird dich leiten im geheimen!“
[JJ.01_033,28] Der Hauptmann aber sprach: „Nein, nein, der Kinder Blut solle
nicht fließen; eher will ich militärische Gewalt brauchen!“
[JJ.01_033,29] Joseph aber sprach: „Siehe, was kannst du wohl tun, so der
Herodes schon mit einer ganzen römischen Legion soeben Jerusalem verläßt, – wirst du wider deine eigene Macht ins Feld ziehen?
– Daher tue, wie dich der
Herr leiten wird, damit du auf freundlichem Wege doch die Drei- bis
Zwölfjährigen rettest!“ – Hier gab der Hauptmann nach.
[JJ.01_034] 34. Kapitel – Der Aufbruch zur Flucht. Josephs Bitte an Salome. Der
Abschied vom Hauptmann. Die Abreise. Der Schutzbrief des Cornelius an Cyrenius.
Josephs Reiseweg. Das Erlebnis mit den Räubern. Josephs Ankunft in Tyrus bei
Cyrenius. Des Cyrenius Trostworte und Hilfe.
26. September 1843
[JJ.01_034,01] Nach dieser Unterredung Josephs mit dem Hauptmanne sprach der
Joseph zu seinen Söhnen: „Machet euch auf, und rüstet die Lasttiere!
[JJ.01_034,02] Die sechs neuen Esel sattelt für mich und euch und den alten und
approbierten für die Maria! Nehmet, soviel ihr könnet, von den Eßwaren mit; den
Ochsen mit dem Karren aber lassen wir hier der Wehmutter zum Angedenken und zum
Lohne für ihre Aufmerksamkeit für uns!“
[JJ.01_034,03] Also ward der Ochse mit dem Karren von der Wehmutter in Besitz
genommen und wurde zu keiner Arbeit mehr verwendet.
[JJ.01_034,04] Die Salome aber fragte den Joseph, ob sie nicht mit ihm ziehen
dürfte.
[JJ.01_034,05] Und der Joseph sprach: „Das kommt auf dich an; ich aber bin arm,
das weißt du, und kann dir keinen Lohn geben, so du mir eine Magd abgeben
möchtest!
[JJ.01_034,06] Hast du aber Mittel und kannst sorgen mit mir für den Mund und
für des Leibes Haut, da kannst du mir ja folgen!“
[JJ.01_034,07] Die Salome aber sprach: „Höre, du Sohn des großen Königs David!
Nicht nur für mich, sondern für deine ganze Familie solle mein Vermögen auf
hundert Jahre genügen!
[JJ.01_034,08] Denn ich bin reicher an Weltgütern, als du dir es gedenken
möchtest! Warte aber nur noch eine Stunde, und ich werde mit Schätzen beladen
reisefertig dastehen!“
[JJ.01_034,09] Joseph aber sprach: „Salome, siehe, du bist eine junge Witwe und
bist Mutter; du mußt also auch deine zwei Söhne mitnehmen!
[JJ.01_034,10] Siehe, das wird dir viel Arbeit machen, und ich habe keine Minute
Zeit mehr zu verlieren; denn in drei Stunden wird schon Herodes hier seinen
Einzug halten, und in einer Stunde werden schon seine Vorboten und Läufer
eintreffen!
[JJ.01_034,11] Daraus aber kannst du ersehen, daß es für mich unmöglich ist, auf
deine Zurechtrichtung zu warten!
[JJ.01_034,12] Daher meine ich, so du bleibest, tust du besser, indem ich nicht
durch dich aufgehalten werde; komme ich aber einst nach dem Willen des Herrn
wieder zurück, so werde ich wieder Nazareth beziehen.
[JJ.01_034,13] So du mir aber schon einen Dienst erweisen willst, so ziehe bei
Gelegenheit nach Nazareth und verpachte auf weitere drei bis sieben oder zehn
Jahre meinen Grund, auf daß er nicht in fremde Hände komme!“
[JJ.01_034,14] Und die Salome stand von ihrer Forderung ab und begnügte sich mit
diesem Auftrage.
[JJ.01_034,15] Nachdem umarmte Joseph den Hauptmann und segnete ihn – und berief
dann die Maria, auf daß sie sich setzete auf ihr Lasttier mit dem Kindlein.
[JJ.01_034,16] Als sonach alles zur Abreise bereitet war, sprach der Hauptmann
zum Joseph: „Mann meiner höchsten Achtung! – werde ich dich je wieder zu sehen
bekommen! – und dieses Kind mit der Mutter?!“
[JJ.01_034,17] Und der Joseph sprach: „Es werden kaum drei Jahre verfließen,
werde ich dich wieder begrüßen und das Kind und Seine Mutter! Des sei
versichert; – nun aber lasse uns aufbrechen, Amen.“ –
[JJ.01_034,18] Hier bestieg Joseph sein Lasttier, und seine Söhne folgten seinem
Beispiele; und Joseph ergriff die Zügel des Lasttieres der Maria und führte es
unter Lobpreisung des Herrn aus der Höhle.
[JJ.01_034,19] Als sich nun alles schon im Freien befand, da ersah Joseph, wie
sich eine Menge Volkes aus der Stadt zu drängen anfing, um den Abzug des
Neugebornen zu sehen, indem es durch die heimkehrende Wehmutter und durch den
Wechsler erfuhr, daß solches geschehen werde.
[JJ.01_034,20] Dem Joseph aber kam die Gafflust sehr ungelegen; er bat daher den
Herrn, Er möchte ihn doch so bald als möglich dieser schnöden Gafflust müßiger
Menschen entziehen.
[JJ.01_034,21] Und siehe, sobald fiel ein dichter Nebel über die ganze Stadt,
und es war niemandem möglich, auch nur fünf Schritte weit zu sehen.
[JJ.01_034,22] Das Volk aber ward darob verdrießlich und zog sich wieder in die
Stadt zurück, und Joseph, geleitet vom Hauptmanne und der Salome, konnte
ungesehen das nächste Gebirge erreichen.
[JJ.01_034,23] Als er so die Grenze zwischen Judäa und Syrien erreichte, da gab
der Hauptmann dem Joseph einen Schutzbrief an den Landpfleger Cyrenius, der über
Syrien gestellt war.
[JJ.01_034,24] Und Joseph nahm ihn mit Dank an, und der Hauptmann sprach: „Cyrenius
ist ein Bruder zu mir; mehr brauche ich dir nicht zu sagen, und so denn reise
glücklich und komme wieder also!“ Hier kehrte der Hauptmann um mit der Salome,
und Joseph zog weiter im Namen des Herrn.
[JJ.01_034,25] Um die Mittagsstunde hatte Joseph die Vollhöhe des Gebirges
erreicht, in einer Entfernung von zwölf Stunden von Bethlehem, welche schon ganz
in Syrien lag, auch zu der Zeit von den Römern Coelesyria genannt ward.
[JJ.01_034,26] Denn Joseph mußte diesen etwas größeren Umweg nehmen, indem von
Palästina kein sicherer Weg nach Ägypten führte.
[JJ.01_034,27] Seine Reiseroute aber war folgende: Am ersten Tage kam er in die
Nähe der kleinen Stadt Bostra. Allda übernachtete er, den Herrn preisend. Da
geschah es auch, daß Räuber zu ihm kamen, um ihn zu berauben.
[JJ.01_034,28] Als sie aber das Kindlein ersahen, fielen sie auf ihr Angesicht,
beteten Dasselbe an, und flohen dann überaus erschreckt ins Gebirge.
[JJ.01_034,29] Von da zog Joseph des andern Tages wieder über ein starkes
Gebirge und kam am Abende in die Gegend von Panea, einem Grenzstädtchen zwischen
Palästina und Syria nördlich.
[JJ.01_034,30] Von Panea aus erreichte er am dritten Tage die Provinz Phoenicia
und kam in die Gegend von Tyrus, wo er am nächsten Tage sich mit seinem
Schutzbriefe zum Cyrenius begab, welcher in der Zeit sich Geschäfte halber in
Tyrus aufhielt.
[JJ.01_034,31] Cyrenius nahm den Joseph freundlichst auf und fragte ihn, was er
ihm tun solle.
[JJ.01_034,32] Joseph aber sprach: „Daß ich sicher nach Ägypten käme!“ – Und
Cyrenius sagte: „Guter Mann, du hast einen starken Umweg gemacht; denn Palästina
liegt Ägypten ja um vieles näher denn Phoenicia! Nun mußt du doch wieder
Palästina durchwandern – und mußt von hier nach Samaria, von dort nach Joppe,
von dort nach Askalon, von da nach Gaza, von da nach Geras und von da erst nach
Elusa in Arabien!“
[JJ.01_034,33] Da ward Joseph traurig, darum er sich also verirrt hatte. Aber
der Cyrenius faßte Mitleid mit dem Joseph und sprach: „Guter Mann, es schmerzt
mich deine Not. Du bist zwar ein Jude und ein Feind der Römer; aber da mein
Bruder, mein Alles, dich so lieb hat, da will auch ich dir eine Freundschaft
tun.
[JJ.01_034,34] Siehe, morgen geht ein kleines, aber sicheres Schiff von hier
nach Ostracine ab! Mit diesem sollst du in drei Tagen dort anlangen; und bist du
in Ostracine, so bist du auch schon in Ägypten! – Ich werde dir aber auch einen
Schutzbrief mitgeben, demzufolge du in Ostracine wirst ungehindert verweilen und
dir auch etwas ankaufen können. Für heute aber bist du mein Gast; lasse daher
dein Gepäck hereinbringen!“
[JJ.01_035] 35. Kapitel – Die heilige Familie bei Cyrenius. Josephs Unterredung
mit Cyrenius. Cyrenius, der Kinderfreund, und das Jesuskind. Inneres und äußeres
Erfahrungszeugnis von der Göttlichkeit des Jesuskindes.
28. September 1843
[JJ.01_035,01] Und der Joseph ging hinaus und führte seine Familie vor das Haus,
da Cyrenius wohnte, und dieser befahl sogleich seiner Dienerschaft, Josephs
Lasttiere zu versorgen,
[JJ.01_035,02] und führte den Joseph mit Maria und den fünf Söhnen in sein
vorzüglichstes Gemach, in dem alles von Edelsteinen, Gold und Silber strotzte.
[JJ.01_035,03] Es standen aber da auf einem weißen, feinst polierten marmornen
Tische eine Menge etwa einen Schuh hohe Statuen, aus korinthischem Erze gar wohl
geformt.
[JJ.01_035,04] Und Joseph fragte den Landpfleger, was diese Figuren wohl
darstellten.
[JJ.01_035,05] Der Landpfleger aber sagte gar freundlich: „Guter Mann, siehe,
das sind unsere Götter! Wir müssen sie halten und kaufen von Rom gesetzmäßig,
wenn wir auch keinen Glauben daran haben.
[JJ.01_035,06] Ich betrachte sie bloß nur als Kunstwerke, und darin liegt auch
einzig irgendein kleiner Wert für mich in diesen Götterfiguren; sonst aber muß
ich sie nur allzeit mit der gegründetsten Verachtung ansehen!“
[JJ.01_035,07] Und der Joseph fragte darauf den Cyrenius: „Höre, wenn du also
denkest, so bist du ja ein Mensch ohne Gott und ohne Religion! Beunruhigt dir
denn das nicht dein Gewissen?“
[JJ.01_035,08] Und Cyrenius sprach: „Nicht im geringsten; denn wenn es keinen
andern Gott gibt, als diese erzenen es da sind, da ist ja ein jeder Mensch mehr
Gott als dieses dumme Erz, in dem kein Leben ist. Ich aber meine, es gibt irgend
einen wahren Gott, der ewig lebendig ist und allmächtig; darum verachte ich
solchen alten Unsinn!“
[JJ.01_035,09] Es war aber Cyrenius auch ein großer Kinderfreund und näherte
sich darum der Maria, welche das Kind auf ihren Armen hielt, und fragte die
Mutter, ob sie nicht müde sei ob der beständigen Tragung des Kindes.
[JJ.01_035,10] Und die Maria sprach: „O mächtiger Herr des Landes! Freilich wohl
bin ich schon gar sehr müde; aber meine große Liebe zu diesem meinem Kinde macht
mich alle Ermüdung vergessen!“
[JJ.01_035,11] Und der Landpfleger erwiderte der Maria: „Siehe, auch ich bin ein
großer Kinderfreund, bin vermählet wohl, aber die Natur oder Gott haben mich
noch mit keiner Nachkommenschaft gesegnet; daher pflege ich fremde Kinder – sogar die der Sklaven
– nicht selten zu mir zu nehmen an Kindesstelle!
[JJ.01_035,12] Ich will damit aber nicht sagen, als sollest du mir auch das
deinige geben; denn es ist ja dein Leben!
[JJ.01_035,13] Aber bitten möchte ich dich, daß du es mir auf meine Arme legen
möchtest, auf daß ich es herzete und kosete ein wenig nur!“
[JJ.01_035,14] Da Maria in dem Landpfleger solche Herzlichkeit fand, sprach sie:
„Wer deines Herzens ist, der mag wohl dies mein Kindlein auf seine Arme nehmen!“
[JJ.01_035,15] Hier übergab Maria das Kindlein dem Landpfleger zur Kosung, – und
als der Landpfleger das Kindlein auf seine Arme nahm, da bemächtigte sich seiner
ein so wonnigstes Gefühl, das er noch nie empfunden hatte.
[JJ.01_035,16] Und er trug das Kindlein im Saale hin und her – und kam mit Ihm
auch dem Göttertische nahe.
[JJ.01_035,17] Diese Annäherung aber kostete sogleich allen den Götzenstatuen
das Dasein, denn sie zerrannen wie Wachs auf glühendem Eisen.
[JJ.01_035,18] Darob entsetzte sich Cyrenius und sprach: „Was ist denn das? – Das harte Erz zerfloß so ganz und gar, daß von ihm aber auch nicht eine Spur
zurückgeblieben ist! – Du weiser Mann aus Palästina, erkläre mir doch das! – Bist du ein Magier denn?“
[JJ.01_036] 36. Kapitel – Joseph im scharfen Verhör und sein Bericht über das
Wesen und die Geburt des Jesuskindes. Des Cornelius Brief. Josephs Rat zum
Schweigen. Widersprüche und Zweifel. Josephs energische Rechtfertigung vor dem
,Staatsanwalt‘.
29. September 1843
[JJ.01_036,01] Joseph aber war selbst über die Maßen erstaunt und sprach darum
zum Cyrenius: „Höre mich an, mächtiger Pfleger des Landes! Es kann dir nicht
unbekannt sein, daß da nach dem Gesetze meines Volkes ein jeder Zauberer
verbrannt werden muß.
[JJ.01_036,02] Wäre ich sonach ein Zauberer, da wäre ich nicht so alt geworden,
als ich bin; denn schon lange wäre ich als solcher den Hohenpriestern in
Jerusalem in die Hände gefallen!
[JJ.01_036,03] Daher kann ich dir hier nichts anderes sagen, als daß diese
Erscheinung sicher von der großen Heiligkeit dieses Kindes abhängt!
[JJ.01_036,04] Denn schon bei der Geburt dieses Kindes geschahen Zeichen,
darüber sich alles entsetzt hatte: alle Himmel standen offen, die Winde
schwiegen, die Bäche und Flüsse standen stille, die Sonne blieb am Horizonte
stehen;
[JJ.01_036,05] der Mond ging nicht von der Stelle, bei drei Stunden nicht; also
rückten auch die Sterne nicht weiter; die Tiere fraßen und soffen nicht, und
alles, was sich sonst reget und beweget, versank in eine tote Ruhe; ich selbst
war im Gehen und mußte stehen!“
[JJ.01_036,06] Als der Cyrenius solches von Joseph vernommen hatte, sprach er zu
ihm: „Also ist dies das merkwürdige Kind, von dem mir mein Bruder geschrieben
hatte mit den Worten:
[JJ.01_036,07] ,Bruder, eine Neuigkeit muß ich dir berichten: In der Nähe von
Bethlehem ist ein Kind von einem jungen Weibe jüdischer Nation geboren worden,
von dem eine große Wunderkraft ausgeht; ich möchte meinen, daß es ein Götterkind
sei!
[JJ.01_036,08] Aber dessen Vater ist ein so kreuzehrlicher Jude, daß ich es
nicht über mich zu bringen vermag, darüber nähere Untersuchungen anzustellen!
[JJ.01_036,09] Wenn du etwa in der Kürze nach Jerusalem ziehen solltest, so
dürfte es für dich nicht ohne Interesse sein, in Bethlehem diesen Mann zu
besuchen! – Ich meine stets, daß das Kind so ein verkappter junger Jupiter oder
wenigstens Apollo ist. Komme aber, und urteile selbst!‘ –
[JJ.01_036,10] Siehe, guter Mann, so viel ist mir von der Sache bekannt; aber
was du mir nun gesagt hast, ist mir rein unbekannt. Darum sage mir, ob du der
nämliche Mann bist, von dem mir mein Bruder aus Bethlehem gemeldet hatte?“
[JJ.01_036,11] Und der Joseph sprach: „Ja, mächtiger Herr, ich bin derselbe!
Wohl aber deinem Bruder, daß er dir nicht mehr von dem Kinde kundgab!
[JJ.01_036,12] Denn er hat vom Himmel ein Wort bekommen, zu schweigen von allem
dem, was da geschehen ist! – Wahrlich, hätte er dir mehr gesagt, so wäre mit Rom
das geschehen, was da jetzt vor deinen Augen geschehen ist mit Götterfiguren,
die da standen auf dem Tische!
[JJ.01_036,13] Heil aber dir und deinem Bruder, so ihr schweigen möget; denn ihr
sollet darum Gesegnete des Herrn, des ewig lebendigen Gottes, des Schöpfers
Himmels und der Erde sein!“
[JJ.01_036,14] Diese Worte flößten dem Cyrenius eine große Achtung vor dem
Joseph und eine Furcht vor dem Kinde ein, daß er darob sogleich wieder das Kind
auf die Arme der Maria legte.
[JJ.01_036] 30. September 1843
[JJ.01_036,15] Nachdem aber wandte er sich wieder zum Joseph und sprach zu ihm:
„Guter, ehrlicher Mann, habe nun wohl acht auf das, was ich zu dir reden werde;
[JJ.01_036,16] denn mir ist jetzt ein guter Gedanke durch den Kopf gefahren, und
diesen sollst du hören und mir darüber zur Rede stehen!
[JJ.01_036,17] Siehe, wenn dieses Kind göttlicher Abkunft ist, so mußt ja auch
du als dessen Vater es sein; denn ex trunco non fit Mercurius, und auf den
Dornen wachsen keine Trauben! – Also kann wohl auch von einem gewöhnlichen
Menschen kein Götterkind entsprossen!
[JJ.01_036,18] Du aber scheinst mir im übrigen denn doch ein ganz gewöhnlicher
Mensch zu sein, so wie deine fünf andern Söhne, die da hinter dir stehen; ja die
junge Mutter selbst, zwar eine artige Jüdin, scheint eben auch nichts
Götterähnliches zu besitzen!
[JJ.01_036,19] Dazu gehört eine große, fast überirdische Schönheit und große
Weisheit, wie wir es aus den Traditionen wissen von den Weibern, mit denen sich
einmal die Götter sollen abgegeben haben, – wozu aber freilich wohl ein überaus
starker Glaube gehört, den ich durchaus nicht besitze!
[JJ.01_036,20] Zudem aber muß ich dich noch auf etwas aufmerksam machen, und das
ist, daß du dich mit deinem Götterkinde als ein von Bethlehem aus nach Ägypten
reisen Wollender hierher hast verirren mögen, was daraus erhellt, da du traurig
und verlegen warst, als ich dir angezeigt habe, wie du dich gar so weit verirrt
hast auf dem Wege nach Ägypten!
[JJ.01_036,21] Sollte dein Gott – oder die Götter Roms – denn unkundig des
nächsten Weges von Bethlehem aus nach Ägypten sein?
[JJ.01_036,22] Siehe, das sind grobe Widersprüche, die sich häufen, je mehr man
die Sache verfolgt! Dazu ist aber doch sogar eine Drohung von dir beim
Untergange Roms gegeben, so ich oder mein Bruder das Kind verriete!
[JJ.01_036,23] Warum aber sollen Götter dem schwachen Sterblichen drohen, als
hätten sie eine Furcht vor ihm? – Sie brauchen ja nur frei auf die Erde zu
treten, und alles muß blind gehorchen ihrem mächtigen Willen!
[JJ.01_036,24] Siehe, die Sache deiner Kundgabe kommt mir daher als eine
schwache Ausflucht zu sein vor, um mich hinters Licht zu führen, auf daß ich
dich nicht erkennen solle, wer du so ganz eigentlich bist, ob ein jüdischer
Magier, der sich nach Ägypten begibt, um dort bei diesem Metier sein Brot zu
finden, da er in seinem Vaterlande des Lebens nicht sicher ist, –
[JJ.01_036,25] oder ob etwa gar ein verschmitzter jüdischer Spion, vom
herrschsüchtigen Herodes bestochen, um zu erspähen, wie da die Uferfestungen
Roms bestellt sind?!
[JJ.01_036,26] Ich habe freilich wohl den Schutzbrief meines Bruders und den
Brief, von dem ich dir erwähnte, – aber ich habe darüber mit meinem Bruder noch
nicht gesprochen, und so können diese Dokumente auch falsch sein; denn auch
meines Bruders Schrift ist nachzumachen!
[JJ.01_036,27] Ich halte dich aber nun für beides, also für einen Magier und für
einen Spion! Rechtfertige dich nun auf das gründlichste, sonst bist du mein
Gefangener und wirst der gerechten Strafe nicht entgehen!“
[JJ.01_036,28] Bei dieser Rede sah der Joseph dem Cyrenius fest ins Angesicht
und sagte: „Sende einen Eilboten an deinen Bruder Cornelius, gebe die beiden
Briefe mit, und dein Bruder solle bezeugen, ob sich die Sache mit mir also
schändlich verhalte, als du der argen Meinung bist!
[JJ.01_036,29] Und solches fordere ich nun von dir; denn meine Ehre ist vor
Gott, dem Ewigen, gerechtfertiget und solle nicht von einem Heiden zertreten
werden! – Bist du auch ein Patrizier Roms, so bin ich aber ein Nachsohn des
großen Königs David, vor dem der Erdkreis bebte, und als solcher lasse ich mich
von keinem Heiden entehren!
[JJ.01_036,30] Ich aber werde dir nun nicht eher von der Seite gehen, als bis du
mir meine Ehre wieder wirst hergestellt haben; – denn die Ehre, die mir Gott
gegeben hat, soll mir kein Heide nehmen!“
[JJ.01_036,31] Diese energischen Worte machten den Cyrenius stutzen; denn also
hatte er als Landpfleger, der da unumschränkt über Leben und Tod zu gebieten
hat, noch nie ihm gegenüber reden gehört! – Er dachte darum bei sich: Wenn
dieser Mensch sich nicht einer außerordentlichen Kraft mir gegenüber bewußt
wäre, so könnte er nicht also reden! – Ich muß daher nun ganz anders mit ihm zu
reden anfangen. –
[JJ.01_037] 37. Kapitel – Des Cyrenius sanftmütigere Erklärung und Josephs
Erwiderung. Die Ehre, der Schatz des Armen. Das Versöhnungsmahl. Guter Rat
Josephs. Des Cyrenius bestrafte Neugier. Die Empfängnisgeschichte des Kindleins.
Die Anbetung des Kindleins durch Cyrenius und die Bestätigung der Wahrheit.
2. Oktober 1843
[JJ.01_037,01] Nach solcher Vornahme wandte sich Cyrenius wieder an den Joseph
und sprach: „Guter Mann, du brauchst mir darum nicht gram zu werden! – denn das
wirst du mir denn doch zugeben, daß ich als Landpfleger wohl das Recht haben
werde, jemandem auf den Zahn zu fühlen, um zu sehen, wes Geistes er ist?!
[JJ.01_037,02] Daß ich aber dich davon nicht ausnehmen konnte – wie gerne ich es
auch sonst getan haben würde –, da brauchst du nur auf jenen verhängnisvollen
Tisch hinzublicken, der da seiner Zierde ledig geworden ist, und dir muß es ja
doch klar sein, daß man Menschen deiner Art etwas schärfer ansehen muß als nur
solche, die da bedeutungslos gleich Tagesfliegen umherstreichen.
[JJ.01_037,03] Ich meine daher, dadurch dir keine Beleidigung zugefügt zu haben,
im Gegenteile nur eine Auszeichnung, indem ich dich also bedeutungsvoll ansah
und redete zu dir, wie es sich für mich als Landpfleger gebührt.
[JJ.01_037,04] Denn siehe, mir ist einzig und allein nur um die volle Wahrheit
über deine Herkunft zu tun, weil ich dich für sehr bedeutungsvoll ansehe!
[JJ.01_037,05] Und darum stellte ich auch geflissentlich Zweifel über dich auf,
damit du ganz vor mir auftreten sollest!
[JJ.01_037,06] Deine Sprache aber hat mir gezeigt, daß du ein Mensch bist, an
dem keine Täusche haftet! Und so brauche ich weder eine zweite Nachricht von
meinem Bruder, noch eine höhere Beglaubigungsurkunde von irgend woandersher;
denn ich sehe nun, daß du ein vollkommen ehrlicher Jude bist! – Sage, braucht es
da noch mehr?“
[JJ.01_037,07] Und der Joseph sprach: „Freund, sieh, ich bin arm; du aber bist
ein mächtiger Herr! – Mein Reichtum ist meine Treue und Liebe zu meinem Gott und
die vollste Ehrlichkeit gegen jedermann!
[JJ.01_037,08] Du aber bist neben deiner Kaisertreue auch noch überreich an
Gütern der Welt, die ich entbehre. Wenn dir jemand deiner Ehre zu nahe tritt, da
bleiben dir aber dennoch die Güter der Welt.
[JJ.01_037,09] Was bleibt aber da mir, so ich die Ehre verliere? – Mit Schätzen
der Welt kannst du dir die Ehre erkaufen; womit aber werde ich sie erkaufen?
[JJ.01_037,10] Darum wird der Arme ein Sklave, so er einmal seine Ehre und
Freiheit vor dem Reichen verloren hat; hat er aber darüber irgend heimliche
Schätze, so kann er sich Ehre und Freiheit wieder erkaufen.
[JJ.01_037,11] Du aber hast mir gedroht, mich zu deinem Gefangenen zu machen;
sage, hätte ich da nicht alle meine Ehre und Freiheit verloren?
[JJ.01_037,12] Und hatte ich da nicht recht, so ich mich davor verteidigte,
indem ich doch von dir, dem Landpfleger Syriens und Mitpfleger der Küste zu
Tyrus und Sidon, bin zur Rede gestellt worden?“
[JJ.01_037,13] Der Cyrenius aber sprach: „Guter Mann! Nun bitte ich dich – lasse
uns das Vorgefallene gänzlich vergessen!
[JJ.01_037,14] Siehe, die Sonne stehet dem Horizonte nahe! Meine Diener haben
die Mahlzeit im Speisesaale bereitet; gehet daher mit mir und stärket euch, – denn ich habe keine römischen, sondern eures Volkes Speisen zurichten lassen,
die ihr essen dürfet! Daher folget mir ohne einen Gram auf mich, nun eurem
Freunde!“ –
[JJ.01_037,15] Und der Joseph folgte dem Cyrenius mit Maria und den fünf Söhnen
in den Speisesaal und erstaunte über die Maßen über die unbeschreibliche reiche
Pracht des Speisesaales selbst, wie über die Pracht der Tafelgeschirre, welche
zumeist aus Gold, Silber und kostbaren Edelsteinen angefertigt waren.
[JJ.01_037,16] Da aber die reichen Gefäße mit lauter heidnischen Götterfiguren
geziert waren, da sprach Joseph zum Cyrenius:
[JJ.01_037,17] „Freund, ich ersehe, daß da alle diese deine Tafelgefäße mit
deinen Göttern gezieret sind! – Du kennst da aber ja schon die ausgehende Kraft
meines Kindes!
[JJ.01_037,18] Siehe, so ich mich mit meinem Weibe zu Tische hinsetze und mein
Weib mit ihrem Kinde, so kommst du im Augenblick um alle deine reichen Geschirre
und Gefäße!
[JJ.01_037,19] Daher rate ich dir, lasse entweder ganz ungezierte Gefäße oder
ganz gemeine tönerne aufsetzen, sonst stehe ich dir nicht für dein Gold und
Silber!“
[JJ.01_037,20] Als der Cyrenius solches von Joseph vernommen hatte, da erschrak
er und befolgte sogleich den Rat Josephs. – Die Diener brachten sobald in ganz
glatten tönernen Gefäßen die Speisen und schafften die goldenen und silbernen
sogleich beiseite.
[JJ.01_037,21] Es verlockte aber die Neugier dennoch den Cyrenius, dem Kinde
einen herrlichen Goldpokal in die Nähe zu bringen, um sich zu überzeugen, ob des
Kindes Nähe wohl auch aufs Gold so zerstörend einwirken werde, wie ehedem auf
die erzenen Figuren.
[JJ.01_037,22] Und der Cyrenius mußte diese Neugier im Ernste mit dem
plötzlichen Verlust des kostbaren Pokals auf eine Zeit bezahlen.
[JJ.01_037,23] Nachdem er aber des Pokals ledig geworden war, erschrak er und
stand da, als wäre er von einem elektrischen Schlage berührt worden.
[JJ.01_037,24] Nach einer Weile erst sprach er: „Joseph, du großer Mann, du hast
mir wohl geraten, darum danke ich dir!
[JJ.01_037,25] Ich selbst aber will verflucht sein, so ich eher von dieser
Stelle weiche, als bis ich erfahre von dir, wer da dieses Kind ist, da ihm eine
solche Kraft innewohnt!“
[JJ.01_037,26] Hier wandte sich Joseph zum Cyrenius und erzählte ihm in aller
Kürze die Empfangs- und Geburtsgeschichte des Kindes.
[JJ.01_037,27] Und der Cyrenius aber, als er solches von Joseph in festem Tone
vernommen hatte, fiel sobald vor dem Kinde nieder und betete Es an.
[JJ.01_037,28] Und siehe, im Augenblick stand der zerstörte Pokal, aber ganz
glatt, auf dem Boden vor Cyrenius, von gleichem Gewichte; der Cyrenius erhob
sich und wußte sich nun vor Freude und Seligkeit nicht zu helfen.
[JJ.01_038] 38. Kapitel – Des Cyrenius heidnischer Vorschlag, das Wunderkind an
den Kaiserhof nach Rom zu bringen. Josephs gute Entgegnung mit Hinweis auf die
Niedrigkeit des Herrn. Prophetische Worte von der geistigen Lebenssonne.
4. Oktober 1843
[JJ.01_038,01] In dieser seligen Gemütsstimmung sprach der Cyrenius zum Joseph:
„Höre mich weiter an, du großer Mann! – Wäre ich nun Kaiser zu Rom, ich würde
dir den Thron und die Kaiserkrone abtreten!
[JJ.01_038,02] Und wüßte es der Kaiser Augustus also, wie ich nun, – für dieses
Kind, da würde er dasselbe tun! Hält er auch große Stücke darauf, daß er der
mächtigste Kaiser der Erde ist, so aber weiß ich doch auch, wie sehr er alles
Göttliche weit über sich setzt.
[JJ.01_038,03] Willst du, so schreibe ich an den Kaiser und versichere dir im
voraus, daß er dich nach Rom mit der größten Ehre ziehen wird und wird dem
Kinde, als einem unzweideutigen Sohne des höchsten Gottes, den größten und
herrlichsten Tempel erbauen!
[JJ.01_038,04] Und wird Ihn erhöhen im selben bis ins Infinitum und wird selbst
sich in den Staub legen vor dem Herrn, dem die Elemente und alle Götter
gehorchen müssen!
[JJ.01_038,05] Daß solches aber bei dem Kinde der Fall ist, habe ich mich nun
zum zweiten Male überzeugt, indem vor Ihm sich nicht einmal der Jupiter zu
schützen vermag und kein Erz vor Seiner Macht besteht!
[JJ.01_038,06] Wie gesagt, so du willst, will ich heute noch Boten nach Rom
senden! – Fürwahr, das würde in der großen Kaiserstadt eine unendliche Sensation
erregen und würde das stolze Priestertum sicher etwas herabsetzen, das da
ohnehin nicht mehr weiß, auf welche Art es die Menschheit am zweckdienlichsten
betrügen und belügen solle!“
[JJ.01_038,07] Joseph aber entgegnete dem Cyrenius: „Lieber, guter Freund! – Meinst du denn, daß Dem an der Ehrung Roms etwas gelegen ist, dem da Sonne,
Mond, Sterne und alle Elemente der Erde allzeit gehorchen müssen!
[JJ.01_038,08] Hätte Er gewollt, daß Ihn alle Welt ehrete wie einen Götzen, da
wäre Er vor aller Welt Augen in aller Seiner ewig unendlichen göttlichen
Majestät zur Erde herabgekommen! – Dadurch aber wäre auch alle Welt zum
Untergange gerichtet worden!
[JJ.01_038,09] Er aber hat die Niedrigkeit der Welt erwählt, um die Welt zu
beseligen, wie es geschrieben steht im Buche der Propheten; und so lasse du es
mit der Botschaft nach Rom gut sein!
[JJ.01_038,10] Willst du aber Rom vernichtet sehen, da tue, wie es dir gut
dünket! – Denn siehe, Dieser ist gekommen zum Falle der Welt der Großen und
Mächtigen, und zur Erlösung der Armseligen, ein Trost den Betrübten, und zur
Auferstehung derer, die im Tode sind!
[JJ.01_038,11] Ich glaube also fest in meinem Herzen, – aber nur dir habe ich
nun diesen meinen Glauben kundgetan; sonst aber solle ihn niemand von mir
ausgesprochen vernehmen!
[JJ.01_038,12] Behalte aber auch du diese Worte als ein Heiligtum der
Heiligtümer in deinem Herzen bis zur Zeit, da dir eine neue Lebenssonne aufgehen
wird, so wirst du gut fahren!“
[JJ.01_038,13] Diese Worte Josephs gingen wie Pfeile ins Herz des Cyrenius und
stimmten ihn ganz um, so zwar, daß er sogleich bereit gewesen wäre, all sein
Ansehen niederzulegen und die Niedrigkeit zu ergreifen.
[JJ.01_038,14] Aber Joseph sagte zu ihm: „Freund! Freund! – bleibe, was du bist;
denn die Macht in der Hand von Menschen deiner Art ist ein Segen Gottes dem
Volke! – Denn siehe, was du bist, das bist du weder aus dir, noch aus Rom,
sondern allein aus Gott! Daher bleibe, was du bist!“ – Und der Cyrenius lobte
den unbekannten Gott und setzte sich dann zum Tische und aß und trank heiteren
Mutes mit Joseph und Maria.
[JJ.01_039] 39. Kapitel – Des Cyrenius Mäßigkeit im Essen und Trinken. Josephs
Dankgebet und seine gute Wirkung auf Cyrenius. Josephs Worte vom Tode und ewigen
Leben. Wesen und Wert der Gnade.
5. Oktober 1843
[JJ.01_039,01] Obschon aber sonst die Römer an lange dauernde Freßgelage gewöhnt
waren, so war aber doch davon der Cyrenius eine Ausnahme.
[JJ.01_039,02] Wenn er dergleichen Freßgelage nicht dann und wann zur Ehrung des
römischen Kaisers halten mußte, so war bei ihm die Mahlzeit nur kurz; denn er
war einer derjenigen Philosophen, die da sagen: „Der Mensch lebt nicht, um zu
essen, sondern er ißt nur, um zu leben, – und dazu braucht es nicht tagelang
dauernder Freßgelage.“
[JJ.01_039,03] Und so war denn auch die geheiligte Mahlzeit nur kurz und war
bloß auf die nötige Stärkung des Leibes berechnet.
[JJ.01_039,04] Nach der also kurzen Mahlzeit dankte der Joseph dem Herrn für
Speise und Trank und segnete dafür den Gastgeber.
[JJ.01_039,05] Dieser aber ward darob sehr gerührt und sagte zu Joseph: „O wie
hoch doch stehet deine Religion über der meinigen! – Um wie vieles stehest du
der allmächtigen Gottheit näher denn ich!
[JJ.01_039,06] Und um wie vieles bist du daher auch mehr Mensch, als ich es je
werde werden können!“
[JJ.01_039,07] Joseph aber erwiderte dem Cyrenius: „Edler Freund, du kümmerst
dich um etwas, was dir der Herr soeben jetzt gegeben hat!
[JJ.01_039,08] Ich aber sage dir: Bleibe du, was du bist; in deinem Herzen aber
allein nur vor Gott, dem ewigen Herrn, demütige dich und suche allen Menschen im
geheimen Gutes zu tun, und du bist Gott so nahe als meine Väter Abraham, Isaak
und Jakob!
[JJ.01_039,09] Siehe, in diesem Kinde hat dich ja der allmächtige Gott
heimgesucht; du hast Ihn auf deinen Armen getragen! – Was willst du noch mehr?
Ich sage dir, du bist gerettet vom ewigen Tode und wirst hinfort keinen Tod an
dir mehr sehen, noch fühlen, noch schmecken!“ –
[JJ.01_039,10] Hier sprang der Cyrenius vor Freude auf und sprach: „O Mann! – was sprichst du?!
– ich werde nicht sterben?!
[JJ.01_039,11] O sage mir, wie ist solches möglich?! – Denn siehe, bis jetzt ist
noch kein Mensch vom Tode verschont geblieben! – Sollte ich also wirklich in die
Zahl der ewig lebendigen Götter aufgenommen werden also, wie ich jetzt lebe?!“
[JJ.01_039,12] Joseph aber sprach: „Edler Freund, du hast mich nicht verstanden;
ich aber will dir sagen, wie es an deinem irdischen Ende zugehen wird. Und so
wolle mich in aller Kürze anhören!
[JJ.01_039,13] So du ohne diese Gnade gestorben wärest, da hätten schwere
Krankheit, Schmerzen, Kummer und Verzweiflung deinen Geist und deine Seele samt
dem Leibe getötet, und dir wäre nach diesem Tode nichts geblieben als ein
quälendes, dumpfes Bewußtsein deiner selbst.
[JJ.01_039,14] In dem Falle glichest du jemandem, der da im eigenen Hause,
welches über ihm zusammengestürzt ist, halb zu Tode verschüttet wurde und ward
also beim lebendigen Leibe begraben und muß nun also den Tod fühlen und gar
verzweifelt bitter schmecken, indem er sich nimmer zu helfen vermag.
[JJ.01_039,15] Stirbst du aber nun in dieser Gnade Gottes, da wird nur dieser
schwere Leib dir schmerzlos abgenommen werden, und du wirst erwachen zu einem
ewigen vollkommensten Leben, in dem du nicht mehr fragen wirst: Wo ist mein
irdischer Leib?!
[JJ.01_039,16] Und du wirst, so dich der Herr des Lebens rufen wird, nach deiner
geistigen Freiheit selbst deinen Leib ausziehen können wie ein altes lästiges
Gewand!“
[JJ.01_039,17] Diese Worte machten auf den Cyrenius einen allermächtigsten
Eindruck. Er fiel darob vor dem Kinde nieder und sprach: „O Herr der Himmel! So
belasse mich denn in solcher Gnade!“ Das Kind aber lächelte ihn an und hob ein
Händchen über ihn. –
[JJ.01_040] 40. Kapitel – Des Cyrenius Hochachtung vor der Maria. Die
trostreiche Antwort der Maria. Der Glückwunsch des Cyrenius an Joseph. Josephs
Worte über die wahre Weisheit.
6. Oktober 1843
[JJ.01_040,01] Nachdem stand der Cyrenius auf und sprach zur Maria: „O du
glücklichste aller Weiber und aller Mütter der Erde! – Sage mir doch, wie es dir
ums Herz ist, so du doch sicher in dir die vollste Überzeugung hast, daß da der
Herr Himmels und der Erde auf deinen Armen ruht!“
[JJ.01_040,02] Maria aber sprach: „Freund, wie fragst du mich darum, was dir
dein eigenes Herz sagt?
[JJ.01_040,03] Siehe, wir gehen auf derselben Erde, die Gott aus Sich erschaffen
hat, Seine Wunder treten wir fort und fort mit unseren Füßen, – und doch gibt es
Millionen und Millionen Menschen, die ihre Knie lieber vor den Werken ihrer
Hände beugen als vor dem ewig wahren lebendigen Gott!
[JJ.01_040,04] Wenn aber Gottes große Werke die Menschen nicht zu wecken
vermögen, wie solle das nun ein Kind in den Windeln bewirken?
[JJ.01_040,05] Darum wird es nur wenigen gegeben sein, in dem Kinde den Herrn zu
erkennen! – Jenen nur, die dir gleich eines guten Willens sind.
[JJ.01_040,06] Die aber eines guten Willens sind, die werden nicht Not haben, zu
mir zu kommen, auf daß ich ihnen kund täte, wie es mir ums Herz ist.
[JJ.01_040,07] Das Kind wird Sich Selbst offenbaren in ihren Herzen und wird sie
segnen und wird es sie fühlen lassen, was da fühlt die Mutter, die das Kind auf
ihren Armen trägt! –
[JJ.01_040,08] Glücklich, ja überglücklich bin ich, da ich dies Kind auf meinen
Armen trage!
[JJ.01_040,09] Aber größer und glücklicher noch werden in der Zukunft diejenigen
sein, die Es allein in ihren Herzen tragen werden!
[JJ.01_040,10] Trage Es auch du unvertilgbar in deinem Herzen, und es wird dir
werden, dessen dich mein Gemahl Joseph versichert hat!“
[JJ.01_040,11] Als Cyrenius diese Worte von der holden Maria vernommen hatte,
konnte er sich nicht genug verwundern über ihre Weisheit.
[JJ.01_040,12] Er sagte darob zum Joseph: „Höre, du glücklichster aller Männer
der Erde! Wer hätte je solch eine allertiefste Weisheit in deinem jungen Weibe
gesucht!?
[JJ.01_040,13] Fürwahr, so es irgend eine Minerva gäbe, da müßte sie sich ja
endlos tiefst verkriechen vor ihr, dieser allerholdesten Mutter!“
[JJ.01_040,14] Der Joseph aber sprach: „Siehe, ein jeder Mensch kann weise sein
in seiner Art aus Gott; ohne Den aber gibt es keine Weisheit auf der Erde!
[JJ.01_040,15] Daraus aber ist ja auch die Weisheit meines Weibes erklärlich.
[JJ.01_040,16] Da aber der Herr aus dem Maule der Tiere schon zu den Menschen
geredet hat, wie sollte Er das nicht können durch den Mund der Menschen?!
[JJ.01_040,17] Doch lassen wir nun das; denn ich meine, es wird Zeit sein, für
die morgige Abreise zu sorgen!“
[JJ.01_040,18] Der Cyrenius aber sagte: „Joseph, sei des unbekümmert; denn dafür
ist schon lange gesorgt; ich selbst werde dich morgen bis Ostracine begleiten.“
–
[JJ.01_041] 41. Kapitel – Josephs Voraussage vom Kindermord. Des Cyrenius Grimm
über Herodes. Die glückliche Seereise nach Ägypten. Josephs Segen als Fährlohn
an die Schiffer und an Cyrenius.
9. Oktober 1843
[JJ.01_041,01] Darauf sprach Joseph zum Cyrenius: „Edler Freund, gut und edel
ist dein Vorsatz; aber du wirst ihn kaum auszuführen imstande sein!
[JJ.01_041,02] Denn siehe, noch in dieser Nacht werden Briefe zu dir gelangen
vom Herodes aus, in denen du aufgefordert wirst, alle Kindlein männlichen
Geschlechtes von ein bis zwei Jahren längs dem Meeresufer aufzufangen und nach
Bethlehem zu schicken, damit sie Herodes dort töten wird!
[JJ.01_041,03] Du kannst dich aber dem Herodes wohl widersetzen; aber dein armer
Bruder muß leider zu diesem bösen Spiele eine politisch gute Miene machen, um
sich nicht dem Bisse dieser giftigsten aller Schlangen auszusetzen.
[JJ.01_041,04] Glaube mir, während ich nun bei dir bin, wird in Bethlehem
gemordet, und hundert Mütter zerreißen in Verzweiflung ihre Kleider ob dem
grausamsten Verluste ihrer Kinder!
[JJ.01_041,05] Und das geschieht alles dieses einen Kindes wegen, von dem die
drei Weisen Persiens geistig aussagten, daß Es ein König der Juden sein wird!
[JJ.01_041,06] Herodes aber verstand darunter einen Weltkönig, darum will er ihn
töten, indem er selbst die Herrschaft Judäas erblich auf sich bringen will und
fürchtet, dieser möchte sie ihm einst entreißen, – während dies Kind doch nur in
die Welt kam, das Menschengeschlecht zu erlösen vom ewigen Tode!“ –
[JJ.01_041,07] Als der Cyrenius solches vernommen hatte, da sprang er auf vor
Grimm gegen den Herodes und sprach zu Joseph:
[JJ.01_041,08] „Höre mich an, du Mann Gottes! Dieses Scheusal solle mich nicht
zu seinem Werkzeuge dingen! – Heute noch werde ich mit dir abreisen, und in
meinem eigenen dreißigruderigen Schiffe wirst du ein gutes Nachtlager finden!
[JJ.01_041,09] Meinen vertrautesten und bei allen Göttern geschwornen
Amtsgehilfen aber werde ich schon die Weisung geben, was sie mit allen Boten zu
tun haben, die da mit an mich gerichteten Depeschen hier anlangen.
[JJ.01_041,10] Siehe, nach unseren geheimen Gesetzen müssen sie so lange in
Gewahrsam gehalten werden, bis ich wieder hierher komme!
[JJ.01_041,11] Die Briefe aber werden ihnen abgenommen und müssen mir ohne
Wissen der Herodesboten nachgesandt werden, auf daß ich daraus ersehe, wessen
Inhaltes sie sind.
[JJ.01_041,12] Ich aber weiß nun schon, wes Inhaltes die Briefe sicher sein
werden, und weiß auch, wie lange ich ausbleiben werde; sollten Nachboten kommen,
so wird auch sie der Wartturm aufnehmen auf so lange, bis ich wiederkomme!
[JJ.01_041,13] Und so lasse du nun deine Familie reisefertig machen, und wir
wollen sogleich mein sicheres Schiff besteigen!“
[JJ.01_041,14] Der Joseph aber ward nun damit zufrieden, und in einer Stunde
befanden sich alle ganz wohl untergebracht im Schiffe; selbst die Lasttiere
Josephs wurden wohl untergebracht. Ein Nordwind blies, und die Fahrt ging wohl
vonstatten.
[JJ.01_041] 10. Oktober 1843
[JJ.01_041,15] Sieben Tage dauerte die Fahrt, und alle Matrosen und Schiffsleute
beteuerten, daß sie so ganz ohne den allergeringsten Anstand noch nie dieses
Gewässer durchrudert hätten, als diesmal, –
[JJ.01_041,16] was sie aber für diese Zeit um so mehr für wunderbar hielten,
indem – wie sie ihres Glaubens sagten – der Neptun in dieser Zeit gar heikel sei
mit seinem Elemente, da er seine Schöpfungen im Grunde des Meeres ordne und mit
seiner Dienerschaft Rat halte!
[JJ.01_041,17] Der Cyrenius aber sagte zu den sich wundernden Schiffsleuten:
„Höret, es gibt eine zweifache Dummheit: die eine ist frei, die andere geboten!
[JJ.01_041,18] Wäret ihr in der freien, da wäre euch zu helfen; aber ihr seid in
der gebotenen, welche sanktioniert ist, und da ist euch nicht zu helfen, –
[JJ.01_041,19] und so möget ihr ja dabei bleiben, als habe Neptunus seinen
Dreizack verloren und habe sich nun nicht getraut, mit seiner schuppigen Hand
uns zu züchtigen für unsern Frevel, den wir an ihm begangen haben!“
[JJ.01_041,20] Der Joseph aber sprach zum Cyrenius, fragend: „Ist es nicht
üblich, daß man den Schiffsleuten einen Lohn verabreicht? Sage es mir, und ich
will es tun, wie sich's gebührt, damit sie uns nichts Übles nachreden sollen!“
[JJ.01_041,21] Cyrenius aber sagte: „Lasse das gut sein; denn siehe, diese sind
unter meinem Gebote und haben ihren Dienstsold, – daher hast du dich um Weiteres
nicht zu kümmern!“
[JJ.01_041,22] Joseph aber erwiderte: „Das ist sicher und wahr, – aber sie sind
doch auch Menschen wie wir; daher sollen wir ihnen auch als Menschen
entgegenkommen!
[JJ.01_041,23] Ist ihre Dummheit eine gebotene, so sollen sie ihre Haut dem
Gebote weihen, aber ihren Geist solle meine Gabe ihnen frei machen!
[JJ.01_041,24] Lasse sie daher hierher kommen, auf daß ich sie segne und sie in
ihren Herzen möchten zu gewahren anfangen, daß auch für sie die Sonne der Gnade
und Erlösung aufgegangen ist!“
[JJ.01_041,25] Hier berief der Cyrenius die Schiffsleute zusammen, und Joseph
sprach über sie folgende Worte:
[JJ.01_041,26] „Höret mich an, ihr getreuen Diener Roms und dieses eures Herrn!
– Treu und fleißig habt ihr das Schiff geleitet; ein guter Lohn solle von mir,
dem diese Fahrt galt, euch dargereichet werden!
[JJ.01_041,27] Aber ich bin arm und habe weder Gold noch Silber; aber ich habe
die Gnade Gottes im reichen Maße, und das ist die Gnade jenes Gottes, den ihr
den ,Unbekannten‘ nennet!
[JJ.01_041,28] Diese Gnade möge euch der große Gott in eure Brust gießen, auf
daß ihr lebendigen Geistes werdet!“
[JJ.01_041,29] Auf diese Worte kam über alle ein endloses Wonnegefühl, und alle
fingen an, den unbekannten Gott zu loben und zu preisen.
[JJ.01_041,30] Und der Cyrenius erstaunte über diese Wirkung des Segens von
Joseph und ließ sich dann selbst segnen von Joseph.
[JJ.01_042] 42. Kapitel – Die Wirkung des Gnadensegens an Cyrenius. Josephs
demütiges Selbstbekenntnis und Rat an Cyrenius. Die Ankunft in Ostracine
(Ägypten).
11. Oktober 1843
[JJ.01_042,01] Auch der Cyrenius ward von einem großen Wonnegefühl befallen, daß
er darob sprach: „Höre du, mein achtbarster Mann! – Ich empfinde nun also, wie
ich's empfunden habe, als ich das Kindlein auf meinen Armen hielt.
[JJ.01_042,02] Bist du denn mit demselben einer Natur? – Oder wie ist das, daß
ich nun den gleichen Segen empfinde?“
[JJ.01_042,03] Der Joseph aber sprach: „Edler Freund! – nicht von mir, sondern
allein vom Herrn Himmels und der Erde geht eine solche Kraft aus!
[JJ.01_042,04] Mich durchströmt sie nur bei solcher Gelegenheit, um dann segnend
in dich überzufließen; aber ich selbst habe solche Kraft ewig nicht, denn Gott
allein ist Alles in Allem!
[JJ.01_042,05] Ehre aber in deinem Herzen stets diesen einen, allein wahren
Gott, so wird die Fülle dieses Seines Segens nie von dir entweichen!“
[JJ.01_042,06] Und weiter sprach Joseph: „Und nun Freund, siehe, wir haben mit
der allmächtigen Hilfe des Herrn dieses Ufer erreicht, sind aber, wie es mir
vorkommt, noch lange nicht in Ostracine!
[JJ.01_042,07] Wo zu liegt es denn, auf daß wir dahin zögen? – Denn siehe, der
Tag neiget sich! Was werden wir tun? Werden wir weiterziehen oder hier
verbleiben bis morgen?“
[JJ.01_042,08] Und der Cyrenius sprach: „Siehe, wir sind am Eingange der großen
Bucht, in deren innerstem Winkel zu unserer Rechten Ostracine liegt als eine
reiche Handelsstadt!
[JJ.01_042,09] In mäßigen drei Stunden mögen wir sie erreichen; aber so wir in
der Nacht dort anlangen, so werden wir schwer eine Unterkunft finden! Daher wäre
ich der Meinung, für heute hier im Schiffe zu übernachten und uns morgen dahin
zu begeben.“
[JJ.01_042,10] Joseph aber sprach: „O Freund, wenn es nur drei Stunden sind, da
sollten wir nicht hier übernachten! Dein Schiff mag wohl hier verbleiben, auf
daß du kein Aufsehen erregest in dieser Stadt – und ich im geheimen komme an den
Ort meiner Bestimmung!
[JJ.01_042,11] Denn würde die römische Besatzung alldort das Schiff eines
Landpflegers Roms entdecken, so müßte sie dich mit großen Ehren empfangen,
[JJ.01_042,12] und ich müßte dann nolens volens mit dir als Freund deine
Beehrungen teilen, was mir wirklich im höchsten Grade unangenehm wäre.
[JJ.01_042,13] Daher wäre es mir wohl sehr erwünscht, daß wir uns sogleich
weiter auf die Reise macheten! – Denn siehe, meine Lasttiere sind nun
hinreichend ausgerastet und können uns gar leicht in kurzer Zeit nach Ostracine
bringen!
[JJ.01_042,14] Meine Söhne sind stark und gut bei Füßen; diese können zu Fuß
gehen, und du bedienest dich mit einer nötigen Dienerschaft ihrer fünf
Lasttiere, und so ziehen wir leicht den Weg nach der nimmer fernen Stadt!“
[JJ.01_042,15] Cyrenius willigte in den Rat Josephs, übergab das Schiff den
Schiffsleuten zur treuen Obhut, nahm dann vier Diener mit sich, bestieg die
Lasttiere Josephs und zog dann sogleich mit Joseph in die Stadt.
[JJ.01_042,16] In zwei Stunden war diese erreicht. Als sie aber in die Stadt
einzogen, wurden sie um Schutzbriefe von der Torwache belangt.
[JJ.01_042,17] Cyrenius aber gab sich dem Wachkommandanten zu erkennen; dieser
ließ sogleich ihn begrüßen von den Soldaten und machte dann sogleich Anstalten
für die Unterkunft.
[JJ.01_042,18] Und so ward unsere Reisegesellschaft ohne den geringsten Anstand
alsogleich in dieser Stadt recht wohl aufgenommen und auf das vorteilhafteste
untergebracht.
[JJ.01_043] 43. Kapitel – Der Ankauf eines Landhauses für die heilige Familie
durch Cyrenius.
12. Oktober 1843
[JJ.01_043,01] Des andern Tages am Morgen aber sandte Cyrenius sogleich einen
Boten zum Obersten der Militärbesatzung und ließ ihm sagen, daß er sobald als
tunlich, aber ohne alles Gepränge zu ihm kommen solle.
[JJ.01_043,02] Und der Oberste kam zum Cyrenius und sprach: „Hoher
Stellvertreter des großen Kaisers in Coelesyrien und oberster Kommandant von
Tyrus und Sidon, lasse mich vernehmen deinen Willen!“
[JJ.01_043,03] Und der Cyrenius sprach: „Mein geachtetster Oberster! Fürs erste
wünsche ich, daß mir diesmal keine Ehrenbezeigungen erwiesen werden; denn ich
bin inkognito hier.
[JJ.01_043,04] Fürs zweite aber möchte ich von dir erfahren, ob hier entweder in
der Stadt selbst ein kleines Wohnhaus oder wenigstens nicht ferne von der Stadt
irgend eine Villa käuflich oder wenigstens mietlich zu haben ist.
[JJ.01_043,05] Denn ich möchte für eine überaus hochschätzbarste,
allerehrenwerteste jüdische Familie so etwas kaufen.
[JJ.01_043,06] Denn diese Familie hat sich aus uns wohlbekannten Gründen aus
Palästina, von dem saubern Herodes verfolgt, flüchten müssen und sucht nun
Schutz in unserer römischen Biederkeit und allzeitigen strengen Gerechtigkeit.
[JJ.01_043,07] Ich habe alle Umstände dieser Familie genau untersucht und habe
sie als höchst rein und gerecht befunden! – Daß sie aber unter solchen Umständen
unter Herodes freilich wohl nicht bestehen kann, das ist ebenso gut begreiflich,
als es begreiflich ist, daß dieses Scheusal von einem Vierfürsten Palästinas und
einem Teile Judäas Roms größter Feind ist!
[JJ.01_043,08] Ich meine, du verstehst mich, was ich dir damit sagen will? – Daher also möchte ich für diese benannte Familie allhier so etwas Kleines und
Nutzbares ankaufen.
[JJ.01_043,09] Wenn dir so etwas bekannt ist, so tue mir den Gefallen und zeige
es mir an! Denn siehe, ich kann mich für diesmal nicht lange aufhalten, da
wichtige Geschäfte meiner harren in Tyrus; daher muß alles noch heute in die
Ordnung gebracht werden!“
[JJ.01_043,10] Und der Oberste sprach zum Cyrenius: „Durchlauchtigster Herr! Da
ist der Sache bald abgeholfen; ich selbst habe mir etwa eine halbe Milie außer
der Stadt eine recht nette Villa erbaut und habe da Obstgärten und drei schöne
Kornäcker angelegt.
[JJ.01_043,11] Mir aber bleibt zu wenig Zeit übrig, mich damit gehörig abgeben
zu können. Sie ist mein vollkommenes Eigentum; wenn du sie haben willst, so ist
sie mir um hundert Pfund samt Schutz und Schirm verkäuflich und kann als ein
unbesteuertes Gut besessen werden.“
[JJ.01_043,12] Als der Cyrenius solches vernommen hatte, reichte er dem Obersten
die Hand, ließ sich von seinen Dienern die Säckel bringen und zahlte dem
Obersten die Villa sogleich noch ungesehen bar aus und ließ sich dann, ungesehen
von Joseph, vom Obersten dahin geleiten, um da seinen Kauf zu besichtigen.
[JJ.01_043,13] Als er die ihm überaus gut gefallende Villa besehen hatte, da
befahl er sogleich seinen Dienern, in der Villa so lange zu verweilen, bis er
mit der Familie zurückkommen werde.
[JJ.01_043,14] Sodann begab er sich mit dem Obersten in die Stadt, ließ sich von
ihm auf Pergament den Schutz- und Schirmbrief ausfolgen, empfahl sich dann beim
Obersten und begab sich damit voll heimlicher Freude hin zum Joseph.
[JJ.01_043,15] Dieser fragte ihn sogleich, sagend: „Guter lieber Freund, ich muß
meinem Gotte danken, daß Er dich also gesegnet hat, daß du mir bisher so viel
Freundschaft hast erweisen mögen!
[JJ.01_043,16] Ich bin nun gerettet und habe hier für diese Nacht eine herrliche
Unterkunft gehabt! – Aber ich muß hier verbleiben; wie wird es in der Zukunft
aussehen – wo werde ich wohnen, wie mich fortbringen? – Siehe, dafür muß ich
mich sogleich umsehen.“
[JJ.01_043,17] Und der Cyrenius sagte: „Ganz wohl, mein allerachtbarster Mann
und Freund, lasse daher deine Familie aufpacken deine Sachen, und ziehe dann
sogleich mit Sack und Pack mit mir, und wir wollen einige hundert Schritte außer
der Stadt etwas aufsuchen, weil in der Stadt meiner Erkundigung nach nichts zu
haben ist!“ – Das gefiel dem Joseph wohl, und er tat, was der Cyrenius
verlangte.
[JJ.01_044] 44. Kapitel – Joseph mit der heiligen Familie im neuen Heim. Cyrenius als Gast. Der Dank Josephs und Marias.
13. Oktober 1843
[JJ.01_044,01] Als der Cyrenius bei der gekauften Villa mit dem Joseph und
dessen Familie anlangte, da sagte der Joseph zum Cyrenius:
[JJ.01_044,02] „Edler Freund, da gefiele es mir; eine prunklose Villa, ein
artiger Obstgarten voll Datteln, Feigen, Granatäpfeln, Orangen, Äpfeln und
Birnen, Kirschen,
[JJ.01_044,03] Trauben, Mandeln, Melonen und einer Menge Grünzeug! Und daneben
ist noch Wiesengrund und drei Kornäcker, das alles sicher hierzu gehört!
[JJ.01_044,04] Fürwahr, nicht Glänzendes und Prunkendes möchte ich haben; aber
diese nutzbringend angelegte Villa, die da eine große Ähnlichkeit hat mit meinem
Mietgrunde zu Nazareth in Judäa, möchte ich entweder mieten oder gar kaufen!“
[JJ.01_044,05] Hier zog der Cyrenius den Kauf- Schutz-und-Schirmbrief hervor und
übergab ihn dem Joseph mit den Worten:
[JJ.01_044,06] „Der Herr, dein und nun auch mein Gott, segne es dir! Hiermit
übergebe ich dir den steuerfreien Vollbesitz dieser Villa!
[JJ.01_044,07] Alles, was du mit einem Gebüsch dicht umwachsen und mit einem
Palisadenzaune umfangen erschaust, gehört zu dieser Villa! Hinter dem
Wohngebäude ist noch eine geräumige Stallung für Esel und Kühe! Zwei Kühe wirst
du finden; Lasttiere aber hast du ohnehin genug für deinen Bedarf.
[JJ.01_044,08] Solltest du aber etwa mit der Zeit wieder in dein Vaterland
zurückkehren wollen, so kannst du diese Besitzung verkaufen und mit dem Gelde
dir irgend woanders etwas anschaffen!
[JJ.01_044,09] Mit einem Worte – du, mein großer Freund, bist von nun an im
Vollbesitze dieser Villa und kannst damit tun, was du willst.
[JJ.01_044,10] Ich aber werde heute, morgen und übermorgen noch hier verbleiben,
damit des Herodes arge Boten desto länger auf mich harren sollen!
[JJ.01_044,11] Und nur diese kurze Zeit will ich einen Mitgebrauch, aus großer
Liebe zu dir, von dieser Villa machen!
[JJ.01_044,12] Ich dürfte es zwar nur gebieten, und es müßte mir im Augenblicke
der kaiserliche Palast eingeräumt werden, – fürs erste, weil ich mit der
kaiserlichen Vollmacht ausgerüstet bin,
[JJ.01_044,13] und fürs zweite, weil ich ein naher Anverwandter des Kaisers bin!
[JJ.01_044,14] Aber dieses alles vermeide ich aus großer Achtung und Liebe zu
dir, ganz besonders aber zu dem Kinde, das ich wenigstens unwiderruflich für den
Sohn des allerhöchsten Gottes halte!“
[JJ.01_044,15] Der Joseph aber war über diese edle Überraschung so sehr gerührt,
daß er aus dankbarster Freude nur weinen, aber nicht reden konnte.
[JJ.01_044,16] Auch der Maria ging's nicht besser; aber sie faßte sich eher und
ging zum Cyrenius und drückte ihre Dankbarkeit dadurch aus, daß sie das Kindlein
dem Cyrenius auf die Arme legte. Und der Cyrenius sprach ganz gerührt: „O Du
mein großer Gott und Herr, ist denn auch ein Sünder wert, Dich auf seinen Händen
zu tragen? – O sei mir denn gnädig und barmherzig!“
[JJ.01_045] 45. Kapitel – Die Besichtigung des neuen Heimwesens. Marias und
Josephs Dankesworte. Des Cyrenius Interesse an der Geschichte Israels.
14. Oktober 1843
[JJ.01_045,01] Joseph nahm, nachdem er sich aus seiner großen Überraschung
erholt hatte, mit dem Cyrenius alles in Augenschein.
[JJ.01_045,02] Und Maria, die das Kindlein von den Armen des Cyrenius wieder
nahm, besah auch alles mit und hatte eine rechte Freude über die große Güte des
Herrn, darum Er auch irdisch für sie so wohl gesorgt hatte.
[JJ.01_045,03] Und als sie alles besehen hatten und ins reine Wohnhaus
eingekehrt waren, da sprach die Maria ganz selig zum Joseph:
[JJ.01_045,04] „O mein teurer, geliebter Joseph! Siehe, ich bin über die Maßen
fröhlich, daß der Herr so gut für uns gesorgt hat!
[JJ.01_045,05] Ja, es kommt mir überhaupt vor, als hätte der Herr die ganze alte
Ordnung umgekehrt!
[JJ.01_045,06] Denn siehe, einst führte Er die Kinder Israels aus Ägypten ins
gelobte Land Palästina, damals Kanaan genannt.
[JJ.01_045,07] Nun aber hat Er Ägypten wieder zum gelobten Lande gemacht und
floh mit uns oder führte uns vielmehr Selbst hierher, von wo Er einst unsere
Väter erlösend führte durch die Wüste ins gelobte Land, das da überfloß von
Milch und Honig.“
[JJ.01_045,08] Und der Joseph sprach: „Maria, du hast eben nicht ganz unrecht in
deiner heiteren Bemerkung;
[JJ.01_045,09] aber nur bin ich der Meinung, daß deine Aussage nur für diese
unsere gegenwärtige Stellung taugt.
[JJ.01_045,10] Im allgemeinen aber kommt es mir also vor, als hätte der Herr nun
mit uns das getan, was Er einst mit den Söhnen Jakobs getan hat, als eben im
Lande Kanaan die große Hungersnot ausgebrochen war!
[JJ.01_045,11] Das israelitische Volk blieb dann bis Moses in Ägypten; aber
Moses führte es wieder heim durch die Wüste.
[JJ.01_045,12] Und ich glaube, also wird es uns auch ergehen; auch wir werden
nicht hier begraben werden und werden sicher müssen zur rechten Zeit wieder nach
Kanaan zurückkehren!
[JJ.01_045,13] Zu unserer Väter Heimführungszeit mußte zwar erst ein Moses
erweckt werden; wir aber haben den Moses des Moses schon in unserer Mitte!
[JJ.01_045,14] Und so meine ich, es wird also geschehen, wie ich es
ausgesprochen habe.“
[JJ.01_045,15] Und die Maria behielt alle diese Worte in ihrem Herzen und gab
dem Joseph das Recht.
[JJ.01_045,16] Auch der Cyrenius hatte diesem Gespräch aufmerksamst zugehört und
gab dann dem Joseph zu verstehen, daß er mit der Urgeschichte der Juden näher
bekannt werden möchte. –
[JJ.01_046] 46. Kapitel – Die gemeinsame Mahlzeit und Josephs Erzählung über die
Geschichte der Schöpfung, der Menschheit und des jüdischen Volkes. Des Cyrenius
vorsichtiger Bericht an den Kaiser und seine gute Wirkung.
16. Oktober 1843
[JJ.01_046,01] Joseph befahl dann seinen Söhnen, die Tiere zu versorgen und dann
nachzusehen, wie es mit den Eßwaren aussehe.
[JJ.01_046,02] Und diese gingen und taten alles nach dem Willen Josephs,
versorgten die Tiere, melkten die Kühe,
[JJ.01_046,03] gingen dann in die Speisekammer und fanden dort einen großen
Vorrat von Mehl, Brot, Früchten und auch mehrere Töpfe voll Honig.
[JJ.01_046,04] Denn der Wachkommandant war ein großer Bienenzüchter nach der
Schule, wie sie in Rom gang und gäbe war, daß sie darum sogar ein damaliger
Dichter Roms besang.
[JJ.01_046,05] Und sie brachten daher bald Brot, Milch, Butter und Honig in das
Wohnzimmer zu Joseph.
[JJ.01_046,06] Und Joseph besah alles, dankte Gott und segnete all die Speisen,
ließ sie dann auf den Tisch legen und bat den Cyrenius, daran teilzunehmen.
[JJ.01_046,07] Dieser erfüllte auch den Wunsch Josephs gerne; denn auch er war
ein großer Freund von Milch und Honigbrot.
[JJ.01_046,08] Während der Mahlzeit aber erzählte der Joseph dem Cyrenius ganz
kurz die Geschichte des jüdischen Volkes nebst der Geschichte der Schöpfung und
des Menschengeschlechtes
[JJ.01_046,09] und stellte das alles also bündig und folgerecht dar, daß es dem
Cyrenius ganz einleuchtend ward, daß da Joseph sicher die verbürgteste Wahrheit
geredet hatte.
[JJ.01_046,10] Er ward darob einesteils sehr vergnügt für seinen Teil, aber
wieder anderseits betrübt für die Seinen in Rom, von denen er wohl wußte, in
welch schändlicher Finsternis sie waren.
[JJ.01_046,11] Daher sprach er zu Joseph: „Erhabener Mann und nun größter Freund
meines Lebens!
[JJ.01_046,12] Siehe, ich habe nun einen Plan gefaßt! – Alles, was ich nun von
dir vernommen habe, werde ich also meinem nahe leiblichen Bruder, dem Kaiser
Augustus, berichten, aber nur also, als hätte ich's zufällig von einem mir
übrigens ganz unbekannten Juden voll Biederkeit vernommen.
[JJ.01_046,13] Dein Name und dein Aufenthalt wird nicht im allerentferntesten
Sinne berührt; denn warum solle denn der beste Mensch in Rom, der Kaiser
Augustus, mein Bruder, ewig sterben müssen?!“
[JJ.01_046,14] Diesmal willigte Joseph ein, und der Cyrenius schrieb noch in
Ostracine drei Tage lang und sandte es durch ein Extraschiff nach Rom an den
Kaiser, mit der alleinigen Unterschrift: Dein Bruder Cyrenius.
[JJ.01_046,15] Die Durchlesung dieser Nachricht von Seite des Cyrenius hatte dem
Kaiser die Augen geöffnet; er fing dann das jüdische Volk zu achten an und
verschaffte ihm sogar die Gelegenheit, gegen eine kleine Taxe als echt römische
Bürger aufgenommen zu werden.
[JJ.01_046,16] Zugleich aber wurden alle extrafeinen Heidentumsprediger unter
irgendeinem Vorwande aus Rom verbannt.
[JJ.01_046,17] Aus einem ähnlichen Grunde wurde der sonst in Rom so beliebte
Dichter Ovidius aus Rom verbannt, davon man den Grund nicht erfahren konnte; und
so erging's dann unter dem Augustus auch dem Priesterstande nicht am besten.
[JJ.01_047] 47. Kapitel – Die Abreise des Cyrenius und seine Vorsorge für die
heilige Familie. Die Schreckensbotschaft der Zeugen des Kindermordes. Ein Brief
des Cyrenius an Herodes.
17. Oktober 1843
[JJ.01_047,01] Am vierten Tage empfahl sich dann erst Cyrenius, nachdem er zuvor
dem Stadtobersten ganz besonders ans Herz gelegt hatte, dieser Familie ja seinen
Schutz bei jeder Gelegenheit unverzüglich angedeihen zu lassen.
[JJ.01_047,02] Als er aber fortzog, da wollte ihm die ganze Familie das Geleite
geben bis zum Meere, da sein Schiff vor Anker lag.
[JJ.01_047,03] Aber Cyrenius lehnte das freundschaftlichst ab und sprach:
„Liebster, erhabener Freund, bleibe du nun ungestört allhier!
[JJ.01_047,04] Denn man kann nicht wissen, was alles für Nachboten schon mein
Schiff eingeholt haben – und mit was für Nachrichten!
[JJ.01_047,05] Obschon du aber nun vollkommen gesichert bist, so ist aber hier
doch auch für mich jene Klugheit vonnöten, durch welche von den Nachzettlern
niemand erfahren solle, warum ich diesmal im Januarius Ägypten besucht habe!“
[JJ.01_047,06] Joseph aber verstand den Cyrenius wohl, blieb zu Hause und
segnete diesen Wohltäter an der Hausflur.
[JJ.01_047,07] Darauf begab sich der Cyrenius unter der Verheißung, den Joseph
bald wieder zu besuchen, von dannen mit seinen vier Dienern und erreichte also
zu Fuß gar bald sein Schiff.
[JJ.01_047,08] Allda angelangt, wurde er sobald mit großem Jubel empfangen, – aber hintendrein auch von einigen andern hier angelangten Boten mit einem großen
Jammergeschrei.
[JJ.01_047,09] Denn viele Eltern flüchteten sich von der Küste Palästinas vor
der Verfolgung des Herodes, des Kindermörders, und erzählten sogleich über Hals
und Kopf, welche Greuel Herodes um Bethlehem und im ganzen südlichen Teile
Palästinas mit Hilfe der römischen Soldaten verübe.
[JJ.01_047,10] Hier schrieb der Cyrenius sogleich einen Brief an den Landpfleger
von Jerusalem und einen an den Herodes selbst, – und das gleichen Sinnes!
[JJ.01_047,11] Der Brief aber lautete also kurz: „Ich, Cyrenius, ein Bruder des
Kaisers und oberster Landpfleger über Asien und Ägypten – befehle euch im Namen
des Kaisers, eurer Grausamkeit auf der Stelle Einhalt zu tun;
[JJ.01_047,12] widrigenfalls ich den Herodes als einen barsten Rebellen ansehen
werde und werde ihn züchtigen nach dem Gesetze, nach der Gebühr und nach meinem
gerechten Zorne!
[JJ.01_047,13] Seine Greuel aber hat der Landpfleger von Jerusalem genau zu
untersuchen und mich davon unverzüglich in Kenntnis zu setzen, auf daß mir der
Wüterich der gerechten Strafe für seine Tat nicht entgehe!
[JJ.01_047,14] Geschrieben auf meinem Schiffe ,Augustus‘ an der Küste zu
Ostracine, im Namen des Kaisers, dessen oberster Stellvertreter in Asien und
Ägypten und sonderheitlich Landpfleger in Coelesyrien, Tyrus und Sidon – Cyrenius vice Augusti.“
[JJ.01_048] 48. Kapitel – Die Wirkung und Folge dieses Briefes. Die List des
Herodes. Ein zweiter Brief des Cyrenius an Herodes.
18. Oktober 1843
[JJ.01_048,01] Der Landpfleger von Jerusalem und der Herodes aber entsetzten
sich gewaltigst über den Brief des Cyrenius, stellten ihr Greuelgetriebe ein und
sandten Boten nach Tyrus, die dem Cyrenius anzeigen sollten, aus welcher
wichtigen Ursache sie solches taten.
[JJ.01_048,02] Sie schilderten mit den grellsten Farben die Gesandtschaft der
ohnehin schlüpfrigen Perser und behaupteten sogar, daß sie gar wichtige, geheime
Spuren entdeckt hätten, daß sogar des Cyrenius Bruder, Cornelius, in diese
geheime, ganz asiatische Verschwörung als Oberhaupt mit begriffen sei!
[JJ.01_048,03] Denn man habe in Erfahrung gebracht, daß Cornelius diesen neuen
König der Juden in seinen Schutz genommen hatte.
[JJ.01_048,04] Und Herodes sei nun gesonnen, Boten nach Rom darob zu senden, so
ihm von Cyrenius nicht Gewähr geleistet werde.
[JJ.01_048,05] Cyrenius habe daher den Cornelius der strengsten Untersuchung zu
unterziehen, – wo nicht, so werde der Bericht an den Kaiser unausbleiblich
abgehen!
[JJ.01_048,06] Diese Reprise, welche Cyrenius, schon wieder in Tyrus, erhielt,
machte ihn anfangs stutzen.
[JJ.01_048,07] Aber er faßte sich bald, vom göttlichen Geist geleitet, und
schrieb folgende Zeilen an den Herodes, sagend nämlich:
[JJ.01_048,08] „Wie lautet das geheime Gesetz des Augustus für allfällige
Entdeckungen der Komplotte? – Es lautet also: ,So jemand irgendein geheimes
Komplott entdeckt, so hat er sich ruhigst zu benehmen und alles sogleich
umständlichst der höchsten Staatsbehörde des Landes anzuzeigen!
[JJ.01_048,09] Weder ein sonderheitlicher Landpfleger, noch weniger ein
Lehensherr aber hat ohne den ausdrücklichen Befehl der obersten Staatsbehörde,
welche alles eher wohl zu untersuchen hat, einen Finger ans Schwert zu legen.
[JJ.01_048,10] Denn nirgends kann ein unzeitiger Angriff einen größeren Schaden
für den Staat bewirken als eben in diesem Punkte;
[JJ.01_048,11] indem das Komplott dadurch sich zurückzieht und seinen
bevorhabenden Umtrieb unter noch verschmitztere Kniffe verbirgt und ihn in
günstigeren Umständen sicher, seinen Zweck nicht verfehlend, zum effektiven
Vorschein bringt!‘
[JJ.01_048,12] Das ist in dieser gar wichtigsten Hinsicht des weisesten Kaisers
eigenmündiges Gebot!
[JJ.01_048,13] Habt ihr darnach gehandelt? – Mein Bruder Cornelius aber hat
darnach gehandelt! Er hat sich des sein sollenden neuen Königs der Juden sobald
bemächtiget,
[JJ.01_048,14] hat mir ihn in die Gewalt geliefert, und ich habe mit ihm schon
lange die gerechtesten Verfügungen nach der Gewalt getroffen, die mir über Asien
und Ägypten zusteht.
[JJ.01_048,15] Mein Bruder hat euch alles das vorgestellt; allein er redete zu
tauben Ohren!
[JJ.01_048,16] Als wahrhafte Rebellen habt ihr gegen alle Vorstellung meines
Bruders den Kindermord unternommen und habt mich noch obendrauf keck
aufgefordert, daß ich euch unterstützen solle! – Heißt das, das kaiserliche
Gesetz handhaben?
[JJ.01_048,17] Ich aber sage euch, der Kaiser ist bereits von allem unterrichtet
und hat mich bevollmächtigt, den Landpfleger von Jerusalem abzusetzen, obschon
er mir anverwandt ist, und dem Herodes eine Strafe von zehntausend Pfund Goldes
aufzulegen.
[JJ.01_048,18] Der entsetzte Landpfleger hat sich binnen fünf Tagen bei mir
einzufinden und der Herodes seine Geldbuße in längstens dreißig Tagen hier
völlig zu entrichten, im widrigen Falle er seines Lehnsrechtes verlustig erklärt
wird. Fiat! Cyrenius vice Augusti.“
[JJ.01_049] 49. Kapitel – Die Wirkung des zweiten Schreibens. Die Ankunft des
Herodes und des Landpflegers in Tyrus. Der Empfang bei Cyrenius. Die Erregung
des geängstigten Volkes. Maronius Pilla vor Cyrenius.
19. Oktober 1843
[JJ.01_049,01] Dieser Brief des Cyrenius hatte erst den Landpfleger von
Jerusalem wie den Herodes in die größte Angst versetzt.
[JJ.01_049,02] Herodes und der Landpfleger, namens Maronius Pilla, begaben sich
darum schleunigst zum Cyrenius.
[JJ.01_049,03] Herodes, um von seiner Buße etwas herabzuhandeln, und der
Landpfleger, um in sein Amt wieder aufgenommen zu werden.
[JJ.01_049,04] Als sie mit großem Gefolge in Tyrus anlangten, da entsetzte sich
das Volk; denn es war der Meinung, Herodes werde auch hier seine Grausamkeit
ausüben mit dem Einverständnisse des Cyrenius.
[JJ.01_049,05] Daher lief es außer Atem zu ihm, warf sich nieder und bat und
schrie um Gnade und Erbarmen!
[JJ.01_049,06] Cyrenius aber, da er die Veranlassung zu dieser Erscheinung nicht
wußte, entsetzte sich anfangs, –
[JJ.01_049,07] faßte sich aber dann und fragte das Volk ganz freundlichst, was
es denn gäbe, was vorgefallen sei, darum es also gewaltig geängstiget vor ihm
schreie.
[JJ.01_049,08] Das Volk aber schrie: „Er ist da, er ist da, der Grausamste der
Grausamen, der in ganz Palästina viele Tausende von den unschuldigsten Kindern
ermorden ließ!!!“ – – –
[JJ.01_049,09] Nun erst erriet Cyrenius den Grund der Angst des Volkes, tröstete
es, worauf das Volk sich wieder beruhigte und von dannen ging; er aber machte
sich gefaßt auf den Empfang der beiden.
[JJ.01_049,10] Kaum war das Volk aus der Residenz des Cyrenius hinweggezogen, so
ließen schon auch die beiden sich anmelden.
[JJ.01_049,11] Der Herodes trat zuerst vor den Cyrenius, verbeugte sich tiefst
vor der Kaiserlichen Hoheit und erbat sich die Erlaubnis zu reden.
[JJ.01_049,12] Und der Cyrenius sprach mit großer Erregtheit: „Rede du, für den
die Hölle zu gut ist, um ihm einen Namen zu geben! – Rede, du bösartigster
Auswurf der untersten Hölle! – Was willst du von mir!?“
[JJ.01_049,13] Und der Herodes, ganz erblassend vor den Donnerworten des
Cyrenius, sprach bebend: „Herr der Herrlichkeit Roms! – Zu unerschwingbar groß
ist die von dir diktierte Buße; erlasse mir daher die Hälfte!
[JJ.01_049,14] Denn Zeus sei mir Zeuge, daß ich, was ich getan habe, im
gerechten Eifer für Rom getan habe!
[JJ.01_049,15] Ich habe freilich grausam gehandelt, aber es war nicht anders
möglich; denn die persische, gar glänzende Gesandtschaft hat mich offenbar dazu
veranlaßt, indem ich von ihr hintergangen ward gegen ein von ihr mir gegebenes
Wort!“
[JJ.01_049,16] Cyrenius aber sprach: „Hebe dich von hier, arger Lügner zu deinem
Vorteile! Mir ist alles bekannt! Bekenne dich unverzüglich zur diktierten Buße,
oder ich lasse dir auf der Stelle hier deinen Kopf vom Rumpfe schlagen!“
[JJ.01_049,17] Hier bekannte sich Herodes zur Buße, und das unter der Geisel des
abgeforderten Lehensbriefes, der ihm erst nach der geleisteten Buße wieder
überreicht ward.
[JJ.01_049,18] Und Cyrenius ließ ihn darauf sich entfernen und ließ den Maronius
Pilla vor.
[JJ.01_049,19] Dieser aber, da er im Vorgemache die Stimmung des Cyrenius
vernommen hatte, kam schon mehr als eine Leiche denn als ein lebendiger Mensch
vor den Cyrenius.
[JJ.01_049,20] Cyrenius aber sprach: „Pilla, fasse dich, denn du warst
gezwungen! – Du mußt mir wichtige Aufschlüsse geben; darum ließ ich dich rufen!
– Deiner harret keine Buße, außer die deines Herzens vor Gott!“
[JJ.01_050] 50. Kapitel – Das Verhör des Landpflegers durch Cyrenius. Der
Beschönigungsversuch des Landpflegers. Die Gewissensfrage des Cyrenius an den
Maronius, dessen Bekenntnis und Verurteilung.
20. Oktober 1843
[JJ.01_050,01] Nach dieser Anrede des Cyrenius fiel dem Maronius Pilla ein
gewaltiger Stein von der Brust; der Puls fing an freier zu gehen, und er ward
bald fähig, dem Cyrenius zur Rede zu stehen.
[JJ.01_050,02] Und als der Cyrenius sah, daß der Maronius Pilla sich erholt
hatte, fragte er ihn folgendermaßen:
[JJ.01_050,03] „Ich sage dir, gebe mir die gewissenhafteste Antwort darüber,
worüber ich dich fragen werde! Denn jede ausflüchtige Antwort wird dir mein
gerechtes Mißfallen zuziehen! Und so vernehme denn meine Frage!
[JJ.01_050,04] Sage mir, kennst du die Familie, deren erstgebornes Kind der
sogenannte neue König der Juden sein solle?“
[JJ.01_050,05] Maronius Pilla antwortete: „Ja, ich kenne sie persönlich nach der
Kundgabe der Judenpriester in Jerusalem! – Der Vater heißt Joseph und ist ein
Zimmermann ersten Rufes in ganz Judäa und halb Palästina und ist seßhaft nahe
bei Nazareth.
[JJ.01_050,06] Seine Redlichkeit ist im ganzen Lande, wie auch in ganz Jerusalem
bekannt. Er mußte vor ungefähr elf Monden ein reif gewordenes Mädchen aus dem
jüdischen Tempel zur Obhut nehmen, ich glaube, durch eine Art Losung.
[JJ.01_050,07] Dieses Mädchen hat wahrscheinlich in Abwesenheit dieses biederen
Zimmermanns etwas zu früh der Venus gehuldigt, ward schwanger, darob dann meines
Wissens dieser Mann grobe Anstände mit der jüdischen Priesterschaft zu bestehen
hatte.
[JJ.01_050,08] Insoweit ist mir die Sache wohl bekannt; aber mit der Entbindung
dieses Mädchens – das da dieser Mann, um der Schande zu entgehen, die er von
seinen Genossen zu befürchten hatte, noch vor der Entbindung zum Weibe genommen
haben solle – haben sich überaus mystische Sagen im Volke verbreitet, und man
kann darüber nicht ins klare kommen!
[JJ.01_050,09] Sie hat bei der Gelegenheit der Volksbeschreibung in Bethlehem
entbunden, und zwar in einem Stalle; so viel habe ich herausgebracht.
[JJ.01_050,10] Alles Weitere ist mir völlig unbekannt; solches sagte ich auch
dem Herodes!
[JJ.01_050,11] Dieser aber meinte, Cornelius habe diese ihm von den Persern
verdächtig gemachte Familie irgend im Volke verbergen wollen, um ihm den
Lehnsthron streitig zu machen, da er wohl weiß, daß dein Bruder sein Freund
nicht ist!
[JJ.01_050,12] Darum nahm er denn auch zu dieser exzentrischen Grausamkeit seine
Zuflucht, um dadurch vielmehr dem Cornelius seinen Plan zu vereiteln, als so
ganz eigentlich dieses neuen Königs habhaft zu werden.
[JJ.01_050,13] Er übte somit mehr aus Rache gegen deinen Bruder, als aus Furcht
vor diesem neuen König, diese kindermörderische Rache aus. Das ist nun alles,
was ich dir zu sagen weiß über diese sonderbare Begebenheit!“
[JJ.01_050,14] Und der Cyrenius sprach weiter: „Bisher habe ich aus deinen
Worten ersehen, daß du zwar die Wahrheit geredet hast; aber daß du dabei vor mir
auch gewisserart den Herodes weißwaschen möchtest, ist mir keineswegs entgangen!
[JJ.01_050,15] Ich sage dir aber, wie ich geschrieben habe, die Tat des Herodes
läßt sich durch nichts entschuldigen!
[JJ.01_050,16] Denn ich will es dir sagen, warum Herodes diese
allerunmenschlichste Grausamkeit ausgeübt hat.
[JJ.01_050,17] Höre! Herodes ist selbst der allerherrschsüchtigste Mensch, den
je die Erde genährt hat.
[JJ.01_050,18] Wenn er es könnte und einigermaßen nur eine entsprechende Macht
dazu hätte, so würde er heute noch mit uns Römern, den Augustus nicht
ausgenommen, das tun, was er mit den unschuldigsten Kindern getan hat! – Verstehst du mich?!
[JJ.01_050,19] Er hatte diesen Kindermord nur darum unternommen, weil er der
Meinung war, uns Römern einen groß respektablen Dienst zu erweisen und sich
dadurch als echter römischer Patriot zu zeigen, auf daß ihm der Kaiser mein Amt
zum Lehnsfürstentume noch hinzu anvertrauen möchte;
[JJ.01_050,20] wodurch er dann gleich mir vice Caesaris unumschränkt mit dem
Drittel der ganzen römischen Macht disponieren könnte und könnte sich dadurch
dann auch von Rom ganz los und unabhängig machen, um als Alleinherrscher über
Asien und Ägypten dazustehen.
[JJ.01_050] 21. Oktober 1843
[JJ.01_050,21] Verstehst du mich?! – Siehe, das ist der mir gar wohlbekannte
Plan dieses alten Scheusals; und wie ich ihn kenne, so kennt ihn nun auch
Augustus!
[JJ.01_050,22] Nun aber frage ich dich bei deinem Kopfe zum Pfande der Wahrheit,
die du mir darüber zu erteilen hast, ob du von diesem Plane Herodis nichts
gewußt hattest, als er dich zu seinem schändlichsten Werkzeuge gedingt hatte?
[JJ.01_050,23] Rede! aber bedenke, daß dich hier jede unwahre ausflüchtige Silbe
das Leben kostet! Denn mir ist in dieser Sache jeder Punkt auf ein Haar
bekannt!“
[JJ.01_050,24] Hier ward der Maronius Pilla wieder zur Leiche und stotterte:
„Ja, du hast recht, ich wußte auch, was der Herodes im Schilde führte.
[JJ.01_050,25] Aber ich fürchtete seinen argen Intrigengeist und mußte darum tun
nach seinem Verlangen, um ihm dadurch den Grund zu einer noch größeren Intrige
zu zerstören.
[JJ.01_050,26] Ganz also durch und durch aber, wie ich den Herodes jetzt durch
dich kenne, habe ich ihn ehedem doch nicht erkannt; denn hätte ich das, da lebte
er nicht mehr!“
[JJ.01_050,27] Und Cyrenius sprach: „Gut, ich schenke dir im Namen des Kaisers
zwar das Leben; aber in dein Amt werde ich dich nicht eher einsetzen, als bis
deine Seele genesen wird von einer starken Krankheit! – Bei mir hier wirst du
gepflegt, deine Stelle aber wird einstweilen mein Bruder Cornelius versehen;
denn siehe, ich traue dir nimmer! Daher bleibst du hier, bis du gesund wirst!“
[JJ.01_051] 51. Kapitel – Das Geständnis des Maronius Pilla. Cyrenius als weiser
Richter.
24. Oktober 1843
[JJ.01_051,01] Als der Maronius Pilla solch Urteil von Cyrenius vernommen hatte,
da sprach er mit bebender Stimme:
[JJ.01_051,02] „Wehe mir, denn es ist alles verraten! – Ich bin ein
Republikaner, und solches ist dem Kaiser offen dargelegt, – wehe, ich bin
verloren!“
[JJ.01_051,03] Cyrenius aber sprach: „Wohl wußte ich, wessen Geistes Kinder ihr
seid, und welch ein Grund dich zum Kindermorde mit dem Herodes verbündet hatte.
[JJ.01_051,04] Darum handelte ich auch also, wie ich gehandelt habe!
[JJ.01_051,05] Wahrlich, so du nicht samt mir dem ersten Hause Roms entstammen
möchtest, ich hätte dir den Kopf ohne Gnade herabschlagen lassen,
[JJ.01_051,06] wo ich dich nicht sogar hätte ans Querholz heften lassen! Ich
aber habe dich darum begnadigt, weil du fürs erste von Herodes mehr verleitet
wardst zu diesem Schritte, und weil du einer der ersten Patrizier Roms bist samt
mir und dem Augustus Caesar.
[JJ.01_051,07] Aber in dein Amt kommst du nicht, solange Herodes leben wird, und
solange du nicht vollkommen geheilt sein wirst!
[JJ.01_051,08] Die Bedingung deines Hierseins aber wirst du dadurch erfüllen,
daß du ohne alle Widerrede dich der Arbeit unterziehen wirst, die ich dir
zuteilen werde, und daß du streng unter meinen Augen wandeln wirst!
[JJ.01_051,09] Im Frühjahre aber werde ich einen amtlichen Ausflug nach Ägypten
machen, – dahin wirst du mich begleiten!
[JJ.01_051,10] Dort wohnt außer der Stadt ein alter Weiser; diesem werde ich
dich unter die Augen stellen, – und er wird dir alle deine Krankheit kundtun!
[JJ.01_051,11] Und es wird sich dort auf den ersten Augenblick zeigen, inwieweit
allen deinen Aussagen zu trauen ist!
[JJ.01_051,12] Bereite dich daher wohl vor; denn dort wirst du mehr antreffen
denn das Orakel zu Delphi!
[JJ.01_051,13] Denn dort wirst du vor einen Richter gestellt werden, dessen
Augenschärfe das Erz fließen macht wie Wachs! – Bereite dich daher wohl vor;
denn bei diesem meinem Ausspruche wird es verbleiben!“ –
[JJ.01_052] 52. Kapitel – Die Reise des Cyrenius nach Ägypten und seine Ankunft
in Ostracine. Josephs und Marias Entschluß, Cyrenius zu begrüßen. Die ersten
Worte des Kindleins.
25. Oktober 1843
[JJ.01_052,01] Das bestimmte Frühjahr kam gar bald heran; denn in dieser Gegend
ist dessen Anfang schon im halben Februar.
[JJ.01_052,02] Aber Cyrenius bestimmte seine Reise nach Ägypten erst im halben
März, welcher Monat bei den Römern gewöhnlich für militärische Geschäfte
festgesetzt war.
[JJ.01_052,03] Als sonach der halbe März erschien, ließ der Cyrenius sobald
wieder sein Schiff ausrüsten und trat mit Maronius Pilla gerade am fünfzehnten
die Reise nach Ägypten an.
[JJ.01_052,04] In fünf Tagen ward diesmal die Reise zurückgelegt.
[JJ.01_052,05] Diesmal ließ der Cyrenius sich in Ostracine mit allen Ehren
empfangen; denn er mußte diesmal große militärische Musterungen und Visitationen
halten.
[JJ.01_052,06] Darum mußte er sich diesmal auch mit allen Auszeichnungen
empfangen lassen.
[JJ.01_052,07] Es machte sonach diese Ankunft des Cyrenius ein übergroßes
Aufsehen in Ostracine, welches auch bis zu unserer bekannten Villa sich
verbreitete.
[JJ.01_052,08] Joseph sandte darum die zwei ältesten seiner Söhne in die Stadt,
auf daß sie sich genau erkundigen sollten, was das sei, darum die ganze Stadt in
solcher Bewegung ist.
[JJ.01_052,09] Und die beiden Söhne gingen eiligst und kamen bald mit der guten
Botschaft zurück, daß der Cyrenius in der Stadt angekommen sei, und wo er wohne.
[JJ.01_052,10] Als der Joseph solches vernommen hatte, sprach er zu Maria:
„Höre, diesen großen Wohltäter müssen wir sogleich dankbar besuchen, und das
Kindlein darf nicht zurückbleiben!“
[JJ.01_052,11] Und die Maria, voll Freuden über diese Nachricht, sprach: „O
lieber Joseph, das versteht sich von selbst; denn das Kindlein ist ja der
eigentliche Liebling des Cyrenius!“
[JJ.01_052,12] Und sogleich zog Maria dem schon recht stark gewachsenen Kinde
ganz neue, von ihr selbst verfertigte Kleider an und fragte so in ihrer
mütterlichen Liebe und Unschuld das Kindlein:
[JJ.01_052,13] „Gelt, Du mein herzallerliebstes Söhnchen, Du mein geliebtester
Jesus, Du gehst auch mit, den lieben Cyrenius zu besuchen?“
[JJ.01_052,14] Und das Kindlein lächelte die Maria gar munter an und sprach
deutlich das erste Wort; und das Wort lautete:
[JJ.01_052,15] „Maria! jetzt folge Ich dir, bis du Mir einst folgen wirst!“
[JJ.01_052,16] Diese Worte brachten eine solch erhabene Stimmung im ganzen Hause
Josephs hervor, daß er darob beinahe den Besuch des Cyrenius vergessen hätte.
[JJ.01_052,17] Aber das Kindlein ermahnte den Joseph selbst, sein Vorhaben nicht
aufzuschieben; denn der Cyrenius hätte diesmal viel zu tun zur Wohlfahrt der
Menschen.
[JJ.01_053] 53. Kapitel – Josephs und Marias Angst und Fluchtgedanken auf dem
Paradeplatz. Das Zusammentreffen mit Cyrenius und Maronius Pilla. Das Ende der
Truppenbesichtigung und die Heimkehr der heiligen Familie in Begleitung des
Cyrenius.
26. Oktober 1843
[JJ.01_053,01] Darauf machten sich Joseph und Maria sogleich auf den kurzen Weg;
und der älteste Sohn Josephs begleitete sie, ihnen den nächsten Weg zur Burg
zeigend, in der sich Cyrenius aufhielt.
[JJ.01_053,02] Als sie aber auf den großen Platz gelangten, siehe, da war
derselbe ganz mit Soldaten angefüllt, daß nicht leichtlich zum Eingange in die
Burg zu gelangen war.
[JJ.01_053,03] Und der Joseph sprach zur Maria: „Geliebtes Weib, siehe, was für
uns Menschen unmöglich ist, das bleibt unmöglich!
[JJ.01_053,04] Also ist es auch jetzt rein unmöglich, durch alle diese
Soldatenreihen zur Burg zu gelangen; daher, sollen wir geradezu wieder umkehren
und eine günstigere Zeit abwarten!?
[JJ.01_053,05] Auch das Kindlein blickt diese rauhen Kriegerreihen ganz
ängstlich an! Es könnte leicht erschreckt und darauf krank werden, und wir
hätten dann die Schuld; daher kehren wir wieder zurück!“
[JJ.01_053,06] Maria aber sprach: „Geliebtester Joseph! Siehe, so mich meine
Augen nicht täuschen, so ist jener Mann, der soeben da vor dieser letzten Reihe
mit einem glänzenden Helm auf dem Kopfe dahergeht, ja eben der Cyrenius!
[JJ.01_053,07] Warten wir daher ein wenig, bis er daher kommt; vielleicht wird
er unser ansichtig und wird uns dann sicher einen Wink geben, was wir zu tun
haben, ob wir zu ihm kommen sollen, oder nicht!“
[JJ.01_053,08] Und der Joseph sprach: „Ja, geliebtes Weib, du hast recht; es ist
offenbar Cyrenius selbst!
[JJ.01_053,09] Aber siehe einmal dem andern Helden, der neben ihm einhergeht, so
recht fest ins Gesicht! Wenn das nicht der berüchtigte Landpfleger von Jerusalem
ist, so will ich nicht Joseph heißen!
[JJ.01_053,10] Was tut dieser hier? – Sollte seine Gegenwart uns gelten? – Sollte uns Cyrenius schändlichst also an den Herodes ausgeliefert haben?!
[JJ.01_053,11] Das Beste an der Sache ist, daß er mich und dich persönlich
sicher nicht kennt, und so können wir uns noch durch eine neue Flucht tiefer
nach Ägypten hinein retten.
[JJ.01_053,12] Denn kennete er mich oder dich, so wären wir schon verloren; denn
er ist nun kaum mehr zwanzig Schritte von uns entfernt und könnte uns sogleich
ergreifen lassen!
[JJ.01_053,13] Daher ziehen wir uns nur schleunigst zurück, sonst ist es mit uns
geschehen, so der Cyrenius unser ansichtig wird, der uns sicher noch gar wohl
kennt!“
[JJ.01_053,14] Hier erschrak Maria und wollte sogleich zurückfliehen. Aber das
Volksgedränge gestattete hier keine Flucht; denn die Neugierde trieb so viele
Menschen auf den Platz, daß durch sie es wohl unmöglich war, sich
hindurchzudrängen.
[JJ.01_053,15] Joseph sagte daher: „Was unmöglich ist, das ist unmöglich;
ergeben wir uns daher in den göttlichen Willen! Der Herr wird uns auch diesmal
sicher nicht verlassen!
[JJ.01_053,16] Stecken wir aber doch zur Vorsicht so hübsch die Köpfe zusammen,
auf daß wenigstens der Cyrenius uns nicht vom Angesichte erkennt!“
[JJ.01_053,17] Bei dieser Gelegenheit aber kam auch der Cyrenius so ziemlich
knapp an den Joseph und schob ihn ein wenig vom Wege. Joseph aber konnte des
Gedränges wegen nicht weichen; daher sah Cyrenius seinen hartnäckigen Mann sich
näher an und erkannte sobald den Joseph.
[JJ.01_053,18] Als er des Joseph ansichtig ward und der Maria und des ihn
anlächelnden Kindes, da wurden seine Augen vor Freude voll Tränen; ja so erfreut
ward Cyrenius darüber, daß er kaum zu reden vermochte.
[JJ.01_053,19] Doch aber faßte er sich so bald als möglich, ergriff mit Hast die
Hand Josephs, drückte sie an sein Herz und sprach:
[JJ.01_053,20] „Mein erhabenster Freund! – Du siehst mein Geschäft!
[JJ.01_053,21] O vergebe mir, daß ich noch nicht dich habe besuchen können; aber
soeben ist die Musterung zu Ende! Ich werde sogleich die Truppen abziehen lassen
in ihre Kasernen,
[JJ.01_053,22] sodann dem Obersten meinen kurzen Befehl erteilen für morgen und
dann alsogleich hier umgekleidet bei dir sein und dich geleiten in deine
Wohnung!“
[JJ.01_053,23] Hier wandte er sich noch voll Freude zur Maria und zu dem Kinde
und fragte, gleichsam das Kindlein kosend:
[JJ.01_053,24] „O Du mein Leben, Du mein Alles, kennst Du mich noch, hast Du
mich lieb, Du mein holdestes Kindchen Du!?“ –
[JJ.01_053,25] Und das Kindchen hob Seine Händchen weit ausgebreitet gegen den
Cyrenius auf, lächelte ihn gar sanft an und sprach dann deutlich:
[JJ.01_053,26] „O Cyrenius! Ich kenne dich wohl und liebe dich, weil du Mich so
sehr lieb hast! – Komme, komme nur zu Mir; denn Ich muß dich ja segnen!“
[JJ.01_053,27] Das war zuviel für das Herz des Cyrenius; er nahm das Kindlein
auf seine Arme, drückte Es an sein Herz und sprach:
[JJ.01_053,28] „Ja! Du mein Leben, mit Dir auf meinen Armen will ich das
Kommando zum langen Frieden der Völker erteilen!“
[JJ.01_053,29] Hier rief er den Obersten zu sich, erteilte ihm seine volle
Zufriedenheit und befahl ihm, die Truppen abziehen zu lassen und drei Tage lang
auf Kosten des eigenen Beutels (d.h. des Cyrenius Beutel) verpflegen zu lassen,
und lud dann den Obersten zu einem guten Mahl nebst mehreren Hauptleuten auf die
Villa Josephs ein.
[JJ.01_053,30] Er aber zog, wie er war, geleitet von dem sich stets mehr
wundernden Maronius Pilla, sogleich das Kindlein selbst tragend, mit Joseph und
der Maria hinaus auf die Villa und ließ dort durch seine Diener sogleich ein
festlich Mahl bereiten. – Das aber machte ein großes Aufsehen in der Stadt; denn
alles Volk ward entflammt mit Liebe für den Cyrenius, da es in ihm einen so
großen Kinderfreund ersah. –
[JJ.01_054] 54. Kapitel – Josephs bange Frage an Cyrenius wegen der Anwesenheit
des Maronius Pilla. Des Cyrenius beruhigende Antwort. Die Ankunft im Landhaus
Josephs.
27. Oktober 1843
[JJ.01_054,01] Dem Joseph aber war alles recht, und er lobte in seinem Herzen
auch Gott den Herrn inbrünstigst für diese überglückliche Wendung seiner
ängstlichen Besorgnis.
[JJ.01_054,02] Aber dennoch genierte ihn der Maronius ein wenig; denn er wußte
noch immer nicht, was denn so ganz eigentlich dieser Freund des Herodes hier
mache.
[JJ.01_054,03] Daher nahte er sich noch auf dem Wege ganz unvermerkt dem
Cyrenius und fragte ihn etwas leise:
[JJ.01_054,04] „Edelster Freund der Menschen! – Ist dieser Held, der da vor dir
zieht, nicht der Maronius von Jerusalem?
[JJ.01_054,05] Wenn er es ist, dieser Freund des Herodes, was macht er wohl
hier?!
[JJ.01_054,06] Sollte er etwa irgend Wind von mir erhalten haben und will mich
hier aufsuchen und gefangennehmen?
[JJ.01_054,07] O edelster Freund! belasse mich nicht länger in dieser bangen
Ungewißheit!“
[JJ.01_054,08] Der Cyrenius aber ergriff die Hand Josephs und sagte ebenfalls
ganz leise zu ihm:
[JJ.01_054,09] „O du mein liebster, erhabenster Freund! fürchte dich vor dem im
Ernste wirklich gewesenen Landpfleger von Jerusalem ja nicht im geringsten!
[JJ.01_054,10] Denn heute noch sollst du dich selbst überzeugen, daß er einen
bei weitem größeren Grund hat, sich vor dir zu fürchten, als du vor ihm!
[JJ.01_054,11] Denn siehe, er ist nun nimmer Landpfleger in Jerusalem, sondern
er ist nun, wie du ihn siehst, mein barster Gefangener und wird seine Stelle
nicht eher wieder einnehmen, als bis er vollkommen geheilt sein wird!
[JJ.01_054,12] Ich habe ihn aber gerade deinetwegen mitgenommen; denn als ich
ihn verhörte der Greueltat in Palästina wegen,
[JJ.01_054,13] da gab er vor, dich und die Maria persönlich zu kennen. Wie es
sich aber jetzt zeigt, so kennt er weder dich noch dein Weib Maria!
[JJ.01_054,14] Und das ist schon ein sehr gutes Wasser auf unsere Mühle.
[JJ.01_054,15] Er weiß aber keine Silbe, daß du hier bist; darum mußt du dich
auch nirgends verraten!
[JJ.01_054,16] Denn er erwartet hier nur einen überweisen Mann, der ihm seine
Eingeweide enthüllen wird;
[JJ.01_054,17] und dieser ist kein anderer als du selbst! Denn darum habe ich
ihn nach meiner Aussage mitgenommen, daß er in dir den weisen Mann solle kennen
und zu seinem Besten verkosten lernen.
[JJ.01_054,18] Er fürchtet dich daher schon im voraus ganz entsetzlich und ist,
nach seinem sehr blassen Aussehen zu schließen, schon sicher der Meinung, daß du
der von mir erwähnte Mann sein wirst!
[JJ.01_054,19] Aus diesem wenigen kannst du vorderhand dich schon ganz
beruhigen; die Folge aber wird dir dieses alles ins klarste Licht setzen!“
[JJ.01_054,20] Als der Joseph solches von Cyrenius vernommen hatte, da ward er
überfroh und unterrichtete heimlich die Maria und den ältesten Sohn, wie sie
sich gegen den Maronius zu benehmen haben, damit da ja nichts irgend von dem
Plane des Cyrenius verraten werden möchte. Und so wurde vorsichtigen Schrittes
auch die Villa erreicht und daselbst das Mahl bereitet, wie es schon
bekanntgegeben wurde. –
[JJ.01_055] 55. Kapitel – Das Gastmahl in Josephs Landhaus. Marias Demut und
Liebesstreit mit Cyrenius. Die göttliche, alle Philosophie beschämende Weisheit
des hl. Kindes.
28. Oktober 1843
[JJ.01_055,01] Die Mahlzeit war bereitet, und die Gäste, die da geladen waren,
kamen auch herbei; und der Cyrenius, bisher noch immer das Kindlein lockend, das
mit ihm spielte und ihn auch liebkosete, gab der Maria wieder das Kindlein und
gab das Zeichen zum Essen.
[JJ.01_055,02] Alles setzte sich zum reinen Tische; aber Maria, da sie keine
stattlichen Kleider hatte, ging mit dem Kindlein in ein Seitengemach und setzte
sich zum Tische der Söhne Josephs.
[JJ.01_055,03] Es merkte aber solches sobald der Cyrenius, eilte selbst der
lieben Mutter nach und sprach:
[JJ.01_055,04] „O du allerliebste Mutter dieses meines Lebens, was willst du
denn tun?!
[JJ.01_055,05] An dir und an deinem Kinde ist mir ja am meisten gelegen; du bist
die Königin unserer Gesellschaft, und gerade du möchtest nicht teilnehmen an
meinem Freudenmahle, das ich gerade deinetwegen hier veranstalten ließ!?
[JJ.01_055,06] O siehe, das geht durchaus nicht an! Komme daher nur geschwind
herein ins große Gemach und setze dich an meiner Rechten, – und neben mir zur
Linken sitzet dein Gemahl!“
[JJ.01_055,07] Maria aber sprach: „O siehe, du lieber Herr, ich habe ja gar
ärmliche Kleider; wie werden sich diese an deiner so glänzenden Seite
ausnehmen!?“
[JJ.01_055,08] Cyrenius aber sprach: „O du liebe Mutter! – So dich meine goldnen
Kleider, die für mich gar keinen Wert haben, beirren sollten, da möchte ich sie
sogleich von mir werfen und dafür einen allergemeinsten Matrosenrock anziehen,
um dich nur bei meiner Tafel nicht zu missen!“
[JJ.01_055,09] Da die Maria von der großen Herablassung des Cyrenius überzeugt
war, so kehrte sie um und setzte sich also neben den Cyrenius zur Tafel mit dem
Kinde auf ihren Armen.
[JJ.01_055,10] Als sie nun alle am Tische saßen, da sah das Kindlein fortwährend
den Cyrenius lächelnd an; und der Cyrenius konnte auch vor lauter Liebe zu
diesem Kinde seine Augen nicht abwenden von Ihm.
[JJ.01_055,11] Eine kurze Zeit hielt er es aus; aber dann wurde seine Liebe zum
Kinde zu mächtig,
[JJ.01_055,12] und er fragte den lieben Kleinen: „Gelt, Du mein Leben, Du
möchtest wieder zu mir auf meine Arme?“
[JJ.01_055,13] Und das Kindlein lächelte den Cyrenius gar lieblich an und sprach
wieder sehr deutlich:
[JJ.01_055,14] „O mein geliebter Cyrenius! – zu dir gehe Ich sehr gerne, weil du
Mich so lieb hast! – darum habe auch Ich dich so lieb!“
[JJ.01_055,15] Und sogleich streckte der Cyrenius seine Arme nach dem Kinde aus
und nahm Es zu sich und kosete Es inbrünstigst.
[JJ.01_055,16] Maria aber sprach scherzend zum Kindlein: „Mache aber den Herrn
Cyrenius ja nicht irgend schmutzig!“
[JJ.01_055,17] Und der Cyrenius aber sprach in hoher Rührung: „O liebe Mutter!
Ich möchte wohl wünschen, daß ich so rein wäre, dieses Kind würdig auf meinen
Armen zu tragen!
[JJ.01_055,18] Dies Kind kann mich nur reinigen, aber nimmer beschmutzen!“
[JJ.01_055,19] Hier wandte er sich wieder zum Kinde und sprach: „Mein Kindlein,
gelt ja, ich bin wohl noch sehr unrein, sehr unwürdig, Dich zu tragen?“
[JJ.01_055,20] Das Kindlein aber sprach abermals deutlich: „Cyrenius, wer Mich
liebt wie du, der ist rein, und Ich liebe ihn, wie er Mich liebt!“
[JJ.01_055,21] Und der Cyrenius fragte das Kindlein ganz entzückt weiter,
sagend: „Aber wie kommt es, Du mein Kindlein, daß Du, noch kaum etliche Monate
alt, schon so vernünftig und deutlich sprichst? Hat Dich Deine liebe Mutter das
gelehrt?“
[JJ.01_055,22] Das Kindlein aber, gar sanft lächelnd, richtete Sich auf den
Armen des Cyrenius ganz gerade auf und sprach wie ein kleiner Herr:
[JJ.01_055,23] „Cyrenius, da kommt es nicht auf das Alter und auf das Erlernen
an, sondern was für einen Geist man hat! – Lernen muß nur der Leib und die
Seele; aber der Geist hat schon alles in sich aus Gott!
[JJ.01_055,24] Ich aber habe den rechten Geist vollmächtig aus Gott; siehe,
darum kann Ich auch schon so frühe reden!“
[JJ.01_055,25] Diese Antwort brachte den Cyrenius, wie auch die ganze andere
Gesellschaft, völlig außer sich vor Verwunderung, und der Oberste selbst sagte:
„Beim Zeus, dieses Kind beschämt schon jetzt mit dieser Antwort alle unsere
Weisen! Was ist da Plato, Sokrates und hundert andere Weise mehr! Was aber wird
dieses Kind erst leisten im Mannesalter?“ – Und der Cyrenius sprach: „Sicher
mehr als alle unsere Weisen samt allen unseren Göttern!“
[JJ.01_056] 56. Kapitel – Des Maronius hohe Meinung über das Kindlein und des
Cyrenius Zufriedenheit mit Maronius.
30. Oktober 1843
[JJ.01_056,01] Der Cyrenius aber wandte sich bald nach diesen Wunderworten des
Kindleins an den stets blasser werdenden Maronius und sagte zu ihm:
[JJ.01_056,02] „Maronius Pilla, was sagst denn du zu diesem Kinde? Hast du je
etwas Ähnliches gesehen und gehört?
[JJ.01_056,03] Ist das nicht offenbar mehr als unsere Mythe von Zeus, da er auf
einer Insel solle an einer Ziege gesaugt haben?
[JJ.01_056,04] Nicht bei weitem mehr als die fragliche Tradition von den
Gründern Roms, den Nährkindern einer Wölfin?!
[JJ.01_056,05] Rede, was deucht dich hier? Denn darum bist du mein Geleitsmann,
daß du etwas hören, sehen, lernen und darüber dann vor mir urteilen sollest!“
[JJ.01_056,06] Der Maronius Pilla faßte sich hier, so gut er es nur konnte, und
sprach:
[JJ.01_056,07] „Hoher Befehlshaber von Asien und Ägypten, was solle ich armer
Tropf hier sagen, wo die größten alten Weltweisen verstummen müßten und Apollos
und Minervas Weisheit wie auf einem glühenden Amboß des Vulkan gar jämmerlich
zum dünnsten Bleche breitgeschlagen wird?!
[JJ.01_056,08] Ich kann hier nichts anderes sagen als: Den Göttern hat es
wohlgefallen, aus ihrer aller Mitte einen allerweisesten Gott auf die Erde zu
stellen; und Ägypten als der alte, von allen Göttern begünstigteste Boden muß
auch dieses Gottes aus allen Göttern Vaterland sein, ein Land, das den Schnee
und das Eis nicht kennt!“
[JJ.01_056,09] Und der Cyrenius sagte etwas lächelnd: „Du hast gewisserart nicht
unrecht;
[JJ.01_056,10] aber siehe, nur darin scheinst du dich geirrt zu haben, daß du
dies Kind ein Kind aus allen Göttern nanntest!
[JJ.01_056,11] Denn sieh, da zu meinen beiden Seiten sitzen des Kindes Vater und
Mutter ja, und diese sind Menschen, wie wir beide es sind!
[JJ.01_056,12] Wie sollte hernach aus ihnen ein Gottkind aller Götter zum
Vorscheine kommen?
[JJ.01_056,13] Obendrauf aber würden sich dadurch ja offenbar die hohen Bewohner
des Olymps eine ganz gewaltige Laus in den Pelz gesetzt haben, die ihnen durch
ihr enormes Weisheitsübergewicht gar bald den Garaus machen würde!
[JJ.01_056,14] Ich ersuche dich darum, dich anders zu beraten; denn sonst läufst
du Gefahr, daß dich für solch eine Demonstration alle Götter zugleich angreifen
werden und werden dich beim lebendigen Leibe vor den Minos, Äakus und
Rhadamanthys stellen und dich darauf dem Tantalus zur Seite stellen!“
[JJ.01_056,15] Hier stutzte der Maronius und sprach nach einer Weile:
„Consulische Kaiserliche Hoheit! Ich glaube, das Gericht der drei
Unterweltsrichter ist schon beinahe eingegangen, und die Götter haben, wie es
mir vorkommt, auch schon so ziemlich stark ihren Olymp gelüftet!
[JJ.01_056,16] Wenn wir nur weise Menschen haben, die sicher auch ihre Weisheit
nicht aus den Pfützen haben, da dürften wir unserer Götter Rat gar bald
entbehren lernen!
[JJ.01_056,17] Fürwahr, dieses Wunderkindes Worte stehen schon jetzt in einem
größeren Ansehen bei mir als drei Olympe voll ganz frisch gebackner Götter!“
[JJ.01_056,18] Und der Cyrenius sprach: „Maronius! – Wenn das dein vollster
Ernst ist, dann sei dir alles vergeben; aber wir wollen darüber eher noch so
manches Wort wechseln; darum vorderhand nichts mehr weiter!“
[JJ.01_057] 57. Kapitel – Die Aufhebung der Tafel. Die Vernehmung des Maronius
Pilla über die hl. Familie durch Cyrenius. Des Maronius Eingeständnis seiner
Notlüge.
31. Oktober 1843
[JJ.01_057,01] Nach der Beendung der Mahlzeit, welche bei Cyrenius nie über zwei
Stunden dauerte, begaben sich der Oberst und die Zenturionen wieder in die Stadt
mit dem ausdrücklichen Befehle, ihm an diesem Tage keine Ehrenbezeigungen mehr
zu erweisen.
[JJ.01_057,02] Als sich alle sonach entfernt hatten, da nahm der Cyrenius erst
den Maronius sozusagen recht ad coram.
[JJ.01_057,03] Er fragte ihn darum in der Gegenwart Josephs und der Maria, die
wieder das Kindlein auf ihren Armen hatte:
[JJ.01_057,04] „Maronius! Du hast mir in Tyrus, als ich dich verhört hatte nach
dem Herodes, gesagt, und hast es mir förmlich beteuert, den gewissen biederen
Zimmermann Joseph aus der Gegend von Nazareth persönlich zu kennen;
[JJ.01_057,05] also auch eine gewisse Maria, die eben der Zimmermann aus dem
Tempel zum Weibe oder bloß nur zur Obhut solle übernommen haben!
[JJ.01_057,06] Gebe mir daher eben jetzt, da wir bei diesem meinem Gastwirte
gute Muße haben, eine nähere Beschreibung davon!
[JJ.01_057,07] Denn ich habe dieser Tage in Erfahrung gebracht, daß sich diese
Familie im Ernste hier in Ägypten befinden solle und soll eine ganz andere sein
als diejenige, die mir mein Bruder überantwortet hat und von mir aus sich noch
in gutem Gewahrsame befindet.
[JJ.01_057,08] Denn so viel Rechts- und Menschlichkeitsgefühl wirst du ja trotz
der Herodianischen Greuelgenossenschaft haben, um anzuerkennen, daß es doch
sicher höchst grausam wäre, unschuldige Menschen – woher sie auch immer sein
mögen – ohne Not gefangenzuhalten!
[JJ.01_057,09] Gebe du mir daher eine sichere Beschreibung von dem berüchtigten
Paare, auf daß ich es in dieser Gegend aufsuchen und gefangennehmen kann; denn
das erfordern streng unsere Staatsgesetze!
[JJ.01_057,10] Ich aber bin berechtigt, solches um so mehr von dir zu verlangen,
weil du selbst es mir gestanden hattest, diese Familie persönlich zu kennen, an
deren richtiger Habhaftwerdung mir nun alles gelegen sein muß!“
[JJ.01_057,11] Hier fing der Maronius wieder ganz gewaltig an zu stutzen und
wußte nicht, was er nun sagen solle; denn er hatte weder den Joseph, noch die
Maria zuvor gesehen.
[JJ.01_057,12] Nach einer Weile sagte er mit ganz stotternder Stimme erst:
[JJ.01_057,13] „Consulische Kaiserliche Hoheit! Auf deine Güte und Nachsicht
bauend, muß ich dir endlich beim Zeus und allen andern Göttern beteuern und
eidlich bekennen, daß ich den besagten Joseph samt der gewissen Maria nicht im
geringsten kenne!
[JJ.01_057,14] Denn mein Bekenntnis in Tyrus war nur eine leere Ausflucht, da
ich damals noch böswillig dich zu täuschen suchte.
[JJ.01_057,15] Nun aber habe ich mich bei dir überzeugt, daß du durchaus nicht
zu täuschen bist; so hat sich denn auch mein Wille geändert, und ich habe dir
demnach die volle Wahrheit kundgetan!“
[JJ.01_057,16] Hier winkte der Cyrenius dem reden wollenden Joseph, zu schweigen
noch, und sagte zum Maronius:
[JJ.01_057,17] „Ja, wenn ich so mit dir stehe, da werden wir uns schon noch
etwas länger beschauen und besprechen müssen; denn nun erst erkenne ich dich als
einen vollkommen staatsgefährlichen Menschen! – Gebe mir daher nun Rede und
Antwort auf jegliche meiner Fragen eidlich!“
[JJ.01_058] 58. Kapitel – Maronius Pillas Verteidigungsrede und guter Entschluß.
Joseph als Schiedsrichter. Des Cyrenius edles Urteil.
2. November 1843
[JJ.01_058,01] Der Maronius aber sagte darauf zum Cyrenius: „Consulische
Kaiserliche Hoheit! Wie wohl solle ich nun noch ein staatsverdächtiger Anhänger
des Herodes sein?
[JJ.01_058,02] Denn ich erkenne es ja nun, daß dieser Wüterich nach der
Alleinherrschaft von Asien strebt!
[JJ.01_058,03] Sollte ich ihm dazu etwa behilflich sein? – Wie wäre da solches
möglich? – Mit der Handvoll Jerusalemer könnte sich Herodes höchstens über die
Kinder der Juden wagen!
[JJ.01_058,04] Und diese Gewalttat hat ihm schon eine solche Schlappe
beigebracht, daß er ein ähnliches Unternehmen für alle Zeiten der Zeiten
unterlassen wird!
[JJ.01_058,05] Ich aber war ja ohnehin ein Werkzeug der Not und mußte handeln
nach dem Willen dieses Wüterichs, weil er mir mit Rom drohte!
[JJ.01_058,06] Da ich aber nun von dir aus ganz klar weiß, wie die Sachen
stehen, und zudem auch keine Macht in meinen Händen habe und auch keine mehr
haben will,
[JJ.01_058,07] sehe ich fürwahr nicht ein, wie und auf welche Art ich noch ein
staatsgefährlicher Mensch sein sollte?!
[JJ.01_058,08] Behalte du mich bei dir als ewige Geisel meiner Treue für Rom,
und du machst mich glücklicher, als so du mich wieder zum Landpfleger von
Palästina und Judäa machst!“
[JJ.01_058,09] Diese Worte sprach der Maronius ganz ernstlich, und war seiner
Rede keine Zweideutigkeit zu entnehmen.
[JJ.01_058,10] Darum sprach Cyrenius zu ihm: „Gut, mein Bruder, ich will dir
glauben, was du geredet hast; denn ich habe in deinen Worten nun viel Ernst
gefunden!
[JJ.01_058,11] Aber eines geht mir zur vollsten Bekräftigung der Wahrheit deiner
Worte noch ab, und das ist das Urteil jenes weisen Mannes, dessen ich dir schon
in Tyrus erwähnt hatte.
[JJ.01_058,12] Und siehe, dieser Mann, dieses Orakel aller Orakel, steht vor uns
hier!
[JJ.01_058,13] Dieser Mann hat dich bis in die innerste Gedankenregung
durchschaut; darum wollen wir nun ihn fragen, was er von dir hält!
[JJ.01_058,14] Und dir solle nach seinem Ausspruche geschehen! Setzt er dich
wieder zum Landpfleger in Jerusalem ein, so bist du heute noch zum Landpfleger
von Jerusalem ernannt;
[JJ.01_058,15] tut er aber das aus höchst weisen und guten Gründen nicht, so
bleibst du meine Geisel!“
[JJ.01_058,16] Hier wurde darum Joseph gefragt, und er sprach: „Edelster Freund
Cyrenius! Von mir aus ist Maronius nun rein, und du kannst ihm wieder seine
Stelle geben ohne Bedenken!
[JJ.01_058,17] Wir aber stehen in der Hand des allmächtigen, ewigen Gottes;
welche Macht solle sich da gegen uns auflehnen können?“
[JJ.01_058,18] Hier hob Cyrenius seine Hand auf und sprach: „So schwöre ich denn
auch dir, Maronius Pilla, beim lebendigen Gotte dieses Weisen, daß du von nun an
wieder Landpfleger von Jerusalem bist!“
[JJ.01_058,19] Maronius aber sprach: „Gebe dies Amt einem anderen, und behalte
mich als deinen Freund bei dir; denn das macht mich glücklicher!“
[JJ.01_058,20] Und der Cyrenius sprach: „So sei denn mein Amtsgefährte, solange
Herodes leben wird, und dann erst Oberpfleger vom ganzen Judenlande!“ – Und der
Maronius nahm diesen Antrag dankbar an.
[JJ.01_059] 59. Kapitel – Josephs Frage nach Herodes. Maronius Pillas Antwort.
Die Leidenskrone und das schreckliche Ende des Herodes.
3. November 1843
[JJ.01_059,01] Nachdem aber sprach Joseph zum Maronius: „Da ich nun durch die
große Gnade meines Gottes und meines Herrn dich erkannt habe, daß in dir kein
arger Wille mehr haftet,
[JJ.01_059,02] so gebe du mir kund, wie du es wahrgenommen wirst haben, wie da
des Herodes Herz beschaffen ist gegen die Kinder, die er gemordet hat wegen des
neuen Königs der Juden?
[JJ.01_059,03] Ist es nicht erweicht worden durch das unschuldigste Blut der
Kinder, durch das Wehklagen der Mütter?!
[JJ.01_059,04] Was würde er tun, so er durch eine neue Nachricht erführe, daß er
unter den vielen gemordeten Kindern dennoch das rechte nicht ermordet hat?!
[JJ.01_059,05] Wenn er erführe, daß das rechte Kind ganz wohlbehalten irgend in
Judäa oder Palästina noch lebe?!“
[JJ.01_059,06] Hier sah der Maronius den Joseph ganz verdutzt an und sprach nach
einer Weile:
[JJ.01_059,07] „Wahrhaft tiefweisester Mann! da kann ich dir nichts anderes
sagen als:
[JJ.01_059,08] So du von deiner Weisheit den allerübelsten Gebrauch machen und
von Herodes zehntausend Pfund Goldes verlangen möchtest dafür, daß du ihm mit
Bestimmtheit das rechte Kind verrietest;
[JJ.01_059,09] fürwahr, du würdest diese enorme Goldsumme im voraus erhalten!
[JJ.01_059,10] Denn das Gold ist dem Wüterich nichts gegen seine Herrschlust.
[JJ.01_059,11] Da er des Goldes so viel hat, daß er Häuser aus purem Golde bauen
könnte, so achtet er es kaum; aber wenn er sich den Thron sichern könnte, da
möchte er all sein Gold ins Meer werfen und dafür eine Welt voll Menschen
erschlagen!
[JJ.01_059,12] Siehe, auch mich wollte er anfangs schwer bestechen mit Gold,
Diamanten, Rubinen und größten Perlen;
[JJ.01_059,13] allein meine echt römische Patriziertugend verwies solches streng
dem alten Bluthunde!
[JJ.01_059,14] Das entflammte aber seinen Zorn noch mehr, und er drohte mir dann
aus seinem patriotischen Scheingrunde mit Rom!
[JJ.01_059,15] Dann erst mußte ich tun, was er wollte, und war mir kein Ausweg
möglich; denn er gab mir aus eigener Hand eine Urkunde, laut welcher er die
ganze Rechnung mit Rom auf sich nahm.
[JJ.01_059,16] Darum war ich gezwungen zu handeln, wie es dir sicher bekannt
ist.
[JJ.01_059,17] Daß aber demnach von seinem Herzen bis zur Stunde nichts Gutes zu
erwarten ist, des kannst du vollends versichert sein!
[JJ.01_059,18] Ich glaube, mehr brauche ich dir, der du ein so tiefst Weiser
bist, kaum kundzugeben von diesem wahren Könige aller Furien, von diesem
lebendigen Medusenhaupte!“
[JJ.01_059,19] Und der Joseph sprach: „Der ewig einige, wahre Gott segne dich
für diese getreuen Worte!
[JJ.01_059,20] Glaube es mir, du wirst dich überzeugen: Gott, der ewig Gerechte,
wird diesem Auswurfe der Menschheit noch auf der Welt eine Krone, nach der er so
blutdürstig ist, aufs Haupt setzen, vor der sich alle Welt wundern wird!“ –
[JJ.01_059,21] Hier hob das Kindlein Seine Hand hoch auf und sprach wieder ganz
deutlich: „Herodes, Herodes! – Ich habe keinen Fluch für dich; aber eine Krone
auf dieser Welt sollst du tragen, die dir zur großen Qual wird und schmerzlicher
denn die Last des Goldes, die du nach Rom zahlen mußtest!“
[JJ.01_059,22] Zur Zeit, als das Kindlein dieses in Ägypten ausgesprochen hatte,
ward Herodes mit Läusen übersät, und sein Gesinde hatte durch das noch übrige
Leben des Herodes nichts zu tun, als ihn von den Läusen zu reinigen, die sich
stets mehrten und endlich auch seines Leibes Tod herbeiführten. – –
[JJ.01_060] 60. Kapitel – Des Cyrenius Grimm über Herodes und des Jesuskindes
beruhigende Worte. Des Kindleins Frage: „Wer hat den längsten Arm?“
4. November 1843
[JJ.01_060,01] Als der Cyrenius aber solches von Maronius Pilla vernommen hatte
und den Ausspruch Josephs und des Kindleins, da entsetzte er sich förmlich und
sprach:
[JJ.01_060,02] „O ihr ewigen Mächte eines allerhöchsten Beherrschers der
Unendlichkeit! Habt ihr denn keine Blitze mehr, um sie über dieses Scheusal von
einem Vasallen Roms zu schleudern?!
[JJ.01_060,03] O Augustus Caesar, mein guter Bruder! – Welche Furie hat denn dir
damals deine Augen geblendet, als du dieses Scheusal, diesen Auswurf aus dem
untersten Tartarus, aus dem wahren Orkus mit Palästina und Judäa belehntest?!
[JJ.01_060,04] Nein, nein, das ist zuviel auf einmal zu vernehmen! – Maronius! – warum sagtest du mir damals nichts davon, als Herodes in Tyrus vor meinem
Verhöre stand?!
[JJ.01_060,05] Standrechtlich hätte ich ihm da augenblicklich das Medusenhaupt
vom Rumpfe schlagen lassen!
[JJ.01_060,06] Und lange schon stünde ein würdiger Vasall an der Stelle dieses
Scheusals aus Griechenland!
[JJ.01_060,07] Was aber kann ich jetzt tun? Seine Buße hat er geleistet; ich
kann ihm nun keine zweite auferlegen, darf ihn nicht weiter strafen!
[JJ.01_060,08] Warte aber, du alter Bluthund, du Hyäne aller Hyänen, auf dich
solle eine Jagd gemacht werden, von welcher es allen Furien noch nie etwas
geträumt hat!“
[JJ.01_060,09] Maronius, Joseph und Maria bebten vor dem Grimme des Cyrenius;
denn sie wußten nicht, was alles der Cyrenius etwa unternehmen wird.
[JJ.01_060,10] Auch getraute sich niemand, nun eine Frage an ihn zu stellen;
denn zu aufgeregt war sein Gemüt.
[JJ.01_060,11] Das Kindlein allein äußerte keine Furcht vor der gewaltigen
Stimme des Cyrenius, sondern sah ihm stets ruhig ins Gesicht.
[JJ.01_060,12] Und als sich des Cyrenius Sturm etwas gelegt hatte, da sprach auf
einmal das Kindlein wieder ganz deutlich zum Cyrenius:
[JJ.01_060,13] „O Cyrenius! Höre Mich an! – Komme her zu Mir, nehme Mich auf
deine Arme, und trage Mich hinaus ins Freie, dort werde Ich dir etwas zeigen!“
[JJ.01_060,14] Diese Worte flossen wie Balsam auf das wunde Herz des Cyrenius,
und er ging sobald mit offenen Armen hin zum Kindlein, nahm Es voll Liebe gar
sanft auf seine Arme und trug Es unter der Begleitung des Joseph, der Maria und
des Maronius Pilla hinaus ins Freie.
[JJ.01_060,15] Im Freien bald angelangt, fragte das Kindlein sogleich den
Cyrenius mit deutlichen Worten:
[JJ.01_060,16] „Cyrenius, wer von uns beiden hat denn wohl den längsten Arm?
Messe den Meinen gegen den deinen!“
[JJ.01_060,17] Den Cyrenius befremdete diese Frage, und er wußte nicht, was er
darauf dem Kinde antworten sollte; denn er sah doch offenbar den seinigen für
dreimal so lang an, als beide des Kindes zusammengenommen.
[JJ.01_060,18] Das Kindlein aber sprach wieder: „Cyrenius! du siehst deinen Arm
für viel länger als den Meinigen an?!
[JJ.01_060,19] Ich aber sage dir, daß der Meinige dennoch um vieles länger ist
als der deinige!
[JJ.01_060,20] Siehst du dort in tüchtiger Ferne von uns eine hohe Säule,
geziert mit einem Götzen?
[JJ.01_060,21] Lange von hier mit deinem längeren Arme hin, reiße sie nieder,
und zermalme sie dann mit deinen Fingern!“
[JJ.01_060,22] Cyrenius, noch betroffener als früher, aber sprach nach einer
kurzen Pause: „O Kindlein, Du mein Leben, das ist außer Gott wohl niemandem
möglich!“
[JJ.01_060,23] Das Kindlein aber streckte sobald Seinen Arm nach der Säule, die
gut tausend Schritte entfernt stand, und die Säule stürzte nieder und ward
sobald zu Staube!
[JJ.01_060,24] Und das Kindlein sprach darauf: „Also kümmere dich nicht
vergeblich um den Herodes; denn Mein Arm langt ja weiter als der deinige!
Herodes hat seinen Lohn; du aber vergebe ihm, wie Ich ihm vergeben habe, so
wirst du besser fahren, denn auch er ist ein blinder Erdensohn!“ – Diese Worte
nahmen dem Cyrenius allen Groll, und er fing an, heimlich das Kind ganz förmlich
anzubeten. –
[JJ.01_061] 61. Kapitel – Maronius Pillas Entsetzen und Josephs Frage. Das
heidnische Bekenntnis des Maronius. Josephs bescheidene Erklärung. Des Cyrenius
Mahnung zur Vorsicht.
6. November 1843
[JJ.01_061,01] Der Maronius Pilla aber entsetzte sich über diese wunderbare
Erscheinung so sehr, daß er am ganzen Leibe bebte wie das Laub der Espe bei
einem gewaltigen Sturme.
[JJ.01_061,02] Joseph aber ersah bald des Maronius große Not, trat darum auch
sobald zu ihm hin und sprach:
[JJ.01_061,03] „Maronius Pilla! warum bebest du denn nun gar so sehr? Hat dir
jemand etwas zuleide getan?“
[JJ.01_061,04] Und der Maronius erwiderte dem Joseph: „O Mann, der du
deinesgleichen nicht hast auf Erden, du hast es leicht; denn du bist ein Gott,
dem alle Elemente gehorchen müssen!
[JJ.01_061,05] Ich aber bin nur ein sterblicher schwacher Mensch, dessen Leben,
so wie die Existenz jener Säule, in deiner Hand steht!
[JJ.01_061,06] Mit deinem Gedanken kannst du mich, wie sicher eine ganze Welt,
im Augenblicke vernichten!
[JJ.01_061,07] Wie sollte ich da nicht beben vor dir, da du sicher der mächtige
Urvater aller unserer Götter bist, so sie irgend wirklich existieren sollten?!
[JJ.01_061,08] Dem Jupiter Stator war jene Säule schon seit undenklichen Zeiten
geweiht; alle Stürme und Blitze bebten aus großer Ehrfurcht vor ihr zurück!
[JJ.01_061,09] Und nun zerstörte sie sogar dein unmündiges Kind! – Kann aber
dein Kind schon solches, welche Macht muß erst in dir zugrunde liegen?!
[JJ.01_061,10] Lasse dich daher anbeten von mir unwürdigstem Erdwurme!“
[JJ.01_061,11] Joseph aber sprach: „Höre, Freund und Bruder Maronius, du bist in
einer großen Irre!
[JJ.01_061,12] Ich bin nicht mehr als du, also nur ein sterblicher Mensch! – So
du aber auf dein Leben schweigen kannst vor aller Welt, da will ich dir etwas
sagen!
[JJ.01_061,13] Schweigst du aber nicht, so wird es dir nicht viel besser
ergehen, als es jener Säule ergangen ist!
[JJ.01_061,14] Und so höre mich denn an, so du willst und es dir getrauest!“
[JJ.01_061,15] Der Maronius aber bat den Joseph auf den Knien, ihm ja nichts zu
erzählen; denn es könnte ihm doch einmal irgend zufällig etwas entfallen, und da
wäre er verloren.
[JJ.01_061,16] Joseph aber sprach: „Des sei völlig unbesorgt; der Herr Himmels
und der Erde züchtiget nie jemanden des Zufalls wegen!
[JJ.01_061,17] Daher magst du ganz ohne Furcht mich anhören; was ich dir sagen
werde, wird dich nicht verderben, wohl aber erhalten für ewig!“
[JJ.01_061,18] Und der Cyrenius das Kindlein anbetend, kosend auf seinen Händen
noch, trat hin zum Joseph und sagte zu ihm:
[JJ.01_061,19] „Mein größter und liebster Freund! Lasse du den Maronius nun, wie
er ist; ich selbst will ihn heute bei mir eher vorbereiten, und morgen kannst du
ihm dann erst die höhere Weihe geben!“
[JJ.01_061,20] Und Joseph war damit einverstanden und begab sich dann mit der
Gesellschaft sobald wieder in das Wohnhaus.
[JJ.01_062] 62. Kapitel – Cyrenius und Joseph im Liebeseifer ums Wohl einer
Menschenseele. Josephs Worte über Bruder- und Menschenliebe. Warum der Mensch
zwei Augen, zwei Ohren, aber nur einen Mund hat.
7. November 1843
[JJ.01_062,01] Am Abende aber sprach der Cyrenius zum Joseph: „Mein Freund, mein
göttlicher Bruder! Wie sehr leid ist es mir, daß ich heute nicht bei dir
übernachten kann!
[JJ.01_062,02] Und wie leid ist es mir, daß ich den morgigen Tag bis nach Mittag
dem Staatsgeschäfte widmen muß!
[JJ.01_062,03] Aber um die dritte Stunde des Nachmittags werde ich mit Maronius
wieder zu dir kommen, und du wirst ihm dann auf meine Unterweihe die heilige
Oberweihe geben!
[JJ.01_062,04] Denn siehe, es liegt mir sehr viel daran, daß dieser sonst so
kenntnisreiche Mensch gerettet werde durch die heilige Lebensschule deines
Gottes, die ich für die allein wahre und lebendige halte!“
[JJ.01_062,05] Und der Joseph sprach: „Ja, du hoher Freund, das ist recht und
billig; denn nichts ist dem Herrn angenehmer, als so wir unsere Feinde mit Liebe
behandeln und sorgen für ihr zeitliches und ewiges Wohl!
[JJ.01_062,06] Betrachten wir jeden Sünder als einen irrenden Bruder, so wird
uns auch Gott als Seine irrenden Kinder betrachten,
[JJ.01_062,07] im Gegenteile aber nur als böswillige Geschöpfe, die da allzeit
Seinen Gerichten unterliegen und werden getötet gleich den Ephemeriden!
[JJ.01_062,08] Denn siehe, darum hat der Herr uns Menschen zwei Augen gegeben
und nur einen Mund zum Reden, auf daß wir mit dem einen Auge nur die Menschen
als Menschen, mit dem andern aber als Brüder betrachten sollen!
[JJ.01_062,09] Fehlen die Menschen vor uns, da sollen wir das Bruderauge offen
halten und das Menschenauge schließen;
[JJ.01_062,10] fehlen aber die Brüder vor uns, da sollen wir das Bruderauge
schließen und das Menschenauge auf uns selbst richten und uns alsonach selbst
gegenüber den fehlenden Brüdern als fehlende Menschen ansehen.
[JJ.01_062,11] Mit dem einen Munde aber sollen wir alle gleich einen Gott, einen
Herrn und einen Vater bekennen, so wird Er uns als Seine Kinder anerkennen!
[JJ.01_062,12] Denn auch Gott hat zwei Augen und einen Mund; mit dem einen Auge
sieht Er Seine Geschöpfe – und mit dem andern Seine Kinder!
[JJ.01_062,13] Beschauen wir uns mit dem Bruderauge, da sieht uns der Vater mit
dem Vaterauge an;
[JJ.01_062,14] beschauen wir uns aber mit dem Menschenauge, da sieht uns Gott
nur mit dem Schöpferauge an, und Sein eben auch nur ein Mund kündet den Kindern
Seine Liebe, oder aber den Geschöpfen Sein Gericht!
[JJ.01_062,15] Also ist es recht und billig, daß wir also für unseren Bruder
Maronius sorgen!“
[JJ.01_062,16] Hier segnete Joseph den Cyrenius und den Maronius; die beiden
begaben sich dann in die Stadt mit ihrer Suite, – und Joseph bestellte sein
Hauswesen.
[JJ.01_063] 63. Kapitel – Jakobus als Kindsmagd an der Wiege des Kindleins;
seine Neugier und seine Zurechtweisung durch das Kindlein. Des Jakobus Ahnung,
wer da im Kinde ist.
8. November 1843
[JJ.01_063,01] Am Abende legte Maria das schon müde gewordene Kindlein in die
Wiege, die der Joseph schon zu Ostracine verfertigt hatte.
[JJ.01_063,02] Und Josephs jüngster Sohn mußte gewöhnlich die Kindsmagd machen
und wiegte auch jetzt das Kindlein, auf daß Es einschlafen möchte.
[JJ.01_063,03] Und Maria ging in die Küche, um ein nötiges Nachtmahl zu
bereiten.
[JJ.01_063,04] Der wiegende Sohn Josephs aber hätte gerne gehabt, daß das
Kindlein diesmal etwas früher einschlafen möchte, weil er gerne mit seinen
Brüdern draußen die Beleuchtung eines Triumphbogens geschaut hätte, der
mittlerweile unfern der Villa dem Cyrenius ist errichtet worden.
[JJ.01_063,05] Er wiegte daher das Kindlein fleißig und sang und pfiff dabei.
[JJ.01_063,06] Aber das Kindlein wollte dennoch nicht einschlafen; wann er mit
dem Wiegen innehielt, da fing das Kindlein sich gleich wieder zu rühren an und
zeigte dem Wieger an, daß Es noch nicht schlafe.
[JJ.01_063,07] Das brachte unsere männliche Kindsmagd beinahe zur Verzweiflung,
indem es draußen vor lauter brennender Fackeln schon ganz helle geworden war.
[JJ.01_063,08] Er beschloß daher, das Kindlein, wenn Es auch noch wache, ein
wenig zu verlassen, um das Spektakel draußen ein wenig anzugaffen.
[JJ.01_063,09] Als sich also unser Jakob aber erhob, da sprach das Kindlein:
„Jakob, wenn du Mich nun verläßt, so solle es dir übel ergehen!
[JJ.01_063,10] Bin Ich denn nicht mehr wert als das törichte Spektakel draußen
und deine eitle Neugier?
[JJ.01_063,11] Siehe, alle Sterne und alle Engel beneiden dich um diesen Dienst,
den du Mir nun erweisest, und du bist voll Ungeduld über Mich und willst Mich
verlassen? –
[JJ.01_063,12] Wahrlich, so du das tust, da bist du nicht wert, Mich zum Bruder
zu haben!
[JJ.01_063,13] Gehe nur hinaus, wenn dir das Spektakel der Welt lieber ist als
Ich!
[JJ.01_063,14] Siehe, das ganze Zimmer ist voll Engel, die da bereit sind, Mir
zu dienen, wenn dir dein kleiner und leichter Dienst an Mir lästig ist!“
[JJ.01_063,15] Diese Rede benahm dem Jakob plötzlich alle Lust zum Hinausgehen;
[JJ.01_063,16] er blieb daher an der Wiege und bat das Kindlein förmlich um
Vergebung und wiegte Es fleißig wieder fort.
[JJ.01_063,17] Und das Kindlein sprach zum Jakob: „Es sei dir alles vergeben;
aber ein anderes Mal lasse dich ja nimmer von der Welt bestechen!
[JJ.01_063,18] Denn Ich bin mehr als alle Welt, alle Himmel und alle Menschen
und Engel!“
[JJ.01_063,19] Diese Worte brachten unseren Jakob beinahe ums Leben; denn er
wurde leise gewahr, Wer da sicher hinter dem Kinde stecke.
[JJ.01_063,20] Nun aber kamen auch schon Maria und Joseph und die andern vier
Söhne Josephs ins Zimmer und setzten sich zum Tische; Jakob aber erzählte
sogleich, was ihm begegnet ist.
[JJ.01_064] 64. Kapitel – Josephs Rede über die Liebe zu Gott und die Liebe zur
Welt. Seine Hinweise auf David, Salomo und Cyrenius. Die Rührung der Söhne
Josephs und der Segen des Jesuskindleins.
9. November 1843
[JJ.01_064,01] Als der Jakob mit seiner Erzählung zu Ende war, da sprach Joseph
zum Jakob:
[JJ.01_064,02] „Ja, also ist es und ist auch allzeit also gewesen und wird
allzeit also sein; man muß Gott mehr lieben, im geringsten Teile schon, als alle
Herrlichkeiten der Welt!
[JJ.01_064,03] Denn was geben einem Menschen auch alle die schreienden
Herrlichkeiten der Welt?
[JJ.01_064,04] David selbst mußte flüchten vor seinem eigenen Sohne, und Salomo
mußte bitter am Ende die Ungnade des Herrn empfinden, weil er zu sehr den
Herrlichkeiten der Welt nachhing!
[JJ.01_064,05] Gott aber schenkt uns zu jeder Sekunde ein neues Leben; wie
sollten wir Ihn da nicht im geringsten Teile mehr lieben als alle Welt, die
vergeht und ist voll Aases und Unrates!
[JJ.01_064,06] Wir aber sind ja unter uns alle überzeugt, daß dies unser
Kindlein von Oben ist und heißet Gottes Sohn.
[JJ.01_064,07] Es ist somit kein geringer Teil Gottes; daher ist es auch billig,
daß wir Es mehr lieben als alle Welt!
[JJ.01_064,08] Sehet an den Heiden Cyrenius! – Nicht uns gilt das, was er an uns
tut, sondern dem Kindlein; denn sein Herz sagt es ihm, daß nach seinem Begriffe
ein allerhöchstes Gottwesen mit diesem unserem Kinde in engster Verbindung
stehe, darum er Es dann fürchtet und liebt.
[JJ.01_064,09] Tut aber solches schon ein Heide, um wieviel mehr müssen wir erst
desgleichen tun, die wir vollends wissen, woher dies Kindlein kam, Wer Sein
Vater ist. –
[JJ.01_064,10] Daher solle allzeit all unser Augenmerk auf dies Kindlein
gerichtet sein; denn das Kind ist mehr als wir und alle Welt!
[JJ.01_064,11] Nehmt euch an mir ein Beispiel, und sehet, welche schweren Opfer
ich alter Mann alle schon diesem Gotteskinde gebracht habe!
[JJ.01_064,12] Aber ich brachte sie leicht und mit großer Liebe, weil ich Gott
mehr liebe als alle Welt!
[JJ.01_064,13] Haben wir aber dadurch je irgend etwas verloren? – O nein! Wir
haben noch nach jedem Opfer gewonnen!
[JJ.01_064,14] Also denket und tut auch ihr alle dasselbe, und ihr werdet nie
etwas verlieren, sondern allzeit nur hoch gewinnen!
[JJ.01_064,15] Zudem ist dies Kind ja ohnehin so sanfter Art, daß es wahrlich
eine höchste Freude ist, bei Ihm zu sein!
[JJ.01_064,16] Nur höchst selten weint Es laut! Es ist noch nie krank gewesen;
und wenn man Es lockt, so sieht Es so munter und fröhlich umher und lächelt
jeden Menschen allzeit so herzlich an, daß man dadurch zu Tränen gerührt wird.
[JJ.01_064,17] Und jetzt, da Es auch wunderbar auf einmal zu reden hat
angefangen, möchte man Es ja gar erdrücken vor lauter Liebe!
[JJ.01_064,18] Daher also, meine Kinder, bedenket wohl, wer dieses Kindlein ist,
und wartet und pfleget Es ja sorgfältigst!
[JJ.01_064,19] Denn sonst könnte Es euch gebührendermaßen strafen, wenn ihr Es,
als unser höchstes Gut, geringer achten möchtet als alle die nichtssagenden
Torheiten der Welt!“
[JJ.01_064,20] Diese Rede brachte alle die fünf Söhne zum Weinen, und alle
standen vom Tische auf und umlagerten die Wiege des Kindes.
[JJ.01_064,21] Das Kindlein aber sah Seine Brüder auch gar freundlichst an und
segnete sie und sprach: „O Brüder, werdet Mir gleich, wollet ihr ewig glücklich
sein!“ – Und die Brüder weinten und aßen nichts am selben Abende.
[JJ.01_065] 65. Kapitel – Joseph mahnt zur Nachtruhe. Des Kindleins Aufforderung
zu wachen wegen eines bevorstehenden Sturmes. Der Ausbruch des Orkans. Die
Ankunft des flüchtenden Cyrenius.
10. November 1843
[JJ.01_065,01] Die Söhne Josephs aber wollten nicht mehr die Wiege verlassen;
denn zu mächtig ergriff sie die Liebe zu ihrem göttlichen kleinen Bruder!
[JJ.01_065,02] Da es aber schon ziemlich spät geworden war, da sprach der Joseph
zu den Söhnen:
[JJ.01_065,03] „Ihr habt nun hinreichend gezeigt, daß ihr das Kindlein liebet!
[JJ.01_065,04] Es ist schon spät in die Nacht geworden, und morgen wird es
wieder früh Tag werden; daher möget ihr euch im Namen des Herrn zur Ruhe
begeben!
[JJ.01_065,05] Das Kindlein schläft nun bereits, stellet behutsam die Wiege an
das Bett der Mutter, und begebet euch dann in euer Schlafgemach!“
[JJ.01_065,06] Solches hatte der Joseph noch kaum ausgesprochen, da schlug das
Kindlein die Augen auf und sprach:
[JJ.01_065,07] „Bleibet für diese Nacht alle hier, und behaltet die Schlafstube
für Fremde, die heute hier noch die Zuflucht nehmen werden!
[JJ.01_065,08] Denn bald wird ein allergewaltigster Sturm diese Gegend
heimsuchen, desgleichen noch nie in dieser Gegend erhöret ward!
[JJ.01_065,09] Aber niemand von euch fürchte sich; denn es wird darum niemandem
ein Haar gekrümmt werden!
[JJ.01_065,10] Versperret aber darum ja keine Türe, auf daß die Flüchtlinge sich
in diesem Hause zu retten vermöchten!“
[JJ.01_065,11] Joseph erschrak über diese Vorsage des Kindes und eilte sogleich
hinaus, um zu sehen, von woher das Gewitter kommen würde.
[JJ.01_065,12] Als er aber draußen war, bemerkte er nirgends ein Wölklein; der
Himmel war rein, und kein Lüftchen regte sich.
[JJ.01_065,13] Eine Grabesstille war über die ganze Gegend verbreitet, und von
einem herannahenden Sturme war ewig nirgends eine Rede.
[JJ.01_065,14] Joseph kehrte darum sobald zurück, gab Gott die Ehre und sagte:
[JJ.01_065,15] „Das Kindlein wird vielleicht geträumt haben; denn von einem
Sturme ist nirgends eine Rede!
[JJ.01_065,16] Der Himmel ist rein nach allen Seiten, und kein Lüftchen regt
sich; woher solle da ein Sturm werden?!“
[JJ.01_065,17] Kaum hatte Joseph noch diese Worte ausgesprochen, da geschah auf
einmal ein Knall wie von tausend Donnern; die Erde erbebte so gewaltigst, daß in
der Stadt mehrere Häuser und Tempel zusammenstürzten.
[JJ.01_065,18] Gleich darauf fing ein so heftiger Orkan zu wüten an, daß er das
nahe Meer in die Stadt ellenhoch trieb; und alles Volk, durch den gewaltigsten
Erdstoß geweckt, eilte hinaus aus der Stadt auf die höher liegenden Orte.
[JJ.01_065,19] Und der Cyrenius selbst mit Maronius und seinem ganzen Gefolge
kam bald eiligst fliehend in die Villa zum Joseph und erzählte ihm flüchtig die
Schauderszenen, die das Erdbeben und der Sturm bewirkten.
[JJ.01_065,20] Joseph aber beruhigte den Cyrenius dadurch, daß er ihm sogleich
kundgab, was das Kindlein ehedem geredet hatte. – Hier fing der Cyrenius
leichter zu atmen an, und das Toben des Sturmes erschreckte ihn nicht mehr; denn
er fühlte sich wie wohlgeborgen.
[JJ.01_066] 66. Kapitel – Der tobende Sturm. Das schlafende Kindlein. Des
Cyrenius Besorgnis. Das Kindlein: „Die Stürme müssen sein ...“. Ein Evangelium
der Natur und des Gottvertrauens.
[JJ.01_066,01] Als der Cyrenius sich nun so ganz wieder erholt hatte, ging er
hin zur Wiege und betrachtete das Kind, in seiner Brust großer Gedanken voll.
[JJ.01_066,02] Das Kindlein aber schlief ganz ruhig, und das entsetzliche Toben
des Sturmes beirrte Es nicht im Schlafe.
[JJ.01_066,03] Es fing aber in kurzer Zeit der Orkan so heftig an das Gebäude zu
stoßen, daß Cyrenius einen Einsturz befürchtete.
[JJ.01_066,04] Er sprach daher zum Joseph: „Erhabener Freund! Ich meine, dem
steten Zunehmen der Gewalt des Sturmes zufolge sollten wir doch lieber dies
Gebäude verlassen!
[JJ.01_066,05] Denn wie leicht kann eine mächtige Windhose dieses wenn auch
feste Gebäude ergreifen und uns alle unter dem Schutte desselben begraben!
[JJ.01_066,06] Daher ergreifen wir lieber frühzeitig die Flucht, da wir denn
doch nicht sicher sein können davor, als könnte so etwas hier nicht ebenso gut
geschehen wie in der Stadt!“
[JJ.01_066,07] Hier schlug das Kindlein plötzlich wieder Seine himmlisch
göttlichen Augen auf und erkannte sogleich den Cyrenius und sprach gar deutlich
zu ihm:
[JJ.01_066,08] „Cyrenius! – Wenn du bei Mir bist, brauchst du dich nicht zu
fürchten vor diesem Sturme;
[JJ.01_066,09] denn die Stürme auch liegen, wie alle Welt, in der Hand deines
Gottes!
[JJ.01_066,10] Die Stürme müssen sein und müssen verscheuchen das ausgebrütete
Böse der Hölle leibhaftig!
[JJ.01_066,11] Aber denen, die um Mich sind, können sie nimmer zu Leibe; denn
auch die Stürme kennen ihren Herrn und tun nicht planlos, was sie tun.
[JJ.01_066,12] Denn der Eine, der höchst liebevoll, weise und allmächtig ist,
hält ihre Zügel in Seiner Hand.
[JJ.01_066,13] Daher sei ohne Furcht, Mein Cyrenius, hier bei Mir, und sei
versichert, daß da niemandem auch nur ein Haar gekrümmet wird!
[JJ.01_066,14] Denn diese Stürme wissen es genau, Wer hier zu Hause ist.
[JJ.01_066,15] Siehe, haben die Menschen doch heute abend sogar dir, der du doch
nur ein Mensch bist, eine feurige Ehrung dargebracht!
[JJ.01_066,16] Hier aber ehren die Stürme Jemanden, der mehr ist als nur ein
Mensch! – Findest du das unbillig?
[JJ.01_066,17] Siehe, das ist ein Loblied der Natur, die ihren Herrn und
Schöpfer preist! Ist das nicht billig?
[JJ.01_066,18] O Cyrenius, die Luft, die dich anweht, verstehet auch Den, der
sie erschuf; darum kann sie Ihn auch preisen!“ –
[JJ.01_066,19] Diese Worte des bald wieder einschlafenden Kindleins machten
alles verstummen, und Cyrenius kniete sich zur Wiege nieder und betete heimlich
das Kindlein an.
[JJ.01_067] 67. Kapitel – Die Schreckensnachricht der Eilboten. Das blutige
Verlangen der heidnischen Götzenpriester. Cyrenius im Zwiespalt zwischen Herz
und Welt. Des Kindleins Rat.
13. Oktober 1843
[JJ.01_067,01] Also verging eine ruhigere Stunde, und man kümmerte sich nicht
mehr zu sehr um das Wüten und Toben des Sturmes draußen.
[JJ.01_067,02] Nach dem Verlaufe von einer Stunde aber kamen Eilboten zum
Cyrenius ins Haus Josephs und erzählten, sagend:
[JJ.01_067,03] „Hoher, mächtiger Herr! Unerhörte Dinge geschehen:
[JJ.01_067,04] Feuer bricht an mehreren Orten aus der Erde;
[JJ.01_067,05] fliegende Feuersäulen werden von dem Orkane hin und her getrieben
und zerstören alles, was sie erreichen!
[JJ.01_067,06] Nichts ist fest und stark genug, ihrer entsetzlichen Kraft zu
widerstehen!
[JJ.01_067,07] Die Priester haben gesagt: Alle gesamten Götter hätten sich
erzürnt und wollen uns alle vernichten!
[JJ.01_067,08] Also ist es aber auch; denn man hört deutlich das Gebelle des
Cerberus, und die Furien tanzen schon allenthalben herum! Der Vulkan hat seine
Essen auf die Oberwelt gerichtet!
[JJ.01_067,09] Seine mächtigen Zyklopen zertrümmern mutwillig die Häuser und die
Berge!
[JJ.01_067,10] Und der Neptun hat alle seine Macht zusammen in eine vereint!
[JJ.01_067,11] Gleich Bergen erhebt er das Meer und will uns alle ertränken!
[JJ.01_067,12] Wenn nicht plötzlich große Menschenopfer den überaus erzürnten
Göttern dargebracht werden, so ist es um uns alle geschehen!
[JJ.01_067,13] Tausend Jünglinge und tausend Jungfrauen haben die Priester zur
Sühnung bestimmt; und wir sind darum in aller Eile an dich abgesandt, auf daß
wir von dir das Fiat empfangen sollen!“
[JJ.01_067,14] Der Cyrenius erschrak über diese Botschaft ganz gewaltig und
wußte nicht, was er nun beginnen solle.
[JJ.01_067,15] Dem Priesterrufe getraute er sich der Staatspolitik wegen nicht
schnurgerade zu widersetzen;
[JJ.01_067,16] das Opfer aber zu billigen, war seinem Herzen noch unmöglicher,
als den Priestern zu widersprechen.
[JJ.01_067,17] Er wandte sich daher an das Kindlein, welches eben wach geworden
war, und fragte Es um einen Rat in dieser schrecklichen Sache.
[JJ.01_067,18] Das Kindlein aber sprach: „Sei ruhig! Denn in einer Minute wird
sich der Sturm legen, und die, welche Menschen schlachten wollten, sind nicht
mehr! Daher sei ruhig, Mein Cyrenius!“
[JJ.01_068] 68. Kapitel – Des Cyrenius Antwort an die Boten. Die drei
blutrünstigen Priester drängen auf Opferung. Die weise Entscheidung des
Cyrenius. Die Qual der zweitausend Opfer.
14. November 1843
[JJ.01_068,01] Die Eilboten aber warteten noch immer auf den Opferbefehl des
Cyrenius.
[JJ.01_068,02] Cyrenius aber erhob sich von der Wiege und sprach zu den
Eilboten:
[JJ.01_068,03] „Gehet hin zu den Priestern, und überbringet mir die Liste der
zum Opfer bestimmten Jünglinge und Mädchen;
[JJ.01_068,04] denn ich muß mich überzeugen, ob die Wahl gerecht ist!“
[JJ.01_068,05] Die Eilboten rannten davon bei schon gänzlich eingetretener Ruhe
des Sturmes.
[JJ.01_068,06] In der Stadt angelangt, fanden sie aber das Priestergebäude zu
ihrem Entsetzen schon in einen mächtigen Schutthaufen verwandelt, unter dem bis
auf drei Unterpriester alle anderen höheren Priester ihren Untergang fanden.
[JJ.01_068,07] Die Eilboten kehrten darum bald um und brachten dem Cyrenius die
Nachricht, was da mit den Priestern geschehen ist.
[JJ.01_068,08] Cyrenius, nun völligst überzeugt von der Richtigkeit der Aussage
des Kindleins, wußte nun nicht, was er tun solle, und wollte wieder das Kindlein
um Rat fragen.
[JJ.01_068,09] Aber in dem Augenblick kamen auch die drei noch übriggebliebenen
Unterpriester;
[JJ.01_068,10] diese fragten nun auch eiligst, was da zu tun sein werde, indem
ein neuer Erdstoß alle die frommen Diener der Götter in ihrem Palaste begraben
hatte, während sie schon zur großen Opferung ausgerüstet waren.
[JJ.01_068,11] „Die tausend Jünglinge und die tausend Mägde stehen schon zur
großen Opferung an jenem Platze bereitet, an dem die Säule des Jupiter stand,
nun aber auch völlig vernichtet ist!
[JJ.01_068,12] Soll die Opferung sobald oder erst beim Aufgange der Sonne
vorgenommen werden!?
[JJ.01_068,13] Aufgehoben kann sie auf keinen Fall werden, da dadurch die Götter
ob des Undankes und wegen der Menschen Treulosigkeit in einen noch größeren Zorn
sicher geraten könnten!“
[JJ.01_068,14] Und der Cyrenius erwiderte den drei Unterpriestern:
[JJ.01_068,15] „Heute darf die Opferung auf keinen Fall unternommen werden und
morgen früh bei Todesstrafe nicht eher, als bis ich persönlich dazu den Befehl
erteilen werde!“
[JJ.01_068,16] Darauf verließen die drei Unterpriester den Cyrenius und begaben
sich auf den Platz, allda die armen Opfer weinten und wehklagten und aus großer
Marter- und Todesangst die Hände zu den Göttern rangen, daß sie verschont werden
möchten.
[JJ.01_068,17] Cyrenius aber konnte kaum den nächsten Morgen erwarten; denn ihn
dauerten die geängsteten Opfer zu sehr, da sie eine solche Schauernacht zu
bestehen haben! – –
[JJ.01_069] 69. Kapitel – Die angstvolle Nacht der jungen Menschenopfer. Die
drei teuflischen Götzendiener. Cyrenius voll Empörung spricht sein Urteil:
Freiheit den Opfern, Tod den drei Priestern!
15. November 1843
[JJ.01_069,01] Die drei Unterpriester aber, als sie auf den Opferplatz
gelangten, verkündeten den Opferwachen sogleich, wie den armen von aller
Todesangst übermannten jungen Opfern, daß die vorbestimmte und unabänderliche
Opferung erst am nächsten Morgen desto bestimmter vorgenommen werde, weil solche
der hohe Cyrenius selbst also angeordnet habe.
[JJ.01_069,02] In welche Stimmung diese Nachricht die zweitausend Opfer versetzt
hat, braucht keiner näheren Beschreibung für den, der es aus der geschichtlichen
Tradition weiß, daß derlei Opfer zur Versöhnung verschiedenartiger Götter auch
sehr verschiedenartig gemartert und getötet wurden.
[JJ.01_069,03] (Es dürfte für manchen zu empörend sein, alle die bei tausend
verschiedenen Marterarten zu vernehmen; daher wollen wir sie auch übergehen.
[JJ.01_069,04] Dafür aber wollen wir sogleich mit dem Cyrenius und dem Maronius
und Joseph am frühen Morgen den Opferplatz besuchen und uns dort ein wenig
umsehen! –)
[JJ.01_069,05] Am frühesten, überaus heiteren Morgen begaben sich die drei
Obenerwähnten an den vorbestimmten Opferplatz.
[JJ.01_069,06] Mit der größten Erbitterung vernahm der Cyrenius schon von der
Ferne das entsetzliche Angstgeschrei der zu opfernden Jugend.
[JJ.01_069,07] Er beschleunigte daher seine Schritte, um ja baldmöglichst dieser
Schauderszene ein Ende zu machen.
[JJ.01_069,08] Auf dem Platze angelangt, entsetzte er sich über das
unmenschliche Gefühl der drei Unterpriester, welche schon mit der größten
Sehnsucht des Cyrenischen Befehls zum Würgen harrten.
[JJ.01_069,09] Cyrenius ließ die Priester sogleich zu sich kommen und fragte
sie: „Sagt mir, dauert euch diese herrliche Jugend gar nicht, so sie
allergrausamst ermordet werden sollte? – Habt ihr für sie kein Mitleid in eurer
Brust?!“
[JJ.01_069,10] Und die Priester sprachen: „Wo die Götter fühlen, da hat es mit
dem Menschlichkeitsgefühle ein Ende!
[JJ.01_069,11] Den Göttern ist der Menschen Leben nichts – und oft nur ein
Greuel; daher stimmt das uns, ihre Diener auf Erden, nach ihrer Art, und wir
können daher kein Erbarmen in uns tragen,
[JJ.01_069,12] wohl aber nur eine Wonne und einen Jubel in dem, wie wir den
Göttern pünktlichst zu dienen vermögen!
[JJ.01_069,13] Also freuen wir uns auch schon jetzt über die Maßen auf die
Schlachtung dieser ohnehin selten von den hohen Göttern verlangten Opfer!“
[JJ.01_069,14] Diese Äußerung versetzte dem Cyrenius einen so mächtigen Stoß
aufs Herz, daß er vor Zorn über diese Priester zu beben anfing.
[JJ.01_069,15] In kurzer Zeit sich ermannend aber sprach er wieder zu den
Priestern: „Wie aber, wenn Zeus selbst sich hier befände und schenkte diesen
Opfern das Leben! – was würdet ihr dann tun?“
[JJ.01_069,16] Und die Priester erwiderten: „Dann müßte die Opferung um so
bestimmter vorgenommen werden, weil das nur eine Prüfung für unseren
priesterlichen Diensteifer wäre!
[JJ.01_069,17] Würden wir dann uns der bestimmten Opfer erbarmen, so würde uns
Zeus als Frevler ansehen und uns vernichten mit Blitz und Donner!“
[JJ.01_069,18] Cyrenius aber fragte die Priester weiter und sprach: „Was haben
denn die andern hohen Priester vor den Göttern dann verbrochen, daß sie so übel
sind in ihrem Palaste getötet worden?“
[JJ.01_069,19] Und die Priester erwiderten: „Weißt du denn nicht, daß über allen
Göttern und ihren Priestern noch ein unerbittliches Fatum herrschet?!
[JJ.01_069,20] Dieses hat die Priester getötet, wie ehedem die Götter
aufgereizt; die Götter aber kann es nicht töten, wohl aber die noch hie und da
sterblichen Priester!“
[JJ.01_069,21] „Gut“, sprach Cyrenius, „heute nach Mitternacht kam das Fatum zu
mir und erteilte mir den Befehl, aller dieser Jugend das Leben zu schenken – und
dafür euch zu opfern, und das so bestimmt, als ich Cyrenius heiße und mein
Bruder Julius Augustus Caesar als oberster Consul und Kaiser in Rom herrschet! – Was saget ihr denn zu dieser Kunde?!“
[JJ.01_069,22] Diese Schreckenskunde machte die Priester erblassen und die
andern Opfer wieder zum Bewußtsein gelangen. – Denn hier ließ Cyrenius sogleich
allen Opfern die Freiheit verkünden, aber die drei Priester binden und für die
Hinrichtung vorbereiten. –
[JJ.01_070] 70. Kapitel – Josephs Milderungsversuch. Des Cyrenius Grimm gegen
die zum Tode verurteilten drei Priester. Das Flehen der Verurteilten um Gnade.
16. November 1843
[JJ.01_070,01] Joseph aber trat nun zum Cyrenius hin und fragte ihn, sagend:
„Geachtetster liebster Freund! Ist das dein vollkommenster Ernst, diese drei
Götzenknechte zu töten?“
[JJ.01_070,02] Und der Cyrenius, voll Grimm gegen diese allergefühllosesten drei
Menschentiger, sprach zum Joseph:
[JJ.01_070,03] „Ja, mein erhabenster Freund! Hier will ich ein Beispiel
statuieren, daran alles Volk erkennen solle, daß ich nichts so sehr ahnde als
die gänzliche Lieblosigkeit!
[JJ.01_070,04] Denn ein Mensch ohne Liebe und ohne alles Mitleidsgefühl ist der
Übel größtes auf der Erde.
[JJ.01_070,05] Alle reißenden Tiere sind Lämmer gegen ihn, und die Furien der
Hölle sind nur kaum schlechte Schüler gegen ihn zu nennen!
[JJ.01_070,06] Darum erachte ich es auch als erste und oberste Pflicht eines
wahren Völkerregenten, derlei Scheusale auszurotten und gänzlich von der Erde zu
vertilgen!
[JJ.01_070,07] Priester sollen das Volk ja aber nur ganz besonders in der Liebe
unterrichten; sie sollen jedermann mit einem guten Beispiele vorangehen!
[JJ.01_070,08] Wenn aber diese ersten Volkslehrer und Leiter zu Furien werden,
was solle dann aus ihren Schülern werden?
[JJ.01_070,09] Daher weg mit derlei Bestien! – Ich sinne nun nur auf die
martervollste Todesart nach; habe ich diese, sodann solle sogleich der Stab über
sie gebrochen werden!“
[JJ.01_070,10] Joseph aber getraute sich kaum mehr dem Cyrenius etwas
einzuwenden, denn dieser hatte diese Worte in einem zu mächtigen Ernste
gesprochen.
[JJ.01_070,11] Nach einer Weile aber fielen die drei Priester vor dem Cyrenius
nieder und baten ihn um Gnade unter der Versicherung, daß sie ihr Leben sicher
ändern werden, und seien auch bereit, auf der Stelle ihr Priestertum
niederzulegen.
[JJ.01_070,12] Für die Gewinnung der Gnade aber appellierten sie an das
priesterliche Gesetz, welches sie also und nicht anders zu handeln bestimmt
habe.
[JJ.01_070,13] Cyrenius aber sprach: „Meint ihr Bösewichte denn, ich kenne die
Gesetze der Priester nicht?!
[JJ.01_070,14] Höret, das außerordentliche Opfergesetz lautet also: ,Wenn irgend
ein Volk ersichtlichermaßen den Göttern durch seine Ausschweifung untreu
geworden ist und die Götter dasselbe dann heimsuchen mit Krieg, Hunger und Pest,
dann sollen die Priester das Volk zur Besserung ermahnen.
[JJ.01_070,15] Kehrt sich das Volk daran, da sollen es die Priester wieder
segnen und dem Volke zur Pflicht machen, zur Versöhnung der Götter gewisse Opfer
an Gold, Vieh und Getreide vor die Priester zu bringen, die dann diese Opfer
weihen und dann damit ein Rauchwerk machen sollen!
[JJ.01_070,16] Sollte es jedoch irgend ein so hartnäckiges, unbekehrbares Volk
geben, das da der Priester spottete, da sollen die Priester die Spötter samt
ihren Kindern ergreifen lassen und sie in unterirdischen Gemächern mit der
Zuchtrute unterrichten sieben Monde lang!
[JJ.01_070,17] Bekehren sich da die Frevler, so sollen sie wieder auf freien Fuß
gesetzt werden; bekehren sie sich aber nicht, da sollen sie durch das Schwert
fallen – und dann erst zur Sühne der Götter in die Flamme gelegt werden!‘
[JJ.01_070,18] Lautet nicht also das alte weise Opfergesetz? – War hier Krieg,
Hunger und Pest? – War diese schöne Jugend abtrünnig den Göttern? Habt ihr sie
zuvor sieben Monde lang unterrichtet? – Nein!!! – Sondern aus Ehr- und Geilsucht
wolltet ihr sie töten; und darum müßt ihr sterben als die größten Frevler an
eurem eigenen Gesetze!“ – –
[JJ.01_071] 71. Kapitel – Josephs sanfter Einspruch an Cyrenius unter Hinweis
auf das Gericht des Herrn. Des Cyrenius Nachgeben. Die scheinbare Verurteilung
zum Tode am Kreuz als Besserungsmittel für die drei Priester.
17. November 1843
[JJ.01_071,01] Nach dieser Erklärung des Cyrenius trat abermals der Joseph zu
ihm und sprach:
[JJ.01_071,02] „Cyrenius, du mein großerhabner Freund und Bruder! – Ich meine,
du sollst die Strafe für diese drei Götzenknechte, welche wohl im Ernste
böswillig sind, dem Herrn überlassen;
[JJ.01_071,03] denn glaube mir, niemand tut dem Herrn, dem allmächtigen Gott
Himmels und der Erde, einen wohlgefälligen Dienst, selbst dann nicht, wenn er
den größten Missetäter umbringen läßt!
[JJ.01_071,04] Überlasse du daher unbesorgt dem Allmächtigen die gerechte
Züchtigung dieser drei, und der Herr wird dich segnen durch die Strafe, die Er
diesen dreien nur zu sicher wird zukommen lassen, wenn sie sich nicht zu einer
übergroßen Reue und völligen Umkehr wenden werden!
[JJ.01_071,05] Gehen sie aber in sich zur wahren Reue und Umkehr zum einig
wahren Gott über, so können sie ja auch noch edle Menschen werden!“
[JJ.01_071,06] Diese Worte Josephs brachten den Cyrenius zum Nachdenken darüber,
was er so ganz eigentlich tun solle.
[JJ.01_071,07] Nach einer Weile beschloß er, die drei wenigstens einer starken
Todesangst auszusetzen als Reprise für die, welche sie der armen Jugend
verursacht hatten.
[JJ.01_071,08] Daher sprach er zum Joseph: „Mein innigster, mein erhabenster
Freund und Bruder! Ich habe nun deinen Rat wohl erwogen und werde ihn auch
befolgen!
[JJ.01_071,09] Aber nur für diesen Augenblick kann ich das nicht tun! – Ich muß
diesen dreien einmal den angedrohten Stab brechen und sie zu einem
martervollsten Tode verurteilen!
[JJ.01_071,10] Haben sie erst eine vierundzwanzigstündige Todesangst
ausgestanden, dann bitte du mich laut vor allem Volke an diesem Richtplatze um
die Gnade und um die Aufhebung der Todesstrafe;
[JJ.01_071,11] und ich werde dich offenbar erhören und dann nach der
gesetzlichen Ordnung diesen drei Wichten das Leben schenken!
[JJ.01_071,12] Ich meine, also wird es recht sein; denn siehe, sogleich
begnadigen kann ich sie nicht, weil ich sie als schwarze Verbrecher am
priesterlichen Gesetze erkannt habe!
[JJ.01_071,13] Nach dem Gesetze müssen sie das Todesurteil vernehmen; ist das
geschehen, so kann dann erst bei außerordentlichen Fällen die Begnadigung an die
Stelle der Exekution des Urteils treten.
[JJ.01_071,14] Und so will ich mich sogleich an dieses Werk machen!“
[JJ.01_071,15] Joseph billigte das, und der Cyrenius berief sogleich die
Richter, die Liktoren und die Büttel zu sich und sprach:
[JJ.01_071,16] „Schaffet drei eiserne Kreuze her und Ketten; die Kreuze
befestiget in dem Boden und heizet vierundzwanzig Stunden um die aufgestellten
Kreuze!
[JJ.01_071,17] So diese in dieser Zeit die rechte Glühhitze haben werden, dann
werde ich kommen und die drei Frevler an die glühenden Kreuze aufziehen lassen!
– Fiat.“
[JJ.01_071,18] Darauf nahm der Cyrenius einen Stab, zerbrach ihn, warf ihn den
dreien unter die Füße und sprach:
[JJ.01_071,19] „Nun habt ihr euer Urteil vernommen! Bereitet euch daher vor;
denn ihr seid solchen Todes würdig! Fiat.“
[JJ.01_071,20] Wie tausend Blitze schlug dieses Urteil die drei; sie fingen an
sogleich zu heulen und zu wehklagen und alle Götter zu Hilfe zu rufen.
[JJ.01_071,21] Sie wurden dann auch sogleich unter feste Wache genommen, und die
Büttel gingen sogleich ins Richthaus und schafften die anbefohlenen
Marterwerkzeuge herbei. Cyrenius, Joseph und Maronius aber begaben sich nach dem
sogleich wieder nach Hause.
[JJ.01_072] 72. Kapitel – Marias Zweifel an der Allmacht des Jesuskindes.
Josephs beruhigende Erzählung. Warum der mächtige Löwe von Juda vor Herodes
floh. Die Seligkeit der ermordeten Kindlein. Pillas Reife.
18. November 1843
[JJ.01_072,01] Als sich Cyrenius mit Joseph und Maronius Pilla wieder der Villa
näherte, ging Maria mit dem Kinde auf dem Arme den dreien ganz ängstlich
entgegen und fragte sogleich den Joseph:
[JJ.01_072,02] „Mein Joseph, mein geliebtester Gemahl! O sage mir, was da mit
der Jugend geschehen ist!
[JJ.01_072,03] Denn wenn hier bei solchen sicher nicht selten vorkommenden
Elementarstürmen allzeit derlei Opferungen stattfinden, da sind ja auch wir
nicht sicher mit unserem Kinde!
[JJ.01_072,04] Hat Es auch eine große Macht, – aber wir mußten uns doch trotz
dieser Macht aus Palästina vor dem Herodes flüchten!
[JJ.01_072,05] Woraus ich denn auch den Schluß gemacht habe: Für gewisse Fälle
hat das Kind noch zuwenig Macht; daher liegt es da an uns, Es all den großen
Gefahren zu entziehen!“
[JJ.01_072,06] Und der Joseph sprach zur Maria: „O du mein mir von Gott dem
Herrn Selbst angetrautes Weib, fürchte dich nicht darob!
[JJ.01_072,07] Denn siehe, nicht ein Haar von der zur schmählichsten
Sühnopferung bestimmten Jugend ist ihr angetastet worden!
[JJ.01_072,08] Unser lieber Cyrenius hat sogleich ihr die Freiheit gegeben und
verurteilte dafür die drei Priester, die gestern hier waren und die Einwilligung
für die Schlachtung der Jugend vom Cyrenius verlangten, zum allerschmerzlichsten
Glühkreuzestode!
[JJ.01_072,09] Aber – unter uns gesagt – nur scheinhalber! – Morgen in der Frühe
werden sie anstatt der Exekution des Todesurteils die Begnadigung empfangen!
[JJ.01_072,10] Und diese Lektion wird ihnen sicher zu einer vollsten Witzigung
dienen, der zufolge sie künftighin sicher kein ähnliches Götzensühnopfer in
Vorschlag bringen werden!
[JJ.01_072,11] Daher also sei du, mein geliebtestes Weib, ganz völlig unbesorgt
und denke: Der Herr, der uns bis jetzt so sicher geführt hat, der wird uns auch
in der Zukunft nicht in die Macht der Heiden überliefern!“
[JJ.01_072,12] Maria ward durch diese Worte Josephs vollkommen beruhigt, und ihr
Gesicht heiterte sich wieder auf.
[JJ.01_072,13] Und das Kindlein lächelte der Mutter ins Angesicht und sprach zu
ihr:
[JJ.01_072,14] „Maria! – So jemand einen Löwen also gebändiget hätte, daß dieser
ihn gleich einem sanftmütigen Lasttiere herumtrüge,
[JJ.01_072,15] meinst du wohl, daß es da löblich wäre, sich auf dem mächtigsten
Rücken des Löwen zu fürchten vor den flüchtigen Hasen?!“
[JJ.01_072,16] Maria erstaunte über die tiefe Weisheit dieser Worte, aber sie
verstand sie nicht.
[JJ.01_072,17] Und das Kindlein sprach daher noch einmal zur Maria, und sprach
ganz ernsten Angesichtes:
[JJ.01_072,18] „Ich bin der mächtige Löwe von Juda, der dich auf Seinem Rücken
trägt; wie magst du dich denn fürchten vor denen, die Ich mit einem Hauche
verwehen kann wie lose Spreu?!
[JJ.01_072,19] Meinst du denn, Ich bin vor Herodes geflohen, um Mich zu sichern
vor seiner Wut?!
[JJ.01_072,20] O nein! – Ich floh nur, um ihn zu schonen; denn hätte ihn Mein
Angesicht gesehen, da wäre es mit ihm für ewig aus gewesen! –
[JJ.01_072,21] Siehe, die Kindlein aber, die für Mich erwürgt worden sind, sind
überaus glücklich schon in Meinem Reiche – und sind täglich um Mich und loben
und preisen Mich und erkennen in Mir schon vollkommen ihren Herrn für ewig!
[JJ.01_072,22] Siehe Maria, also stehen die Dinge! Daher du wohl von Mir
allenthalben schweigen sollest, wie es befohlen ward; aber du für dich sollest
es wohl wissen, Wer Der ist, den du ,Gottes Sohn‘ heißen sollest und Ihn auch
also geheißen hast!“
[JJ.01_072,23] Diese Worte erschütterten die Maria durch und durch; denn sie sah
nun ganz ein, daß sie den Herrn auf ihren Armen trägt!
[JJ.01_072,24] Es hatte aber auch der Maronius, der sich hier hinter der Maria
befand, die Worte des Kindes vernommen und fiel nieder vor dem Kinde.
[JJ.01_072,25] Nun erst entdeckte der Cyrenius Mariam; denn früher war er in
einem Gespräche mit einem seiner ihn begleitenden Sekretäre begriffen.
[JJ.01_072,26] Er eilte daher plötzlich hin zum Kinde und grüßte und kosete Es.
Und das Kindlein tat desgleichen und sprach: „Cyrenius! erhebe den Maronius,
denn er ist nun schon bearbeitet; nun darf er Mich erkennen! – Verstehst du
Mich, was Ich damit sagen will?!“ –
[JJ.01_073] 73. Kapitel – Des Cyrenius Erlaß: Ausfall der militärischen Übungen.
Der Aufbruch nach der Stadt und des Jesuskindleins Bedingung zugunsten der drei
Todesopfer.
20. November 1843
[JJ.01_073,01] Als aber also die ganze Gesellschaft bei der Villa angelangt war,
da sandte der Cyrenius sogleich seinen Adjutanten in die Stadt an den Obersten
der Stadt und ließ ihm bedeuten, daß an diesem wie am künftigen Tage keine
Paraden und keine Ausrückungen stattfinden sollen.
[JJ.01_073,02] Denn solches war bei den Römern bei außerordentlichen
Gelegenheiten gebräuchlich, daß da bei gewissen Erscheinungen – wie etwa eine
Mondes- oder Sonnenfinsternis, ein starkes Ungewitter,
[JJ.01_073,03] feurige Meteore, Kometen, das plötzliche Auftreten eines
Irrsinnigen, das Befallenwerden von der sogenannten Epilepsie,
[JJ.01_073,04] imgleichen auch außerordentliche Scharfgerichtstage – die Sitten
den Römern nicht gestatteten, zugleich andere Staatsgeschäfte zu unternehmen.
[JJ.01_073,05] Denn alle derlei Tage galten den sonst vielseitig biederen Römern
als Unglückstage oder als besondere Tage der Götter, welche die Menschen sofort
zu heiligen und nicht zu ihrem eigenen Geschäfte zu verwenden haben.
[JJ.01_073,06] Obschon aber Cyrenius bei sich eben nicht viel auf diese leeren
Sitten hielt, so mußte er solches aber dennoch des Volkes wegen tun, welches
noch fest an solchen Torheiten hing.
[JJ.01_073,07] Als der Adjutant aber abgegangen war, da sprach der Cyrenius zum
Joseph: „Edelster Bruder und Freund! Lasse du nun ein Morgenmahl richten! – Nach
dem Morgenmahle aber wollen wir alle samt und sämtlich in die Stadt gehen und
wollen dort die Verheerungen des Sturmes in Augenschein nehmen!
[JJ.01_073,08] Wir werden bei dieser Gelegenheit sicher viele arme und
verunglückte Bürger dieses Ortes antreffen und werden ihnen auch helfen auf jede
mögliche Weise.
[JJ.01_073,09] Sodann werden wir den Hafen besichtigen und sehen, wie es mit den
Schiffen aussieht, ob und wie sie beschädigt worden sind.
[JJ.01_073,10] Es wird sich da sicher so manche Arbeit für deine Söhne ergeben,
die ich sogleich zu Oberbauführern ernennen will, indem es ohnehin gerade in
dieser Stadt an Baukundigen überaus mangelt.
[JJ.01_073,11] Denn Ägypten ist nun in architektonischer Hinsicht bei weitem
nicht mehr das, was es einst vor tausend Jahren war zu den Zeiten der alten
Pharaonen.“
[JJ.01_073,12] Joseph befolgte sogleich das Verlangen des Cyrenius, ließ ein
frugales Morgenmahl bereiten, bestehend aus Brot, Honig und Milch und einigen
Früchten.
[JJ.01_073,13] Nach dem Mahle aber erhob sich der Cyrenius und die ganze
Tischgenossenschaft und wollte sogleich seinem Vorhaben nach in die Stadt
ziehen;
[JJ.01_073,14] aber das Kindlein berief den Cyrenius zu Sich und sprach zu ihm:
„Mein Cyrenius! Du ziehst in die Stadt, der notleidenden Bürgerschaft irgend zu
helfen, und dein größter Wunsch ist, daß Ich bei dir sein möchte!
[JJ.01_073,15] Ja, Ich will auch mit dir ziehen, aber du mußt Mich hören und
Meinen Rat befolgen!
[JJ.01_073,16] Siehe, die an der größten Not Leidenden sind wohl jene drei von
dir zur vierundzwanzigstündigen Todesangst Verurteilten!
[JJ.01_073,17] Siehe aber hinzu! – Ich habe keine Freude am zu großen Schmerze
der Elenden; daher ziehen wir zuerst dahin und helfen diesen
Allerunglücklichsten! Danach wollen wir erst die weniger Unglücklichen in der
Stadt und den Meereshafen besuchen!
[JJ.01_073,18] Tust du das, so werde Ich mit dir ziehen; tust du aber das nicht,
so bleibe Ich daheim! – Denn siehe, Ich bin auch ein Herr in Meiner Art und kann
tun, was Ich will, ohne Mich an dich zu halten! Befolgst du aber Meinen Rat, da
will Ich Mich dann wohl an dich halten!“
[JJ.01_074] 74. Kapitel – Cyrenius am Scheideweg. Des Kindleins Rat. Maronius
als Kenner des römischen Rechts. Die Begnadigung der drei Priester auf dem
Richtplatz, ihr Tod vor Freude und ihre Wiederbelebung durch das Jesuskind.
21. November 1843
[JJ.01_074,01] Als der Cyrenius solches vernommen hatte von dem ihm über allen
stehenden kleinen Wiegenredner, wie er Ihn manchmal nannte, da stutzte er bei
sich selbst und wußte nicht, was er so ganz eigentlich tun solle.
[JJ.01_074,02] Denn auf der einen Seite sah er sich vor dem Volke als ein
wankelmütiger Feldherr und oberster Statthalter gewaltig prostituiert,
[JJ.01_074,03] anderseits aber hatte er dennoch zuviel Respekt vor der erprobten
Macht des Kindes!
[JJ.01_074,04] Er sann eine Zeitlang hin und her und sprach nach einer Weile wie
zu sich selbst:
[JJ.01_074,05] „O Scylla, o Charybdis, o Mythe des Herkules am Scheidewege!
[JJ.01_074,06] Hier stehet der Held zwischen zwei Abgründen; weicht er dem einen
aus, so stürzt er unvermeidlich in den andern!
[JJ.01_074,07] Was solle ich nun tun? – Wohin mich wenden? – Solle ich zum
ersten Male wankelmütig vor dem Volke erscheinen und tun den Willen dieses
mächtigen Kindes?
[JJ.01_074,08] Oder solle ich tun nach meinem ohnehin sehr milden Beschlusse?“
[JJ.01_074,09] Hier berief wieder das Kindlein den Cyrenius zu Sich und sprach
lächelnd: „Du Mein lieber Freund, du rührest hohle Eier und hohle Nüsse
durcheinander!
[JJ.01_074,10] Was ist die Scylla und was die Charybdis und was der Held
Herkules vor Mir? – Folge du Mir, und du wirst mit allen diesen Nichtigkeiten
nichts zu tun bekommen!“
[JJ.01_074,11] Und der Cyrenius, sich erholend von seinem Wankelmute, sprach zum
Kinde:
[JJ.01_074,12] „Ja, Du mein Leben, Du mein kleiner Sokrates, Plato und
Aristoteles in der Wiege! – Dich will ich zufriedenstellen, und komme daraus,
was wolle!
[JJ.01_074,13] Und so lasset uns denn hinziehen auf den Richtplatz und dort
unser Urteil sobald in Gnade verwandeln!“
[JJ.01_074,14] Hier näherte sich auch Maronius dem Cyrenius und sagte ganz
sachte zu ihm:
[JJ.01_074,15] „Kaiserliche Consulische Hoheit! – Ich bin ganz mit dem Rate des
Kindes einverstanden; denn mir ist gerade jetzt eingefallen, daß die Todesstrafe
bei priesterlichen Angelegenheiten nie ohne die Einwilligung des Pontifex
Maximus in Rom über die Priester verhängt werden darf, –
[JJ.01_074,16] außer diese wären Staatsaufwiegler, was sie aber hier nicht sind,
sondern nur blinde Eiferer ihrer Sache!
[JJ.01_074,17] Daher billige ich den Rat des Kindes sehr; dessen Befolgung kann
dir daher nur nützen, aber nie schaden!“
[JJ.01_074,18] Den Cyrenius freute diese Bemerkung des Maronius, und er machte
sich darum sogleich auf den Weg mit der ganzen vorbestimmten Gesellschaft.
[JJ.01_074,19] Am Richtplatze angelangt, fand er die drei Priester schon fast
entseelt vor zu großer Angst vor dem martervollsten Tode.
[JJ.01_074,20] Nur einer von ihnen hatte noch so viel Geistesgegenwart, daß er
vor dem Cyrenius sich mühsamst erhob und ihn bat um eine gnädigere Todesart.
[JJ.01_074,21] Cyrenius aber sprach zu ihm, wie zu den andern zweien: „Sehet an
das Kind, das diese Mutter auf ihren Armen trägt, das gibt euch das Leben
wieder! Und so schenke ich es euch auch und widerrufe mein Urteil!
[JJ.01_074,22] Erhebet euch daher wieder, und wandelt frei! Fiat! – Und ihr
Wachen, ihr Richter, Liktoren und Büttel, ziehet ab mit allem! Fiat!“
[JJ.01_074,23] Dieser Gnadenruf benahm den drei Priestern das Leben; aber das
Kindlein streckte die Hand über die drei, und sie erwachten wieder ins Leben und
folgten sogleich ganz erheitert ihrem kleinen Lebensretter! –
[JJ.01_075] 75. Kapitel – Die Besichtigung der Stadt nach dem Sturm. Die gute
Wirkung des Orkans. Die törichte Absicht des Cyrenius, sein Schwert wegzuwerfen.
Des hl. Kindleins weise Worte über das Schwert als Hirtenstab.
22. November 1843
[JJ.01_075,01] Vom Richtplatze sich schnell hinwegbegebend, zog die ganze
Gesellschaft nun in die Stadt im Gefolge von den drei begnadigten Priestern.
[JJ.01_075,02] Als sie, die Gesellschaft nämlich, aber in der Stadt am großen
Platze anlangte – und zwar vor dem mächtigen Schutthaufen des großen Tempels und
des ganzen, noch größeren Priesterpalastes,
[JJ.01_075,03] da schlug der Cyrenius die Hände über dem Kopfe zusammen und
sprach mit lauter Stimme:
[JJ.01_075,04] „Wie sehr verändert siehst du aus! – Ja, so kann nur eines Gottes
Macht wirken!
[JJ.01_075,05] Nicht langer Zeiten bedarf es, sondern ein Wink der Allmacht
genügt, den ganzen Erdkreis in Staub zu verwandeln!
[JJ.01_075,06] O Menschen! – wollt ihr kämpfen mit Dem, der den Elementen
gebietet, und sie folgen Seinem Winke?!
[JJ.01_075,07] Wollt ihr Richter sein, wo der Gottheit Allmacht gebietet, und
herrschen, wo euch ein leiser Wink des ewigen Herrschers zertrümmert?!
[JJ.01_075,08] Nein, nein! – Ich bin ein Tor, daß ich noch mein Schwert umgürtet
trage, als hätte ich eine Macht!
[JJ.01_075,09] Weg mit dir, du elendes Zeug! Da, in diesem Schutthaufen ist der
beste Platz für dich! – Mein wahres Schwert aber sollst Du sein! Du! – den die
Mutter auf ihren Armen trägt!“ – –
[JJ.01_075,10] Hier löste der Cyrenius plötzlich sein Schwert samt dem
Ehrengürtel vom Leibe und wollte es mit aller Gewalt in den Schutthaufen
schleudern.
[JJ.01_075,11] Aber das Kindlein, das Sich zur Seite des Cyrenius auf den Armen
der Maria befand, sprach zu ihm:
[JJ.01_075,12] „Cyrenius! Tue nicht, was du tun willst, – denn wahrlich, wer das
Schwert nach deiner Art trägt, der trägt es gerecht!
[JJ.01_075,13] Wer das Schwert gebraucht als Waffe, der werfe es von sich;
[JJ.01_075,14] wer es aber gebraucht als einen Hirtenstab, der behalte es; denn
also ist es der Wille Dessen, dem Himmel und Erde ewig gehorchen müssen!
[JJ.01_075,15] Du bist aber ein Hirte denen, die in das Buch deines Schwertes
geschrieben sind;
[JJ.01_075,16] daher umgürte dich nur wieder mit der gerechten Ehre, auf daß
dich dein Volk erkennt, daß du ihm ein Hirte bist!
[JJ.01_075,17] Bestünde deine Herde aus pur Lämmern, da bedürftest du keines
Stabes!
[JJ.01_075,18] Aber es gibt darunter sehr viele Böcke; darum möchte Ich dir
lieber noch einen Stab hinzulegen, als dir den einen nehmen!
[JJ.01_075,19] Wahr ist es! Außer in Gott gibt es keine Macht; aber wenn dir
Gott die Macht verleiht, dann sollst du sie nicht dahin von dir werfen, was
Gottes Fluch gerichtet hat!“
[JJ.01_075,20] Diese Worte brachten den Cyrenius sogleich wieder zur Umgürtung
des Schwertes unter steter stiller Anbetung des Kindleins. – Die drei Priester
aber entsetzten sich allergewaltigst vor der Weisheit dieses Kindes!
[JJ.01_076] 76. Kapitel – Die Verwunderung der drei Priester über die Weisheit
des Kindes und Josephs. Josephs Göttermythologie.
24. November 1843
[JJ.01_076,01] Mit der größten Hochachtung näherten sich die drei Priester dem
Joseph und fragten ihn, wie dieses Kind zu einer solchen allerwunderbarsten
Weisheit gelangt ist, und wie alt es schon sei.
[JJ.01_076,02] Joseph aber sprach zu ihnen: „Liebe Freunde, fraget nicht zu früh
danach; denn eine zu vorzeitige Antwort könnte euch das Leben kosten!
[JJ.01_076,03] Folget uns aber, und lasset eure vielen Götter fallen, und
glaubet, daß es nur einen wahren Gott Himmels und der Erde gibt, und glaubet,
daß dieser eine wahre Gott Derjenige ist, den das Volk Israel anbetet und ehret
zu Jerusalem, so werdet ihr es in euch und aus diesem Kinde erfahren, woher
Dessen Weisheit ist!“
[JJ.01_076,04] Die Priester aber sprachen: „O Mann, du redest hier seltsame
Worte!
[JJ.01_076,05] Sind denn unsere Hauptgötter, der Zeus, der Apollo, der Merkur,
der Vulkan, der Pluto, Mars und Neptun, die Juno, die Minerva, die Venus und
andere mehr nichts als bloße Werke der menschlichen Phantasie?“
[JJ.01_076,06] Und der Joseph erwiderte: „Höret mich an, ihr Freunde! Alle eure
Götter sind entstanden durch die Phantasie eurer Urväter, die den einen Gott
noch gar wohl gekannt haben!
[JJ.01_076,07] Sie aber waren seltene Dichter und Sänger an den Höfen der alten
Könige dieses Landes und personifizierten – zwar in guten Entsprechungen – die
Eigenschaften des einen wahren Gottes!
[JJ.01_076,08] Ihnen war Jupiter als die Güte und Liebe des Vaters von Ewigkeit
darstellend, Apollo war die Weisheit des Vaters, und die Minerva stellte die
Macht dieser Weisheit dar.
[JJ.01_076,09] Merkur bedeutete die Allgegenwart des einen Gottes durch Seinen
allmächtigen Willen.
[JJ.01_076,10] Die Venus stellte die Herrlichkeit und die Schönheit und die
ewige gleiche Jugend des Gottwesens dar.
[JJ.01_076,11] Vulkan und Pluto stellten des einen Gottes Vollmacht über die
ganze Erde dar.
[JJ.01_076,12] Mars stellte den göttlichen Ernst dar und das Gericht und den Tod
für die Gerichteten.
[JJ.01_076,13] Neptun stellte den wirkenden Geist des einen Gottes in allen
Gewässern dar, wie Er durch sie die Erde belebt.
[JJ.01_076,14] So stellte die alte Isis, wie Osiris, die göttliche, unantastbare
Heiligkeit dar, welche da ist die göttliche Liebe und Weisheit urewig in sich!
[JJ.01_076,15] Und so stellten alle anderen Untergötter nichts als lauter
Eigenschaften des einen Gottes in entsprechenden Bildern dar!
[JJ.01_076,16] Und das war eine recht löbliche Darstellung; denn man wußte da
nichts anderes, als daß dieses alles nur den einen Gott bezeichne in der
verschiedenen Art Seiner zahllosen Auswirkungen.
[JJ.01_076,17] Aber mit der Zeit haben Eigennutz, Selbstliebe und die
Herrschsucht die Menschen geblendet und verfinstert.
[JJ.01_076,18] Sie verloren den Geist, und es blieb ihnen nichts als die äußere
Materie, und sie wurden zu Heiden, was soviel heißt als: sie wurden zu groben
Materialisten und verloren den einen Gott, nagten daher an den äußeren, leeren,
unverstandenen Bildern gleich Hunden, die da heißhungrig nackte Knochen benagen,
an denen kein Fleisch mehr haftet! – Verstehet ihr mich?“
[JJ.01_076,19] Die drei sahen einander groß an und sprachen: „Wahrlich, du bist
in unserer Religion besser bewandert denn wir! – Wo aber hast du solches
erfahren?“
[JJ.01_076,20] Joseph aber sprach: „Geduldet euch nur; das Kind wird es euch
kundtun! Daher folget uns, und kehret nicht wieder um!“
[JJ.01_077] 77. Kapitel – Cyrenius und die drei Priester. Die Ausgrabung der
Verschütteten. Des Kindleins wunderbare Mithilfe. Die Belebung der sieben
scheintoten Katakombenführer.
25. November 1843
[JJ.01_077,01] Die drei Priester fragten nun um nichts mehr weiter; denn sie
erkannten in Joseph einen Mann, der in die alten Mysterien Ägyptens tief
eingeweiht zu sein schien, was sonst nur bei den höchsten Oberpriestern dieses
Landes der Fall war.
[JJ.01_077,02] Der Cyrenius aber wandte sich um und fragte die drei Priester,
wieviel ihresgleichen hier ums Leben gekommen sind.
[JJ.01_077,03] Und die drei sprachen: „Mächtigster Statthalter! Ganz genau
können wir dir die Zahl nicht angeben;
[JJ.01_077,04] aber über siebenhundert waren es gewiß, die da begraben wurden,
ohne die Zöglinge beiderlei Geschlechts mit eingerechnet!“
[JJ.01_077,05] „Gut“, sprach Cyrenius, „wir wollen uns von der Sache bald
genauer überzeugen!“
[JJ.01_077,06] Er fragte darauf den Joseph, ob es nicht rätlich wäre, die
Verschütteten auszugraben!
[JJ.01_077,07] Und der Joseph erwiderte: „Das ist sogar strenge Pflicht; denn es
könnten hie und da in den Katakomben noch Zöglinge am Leben sein, und diese zu
retten ist strenge Pflicht!“
[JJ.01_077,08] Als der Cyrenius solches vernommen hatte, ließ er sogleich
zweitausend Arbeiter dingen, die sich alsogleich an die Wegschaffung des
Schuttes machen mußten.
[JJ.01_077,09] In wenigen Stunden wurden schon sieben Leichen hervorgezogen, und
das waren gerade die Katakombenführer.
[JJ.01_077,10] Und der Cyrenius sagte: „Wahrlich, um diese tut es mir leid; denn
ohne ihre Hilfe werden wir nicht viel richten in dem unterirdischen Labyrinthe
von zahllosen Gängen und Gängen!“
[JJ.01_077,11] Das Kindlein aber sagte zum Cyrenius: „Mein Cyrenius! was da die
Katakomben betrifft, so wird in ihnen nicht viel Ersprießliches zu treffen sein;
[JJ.01_077,12] denn diese liegen schon seit mehreren Jahrhunderten unbenützt und
sind angefüllt mit Schlamm und Ungeziefer aller Art!
[JJ.01_077,13] Diese sieben Führer in den Katakomben aber hatten bloß nur den
Titel als solche; aber von ihnen hatte noch nie einer eine Katakombe betreten.
[JJ.01_077,14] Siehe, damit du aber glaubst, was Ich dir sage, so sage Ich dir
auch, daß diese sieben Führer nicht ganz tot, sondern nur sehr betäubt daliegen
und können daher wieder ins Leben gerufen werden!
[JJ.01_077,15] Lasse sie reiben an den Schläfen, an der Brust, im Genicke und an
den Händen und Füßen von kräftigen Weibern, und sie werden sobald erwachen aus
ihrer Betäubung!“
[JJ.01_077,16] Und der Cyrenius fragte das Kindlein: „O Du mein Leben! So Du sie
anrühretest, da würden sie doch auch sicher erwachen?!“
[JJ.01_077,17] Das Kindlein aber sprach: „Tue, was Ich dir geraten; denn Ich
darf nicht zu viel tun, will Ich nicht statt des Segens ein Gericht der Welt
geben!“
[JJ.01_077,18] Cyrenius verstand zwar diese Worte nicht; aber er befolgte
dennoch den Rat des Kindleins.
[JJ.01_077,19] Er ließ sogleich zehn kräftige Jungfrauen bringen, daß sie rieben
die sieben Führer.
[JJ.01_077,20] Nach einigen Minuten erwachten die sieben und fragten die
Umstehenden, was da mit ihnen geschehen sei, und was hier geschehe.
[JJ.01_077,21] Und der Cyrenius ließ sie sogleich führen in eine gute Herberge;
aber das Volk wunderte sich hoch über diese Erweckung und erwies den Jungfrauen
eine große Verehrung.
[JJ.01_078] 78. Kapitel – Arbeit der Barmherzigkeit. Der intelligente Sturm. Des
Cyrenius Ahnung. Der Besuch des Hafens.
27. November 1843
[JJ.01_078,01] Nachdem wurde weiter gegraben, und Cyrenius erließ den Befehl,
daß alle Leichen, welche nicht irgend zu sehr verstümmelt seien, auf einen
gewissen mit Matten überdeckten Platz sollten mit den Gesichtern zur Erde gelegt
werden;
[JJ.01_078,02] die sehr Verstümmelten allein sollten sogleich auf die
gewöhnliche Art auf dem allgemeinen Beerdigungsplatze entweder verbrannt oder
acht Fuß tief begraben werden.
[JJ.01_078,03] An den wenig Verstümmelten aber sollten ähnliche
Erweckungsversuche gemacht werden wie mit den sieben.
[JJ.01_078,04] Und so einer oder der andere wieder ins Leben käme, er sogleich
in die Herberge zu den sieben gebracht werde!
[JJ.01_078,05] Als dieser Befehl erteilt ward, begab sich Cyrenius von dannen
mit seiner Gesellschaft, um noch andere Stadtteile in Augenschein zu nehmen.
[JJ.01_078,06] Zu seiner großen Verwunderung aber fand er, daß da nirgends ein
bürgerliches Haus irgend beschädigt war;
[JJ.01_078,07] wohl aber war nirgends ein Göttertempel mehr zu finden, der nicht
im Schutte zertrümmert daläge, bis auf einen einzigen, kleinen, verschlossenen
mit der Aufschrift: „Dem unbekannten Gott!“
[JJ.01_078,08] Als die Gesellschaft unter großem Volksgefolge also die ganze
nicht unbedeutende Stadt von achtzigtausend Einwohnern zum größten Teile
durchwandert hatte, da berief der Cyrenius den Joseph zu sich und sprach zu ihm:
[JJ.01_078,09] „Höre, du mein allererhabenster Freund und Bruder! Ich muß
heimlich über die sonderbare Wirkung des Erdbebens wie des Sturmes geradezu
lachen!
[JJ.01_078,10] Da sieh nur einmal hin! Längs dieser Gasse vor uns stehen Häuser
von so elender Bauart; trockene Steine sind ohne Mörtel – noch ziemlich
unsymmetrisch dazu – zu einer Wand übereinandergelegt.
[JJ.01_078,11] Man sollte glauben, daß sie kaum fest genug wären, um der
Erschütterung zu widerstehen, welche durch den Huftritt eines nur einigermaßen
schweren Pferdes hervorgebracht wird!
[JJ.01_078,12] Aber siehe, diese wahren Ameisengebäude stehen unversehrt da!
Nicht eines ist irgend auch nur im geringsten beschädigt,
[JJ.01_078,13] während mitten unter diesen wahren Vonheutebismorgen-Häusern die
für Jahrtausende fest gebauten Tempel nach der Bank alle in die schmählichsten
Schutthaufen verwandelt sind!
[JJ.01_078,14] Wie findest du diese höchst merkwürdige Erscheinung? – Ist es
hier nicht handgreiflich, daß das Erdbeben wie der Sturm sehr intelligent müssen
zu Werke gegangen sein?!
[JJ.01_078,15] Fürwahr! ich muß es dir zu meiner großen Freude bekennen und
sagen:
[JJ.01_078,16] Wenn dein Söhnlein nicht mit Seinem allmächtigen Finger ein wenig
unter den Tempeln in Gesellschaft mit dem Sturme herumgespielt hat, so will ich
nicht Cyrenius heißen!“
[JJ.01_078,17] Joseph aber sprach: „Behalte es für dich ganz allein, was du
glaubst, und rede ja zu niemandem davon – denn es wird schier also sein!
[JJ.01_078,18] Wir begeben uns aber nun zum Hafen und wollen da sehen, ob sich
dort für mich keine Arbeit vorfindet!“ – Und der Cyrenius befolgte sogleich den
Rat Josephs und zog an des Meeres Ufer hin.
[JJ.01_079] 79. Kapitel – Der geringe Schaden im Hafen. Die Rückkehr nach Hause.
Der Umweg auf Rat des Kindleins. Der Grund dafür.
28. November 1843
[JJ.01_079,01] Am Ufer des Meeres angelangt, allwo der Hafen für die Schiffe
teils von der Natur und teils durch die Kunst der Menschen errichtet war,
erstaunte Cyrenius ebenfalls nicht wenig.
[JJ.01_079,02] Denn es war nirgends ein Schaden zu entdecken, außer daß am
prachtvollsten Schiffe des Cyrenius alle sogenannten mythologischen Verzierungen
möglichst vernichtet waren.
[JJ.01_079,03] Cyrenius sprach daher zum Joseph: „Mein allerachtbarster Freund,
bei obwaltenden Umständen werden deine Söhne wenig zu tun bekommen!
[JJ.01_079,04] Siehe, nicht ein Fahrzeug hat irgendeinen sonstigen Schaden
erlitten, außer daß da – mir sehr willkommen – besonders auf meinem Schiffe die
Götzen wahrscheinlich haben das Meerwasser zum Verkosten bekommen,
[JJ.01_079,05] was mir aber eben sehr lieb ist; denn ich werde sicher keine mehr
irgend auf meinem Schiffe anbringen lassen!
[JJ.01_079,06] Deinem Gotte sei alles Lob und alle Ehre dafür!
[JJ.01_079,07] Deine Söhne aber werde ich dessenungeachtet für allfällige kleine
Reparaturen, die sich hier und da an den Schiffen als vonnöten zeigen werden,
schon also belohnen, als ob sie was Großes getan hätten!“
[JJ.01_079,08] Und der Joseph sprach zum Cyrenius: „O Freund und Bruder, sorge
dich nicht zu sehr um den Verdienst meiner Kinder!
[JJ.01_079,09] Siehe, nicht des Verdienstes wegen, sondern um dir einen guten
Dienst erweisen zu können, wäre ich dir gerne mit meinen Söhnen in solcher
baulichen Hinsicht zu Hilfe gekommen; es hat dir aber der Herr geholfen, und so
ist es besser, und du kannst meiner Hilfe nun leichtlich entbehren.
[JJ.01_079,10] Wir aber haben nun bereits alles gesehen; daher meine ich, da es
bei der Gelegenheit schon so ziemlich spät nachmittags geworden ist, wir sollten
uns nun wieder nach Hause begeben und allenfalls morgen das etwa noch Übrige in
Augenschein nehmen!“
[JJ.01_079,11] Und der Cyrenius sprach: „Der Meinung bin ich auch; denn mich
dauert der armen Mutter schon ganz über die Maßen. Daher müssen wir nun
trachten, sobald als möglich nach Hause zu kommen!
[JJ.01_079,12] Ich aber werde für sie sogleich eine Sänfte bringen lassen, auf
daß sie nach Hause getragen wird mit dem Kindlein!“
[JJ.01_079,13] Und das Kindlein meldete sich sogleich hinter dem Cyrenius und
sprach zu ihm:
[JJ.01_079,14] „Das tust du sicher; denn diese Mutter ist schon sehr müde
geworden, indem sie an Mir sehr schwer zu tragen hat!
[JJ.01_079,15] Im Nachhauseziehen aber darfst du deinem Vorhaben zufolge nicht
über den gewissen Priesterplatz den Weg nehmen!
[JJ.01_079,16] Denn so Ich mit der Mutter vorübergetragen würde, da nun schon
bei hundert Verschüttete auf den Matten liegen,
[JJ.01_079,17] so würden sie plötzlich alle lebendig, und das gäbe dir und allem
Volke ein Gericht, das da jedem sehr übel bekäme!
[JJ.01_079,18] Also aber werden sie durch menschliche Hilfe unter Meiner
geheimen Einwirkung die Nacht hindurch erweckt werden!
[JJ.01_079,19] Dadurch wird der Schein des Wunderbaren vermieden, und du und
alles Volk bleibt verschont von einem den Geist für ewig tötenden Gerichte!“
[JJ.01_079,20] Cyrenius befolgte genau diesen Rat, hocherfreut in seinem Herzen;
die Sänfte ward augenblicklich herbeigeschafft, und Maria mit dem Kindlein begab
sich in dieselbe.
[JJ.01_079,21] Und der Cyrenius bestimmte einen andern Weg, auf welchem die
ganze Gesellschaft, die drei Priester mitgerechnet, gar bald und ganz bequem die
Villa Josephs erreichte.
[JJ.01_080] 80. Kapitel – Josephs hausväterliche Fürsorge. Des Kindleins Freude
an Jakob. „Die Ich liebe, die necke Ich auch und kneipe und zupfe sie!“ Jakobs
glückliche und beneidenswerte Mission.
29. November 1843
[JJ.01_080,01] In der Villa wieder angelangt, begab sich Joseph sogleich zu
seinen Söhnen, welche soeben mit der Bereitung eines Mittagsmahles beschäftigt
waren, und sprach zu ihnen:
[JJ.01_080,02] „Gut, gut, meine Söhne, ihr seid meinem Wunsche zuvorgekommen;
aber wir haben heute drei Gäste mehr, nämlich die drei Priester, die heute früh
sind zum Tode ausgesetzt worden!
[JJ.01_080,03] Diese wollen wir ganz besonders gut bewirten, damit sie unsere
Freunde werden in der Anerkennung unseres Vaters im Himmel,
[JJ.01_080,04] der uns zu Seinen Kindern erwählt hat durch den Bund, den Er mit
unseren Vätern gemacht hat!
[JJ.01_080,05] Du, Jakob, aber gehe sogleich hinaus, der sehr müde gewordenen
Mutter entgegen, und nehme ihr unser aller allerliebstes Kindlein ab,
[JJ.01_080,06] und bringe Es sogleich zur Ruhe; denn Es ist auch schon sichtbar
müde und sehnt Sich nach der Wiege!“
[JJ.01_080,07] Und sogleich lief der Jakob hinaus und zu der Maria, die soeben
aus der Sänfte stieg, und nahm ihr sogleich mit großer Liebe und Freude das
Kindlein von den Armen.
[JJ.01_080,08] Das Kindlein aber erwies dem Jakob eben auch dieselbe große
Freude; denn Es hüpfte auf seinen Armen und lächelte und kneipte und zupfte ihn,
wo Es ihn mit Seinen Händchen nur erwischen konnte.
[JJ.01_080,09] Die drei Priester aber, die vor diesem Kinde den
allerungeheuersten Respekt hatten, verwunderten sich in aller Freude ihres
Gemütes, da sie an diesem Kinde auch etwas echt Kindliches entdeckten.
[JJ.01_080,10] Einer von ihnen aber ging hin zum Jakob und fragte ihn in gut
hebräischer Sprache:
[JJ.01_080,11] „Sage mir, ist dieses Wunderkind aller Kinder stets so munter, ja
man möchte sagen – sogar ein wenig neckend schlimm, wie Kinder gewöhnlicher Art
manchmal freilich erst in zwei oder drei Jahren es sind?“
[JJ.01_080,12] Das Kindlein aber antwortete sogleich Selbst an Stelle des Jakob:
[JJ.01_080,13] „Ja, ja, Mein Freund! – Die Ich liebe, die necke Ich auch und
kneipe und zupfe sie; aber das geschieht nur jenen, die Mich so wie Mein Jakob
lieben – und Ich sie auch so liebe wie diesen Meinen lieben Jakob!
[JJ.01_080,14] Aber Ich tue ihnen darum doch nicht Leids an! – Nicht wahr, du
Mein lieber Jakob, es tut dir nicht weh, so Ich dich zupfe und kneipe?“
[JJ.01_080,15] Und der Jakob, wie gewöhnlich gleich zu Tränen gerührt, sprach:
„O Du mein göttlich allerliebstes Brüderchen, wie könntest Du mir wehe tun?!“
[JJ.01_080,16] Und das Kindlein erwiderte darauf dem Jakob: „Jakob, Mein Bruder,
du hast Mich wahrlich lieb!
[JJ.01_080,17] Ich aber habe auch dich so lieb, daß du es in Ewigkeit nie genug
wirst begreifen können, wie lieb Ich dich habe!
[JJ.01_080,18] Siehe, du Mein lieber Bruder Jakob, die Himmel sind weit und
endlos groß; zahllose glänzende Lichtwelten fassen sie, wie die Erde einen
Tautropfen!
[JJ.01_080,19] Und die Welten sind Träger von zahllosen glücklichsten Wesen
deiner Art; aber glücklicher ist unter ihnen keines als du, nun Mein liebster
Bruder! – Jetzt verstehst du Mich noch nicht; aber du wirst Mich schon noch
recht gut verstehen mit der Zeit. – Schlafen aber mag Ich jetzt nicht, wenn die
Menschen um Mich wachen! – Aber bei dir will Ich bleiben!“
[JJ.01_080,20] Diese Rede brach unserem Jakob von neuem wieder sein Herz, daß er
darob weinte vor Liebfreude; der fragende Priester aber sank beinahe in den
Boden vor lauter Ehrfurcht und Höchstachtung dieses Kindes!
[JJ.01_081] 81. Kapitel – Des Cyrenius Wunsch, vom hl. Kindlein auch gezupft zu
werden. Des Kindleins Antwort. Eine Verheißung für Rom. Maria mahnt, des
Kindleins unverstandene Worte im Herzen zu bewahren.
1. Dezember 1843
[JJ.01_081,01] Cyrenius, der diese Worte des Kindleins ebenfalls gar wohl
vernommen hatte, begab sich augenblicklich hin zum Kindlein und fragte Es gar
liebreich:
[JJ.01_081,02] „O Du mein Leben! Du hast mich dann gewiß nicht so lieb, weil Du
mich, so ich Dich auf meinen Armen hatte, noch nie gekneipt und gezupfet hast?“
[JJ.01_081,03] Das Kindlein aber sprach: „O Cyrenius! Sorge dich nicht darum;
denn siehe, alle die Unannehmlichkeiten, die du Meinetwegen schon erduldet hast,
waren lauter Kneipereien und Zupfereien von Mir, darum Ich dich so lieb habe!
[JJ.01_081,04] Verstehst du Mich nun, was Ich dir gesagt habe?
[JJ.01_081,05] Ich werde dich aber schon noch öfter kneipen und zupfen – und
werde aus lauter Liebe zu dir recht schlimm sein!
[JJ.01_081,06] Aber höre, deswegen mußt du dich aber dennoch nicht fürchten vor
Mir, denn es wird dir dabei kein Wehe geschehen, so wie bis jetzt; verstehst du
Mich, Mein lieber Cyrenius?“
[JJ.01_081,07] Der Cyrenius, voll der tiefsten Achtung in seinem Herzen vor dem
Kinde, sprach ganz betroffen und gerührt:
[JJ.01_081,08] „Ja, ja, Du mein Leben, ich verstehe Dich gar wohl und weiß, was
Großes Du mir gesagt hast!
[JJ.01_081,09] Aber dessenungeachtet möchte ich aber doch auch, daß Du mich also
wie Deinen Bruder ein wenig kneipen und zupfen möchtest!“
[JJ.01_081,10] Und das Kindlein sprach zum Cyrenius: „O Mein lieber Freund, du
wirst doch nicht kindischer sein als Ich?
[JJ.01_081,11] Glaubst du denn, daß Ich dich darum mehr lieben werde?
[JJ.01_081,12] O siehe, da irrest du dich sehr; denn mehr noch, als Ich dich
ohnehin liebe, kann Ich dich ja doch unmöglich lieben!
[JJ.01_081,13] Wahrlich, auch du wirst die Größe und Stärke Meiner Liebe zu dir
ewig nie erfassen und begreifen können!
[JJ.01_081,14] Höre, kein Säkulum mehr wird vorüberziehen, da Rom in Meine Burg
vielfach einziehen wird!
[JJ.01_081,15] Nun ist zwar die Zeit noch nicht da, aber glaube es Mir, du
stehst schon jetzt an der Schwelle, die bald von gar vielen wird betreten
werden!
[JJ.01_081,16] Verstehe! – aber nicht körperlich, sondern geistig in Meinem
zukünftigen Reiche für ewig!“
[JJ.01_081,17] Diese Worte des Kindes erregten eine große Sensation bei allen
Anwesenden, und der Cyrenius wußte nicht, was er daraus machen solle.
[JJ.01_081,18] Er wandte sich daher zur danebenstehenden Maria und fragte sie,
ob sie verstünde, was das göttliche Kindlein nun ausgesagt hatte.
[JJ.01_081,19] Maria aber sprach: „O Freund! – wäre dies ein gewöhnliches
Menschenkind, so würden wir Menschen Es auch verstehen;
[JJ.01_081,20] aber so ist Es von höherer Art, und wir verstehen Es nicht!
Behalten wir aber alle Seine Worte in uns; die Zeitenfolge wird sie uns schon im
wahren Lichte enthüllen!“
[JJ.01_082] 82. Kapitel – Des Cyrenius Frage an Joseph und dessen Antwort vom
Lüften des Schleiers der Isis. Des Maronius gute Erklärung. Das Mahl. Die
Ehrfurcht der drei Priester.
1. Dezember 1843
[JJ.01_082,01] Hier kam der Joseph wieder aus der Villa und lud die Gesellschaft
zum schon bereiteten Mahle.
[JJ.01_082,02] Cyrenius aber, sich durchkreuzender großer Gedanken voll, berief
den Joseph zu sich und erzählte ihm, was ihm nun das Kindlein und am Ende die
befragte Maria gesagt haben,
[JJ.01_082,03] und fragte daher den guten Joseph auch zugleich, wie solche Worte
und Reden zu verstehen seien.
[JJ.01_082,04] Joseph aber erwiderte dem etwas zu sehr erregten Cyrenius, sagend
nämlich:
[JJ.01_082,05] „O Freund und Bruder, ist dir die Mythe unbekannt, die eines
Menschen erwähnt, der einst den Mantel der Isis lichten wollte?“
[JJ.01_082,06] Und der Cyrenius, ganz erstaunt über diese unerwartete Frage,
sprach:
[JJ.01_082,07] „O erhabener Freund, die Mythe ist mir gar wohl bekannt; der
Mensch ging elend zugrunde! Aber was willst du mir nun damit sagen auf meine
Frage?“
[JJ.01_082,08] Und der Joseph erwiderte dem Cyrenius: „Liebster Freund, nichts
anderes als: Hier ist mehr denn die Isis!
[JJ.01_082,09] Darum befolge den Rat meines Weibes, und du wirst ewig gut
fahren!“
[JJ.01_082,10] Daneben stand aber auch der Maronius Pilla und sprach bei dieser
Gelegenheit:
[JJ.01_082,11] „Consulische Kaiserliche Hoheit! Ich bin sonst in derlei Sachen
zwar noch sehr dumm, aber diesmal kommt es mir vor, als so ich den Weisen
verstanden hätte auf ein Haar!“
[JJ.01_082,12] Und der Cyrenius erwiderte ihm: „Wohl dir, so du dessen in dir
überzeugt bist!
[JJ.01_082,13] Ich aber kann mich vorderhand dessen noch nicht rühmen.
[JJ.01_082,14] Mein Gehirn ist zwar sonst auch gerade nicht kreuz und quer
vernagelt; aber diesmal will es mir die gerechten Dienste nicht leisten!“
[JJ.01_082,15] Und der Maronius sprach: „Ich meinesteils verstehe die Sache
also: Greife nicht nach zu fernen Dingen; denn dazu ist deine Hand zu kurz!
[JJ.01_082,16] Es wäre freilich wohl sehr ehrsam, ein glücklicher Phaeton zu
sein;
[JJ.01_082,17] aber was kann da der schwache Sterbliche tun, wenn die Sonne zu
ferne über ihm ihren Weg gebahnt hat!?
[JJ.01_082,18] Er muß sich bloß an ihrem Lichte begnügen und dabei die Sonne
leitende Ehre und Macht jenen Wesen ganz gutwillig überlassen, die sicher
längere Arme haben als er, der schwache Sterbliche!
[JJ.01_082,19] Wie lang aber der unsichtbare Arm dieses Kindes ist, davon haben
wir uns gestern überzeugt!
[JJ.01_082,20] Siehe, Consulische Kaiserliche Hoheit, verstehe ich nicht aus dem
Salze das, was dieser weise Mann geredet hat?“
[JJ.01_082,21] Und der Cyrenius gab dem Maronius recht, beschwichtigte sein Herz
und begab sich wohlgemut mit dem Joseph in die Villa und stärkte sich am
frugalen Mahle.
[JJ.01_082,22] Die drei Priester aber getrauten sich kaum die Augen zu öffnen;
denn sie meinten, das Kind sei entweder Zeus oder gar das Fatum selbst.
[JJ.01_083] 83. Kapitel – Die Blindheit, Ehrfurcht und Fluchtgedanken der drei
Götzenpriester. Des Jesuskindleins weise Verhaltensregeln an Joseph und
Cyrenius.
2. Dezember 1843
[JJ.01_083,01] Nachdem aber die Mahlzeit vorüber war und alles sich wieder vom
Tische erhoben hatte, da trat einer der Priester hin zum Joseph und fragte ihn
in der tiefsten Demut:
[JJ.01_083,02] „Uranos, oder doch wenigstens Saturnus als Vater des Zeus! Denn
das bist du sicher leibhaftig, obschon du deine Göttlichkeit ehedem in der Stadt
vor uns zu verbergen dich bestrebtest;
[JJ.01_083,03] so tatst du solches aber dennoch, um uns zu prüfen, ob wir dich
im Ernste erkenneten oder nicht.
[JJ.01_083,04] Nur eine Zeitlang verkannten wir dich, und darum bitten wir dich
um Vergebung unserer groben Blindheit!
[JJ.01_083,05] Die ehemalige Sprache deines Kindes aber hat uns allen ein Licht
angezündet, und wir wissen nun genau, wo wir uns befinden!
[JJ.01_083,06] O mache uns daher sogestaltig glücklich, daß du uns kundgebest,
wie wir dir ein Opfer bringen sollen, wie deinem göttlichen Weibe und wie deinem
Kinde, dem sich sicher durch deine Allmacht verjüngenden Zeus?!“
[JJ.01_083,07] Joseph aber erstaunte über diese plötzliche Veränderung der drei
Priester, denen er doch früher in der Stadt den Irrgrund ihres Heidentums klar
und wohlbegreiflich auseinandergesetzt hatte.
[JJ.01_083,08] Er sann daher nach, was er ihnen nun antworten solle. – Aber das
Kindlein verlangte sogleich hin zum Joseph;
[JJ.01_083,09] und als Es dort anlangte auf den Armen Jakobs, sprach Es sogleich
zum Joseph:
[JJ.01_083,10] „Lasse du die Armen, und verweise es ihnen nicht; denn sie sind
blind und schlafen und träumen!
[JJ.01_083,11] Behalte sie aber einige Tage hier, und Meine Brüder werden sie
schon aus ihrem Schlafe und Traume erwecken! Wenn sie sehen werden, wie ihr
selbst zu Gott betet, da werden sie ihren Uranos, Saturnus und Zeus schon
fallenlassen!“
[JJ.01_083,12] Diese Worte beruhigten den Joseph vollkommen, und er machte
darauf sogleich den drei Priestern den Vorschlag, unterdessen unter seinem Dache
zu wohnen, bis sich mit ihnen irgendeine versorgliche Bestimmung treffen werde.
[JJ.01_083,13] Die drei Priester aber, sich kaum zu atmen getrauend aus lauter
Ehrfurcht, getrauten sich um so weniger den Vorschlag abzulehnen, indem sie nun
durchaus nicht wußten, wie sie so ganz eigentlich daran seien.
[JJ.01_083,14] Sie nahmen sonach den Vorschlag an; aber unter sich murmelten
sie:
[JJ.01_083,15] „Ach! – wäre es hier möglich, davonzulaufen und sich in
irgendeinem letzten Winkel der Erde zu verkriechen, wie glücklich wären wir da!
[JJ.01_083,16] Aber so müssen wir hier verbleiben im Angesichte der offenbaren
Hauptgötter. O welche Qual ist das für uns Nichtswürdigste!“
[JJ.01_083,17] Der Cyrenius aber merkte solche Murmelei unter den dreien, trat
daher hin und wollte sie darob zur Rede stellen.
[JJ.01_083,18] Das Kindlein aber sprach: „Mein Cyrenius, bleibe zurück; denn Mir
ist es nicht unbekannt, was in den dreien vorgeht.
[JJ.01_083,19] Ihr Plan ist die Frucht ihrer Blindheit und ihrer törichten
Furcht und führt nichts anderes im Schilde, als eine Flucht vor uns in
irgendeinen allerentferntesten Erdwinkel.
[JJ.01_083,20] Siehe, das ist alles, und darum brauchst du dich nicht gleich so
zu ereifern!
[JJ.01_083,21] Lasse hier in diesem Hause nur Mir das Gericht über, und sei
versichert, daß da niemandem ein Unrecht geschehen wird!“
[JJ.01_083,22] Und Cyrenius ward damit zufrieden und begab sich mit Joseph in
die Freie wieder; die drei Priester aber begaben sich in ihr angewiesenes
Gemach.
[JJ.01_084] 84. Kapitel – Die Sage von der Entstehung der Stadt Ostracine. Des
Cyrenius Zukunftssorge wegen der Göttertempel.
4. Dezember 1843
[JJ.01_084,01] In der Freie angelangt, fingen Joseph und Cyrenius sich über so
manche Dinge zu besprechen an, während unter der Zeit die Maria das Kindlein
versorgte im Hause
[JJ.01_084,02] und die Söhne Josephs sich abgaben mit der Beordnung des
Hauswesens, wobei ihnen die Dienerschaft des Cyrenius so manche Dienste
leistete.
[JJ.01_084,03] Nach mehreren weniger gehaltvollen Gesprächen zwischen Joseph und
Cyrenius in Begleitung des Maronius Pilla aber kam auch ein wichtiger Punkt zur
Sprache, und dieser lautete also, und das aus dem Munde des Cyrenius:
[JJ.01_084,04] „Erhabener Freund und Bruder! – Siehe, die Stadt und das ganze
große Gebiet, welches noch zur Herrschaft der Stadt gehört, zählt bei
achtzigtausend Menschen sicher!
[JJ.01_084,05] Darunter gibt es nur sehr wenige deines Glaubens und deiner
Religion.
[JJ.01_084,06] Sie sind zumeist mehr oder weniger seit Jahrtausenden meines
Wissens Erzgötzendiener.
[JJ.01_084,07] Ihre Götzentempel haben sie alle in dieser uralten Stadt, von der
die Mythe sagt, sie sei bei Gelegenheit der Götterkriege mit den Giganten der
Erde erbaut worden, und das von Zeus selbst zum Zeichen des Sieges über diese
Giganten der Erde.
[JJ.01_084,08] Merkur habe die Knochen der Giganten sammeln und sie ins Meer
versenken müssen; dadurch sei dieses Land entstanden.
[JJ.01_084,09] Über diese Gigantenknochen habe Zeus dann durch einen ganzen
Monat Sand und Asche regnen lassen und mitunter große und schwere Steine.
[JJ.01_084,10] Darauf habe Zeus die alte Ceres beordert, sie solle dieses Land
fruchtbar machen und in seiner Mitte nicht zu ferne vom Meere eine Burg und eine
Stadt erbauen zum Zeichen des großen Sieges;
[JJ.01_084,11] Zeus selbst aber werde dann ein Volk aus der Erde rufen, welches
für alle Zeiten der Zeiten dieses Land und diese Stadt bewohnen solle. –
[JJ.01_084,12] Aus dieser meiner Kundgabe wirst du nun leicht ersehen, daß
ebendieses Volk, wie nicht leichtlich ein anderes irgend auf der Erde, noch fest
der Meinung ist, die Stadt zu bewohnen, welche die Götter selbst erbaut haben,
[JJ.01_084,13] aus welchem Grunde du denn auch die überaus zerlumpten Wohnhäuser
allzeit ersiehst, indem sich kein Mensch an dem Werke der Götter etwas
auszubessern getraut, um sich nicht zu versündigen gegen sie.
[JJ.01_084,14] Ganz besonders solle die alte Ceres mit Hilfe des Merkur und des
Apollo die Tempel eigenhändig erbaut haben. –
[JJ.01_084,15] Das ist die Mythe und zugleich der noch feste Glaube dieses sonst
gutmütigen Volkes, welches trotz seiner Armut sehr gastfreundlich und
ausnahmsweise ehrlich ist.
[JJ.01_084,16] Was aber wird nun hier zu tun sein, wenn das Volk etwa die
Wiederherstellung der Tempel verlangt?
[JJ.01_084,17] Sollte man ihm die Tempel wieder aufbauen oder nicht, – oder
sollte man es bekehren zu deiner Lehre?
[JJ.01_084,18] Und tut man das, was werden die benachbarten Völker dazu sagen,
die auch noch nicht selten diese Stadt besuchen, die nun um so mehr, wie
freilich schon seit gar langen Zeiten, mehr eine Ruine als eine eigentliche
Stadt ist!?“
[JJ.01_085] 85. Kapitel – Josephs Hinweis aufs Gottvertrauen und Vorhersage über
das Ende Ostracines.
4. Dezember 1843
[JJ.01_085,01] Und weiter redete der Cyrenius: „O Freund, wahrlich, hier wird
ein guter Rat sehr teuer!
[JJ.01_085,02] Hast du in der lebendigen Kammer deiner echten göttlichen
Weisheit einen Rat dafür, so gebe mir ihn!
[JJ.01_085,03] Denn wahrlich, je mehr ich nun über diese Sache nachdenke, desto
kritischer und verwickelter wird sie!“
[JJ.01_085,04] Und der Joseph sprach darauf zum Cyrenius: „Höre mich an,
edelster Freund! Aus dieser Verlegenheit kann dir sehr leicht geholfen werden!
[JJ.01_085,05] Ich will dir dafür einen guten Rat geben, der dir das Rechte
zeigen wird, was du zu tun haben sollest bei dieser Gelegenheit.
[JJ.01_085,06] Siehe, du bist nun in deinem Herzen meines lebendigen Glaubens
und liebst und ehrest samt mir den einig-wahren Gott!
[JJ.01_085,07] Ich sage dir aber: Solange du dich sorgen wirst, so lange auch
wird Gott nichts tun für dich!
[JJ.01_085,08] Wie du aber alle deine Sorge auf Ihn legst und dich um nichts
anderes kümmerst und sorgst als darnach nur, eben diesen wahren Gott stets mehr
zu erkennen und stets mehr zu lieben,
[JJ.01_085,09] da wird dann Er dir in allem zu helfen anfangen, und alles, was
du heute noch krumm ersiehst, wird morgen gerade vor dir stehen!
[JJ.01_085,10] Lasse du daher diese Stadt nur da vom Schutte reinigen, wo
allenfalls unter demselben Menschen begraben sein möchten, was soeben geschieht.
[JJ.01_085,11] Alle anderen Tempel, unter deren Schutte sich nichts als
höchstens einige sehr plumpe, wertlose, zertrümmerte Götzen befinden, aber lasse
als Ruinen liegen!
[JJ.01_085,12] Denn was Elemente zerstören, gilt diesem blinden Volke soviel,
als hätten es die Götter zerstört.
[JJ.01_085,13] Es wird daher sich auch gar nicht darum bemühen, diese Tempel
selbst wieder aufzubauen;
[JJ.01_085,14] denn es fürchtet sich, daß es wider den Willen der Götter dadurch
tätig wäre, was ihm eine große Strafe zuziehen könnte.
[JJ.01_085,15] Priester aber, die das auf eine erdichtete Aufforderung von
seiten der Götter durch die Hände und Mittel des Volkes zu ihrem Besten
unternommen hätten, sind nicht mehr, –
[JJ.01_085,16] und die noch da sind, werden nimmer Tempel für Götzen erbauen!
[JJ.01_085,17] Also kannst du darob ganz ohne Sorge sein; der Herr Himmels und
der Erde wird das Beste machen für dich und fürs ganze Volk!
[JJ.01_085,18] In dieser Zeit aber wird ohnehin mehrere Städte ein ähnliches Los
treffen, daß sie verschüttet werden hie und da; und so wird es wenig auffallen,
so diese alte Stadt in zehn Jahren gänzlich zur Ruine wird!“
[JJ.01_085,19] Diese Rede Josephs tröstete den Cyrenius, und er kehrte wieder
ganz wohlgemut mit Joseph in die Wohnung zurück.
[JJ.01_086] 86. Kapitel – Die Heimkehr des Cyrenius mit seiner Dienerschaft nach
Ostracine. Maria im Gebet. Josephs tröstende Worte.
5. Dezember 1843
[JJ.01_086,01] Im Speisezimmer angelangt, fragte der Cyrenius den Joseph:
„Lieber Freund, du mein Alles, siehe, mir ist soeben ein guter Gedanke durch die
Brust und in den Kopf gefahren!
[JJ.01_086,02] Was meinst du, wäre es in meiner Sache, von der wir draußen uns
besprachen und du mir darüber wohl das Beste und Tröstlichste gesagt hast, nicht
ersprießlich für die volle Beruhigung meines Gemütes,
[JJ.01_086,03] so ich die drei hier anwesenden Priester einvernehmen möchte, was
da ihre Meinung wäre?“
[JJ.01_086,04] Und der Joseph sprach: „So dir mein Wort noch nicht genügt, – du
bist hier der Herr und kannst tun, was dir beliebt zu deiner Beruhigung,
[JJ.01_086,05] obschon ich der Meinung bin, daß hier mit diesen Priestern eben
nicht viel zu reden sein wird, solange sie mich für den Uranos oder Saturnus und
das Kindlein für den sich verjüngenden Zeus halten!
[JJ.01_086,06] Wenn du sie demnach fragen wirst darum, daran es dir liegt, so
werden sie dich offenbar an mich und an das Kindlein verweisen!“
[JJ.01_086,07] Als der Cyrenius solches vom Joseph vernommen hatte, da stand er
sobald ab von seinem Verlangen und sprach darauf:
[JJ.01_086,08] „Nun bin ich ganz im klaren; mein Gemüt ist völlig beruhigt, und
ich kann meine fernere Zeit wieder ganz ruhig dem ordentlichen Staatsgeschäfte
widmen.
[JJ.01_086,09] Es ist bereits Abend geworden; ich werde mich daher wieder in die
Stadt begeben mit meiner Dienerschaft!
[JJ.01_086,10] Morgen aber am Nachmittag bin ich wieder bei dir; sollte ich aber
dennoch eher irgend deines Rates vonnöten haben, dann werde ich noch am
Vormittage dich zu mir entbitten!“
[JJ.01_086,11] Hier segnete Joseph den Cyrenius und den Maronius, und der
Cyrenius begab sich noch zur Wiege und küßte ganz leise das schlafende Kindlein.
[JJ.01_086,12] Sodann erhob er sich und begab sich mit Tränen in seinen Augen
von dannen.
[JJ.01_086,13] Während des Ganges sah er sich wenigstens einige hundert Male
nach der Villa um, welche nun für ihn mehr war als alle Schätze der Welt.
[JJ.01_086,14] Joseph aber sandte dem Cyrenius auch einen Segen um den andern
nach, solange er nur noch etwas von der Schar des Cyrenius entdecken konnte.
[JJ.01_086,15] Als nichts mehr vom Cyrenius zu entdecken war, da erst begab sich
Joseph wieder ins Haus und da zur Maria, die gerade – wie gewöhnlich um diese
Zeit – tief im Gebete zu Gott versammelt war.
[JJ.01_086,16] Sobald sie aber den Joseph bei sich gewahrte, erhob sie sich und
sprach: „Lieber Gemahl, fürwahr, dieser Tag hat mich ganz ausgewechselt! – Die
Welt, die Welt! – sie ist für den Menschen kein Gewinn!“
[JJ.01_086,17] Und der Joseph sprach: „Mein getreuestes Weib, du hast recht;
aber ich denke: Solange der Herr mit uns ist, da verlieren wir in der Welt auch
nichts! Daher sei guten Mutes; morgen wird uns wieder die alte Sonne neu und
herrlich aufgehen! Dem Herrn allein alle Ehre ewig Amen.“
[JJ.01_087] 87. Kapitel – Maria als Vorbild weiblicher Demut. Das Lob- und
Danklied Josephs und seiner Söhne. Die gute Wirkung auf die drei Götzendiener.
6. Dezember 1843
[JJ.01_087,01] Maria aber, die von jeher nie viel Worte machte und auch nie nach
der Art der Weiber das letzte Wort haben wollte, begnügte sich in ihrem Herzen
mit der ganz einfachen und ebenso kurzen Tröstung Josephs.
[JJ.01_087,02] Sie begab sich darauf zur Ruhe, von Joseph dem Herrn in seinem
Herzen aufgeopfert.
[JJ.01_087,03] Joseph aber begab sich darauf zu seinen Söhnen und sagte zu
ihnen: „Kinder, der Abend ist herrlich und schön; gehen wir hinaus ins Freie!
[JJ.01_087,04] Da wollen wir im großen heiligen Tempel Gottes ein Loblied
anstimmen und wollen dem Herrn danken für alle die unendlichen Wohltaten, die Er
uns und unsern Vätern von Anbeginn der Welt erwiesen hat!“
[JJ.01_087,05] Alsogleich ließen die Söhne Josephs alles stehen und folgten dem
Vater.
[JJ.01_087,06] Und er führte sie auf einen freien kleinen Hügel, welcher etwa
hundert Schritte von der Villa entfernt lag, zum Grunde Josephs gehörte und
ungefähr eine Höhe von zwanzig Klaftern hatte.
[JJ.01_087,07] Es bemerkten aber solche Bewegung die drei Priester und meinten,
die Götter begeben sich für die Nacht etwa in den Olymp, um da einen allgemeinen
Rat zu halten mit allen Göttern.
[JJ.01_087,08] Daher erhoben sie sich auch bald aus ihrem Gemache und schlichen
ganz heimlich und leise dem Joseph nach.
[JJ.01_087,09] An dem Hügel angelangt, horchten sie unter einem dichtbelaubten
Feigenbaume, was da etwa die vermeinten Götter im Olymp beschließen werden.
[JJ.01_087,10] Aber wie sehr fingen sie an, sich unter sich zu verwundern, als
sie die vermeinten Götter erster Klasse gar mächtig und ergreifend einen Gott
anbeten und lobsingen vernahmen.
[JJ.01_087,11] Ganz besonders aber wirkten folgende Stellen eines Psalmes Davids
auf sie, welche Stellen also lauten:
[JJ.01_087,12] „Herr Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die
Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen ward, bist Du Gott von
Ewigkeit zu Ewigkeit!
[JJ.01_087,13] Der Du den Menschen lässest sterben und sprichst: ,Kommet wieder,
Menschenkinder!‘
[JJ.01_087,14] Denn tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag, der gestern
vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
[JJ.01_087,15] Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, und sie sind dann wie
ein Schlaf und gleichwie ein Gras, das welk geworden ist,
[JJ.01_087,16] das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen
wird und dann verdorrt.
[JJ.01_087,17] Das macht Dein Zorn, daß wir so vergehen, und Dein Grimm, daß wir
so plötzlich dahinmüssen!
[JJ.01_087,18] Denn unsere Missetat stellst Du vor Dich und unsere unerkannte
Sünde in das Licht vor Deinem Angesicht!
[JJ.01_087,19] Darum fahren alle unsere Tage dahin durch Deinen Zorn, und wir
bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.
[JJ.01_087,20] Unser Leben währet etwa siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so
sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so war es voll Mühe und
Arbeit; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir von dannen!
[JJ.01_087,21] Wer glaubt es aber, daß Du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich
vor solchem Deinem Grimme?
[JJ.01_087,22] Lehre uns aber bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug
werden.
[JJ.01_087,23] Herr, kehre Dich doch wieder zu uns und sei Deinen Knechten
gnädig!
[JJ.01_087,24] Fülle uns frühe mit Deiner Gnade, so wollen wir Dich rühmen und
in Dir fröhlich sein unser Leben lang!
[JJ.01_087,25] Erfreue uns nun wieder, nachdem Du uns lange geplaget hast und
wir so lange im Unglücke waren!
[JJ.01_087,26] Zeige Deinen Knechten Deine Werke und Deine Ehre ihren Kindern!
[JJ.01_087,27] Und Du Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk
unserer Hände bei uns; ja, das Werk unserer Hände wolle Du fördern!“ –
[JJ.01_087,28] Als die drei diesen Gesang gar deutlich vernahmen, da begaben sie
sich sogleich wieder in ihr Gemach.
[JJ.01_087,29] Und einer sprach zu den andern zweien: „Fürwahr, das können keine
Götter sein, die so zu einem Gott beten und Seinen Zorn und Grimm sogar über sie
anerkennen!“
[JJ.01_087,30] Und ein anderer sprach: „Das wäre im Grunde das wenigste; aber
daß dieses Gebet ganz uns getroffen hatte, da liegt das Ungetüm begraben!
[JJ.01_087,31] Daher nun stille; die Betenden kommen zurück! Morgen aber wollen
wir das Vernommene tiefer prüfen für uns; also nur stille für heute, denn sie
kommen!“
[JJ.01_088] 88. Kapitel – Die goldene Morgenstunde. Joseph und seine Söhne auf
dem Felde bei der Arbeit. Joel betäubt durch den Biß einer giftigen Schlange.
Die Heimkehr und der Schrecken zu Hause. Des Kindleins tröstende Worte. Die
Wiederbelebung Joels.
7. Dezember 1843
[JJ.01_088,01] Joseph behieß aber dann seine Söhne, daß sie ihr allfälliges
Geschäft noch beenden sollen und darauf zur Ruhe gehen.
[JJ.01_088,02] Er selbst aber, da er auch schon eine Müdigkeit in seinen
Gliedern zu verspüren anfing, begab sich darauf gleich zur Ruhe.
[JJ.01_088,03] Also ward dieser Tag, der reich an Erscheinungen war,
beschlossen.
[JJ.01_088,04] Am nächsten Tage aber war unser Joseph, wie gewöhnlich, schon
eine geraume Zeit vor dem Aufgange der Sonne auf und weckte auch seine Söhne zur
Arbeit.
[JJ.01_088,05] Denn er sprach: „Golden ist die Morgenstunde; das wir in ihr tun,
ist gesegneter als des ganzen folgenden Tages Mühe!“
[JJ.01_088,06] Und so ging er mit Ausnahme des Jakob, welcher beim Kindlein
verbleiben mußte, mit den älteren vier Söhnen sobald hinaus auf einen Acker und
bestellte ihn.
[JJ.01_088,07] Der älteste Sohn aber arbeitete am fleißigsten und wollte den
andern dreien vorkommen.
[JJ.01_088,08] Siehe aber, als er so recht emsig mit dem Spaten in die Erde
stach, da hob er auf einmal eine sehr giftige Schlange aus dem Boden!
[JJ.01_088,09] Und die Schlange bewegte sich schnell und biß ihn in den Fuß.
[JJ.01_088,10] Wohl eilten die drei jüngeren Brüder herbei und erschlugen die
Schlange; aber dessenungeachtet schwoll der Fuß des Bruders zusehends, ein
Schwindel befiel ihn, und er sank bald in den Tod dahin.
[JJ.01_088,11] Joseph und die drei jüngeren Brüder fingen an zu wehklagen und
flehten zu Gott, daß Er ihnen doch den Joel wieder erwecken möchte.
[JJ.01_088,12] Und der Joseph verfluchte die Schlange und sagte zu den dreien:
„Nun solle ewig nimmermehr eine Schlange diesen Boden bekriechen!
[JJ.01_088,13] Hebet den Bruder aber auf und traget ihn nach Hause; denn es muß
also dem Herrn gefallen haben, daß Er mir den Stammhalter nahm!“
[JJ.01_088,14] Und die drei Brüder erhoben weinend den Joel und trugen ihn nach
Hause, und Joseph zerriß sein Gewand und folgte ihnen wehklagend.
[JJ.01_088,15] Im Hause angelangt, kam, durch das Wehklagen erschreckt, ihnen
alsbald die Maria mit dem Kinde entgegen, und der Jakob folgte ihr.
[JJ.01_088,16] Beide aber stießen einen Jammerschrei aus, als sie den entseelten
Joel und den Joseph mit zerrissenem Gewande erblickten.
[JJ.01_088,17] Auch die drei Priester kamen sobald herbei und erschraken nicht
wenig über den Anblick des Leichnams.
[JJ.01_088,18] Und einer sprach zum Joseph: „Nun erst glaube ich dir völlig, daß
du auch nur ein Mensch bist; denn wärest du ein Gott, wie könnten da deine
Kinder sterben, und wie möchtest du sie nicht sobald erwecken?!“
[JJ.01_088,19] Das Kindlein aber sprach: „Ihr irret euch alle; Joel ist wohl
betäubt und schläft, aber tot ist er nicht!
[JJ.01_088,20] Bringet eine Meerzwiebel her; leget sie ihm auf die Wunde, und es
solle alsbald besser mit ihm werden!“
[JJ.01_088,21] Eiligst brachte Jakob eine solche Zwiebel herbei und legte sie
dem Joel auf die Wunde;
[JJ.01_088,22] und er kam in wenigen Augenblicken wieder zu sich und fragte
alle, was denn mit ihm vorgefallen sei.
[JJ.01_088,23] Die Umstehenden aber erzählten ihm alles sobald und lobten und
priesen Gott für die Rettung; die drei Priester aber bekamen eine große Achtung
vor dem Kinde, – aber eine noch größere vor der Zwiebel.
[JJ.01_089] 89. Kapitel – Josephs Opfergelübde. Des Jesuskindleins Einspruch und
Hinweis auf das Gott wohlgefälligste Opfer. Josephs Einwand und seine
Entkräftung durch das Kindlein.
9. Dezember 1843
[JJ.01_089,01] Darauf begab sich Joseph sobald mit seiner ganzen Familie in das
Schlafgemach und lobte und pries Gott laut bei einer Stunde lang;
[JJ.01_089,02] und machte auch ein Gelübde, demzufolge er, sobald er wieder nach
Jerusalem käme, dem Herrn ein Opfer darzubringen sich verpflichtete.
[JJ.01_089,03] Das Kindlein aber sprach zum Joseph: „Höre du Mich an! – Meinst
du, der Herr hat daran ein Wohlgefallen?
[JJ.01_089,04] O da irrest du dich gewaltig, – siehe, weder an den Brandopfern
noch am Blute der Tiere und ebensowenig am Mehle, Öle und Getreide hat Gott ein
Wohlgefallen,
[JJ.01_089,05] sondern allein nur an einem reumütigen, zerknirschten und
demütigen Herzen, das Ihn über alles liebt!
[JJ.01_089,06] Hast du aber etwas Übriges, so gebe denen, die da nackt, hungrig
und durstig sind, so wirst du eine rechte Opferung dem Herrn darbringen!
[JJ.01_089,07] Ich enthebe dich daher von deinem Gelübde und der Pflicht für den
Tempel darum, weil Ich dazu die volle Macht habe!
[JJ.01_089,08] Ich Selbst aber werde einst dein Gelübde in Jerusalem auf eine
Art erfüllen, daß daran die ganze Erde gesättigt wird für die Ewigkeit!“ – – –
[JJ.01_089,09] Joseph aber nahm das Kindlein auf seine Arme und küßte Es und
sagte dann zu Ihm:
[JJ.01_089,10] „Du mein allergeliebtester kleiner Jesus, Dein Joseph dankt Dir
dafür zwar aus ganzem Herzen und erkennt die vollste heilige Wahrheit Deines
wunderbarsten Ausspruchs;
[JJ.01_089,11] aber siehe, Gott, Dein und unser aller Vater, hat dennoch solches
durch Moses und die Propheten angeordnet und uns, Seinen Kindern, zu halten
befohlen!
[JJ.01_089,12] O sage es mir: Hast Du, mein Söhnchen, obschon göttlicher heilig
wunderbarer Abkunft, wohl das Recht, die Gesetze des großen Vaters, der in
Seinen Himmeln wohnet ewig, aufzuheben?“
[JJ.01_089,13] Das Kindlein aber sprach: „Joseph, so Ich es dir auch sagen
würde, wer Ich bin, so möchtest du es Mir dennoch nicht glauben, indem du in Mir
nur ein Menschenkind erschauest!
[JJ.01_089,14] Aber dennoch sage Ich dir: Da Ich bin, da ist auch der Vater; da
Ich aber nicht bin, da ist auch der Vater nicht.
[JJ.01_089,15] Ich aber bin nun hier und nicht im Tempel; wie solle dann der
Vater im Tempel sein? – !
[JJ.01_089,16] Verstehst du das? – Siehe, wo des Vaters Liebe ist, da ist auch
Sein Herz; in Mir aber ist des Vaters Liebe und somit auch Sein Herz!
[JJ.01_089,17] Niemand aber trägt sein Herz außer sich, also auch der Vater
nicht; da Sein Herz ist, da ist auch Er! – Verstehest du solches?“
[JJ.01_089,18] Diese Worte erfüllten den Joseph, die Maria wie die fünf Söhne
mit tiefer heiliger Ahnung; und sie gingen dann hinaus und lobten in ihren
Herzen den so nahen Vater. Und die Maria machte sich dann an die Bereitung eines
Morgenmahles.
[JJ.01_090] 90. Kapitel – Das Morgenmahl. Die Sitte der Waschung. Der Widerstand
der drei Priester gegen die Weisungen Josephs und ihre Erziehung zum Gehorsam
durch das Kindlein. Die bedeutsame Frage der Priester und Josephs Verlegenheit.
11. Dezember 1843
[JJ.01_090,01] Das Morgenmahl war bald bereitet, denn es bestand in nichts
anderem als in einem Topfe aufgesottener frischer Milch mit etwas Honig mit
Thymian und in Brot.
[JJ.01_090,02] Maria selbst brachte es auf den Tisch und rief den Joseph und die
fünf Söhne wie auch die drei Priester zum Tische.
[JJ.01_090,03] Und der Joseph erschien sobald mit dem Kinde auf seinem Arme,
übergab Es der Mutter und begab sich dann zum Tische.
[JJ.01_090,04] Hier stimmte er sogleich dem Herrn sein Loblied an; und als das
Loblied abgesungen war, da fragte Joseph nach gewohnter Sitte, ob alles
gewaschen sei.
[JJ.01_090,05] Und Maria, die fünf Söhne und das Kindlein sprachen: „Ja, wir
sind alle gar wohl gewaschen!“
[JJ.01_090,06] Und der Joseph erwiderte: „Also möget ihr auch essen! Wie sieht
es aber mit euch dreien aus, habt auch ihr euch gewaschen?“
[JJ.01_090,07] Die drei Priester aber sprachen: „Bei uns ist es nicht Sitte,
sich am Morgen mit Wasser zu waschen, wohl aber am Abende.
[JJ.01_090,08] Am Morgen salben wir uns mit Öl, auf daß uns die Hitze des Tages
nicht zu lästig werde.“
[JJ.01_090,09] Und der Joseph sprach: „Das mag gut sein; so ich in euer Haus
käme, würde ich ein Gleiches tun mit euch.
[JJ.01_090,10] Da ihr aber nun bei mir im Hause seid, so beobachtet meine Sitte;
denn sie ist besser als die eurige!“
[JJ.01_090,11] Die Priester aber baten, daß sie damit verschont werden möchten.
[JJ.01_090,12] Da wollte Joseph den Priestern das Waschen erlassen;
[JJ.01_090,13] aber das Kindlein sprach: „Fürwahr, zum Steine solle ein jeder
Bissen in ihrem Magen werden, so sie sich nicht eher reinwaschen mit Wasser,
bevor sie teilnehmen an dem Tische, an dem Ich gegenwärtig bin!“
[JJ.01_090,14] Diese Worte brachen den drei Priestern sogleich ihre Sitte, und
sie verlangten Wasser und wuschen sich.
[JJ.01_090,15] Nachdem sie sich aber gewaschen hatten, da lud sie Joseph
sogleich wieder zum Tische;
[JJ.01_090,16] aber die Priester weigerten sich und getrauten sich nicht, denn
sie fürchteten das Kind.
[JJ.01_090,17] Das Kindlein aber sprach: „So ihr euch nun weigern werdet, zum
Tische zu gehen und da mit uns das gesegnete Morgenmahl zu halten, so werdet ihr
sterben!“
[JJ.01_090,18] Und sogleich begaben sich die Priester zum Tische und aßen mit
großer geheimer Ehrfurcht vor dem Kinde.
[JJ.01_090,19] Als aber das Morgenmahl verzehrt war, da erhob sich Joseph wieder
und brachte Gott den Dank dar.
[JJ.01_090,20] Die Priester aber fragten ihn darauf: „Welchem Gotte dankest denn
du? – Ist denn nicht dies Kind der erste rechte Gott? – Wie dankest du da noch
einem andern?“
[JJ.01_090,21] Diese Frage frappierte den Joseph sehr, und er wußte nicht, was
er darauf erwidern solle.
[JJ.01_090,22] Aber das Kindlein sprach: „Joseph! – sorge dich nicht vergeblich;
denn was die drei geredet haben, wird erfüllet werden! Aber jetzt sei du ohne
Sorge; denn du betest dennoch nur zu einem Gott und Vater!“
[JJ.01_091] 91. Kapitel – Die Liebe als das wahrhafte Gebet zu Gott. Jesus als
Sohn Gottes. Die heidnischen Gedanken der drei Priester und des Kindleins
Entgegnung.
12. Dezember 1843
[JJ.01_091,01] Joseph küßte das Kindlein und sprach: „Ja fürwahr, wäre in Dir
nicht das Herz des Vaters, nimmer wärest Du solcher Worte fähig!
[JJ.01_091,02] Denn wo wohl auf der ganzen Erde ist ein Kind Deines Alters, das
da vermöchte solche Worte aus sich zu reden, die noch nie ein Weiser geredet
hat!
[JJ.01_091,03] Darum sage mir, ob ich Dich als meinen Gott und Herrn vollkommen
anbeten solle?“
[JJ.01_091,04] Diese Frage Josephs an das Kindlein überraschte alle anwesenden
Gemüter.
[JJ.01_091,05] Aber das Kindlein sprach sanft lächelnd zum Joseph: „Joseph!
weißt du wohl, wie der Mensch zu Gott beten solle?
[JJ.01_091,06] Siehe, du weißt es nicht völlig; darum will Ich es dir sagen.
[JJ.01_091,07] Höre! Im Geiste und in der Wahrheit solle der Mensch zu Gott
beten, nicht aber mit den Lippen, wie es die Kinder der Welt tun, die da meinen,
daß sie dadurch Gott gedient haben, so sie eine Zeitlang mit ihren Lippen
gewetzt haben.
[JJ.01_091,08] Willst du aber im Geiste und in der Wahrheit beten, da liebe du
Gott in deinem Herzen, und tue Gutes allen Freunden und Feinden, so wird dein
Gebet gerecht sein vor Gott!
[JJ.01_091,09] So aber jemand zu gewissen Zeiten eine kurze Zeit nur mit den
Lippen gewetzt hat vor Gott und hat während solcher Wetzerei an allerlei
weltliche Dinge gedacht, die ihm mehr am Herzen lagen als all sein loses Gebet,
ja mehr als Gott Selbst, – sage, ist das dann wohl auch ein Gebet?
[JJ.01_091,10] Wahrlich, Millionen solcher Gebete werden bei Gott gerade also
erhört werden, als da erhöret ein Stein die Stimme eines Schreiers!
[JJ.01_091,11] So du aber durch die Liebe zu Gott betest, da brauchst du nimmer
zu fragen, ob du Mich nun als den allerheiligsten Gott und Vater anbeten
sollest.
[JJ.01_091,12] Denn wer also zu Gott betet, der betet auch zu Mir; denn der
Vater und Ich sind einer Liebe und eines Herzens!“
[JJ.01_091,13] Diese Worte bekehrten alle zur reinen Einsicht, und sie wußten
nun, warum Jesus ein Sohn Gottes geheißen werden solle.
[JJ.01_091,14] Josephs Brust ward nun voll der höchsten himmlischen Wonne.
[JJ.01_091,15] Und die Maria frohlockte heimlich über das Kindlein und behielt
alle solche Worte in ihrem Herzen; desgleichen auch die Söhne Josephs.
[JJ.01_091,16] Die drei Priester aber sprachen zu Joseph: „Erhabenster Weiser
aller Zeiten!
[JJ.01_091,17] Einige ganz geheime Worte möchten wir mit dir ganz allein auf
jenem Hügel reden, allwo du gestern abend mit deinen Söhnen so herrlich und
erbauend gebetet hast zu deinem Gott!“
[JJ.01_091,18] Das Kindlein aber sprach da sogleich in die Mitte, sagend
nämlich:
[JJ.01_091,19] „Meinet ihr denn, Meine Ohren werden zu kurz und werden auf dem
Hügel nicht euren Mund erreichen? – O ihr irrt euch; denn Meine Ohren reichen so
weit wie Meine Hände! Daher besprechet euch nur vor Mir hier.“
[JJ.01_092] 92. Kapitel – Die Enthüllung der Blindheit und Torheit der drei
Priester. Vom Tempelbau im Herzen und vom wahren Gottesdienst.
13. Dezember 1843
[JJ.01_092,01] Die drei Priester aber wurden darob sehr verlegen und wußten nun
nicht, was sie machen sollten; denn sie getrauten sich nicht, ihr Anliegen in
der Gegenwart des Kindes dem Joseph zu enthüllen.
[JJ.01_092,02] Das Kindlein aber sah sie an und sprach darauf mit einer recht
festen Stimme:
[JJ.01_092,03] „Möchtet ihr nicht auch aus Mir einen Götzen machen?
[JJ.01_092,04] Dort an jenem Hügel möchtet ihr einen Tempel erbauen, im selben
ein Schnitzwerk nach Mir anbringen auf einem goldenen Altare und diesem
Schnitzwerke dann opfern nach eurer Art.
[JJ.01_092,05] Versuchet nur so etwas zu unternehmen; wahrlich sage Ich euch,
der erste, der dafür einen Schritt tun und nur einen Finger ausstrecken wird,
solle sogleich am Platze des Todes sein!
[JJ.01_092,06] Wollt ihr Mir aber schon einen Tempel erbauen, da erbauet ihn in
euren Herzen lebendig;
[JJ.01_092,07] denn Ich bin lebendig, aber nicht tot, und will daher lebendige,
aber nimmer tote Tempel!
[JJ.01_092,08] So ihr aber schon glaubet, daß in Mir da wohne die Fülle der
Gottheit leibhaftig, bin Ich da nicht Selbst genug ein Tempel lebendig vor
euch?! – Weshalb solle da von Mir noch ein Schnitzwerk und ein steinerner Tempel
sein?
[JJ.01_092,09] Was ist da mehr, Ich – oder so ein nichtssagender Tempel und ein
Schnitzwerk von Mir?
[JJ.01_092,10] So der Lebendige bei euch und unter euch ist, wofür solle da dann
der Tote wohl gut und dienlich sein?
[JJ.01_092,11] O ihr blinden Toren! – Ist denn das nicht mehr, so ihr Mich
liebet, als wenn ihr Mir tausend Tempel aus Steinen erbauen möchtet und möchtet
dann tausend Jahre lang in denselben vor geschnitzten Bildern von Mir eure
Lippen wetzen in verbrämten Röcken?!
[JJ.01_092,12] So aber ein armer Mensch zu euch käme, der da nackt wäre und
hungrig und durstig,
[JJ.01_092,13] ihr aber möchtet sagen: ,Siehe, das ist ein Halbgott, denn also
erscheinen diese hohen Wesen;
[JJ.01_092,14] lasset uns von ihm ein Bild machen und es dann setzen in einen
Tempel, auf daß es von uns verehrt werde!‘ –
[JJ.01_092,15] saget Mir, so ihr das sicher tätet, würde damit dem armen
Menschen wohl etwas gedient sein, und möchtet ihr sein Bild auch aus purem Golde
anfertigen?!
[JJ.01_092,16] Wird es aber dem Armen nicht mehr frommen, so ihr ihn nach eurer
Liebe bekleidet und reichet ihm dann Speise und Trank?
[JJ.01_092,17] Ist aber Gott nicht lebendiger noch als jeder Mensch der Erde,
indem doch alles das Leben aus Ihm hat?
[JJ.01_092,18] Solle Gott etwa blind sein, der die Sonne erschuf und gab dir ein
sehend Auge?!
[JJ.01_092,19] Oder solle Der taub sein, der dir das Ohr gemacht hat, und
gefühllos, der dir die Empfindung gab?
[JJ.01_092,20] Siehe, wie töricht wäre das gedacht und geredet!
[JJ.01_092,21] Gott ist sonach ja das vollkommenste Leben Selbst, also die
vollkommenste Liebe; wie wollt ihr Ihn denn hernach wie einen Toten anbeten und
ehren? –
[JJ.01_092,22] Bedenket dieses, auf daß ihr in eurer Blindheit geheilt werdet.“
[JJ.01_092,23] Diese Rede trieb die drei Priester zu Boden; sie ersahen die
heilige Wahrheit und redeten am selben Tage nichts mehr.
[JJ.01_093] 93. Kapitel – Die allseitig gute Wirkung dieser Belehrung. Die hl.
Familie im häuslichen Leben. Die blinde Bettlerin und ihr Traum. Die Heilung der
Blinden durch das Badewasser des Kindes.
14. Dezember 1843
[JJ.01_093,01] Nach solcher bezeigten Höchstachtung kehrten die drei Priester
wieder in ihr angewiesenes Gemach zurück und verblieben im selben bis zum
Untergange der Sonne.
[JJ.01_093,02] Sie redeten nichts, sondern ein jeder von ihnen dachte über die
Worte des wunderbar redenden Kindes nach.
[JJ.01_093,03] Joseph aber gab Gott die Ehre in seinem Herzen und dankte
inbrünstigst für die endlos große Gnade, daß er der Nährvater des Sohnes Gottes
ward.
[JJ.01_093,04] Als er also mit Maria und seinen Söhnen Gott die Ehre und das Lob
gegeben hatte und die Maria das Kindlein ebenfalls versorgt hatte,
[JJ.01_093,05] da ward das Kindlein wieder dem Jakob übergeben, und Joseph ließ
sich von der Maria das zerrissene Kleid zusammenheften und ging dann mit seinen
vier Söhnen wieder hinaus auf den Acker und bestellte ihn.
[JJ.01_093,06] Maria aber reinigte unterdessen das Zimmergeräte des Hauses,
damit es rein sei zum Empfange der Gäste, die da nachmittags wiederzukommen
versprochen hatten.
[JJ.01_093,07] Als sie mit der Reinigung zu Ende war, da sah sie wieder beim
Kinde nach, ob Ihm nichts fehle.
[JJ.01_093,08] Das Kindlein aber begehrte die Brust und dann ein Bad, und das
mit reinem kaltem Wasser.
[JJ.01_093,09] Maria tat das alles sogleich; und als sie das Kindlein gebadet
hatte, kam ein blindes Weib ins Zimmer zur Maria und klagte viel über ihr Elend.
[JJ.01_093,10] Maria aber sprach zu diesem blinden Weibe: „Ich sehe wohl, daß du
sehr elend bist; aber was kann ich dir da wohl tun, daß dir damit geholfen
wäre?“
[JJ.01_093,11] Und das Weib sprach: „Höre mich an! – In dieser Nacht hat mir
geträumt gar wunderbar.
[JJ.01_093,12] Ich sah, wie du ein gar mächtig leuchtendes Kind hattest; dieses
Kind begehrte von dir Brust und Bad.
[JJ.01_093,13] Das Bad war ein frisches Wasser; und als du das Kind darinnen
gebadet hast, da ward das Wasser voll leuchtender Sterne!
[JJ.01_093,14] Da erinnerte ich mich, daß ich blind bin, und wunderte mich nicht
wenig, wie ich solches alles zu sehen vermöchte.
[JJ.01_093,15] Du aber hast daneben zu mir geredet: ,Weib, so nehme denn dieses
Wasser, und wasche dir die Augen, und du wirst sehend!‘
[JJ.01_093,16] Da wollte ich sogleich nach dem Wasser greifen und mir die Augen
waschen; aber ich ward sobald wach – und bin noch blind geblieben!
[JJ.01_093,17] Heute am Morgen aber sprach jemand zu mir: ,Gehe hinaus, und
suche! Du wirst das Weib mit dem Kinde treffen; denn du wirst eher in kein Haus
kommen als in das allein!‘
[JJ.01_093,18] Hier bin ich nun am sichern Ziele meiner großen Mühe, Angst und
Gefahr!“
[JJ.01_093,19] Hier reichte Maria dem blinden Weibe das Badewasser, und das Weib
wusch sich damit das Gesicht und ward im Augenblicke sehend.
[JJ.01_093,20] Das Weib aber wußte sich vor lauter Dank nicht zu helfen und
wollte das sogleich in ganz Ostracine ausposaunen; Maria aber verbot dem Weibe
solches auf das nachdrücklichste.
[JJ.01_094] 94. Kapitel – Der Geheilten Dank und Bitte um Aufnahme in das Haus
Josephs. Jakobs Zeugnis von Marias Wesen. Eine Voraussage des Mädchens über die
einstige Verehrung Marias. Marias Bescheidenheit. Josephs Heimkehr.
15. Dezember 1843
[JJ.01_094,01] Das Weib aber bat Mariam, ob sie ihr nicht erlauben möchte, daß
sie bei ihr eine Zeitlang verbleibe, auf daß sie dem Hause dienete, in dem ihr
ein so großes Heil widerfahren ist.
[JJ.01_094,02] Maria aber sprach: „Weib, das steht nicht bei mir, denn ich bin
selbst nur eine Magd des Herrn.
[JJ.01_094,03] Verharre aber eine Zeitlang, bis mein Gemahl vom Felde heimkehrt;
von ihm sollst du den rechten Bescheid bekommen!“
[JJ.01_094,04] Das Weib aber fiel der Maria zu den Füßen und wollte sie förmlich
als eine Göttin anzubeten anfangen; denn sie sah die Heilung ihres Gesichtes als
ein zu großes Wunder an, indem sie eine Blindgeborne war.
[JJ.01_094,05] Maria aber verwies ihr solches strenge und entfernte sich in ein
anderes Gemach.
[JJ.01_094,06] Das Weib aber fing darob an zu weinen, da sie der Meinung ward,
als hätte sie dadurch ihre größte Wohltäterin beleidigt.
[JJ.01_094,07] Jakob aber, der im selben Zimmer das Kindlein lockte, sah das
Weib an und sprach zu ihr:
[JJ.01_094,08] „Was weinest du, als hätte dir jemand etwas zuleide getan?“
[JJ.01_094,09] Das Weib aber sprach: „Ach, du lieber Jüngling! Ich habe ja die
beleidigt, die mir das Licht der Augen gab; wie solle ich da nicht weinen?“
[JJ.01_094,10] Der Jakob aber sprach: „Ach, sorge dich um etwas anderes! Das
junge Weib, das dir das Badewasser reichte, ist sanfter als eine Turteltaube;
darum kann sie nimmer beleidiget werden.
[JJ.01_094,11] Wenn sie auch jemand beleidigen möchte, so kann er aber das doch
nicht zuwege bringen.
[JJ.01_094,12] Denn da segnet sie ihn für eine Beleidigung zehn Male und bittet
selbst den Beleidiger auf eine Art um seine Freundschaft wieder, der auch der
härteste Stein nicht widerstehen könnte!
[JJ.01_094,13] Siehe, so gut ist dieses Weib! Daher sei ja ohne Sorge; denn ich
versichere dir, daß sie soeben zu Gott für dich betet!“
[JJ.01_094,14] Und also war es auch. Maria betete fürwahr zu Gott für dieses
Weib, daß Er ihr den Verstand erleuchten möchte, und sie dann einsehe, daß sie
(die Maria nämlich) auch nur ein schwaches Weib sei.
[JJ.01_094,15] Maria war wohl vom höchsten Adel; aber ihre Freude bestand darin,
daß sie gedemütiget werde allorts und von jedermann.
[JJ.01_094,16] Nach einer Weile aber kam die gute, liebe Maria wieder zurück und
bat im Ernste das Weib um Vergebung darum, so sie dieselbe etwa zu hart
angefahren hätte.
[JJ.01_094,17] Dieses Benehmen von Seite der Maria brachte das dankbare Weib
völlig um vor lauter Liebe zur Maria.
[JJ.01_094,18] Und das Weib sprach in der völligen Verzückung ihrer Liebe:
[JJ.01_094,19] „O du helle Psyche meines Geschlechtes, was ehedem dein edelstes
Herz mir verwies, das werden dir einst Völker tun!
[JJ.01_094,20] Denn aus allen Weibern der Erde bist du sicher die erste, die mit
den hohen Göttern um so sicherer im Bunde steht, da sie nebst ihrer wahren
Göttertugend auch gar so unaussprechlich lieb, hold und schön ist!“
[JJ.01_094,21] Maria aber sprach: „Liebes Weib, nach meinem Tode sollen die
Menschen mit mir machen, was sie wollen; aber bei meinen Lebzeiten solle das
nicht geschehen!“
[JJ.01_094,22] Hier kam der Joseph mit den vier Söhnen wieder zurück; und die
Maria führte ihm sogleich das Weib vor und erzählte ihm alles, was da
vorgefallen ist.
[JJ.01_095] 95. Kapitel – Die Aufnahme der Geheilten durch Joseph. Ihre
bewegende Lebensgeschichte. Joseph tröstet die arme Waise.
16. Dezember 1843
[JJ.01_095,01] Als das Weib aber sobald erkannte, daß Joseph der Gemahl der
Maria sei, da ging sie hin und brachte vor ihn die Bitte, daß sie in seinem
Hause verbleiben dürfte.
[JJ.01_095,02] Und der Joseph sprach zum Weibe: „So dir solche Gnade widerfuhr,
wie es mir mein Weib kundgab nun in deiner Gegenwart, und du willst darum
dankbar diesem Hause sein, so magst du wohl bleiben.
[JJ.01_095,03] Denn siehe, ich habe hier einen ziemlich großen Grund und habe
mehrere Haustiere und habe ein geräumiges Haus!
[JJ.01_095,04] Und so wird es an der Beschäftigung nicht fehlen, und Raum zur
Wohnung ist auch genug da.
[JJ.01_095,05] Mein Weib ist ohnehin mehr von schwacher Beschaffenheit in ihrer
Leibeskraft; daher wirst du mir einen guten Dienst erweisen, wenn du hie und da
meinem Weibe in der häuslichen Arbeit helfen magst.
[JJ.01_095,06] Für alle deine Bedürfnisse solle gesorgt sein; aber in Geld kann
ich dir keinen Lohn geben, indem ich selbst keines habe.
[JJ.01_095,07] Bist du mit diesem Antrage zufrieden, so magst du hier verbleiben
nach deiner Lust, aber nicht aus irgend einer vermeinten Pflicht!“
[JJ.01_095,08] Diese Worte machten das Weib, die ohnehin eine ganz arme Waise
war, überaus glücklich, und sie lobte das Haus über die Maßen, in dem ihr so
viel Gutes entgegenkam.
[JJ.01_095,09] Joseph aber fragte sie nach dem Geburtsorte und nach ihrem Alter,
und welcher Religion sie wohl sei.
[JJ.01_095,10] Und das Weib erwiderte: „Aller Ehre würdigster Mann! – Ich bin
aus Rom gebürtig, bin die Tochter eines mächtigen Patriziers!
[JJ.01_095,11] Mein ältliches Aussehen entspricht nicht meinem Alter; denn ich
bin erst kaum zwanzig Sommer eine Bewohnerin der Erde.
[JJ.01_095,12] Ich kam blind zur Welt; meinen Eltern aber riet ein Priester, sie
sollen mich nach Delphi bringen, allda würde ich durch Apolls Erbarmung das
Licht der Augen bekommen.
[JJ.01_095,13] Als dieser Rat meinen Eltern gegeben ward, da war ich zehn Jahre
und sieben Monate alt.
[JJ.01_095,14] Meine Eltern, die sehr reich waren und mich als die einzige
Tochter überaus liebten, befolgten diesen Rat.
[JJ.01_095,15] Sie mieteten ein Schiff, um mit mir nach Delphi zu steuern.
[JJ.01_095,16] Wir befanden uns aber kaum drei Tage auf dem Meere, da kam ein
allergewaltigster Sturm und trieb das Schiff mit großer Schnelligkeit in diese
Gegend.
[JJ.01_095,17] Ungefähr zweihundert Klafter außerhalb des Ufers, wie es mir mein
Lebensretter oft erzählte, ward das Schiff auf eine Klippe geschleudert,
[JJ.01_095,18] und alles bis auf mich und einen Matrosen, der mich gerettet hat,
ging zugrunde, und somit auch meine guten Eltern.
[JJ.01_095,19] Nimmer fand sich eine Gelegenheit, die mich in meine Vaterstadt
zurückbrächte. Der Matrose starb auch hier schon vor fünf Jahren, und ich bin
nun eine von großer Not und Traurigkeit abgezehrte waise Bettlerin in diesem
Orte.
[JJ.01_095,20] Doch da ich solch eine Gnade sicher bei den Göttern gefunden habe
und habe meiner Augen Licht bekommen und nun sehen kann meine Wohltäter, so will
ich ja gerne vergessen meiner großen Trübsal!“
[JJ.01_095,21] Diese Erzählung des scheinbaren Weibes brachte alles zum Weinen;
und der Joseph sprach: „O du arme Waise, sei getröstet; denn hier sollst du
deine Eltern vielfach wiederfinden!“
[JJ.01_096] 96. Kapitel – Die Frage der Waise auf die für sie dunklen Worte
Josephs. Josephs Antwort.
18. Dezember 1843
[JJ.01_096,01] Das vermeintliche Weib aber verstand den Joseph nicht völlig, was
er mit der Gewinnung der mehrfachen Eltern gemeint hatte; daher fragte sie ihn:
[JJ.01_096,02] „O du lieber, überguter Mann, in dessen Hause mir eine so endlos
wunderbar große Gnade widerfuhr, was wohl meinst du damit, daß mir nach deinem
Worte eine mehrfache Wiederfindung meiner verlornen Eltern hier werden solle?“
[JJ.01_096,03] Joseph aber sprach zu ihr: „Fürwahr, du sollst in meinem Hause
meinen Kindern gleich gehalten werden dein Leben lang!
[JJ.01_096,04] Du sollst bei mir den einig und ewig wahren Gott erkennen lernen,
der da ist Derselbe, der dich erschaffen hat und dir nun wiedergab das Licht
deiner Augen.
[JJ.01_096,05] Ja du sollest deinen Gott und Herrn wesenhaft erkennen und sollst
von Ihm Selbst gelehret werden!
[JJ.01_096,06] Also wirst du auch hier gar bald einem hohen Römer in diesem
meinem Hause begegnen, der deine Sachen in Rom ordnen wird.
[JJ.01_096,07] Und dieser Römer ist Cyrenius, ein Bruder des Augustus.
[JJ.01_096,08] Er kannte sicher deine Eltern und wird sich auf mein Anraten
sicher auch für deiner Eltern Sache deinetwegen in Rom verwenden. – Und das
werden doch deine Eltern mehrfach sein, geistlich und leiblich?!
[JJ.01_096,09] Denn so irgend deine leibhaftigen Eltern lebten, sage, könnten
diese mehr tun für dich?
[JJ.01_096,10] Hätten sie dir wohl das Licht deiner Augen wiedergegeben, und
hätten sie dir wohl den einigen, ewigen, wahren Gott zu zeigen vermocht?
[JJ.01_096,11] Deine leiblichen Eltern hätten dich wohl zeitlich versorgt, hier
aber wirst du für ewig versorgt werden, so du diese Versorgung nur annehmen
willst!
[JJ.01_096,12] Sage, was ist dann wohl mehr, deine leiblichen Eltern, die das
Meer verschlungen hat, oder deine jetzigen, denen das Meer im Namen des einen
Gottes gehorchen muß?“
[JJ.01_096,13] Hier war das vermeintliche Weib völlig stumm vor lauter
Hochachtung und Liebe gegen den Joseph.
[JJ.01_096,14] Denn sie meinte, da sie ohnehin schon hie und da so ganz leise
reden gehört hatte, als wohne irgend in der Gegend von Ostracine der Zeus, sie
sei nun in der leibhaftigen Gegenwart desselben.
[JJ.01_096,15] Joseph aber erkannte gar bald den Wahn des Weibes und sprach zu
ihr:
[JJ.01_096,16] „O Magd, o Tochter! – Halte mich ja nicht für mehr als ich bin;
am wenigsten aber für etwas, das nichts ist!
[JJ.01_096,17] Ich bin dir gleich ein Mensch, das genüge dir vorderhand. Mit der
Zeit aber wird es schon heller werden um dich; daher gut für jetzt!
[JJ.01_096,18] Bringet aber nun das Mittagsmahl; nach diesem wollen wir mehreres
kennenlernen; also geschehe es.“
[JJ.01_097] 97. Kapitel – Josephs Worte wegen der drei fastenden Priester. Die
Demut der neuen Hausgenossin und ihre Annahme als Tochter durch Joseph. Der
Segen und die Freude des Jesuskindleins.
19. Dezember 1843
[JJ.01_097,01] Die Söhne Josephs gingen sogleich hinaus und brachten das
Mittagsmahl herein.
[JJ.01_097,02] Joseph aber sprach: „Was ist mit den dreien, werden sie mit uns
das Mittagsmahl halten, oder werden sie etwa lieber für heute in ihrem Gemache
speisen?
[JJ.01_097,03] Gehet hinaus und erkundiget euch darnach, und es soll ihnen
werden, wie sie es am liebsten haben wollen!“
[JJ.01_097,04] Und die Söhne gingen und fragten die drei; diese aber sprachen
nichts, sondern bedeuteten den Söhnen, daß sie vor dem Untergange nichts reden
und nichts zu sich nehmen werden, weder Speise noch Trank!
[JJ.01_097,05] Solches berichteten die Söhne dem Joseph, und Joseph war damit
zufrieden und sprach:
[JJ.01_097,06] „Wenn sich die drei das zu einer Gewissenssache gemacht haben, da
würden wir sündigen an ihnen, so wir sie nicht belassen möchten in der Treue
ihres Gelübdes!
[JJ.01_097,07] Setzen wir uns daher im Namen des Herrn nur zum Tische und
verzehren dankbar, was uns Gott bescheret hat!“
[JJ.01_097,08] Das vermeintliche Weib aber sprach: „O Herr dieses Hauses! – Du
bist zu gut, und ich habe keinen Wert; daher bin ich wohl nicht würdig, an
deinem Tische zu essen; an der Flur des Hauses will ich dankbarst verzehren, was
mir deine Güte bescheren wird!
[JJ.01_097,09] Zudem sind auch meine gar zu zerlumpten Kleider und mein
ungewaschener Leib wohl nicht schicklich für einen Tisch eines solchen Herrn,
wie du einer bist!“
[JJ.01_097,10] Joseph aber sprach zu den Söhnen: „Gehet und bringet vier große
Krüge Wassers; stellet sie ins Seitengemach der Maria!
[JJ.01_097,11] Du, Weib, aber gehe und wasche das Weib und kämme sie und ziehe
ihr deine besten Kleider an!
[JJ.01_097,12] Und wenn sie also köstlich und festlich ausgestattet sein wird,
dann führe sie hierher, damit sie mit uns ohne Scheu halte das Mittagsmahl!“
[JJ.01_097,13] In einer halben Stunde war der Wille Josephs vollzogen, und ganz
gereinigt stand nun an der Stelle des Weibes ein gar liebes, schüchternes und
überaus dankbares Mädchen da, in deren Gesicht nur noch die Spuren der
ehemaligen Traurigkeit zu sehen waren.
[JJ.01_097,14] Sie war ihren Zügen nach von großer Schönheit, und in ihren Augen
lag tiefe Demut, aber auch tiefe Liebe.
[JJ.01_097,15] Joseph hatte eine rechte Freude an diesem Kinde nun und sprach:
„O Herr, ich danke Dir, daß Du mich dazu ausersehen hast, diese Arme zu retten;
in Deinem allerheiligsten Namen will ich sie zur völligen Tochter aufnehmen!“
[JJ.01_097,16] Und zu den Söhnen sich wendend, sprach er: „Sehet an eure arme
Schwester, und grüßet sie als Brüder!“
[JJ.01_097,17] Mit viel Freuden taten das die Söhne Josephs, und am Ende sprach
auch das Kindlein:
[JJ.01_097,18] „Also, wie von euch, sei sie auch von Mir angenommen; das ist ein
gutes Werk und macht Mir viel Freude!“
[JJ.01_097,19] Als aber das Mädchen das Kindlein also reden hörte, da
verwunderte sie sich und sprach: „O Wunder! – was ist das, daß dies Kindlein
also redet wie ein Gott!?“ –
[JJ.01_098] 98. Kapitel – Die liebliche Szene zwischen dem Mädchen und dem
Kindlein. Die Gefahren des hl. Geheimnisses. Die Seligkeit und überschwengliche
Freude des Mädchens.
20. Dezember 1843
[JJ.01_098,01] Das Mädchen ging sogleich hin zum Kindlein und sprach:
[JJ.01_098,02] „O was bist Du doch für ein außerordentliches Wunderkind!
[JJ.01_098,03] Ja, Du bist dasselbe leuchtende Kindlein, von dem es mir so
wunderbar geträumt hat, daß Es die Mutter gebadet hatte und mir hernach dasselbe
Badewasser das Licht meiner Augen gab!
[JJ.01_098,04] Ja, ja, Du göttlich Kindlein! – Du gabst mir das Licht der Augen;
Du bist mein Heiland; Du bist der wahre Apollo von Delphi!
[JJ.01_098,05] Ja, Du bist in meinem Herzen schon jetzt mehr als alle Götter
Roms, Griechenlands und Ägyptens!
[JJ.01_098,06] Welch ein hoher göttlicher Geist muß in Dir wohnen, der Dir schon
so früh Deine Zunge gelöset hat, und der durch Dich schon jetzt so heilbringend
und mächtig wirkend sich zu erkennen gibt!? –
[JJ.01_098,07] Heil euch Menschen der Erde, die ihr samt mir in großer
Finsternis und Trübsal lebet!
[JJ.01_098,08] Hier ist die Sonne der Himmel, die euch Blinden, wie mir, die
Sehe wiedergeben wird!
[JJ.01_098,09] O Rom! du mächtige Bezwingerin der Erde, siehe, hier vor mir
lächelt der Held mich an, der dich in einen Schutthaufen umwandeln wird!
[JJ.01_098,10] Sein Panier wird Er über deinen Mauern aufpflanzen, und du wirst
zu Grabe gehen; wie da verwehet wird vom Sturme eine lose Spreu, so wirst du
verweht werden!“
[JJ.01_098,11] Das Kindlein aber bot dem Mädchen die Hand und verlangte zu ihr.
[JJ.01_098,12] Und das Mädchen nahm Es mit tausend Freuden zu sich und herzte
und kosete Es.
[JJ.01_098,13] Das Kindlein aber spielte mit den reichen Locken des Mädchens und
sprach dabei ganz leise zum Mädchen:
[JJ.01_098,14] „Glaubst du, Meine liebe Schwester, wohl den Worten, die du
ehedem ausgesprochen hast vor Mir, da Ich Mich noch auf den Armen Meines Bruders
befand?“
[JJ.01_098,15] Und das Mädchen sprach eben auch ganz leise zum Kindlein:
[JJ.01_098,16] „Ja, Du mein Heiland, Du mein Licht, Du meine erste Morgensonne!
– jetzt glaube ich um so fester, da Du mich darnach gefragt hast!“
[JJ.01_098,17] Und das Kindlein sprach darauf: „Wohl dir, daß du in deinem
Herzen also glaubst, wie du geredet hast!
[JJ.01_098,18] Aber das sage Ich dir, halte vorderhand nichts geheimer als eben
dieses dein Glaubensbekenntnis!
[JJ.01_098,19] Denn nie hat der Feind alles Lebens sein Ohr also gespitzt, als
gerade in dieser Zeit!
[JJ.01_098,20] Daher schweige von Mir, und verrate Mich ja nicht, wenn es dir
daran liegt, von diesem Feinde nicht für ewig getötet zu werden!“
[JJ.01_098,21] Das Mädchen aber gelobte solches allerkräftigst und ward in der
Zeit, da sie das Kindlein lockte, so ganz vollkommen jugendlich schön, daß sich
darob alle höchst zu verwundern anfingen; und das Mädchen konnte sich vor lauter
Seligkeit beinahe gar nicht helfen, ja so selig war sie, daß sie zu jauchzen und
zu kirren begann.
[JJ.01_099] 99. Kapitel – Des Cyrenius und Pillas Ankunft. Josephs Bericht über
das Mädchen. Des Cyrenius Werbung um die Adoptivtochter Josephs.
21. Dezember 1843
[JJ.01_099,01] Als das Mädchen noch in ihrer größten Freude sich befand, da kam
gerade der Cyrenius wieder in Gesellschaft des Maronius Pilla zum Joseph, wie er
es am vorigen Abende versprochen hatte.
[JJ.01_099,02] Joseph und Maria empfingen ihn mit großer, herzlichster Freude,
und der Cyrenius sprach:
[JJ.01_099,03] „O du mein erhabener Freund und Bruder, was habt ihr denn doch
erlebt, darob ihr zu meiner großen Freude so heiter seid?“
[JJ.01_099,04] Joseph aber wies den Cyrenius sogleich an das Mädchen und sprach:
[JJ.01_099,05] „Siehe, dort mit dem Kindlein auf dem Arme und in eine tiefe
Wonne versunken, siehst du den Gegenstand unserer Freude!“
[JJ.01_099,06] Cyrenius blickte das Mädchen näher an und sprach darauf zum
Joseph:
[JJ.01_099,07] „Hast du sie denn zu einer Kindsmagd angenommen? – Woher kam denn
diese schöne israelitische Maid?“
[JJ.01_099,08] Und der Joseph erwiderte dem vor Neugierde brennenden Cyrenius:
[JJ.01_099,09] „O hoher Freund! – siehe, ein Wunder brachte sie unter dies
Obdach! – Sie kam blind zu mir, aussehend wie ein betagtes allerärmstes
Bettelweib.
[JJ.01_099,10] Durch die Wundermacht des Kindleins aber bekam sie ihr Gesicht,
und es zeigte sich dann, daß sie erst eine Magd von kaum zwanzig Sommern ist,
und ist eine Waise, darum ich sie denn auch zu einer Tochter angenommen habe;
und das ist der so ganz eigentliche Grund unserer Freude!“
[JJ.01_099,11] Und der Cyrenius, das Mädchen mit stets größerem Wohlgefallen
betrachtend, während das Mädchen aus lauter Wonne den Cyrenius noch gar nicht
bemerkte, obschon er in seinem vollen Glanze gegenwärtig war, sprach zum Joseph:
[JJ.01_099,12] „O Freund, o Bruder! – wie sehr bedaure ich mich nun, daß ich ein
hoher römischer Patrizier bin!
[JJ.01_099,13] Fürwahr, ich gäbe alles darum, so ich ein Jude wäre und könnte
diese herrliche Jüdin von dir mir nun zum Weibe erbitten!
[JJ.01_099,14] Denn du weißt, daß ich ledig und kinderlos bin. O was könnte mir
so ein Weib, von dir gesegnet, sein!“
[JJ.01_099,15] Und der Joseph lächelte den Cyrenius an und fragte ihn: „Was
würdest du denn tun, so dies Mädchen keine Jüdin, sondern eine Römerin hohen
Standes wäre, dir gleich?
[JJ.01_099,16] So sie die einzige Tochter eines Patriziers wäre, deren Eltern
den Untergang in den Fluten des Meeres bei einer Fahrt nach Delphi fanden? – !“
[JJ.01_099,17] Hier sah der Cyrenius den Joseph ganz verblüfft an und sagte nach
einer stummen Weile:
[JJ.01_099,18] „O erhabener Freund und Bruder! Was sprichst du hier!? – Ich
bitte dich, erkläre dich deutlicher; denn die Sache scheint mich nahe
anzugehen!“
[JJ.01_099,19] Joseph aber sagte: „Mein hoher Freund! Siehe, es hat alles seine
Zeit; daher gedulde dich auch du hier ein wenig, und das Mädchen selbst wird dir
alles kundgeben!
[JJ.01_099,20] Du aber gebe mir kund vorderhand, wie es mit den ausgegrabenen
Leichen aus dem Schutte des Tempels aussieht!“
[JJ.01_100] 100. Kapitel – Cyrenius berichtet über die Wiederbelebung von
zweihundert Scheintoten. – Sein steigendes Interesse an dem fremden Mädchen.
Josephs Bedenken. Das dreifache Eherecht im alten Rom.
22. Dezember 1843
[JJ.01_100,01] Cyrenius aber sprach zum Joseph: „O Freund und Bruder! Kümmere
dich nicht der Leichen; denn in dieser Nacht sind bei zweihundert zum Leben
gebracht worden, und ich habe für ihr Unterkommen heute den ganzen Vormittag
gesorgt!
[JJ.01_100,02] Und sollten im Verlaufe der Schuttwegräumung noch mehrere
unversehrte Leichen vorgefunden werden, so wird für sie gesorgt sein wie für die
bisherigen.
[JJ.01_100,03] Siehe, das ist in kurzem das Ganze und ist bei weitem von keinem
so großen Interesse nun für mich als eben diese Maid, die nach deiner mir höchst
glaubwürdigen Aussage die Tochter eines verunglückten römischen Patriziers sein
soll!
[JJ.01_100,04] Lasse mich daher vorher genau in Erfahrung bringen, wie es mit
diesem Kinde steht, auf daß ich dann ja alles aufbieten kann, was zum Wohle
dieser Waise erforderlich ist.
[JJ.01_100,05] Siehe, wie ich dir schon ehedem gesagt habe, ich bin ledig und
habe keine Kinder; kann sie wohl besser versorgt werden, als so ich sie als ein
Bruder des Kaisers zum festen Weibe nehme!?
[JJ.01_100,06] Daher also liegt mir die Geschichte dieses Mädchens nun vor allem
stets mehr und mehr – und mehr am Herzen!
[JJ.01_100,07] Verschaffe mir daher nur sogleich die Gelegenheit, daß ich mich
mit diesem herrlichen Kinde bespreche und wohl berate!“
[JJ.01_100,08] Und der Joseph sprach zum Cyrenius: „Hoher Freund und Bruder! Du
sprichst da zu mir, daß du ledig seist, und hast doch in Tyrus selbst zu mir
geredet, daß du vermählt bist mit einem Weibe, – nur hast du keine Kinder mit
ihr!?
[JJ.01_100,09] Sage mir, wie solle ich das nehmen? – Du kannst dir wohl ein
zweites Weib nehmen, so das erste unfruchtbar ist; aber wie du als ein
vermählter Gatte noch ledig seist, fürwahr, das verstehe ich nicht! Darüber
erkläre dich deutlicher!“
[JJ.01_100,10] Und der Cyrenius lächelte bei dieser Gelegenheit und sprach:
„Lieber Freund! Ich sehe, daß du mit den Gesetzen Roms nicht vertraut bist;
daher muß ich dir schon einen näheren Aufschluß erteilen, – und so höre mich
denn!
[JJ.01_100,11] Siehe, wir Römer haben ein dreifaches Eherecht; zwei darunter
sind nicht bindend, nur eines ist bindend.
[JJ.01_100,12] Laut der zwei nicht bindenden Gesetze kann ich mich vermählen
wohl mit einer Sklavin sogar; ich habe aber darum dennoch kein festes Weib,
sondern nur eine gesetzlich erlaubte Beischläferin, und ich bin dabei ledig noch
und kann mir allzeit ein standesmäßiges rechtes Weib nehmen.
[JJ.01_100,13] Der Unterschied der ersten zwei nicht bindenden Gesetze besteht
bloß darin, daß ich im ersten Falle mir bloß eine Konkubine nehmen kann, ohne
die geringste Verbindlichkeit, sie je zum rechtmäßigen Weibe zu nehmen.
[JJ.01_100,14] Im zweiten Falle aber kann ich auch die Tochter von einem
standesmäßigen Hause mir bloß von ihren Eltern anbinden lassen unter der
Bedingung, sie zum rechtmäßigen Weibe zu nehmen, so ich mit ihr ein bis drei
lebende Kinder erzeuge, darunter wenigstens eines ein Knabe ist.
[JJ.01_100,15] Im dritten Falle tritt dann erst das festbindende Gesetz ein,
laut dem ich erst vor dem Altare Hymens von einem dazu bestimmten Priester mit
einem rechtmäßigen Weibe fest verbunden werde und dann nicht mehr ledig, sondern
verheiratet bin.
[JJ.01_100,16] Also hebt bei uns weder die Vermählung (nuptias capere), noch die
examinative Ehe (patrimonium), sondern allein die wirkliche Verheiratung (uxorem
ducere) den ledigen Stand auf nach den Gesetzen, wie sie jetzt bestehen.
[JJ.01_100,17] Also können wir nuptias capere, patrimonium facere und uxorem
ducere, und nur das Letzte hebt das Ledigsein auf.
[JJ.01_100,18] Siehe, darum auch bin ich um so mehr ledig, da ich mit der
Konkubine keine Kinder erzeugen kann, und wäre sogar dann noch ledig, so ich mit
ihr Kinder hätte, weil die Konkubinat-Kinder bei uns kein Recht auf den Vater
haben, außer der Vater adoptiert sie mit des Kaisers Einwilligung!
[JJ.01_100,19] Nun weißt du alles, daher ersuche ich dich, mich nun mit der
Geschichte dieses Mädchens näher vertraut zu machen; denn ich bin nun vollkommen
entschlossen, mich mit ihr sogleich vollkommen zu verheiraten!“
[JJ.01_100,20] Als der Joseph das vom Cyrenius vernommen hatte, da sprach er:
„Wenn also, dann will ich selbst zuvor das Mädchen unterrichten und vorbereiten,
auf daß sie ein solcher Antrag nicht schwäche oder gar töte!“
[JJ.01_101] 101. Kapitel – Tullia lernt Cyrenius kennen. Eine wunderbare
Entdeckung: Tullia, die Base und Jugendliebe des Cyrenius. Cyrenius gerührt.
23. Dezember 1843
[JJ.01_101,01] Darauf ging der Joseph hin zum immer noch mit dem Kindlein
beschäftigten Mädchen, zupfte sie am Ärmel und sprach zu ihr:
[JJ.01_101,02] „Höre, meine teure Tochter, hast du denn im Ernste noch nicht
bemerkt, wer sich nun hier befindet? – Blicke doch einmal auf und sehe!“
[JJ.01_101,03] Hier erwachte das Mädchen aus ihrer Wonne und ersah den
glänzenden Cyrenius.
[JJ.01_101,04] Sie erschrak förmlich und fragte ganz ängstlich: „O du mein
lieber Vater Joseph, wer ist dieser gar so stark glänzende Mann? – Was will er
hier? Woher kam er denn?!“
[JJ.01_101,05] Und der Joseph sprach zum Mädchen: „O fürchte dich nicht, meine
Tochter Tullia! – Siehe, das ist der überaus gute Cyrenius, ein Bruder des
Kaisers und Statthalter von Asien und einem Teile Afrikas!
[JJ.01_101,06] Dieser wird deine Sache in Rom sicher in die beste Ordnung
bringen; denn du bist ihm schon beim ersten Anblicke sehr teuer geworden!
[JJ.01_101,07] Gehe aber hin, und bitte ihn um Gehör, und trage ihm deine ganze
Lebensgeschichte vor, und sei versichert, daß du nicht zu tauben Ohren wirst
geredet haben!“
[JJ.01_101,08] Das Mädchen aber sprach: „O du mein lieber Vater! Das getraue ich
mir nicht; denn ich weiß, so ein Herr prüft ganz entsetzlich strenge bei solchen
Gelegenheiten, und hat er irgendeinen Punkt erfahren, der sich nicht erweisen
läßt, da droht er einem gleich mit dem Tode!
[JJ.01_101,09] Wie es mir in meiner Armut schon einmal ergangen ist, da mich
sicher auch ein solcher Herr zu examinieren hatte angefangen, woher ich wäre.
[JJ.01_101,10] Und als ich ihm alles getreu kundgab, da forderte er dann gar
strenge Beweise von mir.
[JJ.01_101,11] Da ich ihm aber solche in meiner gänzlichen Verwaistheit und
blanksten Armut nicht herzustellen vermochte, da gebot er mir das gestrengste
Schweigen und drohte mir mit dem Tode, so ich noch mehr davon zu jemandem reden
möchte.
[JJ.01_101,12] Ich bitte dich darum, verrate auch du mich nicht, sonst bin ich
sicher verloren!“
[JJ.01_101,13] Hier trat der Cyrenius, der diese leise Unterredung vernommen
hatte, hin zur Tullia und sprach zu ihr:
[JJ.01_101,14] „O Tullia! Fürchte den nicht, der ja alles aufbieten will, um
dich so glücklich als möglich zu machen!
[JJ.01_101,15] Sage mir nichts als nur den Namen deines Vaters, so du ihn dir
noch gemerkt hast, und mehr brauche ich nicht.
[JJ.01_101,16] Doch fürchte ja nichts, wenn dir auch der Name deines Vaters
entfallen wäre; du bleibst mir gleich teuer darum, daß du nun eine Tochter
dieses meines größten Freundes bist!“
[JJ.01_101,17] Hier bekam die Tullia schon mehr Mut und sprach zum Cyrenius:
„Wahrlich, wenn mich dein sanftes Auge täuscht, so ist die ganze Welt eine Lüge!
Ich will dir daher ja wohl sagen, wie mein guter Vater hieß.
[JJ.01_101,18] Siehe, sein Name war Victor Aurelius Dexter Latii; – so du ein
Bruder des Kaisers bist, da muß dieser Name dir nicht fremd sein.“
[JJ.01_101,19] Als der Cyrenius diesen Namen vernommen hatte, da ward er
sichtbar gerührt und sprach mit gebrochener Stimme:
[JJ.01_101,20] „O Tullia, das war ja ein rechter Bruder meiner Mutter! – Ja, ja,
von dem weiß ich ja, daß er mit einem rechtmäßigen Weibe eine blindgeborne
Tochter hatte, die er über alles liebte!
[JJ.01_101,21] O wie oft habe ich ihn beneidet um sein Glück, das eigentlich ein
Unglück war! – Aber ihm war die blinde Tullia mehr als die ganze Welt!
[JJ.01_101,22] Ja ich selbst war in diese Tullia, da sie noch kaum vier bis fünf
Jahre alt war, ganz verliebt und habe oft bei mir geschworen, diese oder sonst
keine soll mein rechtes Weib werden dereinst!
[JJ.01_101,23] Und – o Gott! – nun finde ich dieselbe himmlische Tullia hier im
Hause meines himmlischen, göttlichen Freundes!
[JJ.01_101,24] O Gott, o Gott! – das ist zuviel Lohnes auf einmal für einen
schwachen Sterblichen um das Wenige, das ich, ein Nichts vor Dir, o Herr, tat!“
– Hier sank der schwachgewordene Cyrenius auf einen Stuhl und faßte sich nach
einer Weile erst wieder zur ferneren Rede mit der Tullia.
[JJ.01_102] 102. Kapitel – Cyrenius wirbt um die Hand Tullias. Seine Prüfung
durch Tullia. Ein Evangelium der Ehe.
27. Dezember 1843
[JJ.01_102,01] Nach der Erholung sprach der Cyrenius wieder zur Tullia: „Tullia!
Möchtest du mir denn nicht die Hand reichen und werden mein rechtmäßiges Weib,
so ich dich dazu aus dem tiefsten Grunde meines Herzens erbitten würde?“
[JJ.01_102,02] Und die Tullia sprach: „Was möchtest du mir wohl tun, so ich dir
solches verweigern würde?“
[JJ.01_102,03] Und der Cyrenius sprach etwas erregt, aber immer aus dem besten
Herzen:
[JJ.01_102,04] „Dann würde ich es Dem aufopfern, den du auf deinen Armen hältst,
und würde sodann traurig ziehen von dannen!“
[JJ.01_102,05] Und die Tullia fragte den Cyrenius weiter, sagend nämlich: „Was
würdest du denn dann tun, so ich Den, der nun auf meinen Armen ruht, um einen
Rat fragen würde, was ich tun solle,
[JJ.01_102,06] und Er widerriete mir, anzunehmen deinen Antrag, und hieße mich
treu verbleiben dem Hause, das mich so überaus freundlichst aufgenommen hat!?“
[JJ.01_102,07] Und der Cyrenius stutzte bei dieser Frage ein wenig, sprach aber
dennoch etwas verlegen:
[JJ.01_102,08] „Ja dann, du meine herrlichste Tullia, – dann müßte ich freilich
ohne Widerrede sobald abstehen von meinem Verlangen!
[JJ.01_102,09] Denn gegen den Willen Dessen, dem alle Elemente gehorchen, kann
sich der sterbliche Mensch ewig nimmer auflehnen!
[JJ.01_102,10] O frage das Kindlein aber ja sogleich, auf daß ich ja ehestens
erfahre, wie ich daran bin!“
[JJ.01_102,11] Das Kindlein aber richtete Sich sogleich auf und sprach: „Ich bin
nicht ein Herr dessen, was der Welt ist; daher seid ihr von Mir aus in allem
Weltlichen frei.
[JJ.01_102,12] Habt ihr aber wahre Liebe in euren Herzen zueinander gefaßt, da
sollet ihr dieselbe nicht brechen!
[JJ.01_102,13] Denn es gibt bei Mir kein anderes Gesetz für die Ehe, als welches
da mit glühender Schrift geschrieben steht in euren Herzen!
[JJ.01_102,14] Habt ihr euch aber schon beim ersten Anblicke laut dieses
lebendigen Gesetzes erkannt und verbunden, da sollet ihr euch auch nicht mehr
trennen, so ihr nicht sündigen wollet vor Mir!
[JJ.01_102,15] Ich halte aber kein weltlich Eheband für gültig, sondern allein
das des Herzens;
[JJ.01_102,16] wer dieses bricht, der ist ein wahrhaftiger Ehebrecher vor Mir!
[JJ.01_102,17] Du, Mein Cyrenius, hast zu dieser Tochter dein Herz gar mächtig
gefaßt; daher sollst du es nicht mehr abwenden von ihr!
[JJ.01_102,18] Und du, Tochter, aber warst beim ersten Anblicke brennend schon
in deinem Herzen zum Cyrenius, darum bist du schon sein Weib vor Mir und
brauchst nicht erst eines zu werden!
[JJ.01_102,19] Denn bei Mir gilt nicht äußerer Rat oder Widerrat, sondern allein
der Rat eurer Herzen ist bei Mir gültig.
[JJ.01_102,20] Bleibet sonach diesem für ewig getreu, wollt ihr nicht zu
wahrhaftigen Ehebrechern werden vor Mir!
[JJ.01_102,21] Verflucht aber sei ein Widerräter aus weltlichen Gründen in der
Sache der Liebe, die von Mir ist!
[JJ.01_102,22] Was ist denn mehr: die lebendige Liebe, die aus Mir ist, oder der
weltliche Grund, der aus der Hölle ist?
[JJ.01_102,23] Wehe aber auch der Liebe, deren Grund die Welt ist; sie sei
verflucht!“ –
[JJ.01_102,24] Diese Worte des Kindleins machten, daß sich alle entsetzten, und
niemand getraute sich weiter etwas zu reden in der Sache der Ehe.
[JJ.01_103] 103. Kapitel – Das göttliche Kind erklärt das lebendige Ehegesetz.
Die Liebe des Kopfes und die Liebe des Herzens. Die Verbindung der beiden
Liebenden durch das Kindlein. Tullias Bekenntnis von der Gottheit im Kindlein.
28. Dezember 1843
[JJ.01_103,01] Da aber alle auf diese Rede des Kindleins ganz bestürzt vor sich
hinblickten und niemand etwas zu reden sich getraute, da öffnete auf einmal das
Kindlein wieder den Mund und sprach:
[JJ.01_103,02] „Was steht ihr alle denn nun so traurig um Mich herum? Habe Ich
euch doch nichts zuleide getan!
[JJ.01_103,03] Dir, Mein Cyrenius, gab Ich, danach dein Herz dürstete, und also
auch dir, du liebe Tullia; was wollt ihr denn mehr?
[JJ.01_103,04] Solle Ich denn etwa den lebendigen Ehebruch gutheißen, während
doch ihr Menschen auf den toten die Todesstrafe gesetzt habet?
[JJ.01_103,05] Welch ein Verlangen wohl wäre das?! Ist denn das, was im Leben
vorgeht, nicht mehr, als was im Tode gerichtet ist?
[JJ.01_103,06] Ich meine, des sollet ihr euch wohl freuen, aber nicht trauern,
darum es also ist!
[JJ.01_103,07] Wer da liebt, liebt der im Herzen oder im Kopfe?
[JJ.01_103,08] Ihr aber habt eure Ehegesetze nicht dem Herzen, sondern nur dem
Kopfe entlockt!
[JJ.01_103,09] Das Leben aber ist nur im Herzen und geht vom selben in alle
Teile des Menschen aus, und somit auch in den Kopf, welcher in sich kein Leben
hat, sondern tot ist.
[JJ.01_103,10] So ihr aber schon die Gesetze des Kopfes mit dem Tode
sanktionieret, die samt dem Kopfe tot sind, um wieviel billiger ist es dann, die
lebendigen ewigen Gesetze des Herzens zu respektieren!
[JJ.01_103,11] Daher aber freuet euch, daß Ich als der Lebendige unter euch die
Gesetze des Lebens festhalte; denn täte Ich solches nicht, so wäre über euch
alle schon lange der ewige Tod gekommen!
[JJ.01_103,12] Darum aber kam Ich in die Welt, auf daß durch Mich alle die Werke
und Gesetze des Todes vernichtet werden und an ihre Stelle treten müssen die
alten Gesetze des Lebens!
[JJ.01_103,13] So Ich euch aber im voraus zeige, was da sind die Gesetze des
Lebens, und was die des Todes, was Leids wohl tue Ich euch dadurch, daß ihr
darob trauert und euch vor Mir fürchtet, als hätte Ich euch anstatt des Lebens
den Tod gebracht?!
[JJ.01_103,14] O ihr Törichten! In Mir ist das alte ewige Leben zu euch
gekommen; daher freuet euch und seid nimmerdar traurig!
[JJ.01_103,15] Und du, Mein Cyrenius, nehme hin das Weib, das Ich dir gebe; und
du, Tullia, nehme den Mann, den Ich dir zugeführt habe vollernstlich; nur sollet
ihr euch nimmer verlassen!
[JJ.01_103,16] Wenn euch aber des Leibes Tod getrennt wird haben, dann solle der
überlebende Teil frei sein dem Außen nach, aber die Liebe solle währen ewiglich,
Amen.“
[JJ.01_103,17] Diese Worte des Kindleins setzten alle ins größte Erstaunen;
[JJ.01_103,18] und die Tullia sprach, ganz zitternd vor der größten Ehrfurcht:
[JJ.01_103,19] „O Menschen! Dieses Kind ist kein Menschenkind, sondern Es ist
die höchste Gottheit Selbst!
[JJ.01_103,20] Denn also kann kein Mensch, sondern nur ein Gott reden; nur ein
Gott als das Grundleben Selbst kann die Gesetze des Lebens kennen und kann sie
in uns erwecken!
[JJ.01_103,21] Wir Menschen aber sind alle tot; wie könnten wir da die Gesetze
des Lebens finden und dieselben als solche setzen?
[JJ.01_103,22] O Du überheiliges Kindlein, jetzt erst erkenne ich klar, was ich
ehedem dunkel geahnt habe: Du bist der Herr Himmels und der Erde von Ewigkeit! – Dir sei daher auch alle meine Anbetung!“
[JJ.01_104] 104. Kapitel – Des Cyrenius Bitte um des Kindleins Segen. Des
Kindleins Forderung an Cyrenius, auf Eudokia um der Tullia willen zu verzichten.
Cyrenius' innerer Kampf. Des Kindleins fester Wille. Eudokia wird in das Haus
Josephs gebracht.
29. Dezember 1843
[JJ.01_104,01] Diese hohe Sprache von Seite der Tullia hatte den Cyrenius ganz
begeistert, und er trat hin zur Tullia, die noch das Kindlein auf den Armen
hielt, und sprach in der höchsten Rührung zum Kindlein:
[JJ.01_104,02] „O Du mein Leben, Du wahrer Gott meines Herzens! Da Du mich denn
schon mit diesem Mädchen also gnädigst verbunden hast, so bitte ich, ein armer
Sünder, Dich denn auch um Deinen Segen, dem ich getreu verbleiben werde mein
Leben lang!“
[JJ.01_104,03] Und das Kindlein richtete sich sobald auf und sprach: „Ja, du
Mein lieber Cyrenius, dich segne Ich mit deinem Weibe Tullia!
[JJ.01_104,04] Aber das Weib, das bis jetzt deine Vermählte war, die mußt du
dafür Mir geben!
[JJ.01_104,05] Denn tätest du solches nicht, so bliebest du vor Mir in der Sünde
des Ehebruchs; denn du hast das Weib geliebt – und liebst es noch sehr!
[JJ.01_104,06] So du aber Mir das Weib überlieferst und sie ganz Mir gibst und
opferst, so hast du Mir auch deine Sünde gegeben.
[JJ.01_104,07] Ich aber bin ja darum in diese Welt gekommen, daß Ich alle Sünde
der Menschen der Welt auf Mich nehme und sie tilge durch Meine Liebe vor Ihrem
göttlichen Angesichte auf ewig! – Also geschehe es!“
[JJ.01_104,08] Und der Cyrenius stutzte anfangs ein wenig bei dieser
Aufforderung; denn seine Vermählte war eine überaus schöne griechische Sklavin,
die er um teures Geld erkauft hatte.
[JJ.01_104,09] Er liebte sie wegen ihrer großen Schönheit sehr, obschon er mit
ihr keine Kinder hatte.
[JJ.01_104,10] Diese Griechin war zwar schon dreißig Jahre alt, aber sie war
dessenungeachtet noch so schön, daß sie von den geringen Heiden als eine
förmliche Venus angebetet ward.
[JJ.01_104,11] Darum war diese Aufforderung für unseren guten Cyrenius etwas
stark, und es wäre ihm viel lieber gewesen, wenn sie nicht erfolgt wäre.
[JJ.01_104,12] Aber das Kindlein ließ Sich dadurch nicht irremachen, sondern
bestand fest auf Seiner Forderung.
[JJ.01_104,13] Da aber der Cyrenius sah, daß das Kindlein von Seiner Forderung
durchaus nicht weichen wollte, so sprach er zum Kindlein:
[JJ.01_104,14] „O Du mein Leben! Siehe, meine Vermählte, die schöne Eudokia, ist
mir sehr ins Herz gewachsen, und ich werde sie sehr schwer missen!
[JJ.01_104,15] Fürwahr, so es tunlich wäre, möchte ich eher Dir die Tullia
lassen, als die gar so schöne Eudokia hintangeben!“
[JJ.01_104,16] Das Kindlein aber lächelte den Cyrenius an und sprach zu ihm:
„Hältst du Mich denn für einen Tauschkrämer?
[JJ.01_104,17] O siehe, das wohl bin Ich nicht! – Oder hältst du Mich für ein
Wesen, das mit sich um ein ausgesprochenes Wort handeln läßt?
[JJ.01_104,18] O da sage Ich dir, so du zu Mir sprächest: ,Lasse vergehen den
ganzen sichtbaren Himmel und die sichtbare Erde!‘, so würde Ich dir eher Gehör
geben, als daß Ich zurücknähme ein einmal ausgesprochenes Wort!
[JJ.01_104,19] Wahrlich sage Ich dir: Sonne, Mond und Sterne und diese Erde
werden vergehen, wie ein Kleid werden sie veralten und so zunichte werden; aber
Meine Worte ewig nimmer!
[JJ.01_104,20] Daher wirst du auch sobald die Eudokia hierher bringen lassen und
dann erst empfangen die Tullia, gesegnet von Mir.
[JJ.01_104,21] Wirst du dich aber sträuben, da lasse Ich dir die Eudokia sterben
– und gebe dir dann die Tullia nimmer.
[JJ.01_104,22] Denn was du tust, mußt du frei tun; eine gerichtete Tätigkeit hat
vor Mir keinen Wert!
[JJ.01_104,23] Stirbt die Eudokia, dann bist du schon gerichtet mit ihrem Tode
und kannst nicht mehr der Mann der Tullia werden.
[JJ.01_104,24] Opferst du Mir aber frei die Eudokia, dann bist du wahrhaft frei,
und die Tullia kann dein rechtes Weib sein!
[JJ.01_104,25] Zwei Weiber aber kannst du zufolge Meiner Ordnung nicht haben;
denn im Anfange ward nur ein Mann und ein Weib erschaffen.
[JJ.01_104,26] Also tue, wie Ich nun zu dir geredet habe, auf daß da nicht ein
Gericht über dich komme!“
[JJ.01_104,27] Diese Worte des Kindes brachten den Cyrenius zu dem plötzlichen
Entschlusse, die Eudokia aus der Stadt holen zu lassen;
[JJ.01_104,28] denn er hatte sie mitgenommen von Tyrus, ließ sie aber niemanden
sehen, auf daß da ja auch niemand von ihren großen Reizen solle bestochen
werden.
[JJ.01_104,29] Aber dennoch vertraute er sie selbst jetzt noch niemand anderem
an als allein dem ältesten Sohne Josephs und dem Maronius Pilla.
[JJ.01_104,30] Diese beiden gingen im Geleite der Leibwache des Cyrenius hin in
die Residenz des Cyrenius und brachten gar bald die schöne Eudokia in die
Wohnung des Joseph; die Eudokia aber verwunderte sich sehr darüber und wußte
nicht, wie es kam, daß sie der Cyrenius nun zum ersten Male durch fremde Männer
holen ließ.
[JJ.01_105] 105. Kapitel – Des Cyrenius nochmalige Bitte um Belassung der
Eudokia. Des Kindleins Nein. Eudokias Aufbegehren. Der Sieg des Geistes in
Cyrenius. Marias Trostworte an die Eudokia.
30. Dezember 1843
[JJ.01_105,01] Als der Cyrenius nun die Eudokia gegenüber der Tullia ersah, da
fand er, daß sie bedeutend schöner war als die Tullia, und es tat ihm weh, sich
nun für immer von ihr zu trennen.
[JJ.01_105,02] Und er fragte darum das Kindlein noch einmal, ob er sie nicht
wenigstens als Magd und als Gesellschafterin der Tullia bei sich behalten dürfe.
[JJ.01_105,03] Das Kindlein aber sprach: „Mein Cyrenius! Du kannst so viele
Mägde, als du willst, in dein Haus nehmen,
[JJ.01_105,04] aber nur die Eudokia nicht! Diese mußt du hier lassen, und das
darum, weil Ich es zu deinem Wohle also haben will!“
[JJ.01_105,05] Als aber die Eudokia solches sah und gar wohl vernahm, wie dieses
unmündige Kindlein dem Cyrenius gebieterisch antwortete,
[JJ.01_105,06] da entsetzte sie sich und sprach: „Aber um aller Götter willen,
was ist denn das?! – Ein unmündiges Kind gebietet dem, vor dem Asien und Ägypten
zittert, so er spricht!
[JJ.01_105,07] Und der große Gebieter hört ängstlich an das so entschieden
gebietende Kind und fügt sich willig nach dessen Ausspruche?!
[JJ.01_105,08] Wie ich höre, so solle ich mich von Cyrenius trennen, damit eine
andere meinen Platz einnehme!
[JJ.01_105,09] O das wird so leicht nicht geschehen, als da etwa gar dieses
unmündige Kind meint!
[JJ.01_105,10] Es wäre für dich, du mächtiger Cyrenius, denn doch eine barste
Schande, so du dich etwa gar von diesem Kinde befehligen möchtest lassen; daher
sei ein Mann und ein Römer!“
[JJ.01_105,11] Als der Cyrenius aber solches von der Eudokia vernommen hatte, da
erregte er sich und sprach:
[JJ.01_105,12] „Ja, Eudokia! Gerade jetzt werde ich dir zeigen, daß ich ein Mann
und ein Römer bin!
[JJ.01_105,13] Siehe, so dieses Kind, das die Tullia lockt, auch nicht
göttlicher Abkunft wäre und Es möchte zu mir nahe also reden, so würde ich Ihm
folgen!
[JJ.01_105,14] Dieses Kind aber ist von der allerhöchsten göttlichen Abkunft,
und so will ich Ihm um so mehr folgen, was immer Es von mir will!
[JJ.01_105,15] Was wohl wird dir lieber sein: zu tun, was dies Kind aller Kinder
will, oder zu sterben für ewig?“
[JJ.01_105,16] Diese Worte des Cyrenius an die Eudokia waren von großer Wirkung.
[JJ.01_105,17] Sie fing zwar an zu weinen, darum sie nun auf einmal so viel
Herrlichkeit verlassen müßte,
[JJ.01_105,18] aber sie dachte dabei, wie sich eines Gottes Rat nicht mehr
abändern läßt; und so ergab sie sich in diese Fügung.
[JJ.01_105,19] Es trat aber die Maria zur Eudokia hin und sprach zu ihr:
„Eudokia! – traure nicht ob diesem Tausche!
[JJ.01_105,20] Denn du gabst nur eine gar geringe Herrlichkeit hin, um für sie
eine gar große andere zu empfangen!
[JJ.01_105,21] Siehe, auch ich bin eines Königs Tochter, aber die königliche
Herrlichkeit ist lange vergangen, und siehe, nun bin ich eine Magd des Herrn,
und das ist eine größere Herrlichkeit als alles Königtum der Welt!“
[JJ.01_105,22] Diese Worte wirkten gar mächtig auf die Eudokia, und sie fing an
Herz zu fassen im Hause Josephs.
[JJ.01_106] 106. Kapitel – Eudokia verlangt nach Licht über das Kind. Maria
mahnt zur Geduld. Das Jesuskind auf den Armen der Eudokia und im Gespräch mit
ihr.
2. Januar 1844
[JJ.01_106,01] Es fragte aber die Eudokia die Maria, woher es denn komme, daß
dies Kindlein so voll Wunderkraft und so höchst göttlicher Natur sei.
[JJ.01_106,02] Und wie es denn gekommen wäre, daß nun der Cyrenius gar so sehr
von den Worten des Kindleins abhänge.
[JJ.01_106,03] Maria aber sprach zur Eudokia gar holdseligst: „Liebe Eudokia!
Siehe, es läßt sich nicht ein jeder Prügel übers Knie brechen!
[JJ.01_106,04] Jedes Ding braucht seine Zeit und seine Weile; mit der lieben
Geduld kommen wir am weitesten!
[JJ.01_106,05] Wirst du erst eine Zeit bei mir sein, da wirst du schon alles
erfahren; vorderhand aber glaube, daß dies Kind größer ist als alle Helden und
Götter Roms!
[JJ.01_106,06] Hast du vorgestern nicht verspürt die große Macht des Sturmes?
[JJ.01_106,07] Siehe, dieser kam aus der mächtigen Hand Dessen, den noch die
Tullia locket!
[JJ.01_106,08] Siehe, was aber die Gewalt dieses Sturmes mit den Tempeln in der
Stadt tat, das könnte sie auch tun mit der ganzen Erde!
[JJ.01_106,09] Nun weißt du vorderhand genug und darfst nicht mehr wissen deines
Heiles willen;
[JJ.01_106,10] wann du aber reifer wirst, dann wirst du auch mehr erfahren!
[JJ.01_106,11] Darum bitte ich dich auch um deines Heiles willen, daß du davon
schweigest vor jedermann; redest du aber davon, so wirst du gerichtet werden!“
[JJ.01_106,12] Diese Worte Marias brachten die Eudokia zur Ruhe, und sie fing an
bei sich gar sehr darüber nachzudenken, was sie von der Maria vernommen hatte.
[JJ.01_106,13] Maria aber ging hin zur Tullia und nahm ihr das Kindlein wieder
von den Armen, und sprach zu ihr:
[JJ.01_106,14] „Siehe, dich hat dies mein Söhnchen schon gesegnet, und du wirst
darum glücklich sein für immer!
[JJ.01_106,15] Dort aber ist die arme Eudokia; diese hat bis jetzt noch nicht
die endlos große Wohltat des Kindleinssegens empfunden! Daher will ich das
Kindlein auch auf die Arme der Eudokia legen, auf daß sie empfinde, welche Macht
aus dem Kindlein geht!“
[JJ.01_106,16] Darauf trug die Maria das Kindlein zur Eudokia hin und sprach zu
ihr:
[JJ.01_106,17] „Hier – Eudokia, ist mein und dein Heil! Nehme es auf eine kurze
Zeit auf deine Arme und empfinde, wie süß es ist, eine Mutter solch eines Kindes
zu sein!“
[JJ.01_106,18] Mit großer Ehrfurcht nahm die Eudokia das Kindlein auf ihre Arme;
[JJ.01_106,19] aber sie fürchtete dies geheimnisvollste Kind und getraute sich
dabei kaum zu rühren.
[JJ.01_106,20] Das Kindlein aber lächelte und sprach: „O Eudokia! fürchte dich
nicht vor Mir; denn Ich bin nicht dein Verderber, sondern dein Heiland!
[JJ.01_106,21] In der Kürze der Zeit aber wirst du Mich schon besser
kennenlernen, als du Mich jetzt kennst!
[JJ.01_106,22] Dann wirst du Mich nicht mehr fürchten, sondern lieben, wie Ich
dich liebe!“ – Diese Worte benahmen der Eudokia die Furcht, und sie fing an, das
Kindlein zu herzen und zu kosen.
[JJ.01_107] 107. Kapitel – Des Cyrenius Dank. Der Edelmut und die Weisheit des
bescheidenen Joseph. Cyrenius übergibt acht arme Kinder an Joseph zur Erziehung.
3. Januar 1844
[JJ.01_107,01] Nun aber sprach der Cyrenius zum Joseph: „Erhabener Freund und
Bruder! Ich habe nun in deinem Hause mein größtes Glück in jeder Hinsicht
gemacht; sage nun, welchen Lohn du für dich von mir verlangst?!
[JJ.01_107,02] O sage, wie kann ich es dir nur im geringsten Maße vergelten, was
alles du an mir getan hast?!
[JJ.01_107,03] Bringe aber ja etwa nicht diese Villa in den Anschlag, welche als
Lohn für dich wohl etwas zu Geringes und zu Elendes ist!“
[JJ.01_107,04] Und der Joseph sprach: „O Bruder und Freund, was wohl hältst du
von mir?!
[JJ.01_107,05] Meinst du denn, ich sei ein Wohltatskrämer und tue Gutes nur
eines Lohnes wegen?
[JJ.01_107,06] O wie groß irrest du dich da, wenn du solches von mir glaubst!
[JJ.01_107,07] Siehe, ich kenne nichts Elenderes als einen bezahlten Wohltäter
und eine bezahlte Wohltat!
[JJ.01_107,08] Wahrlich! ich sei verflucht und der Tag und die Stunde, in der
ich geboren ward, so ich von dir auch nur einen Stater annehmen möchte!
[JJ.01_107,09] Nehme du daher nur ganz wohlgemut dein Weib zu dir, die
gereinigte Tullia; was du ihr und noch so manchen Armen tun wirst, das werde ich
allzeit als einen guten Lohn für meine Taten an dir ansehen und annehmen!
[JJ.01_107,10] Dieses Haus doch verschone mit jeder Dotation; denn was ich habe,
ist genug für uns alle – wozu solle da ein mehreres?
[JJ.01_107,11] Du meinst etwa, ich werde für die Eudokia irgendein Kostgeld von
dir verlangen? – Oh – des sei ruhig!
[JJ.01_107,12] Ich nehme sie auf als eine Tochter und werde sie erziehen in der
Gnade Gottes.
[JJ.01_107,13] Wo aber ist wohl der Vater, der sich für die Erziehung seiner
Tochter je noch von jemandem hätte etwas zahlen lassen?!
[JJ.01_107,14] Ich sage dir, Eudokia ist mehr wert als alle Welt; daher gibt es
auf der Welt auch keinen Lohn, der mir nun um sie annehmbar geboten werden
könnte.
[JJ.01_107,15] Der große Lohn aber, den ich für all mein Tun habe, siehe, der
liegt nun in den Armen der Eudokia!“
[JJ.01_107,16] Als aber der Cyrenius diese große Uneigennützigkeit Josephs
ersah, da sprach er höchst gerührt:
[JJ.01_107,17] „Wahrlich, vor Gott und allen Menschen der Erde stehest du allein
da als ein Mensch aller Menschen!
[JJ.01_107,18] Dich mit Worten zu rühmen, wäre eine vergebliche Mühe; denn du
bist über jedes Menschenwort erhaben!
[JJ.01_107,19] Ich aber weiß, was ich tun werde, um dir zu zeigen, wie überaus
hoch ich dich achte und schätze.
[JJ.01_107,20] Ein Geschenk werde ich dir machen, das du sicher nicht von dir
abweisen wirst!
[JJ.01_107,21] Siehe, ich habe in Tyrus drei Mädchen und fünf Knaben von ganz
dürftigen Eltern, die aber schon verstorben sind!
[JJ.01_107,22] Diese lieben Kinder werde ich hierher zu dir bringen lassen, auf
daß sie von dir erzogen werden!
[JJ.01_107,23] Daß ich für ihren Unterhalt sorgen werde, des kannst du vollends
versichert sein.
[JJ.01_107,24] Wirst du mir auch das abschlagen? – Nein, Joseph, du mein
erhabenster Bruder, das wirst du sicher nicht tun!“
[JJ.01_107,25] Und der Joseph sprach ganz gerührt: „Nein, Bruder, das werde ich
dir nimmer versagen! Sende diese Kinder daher nur so bald als möglich hierher;
sie sollen bestens versorgt werden in allem, was ihnen not tut!“
[JJ.01_108] 108. Kapitel – Des Cyrenius Bedenken wegen der Einsegnung der Ehe
durch einen Oberpriester des Hymen. Josephs guter Rat und des Cyrenius große
Freude.
4. Januar 1844
[JJ.01_108,01] Cyrenius, durch diese Versicherung Josephs ganz
zufriedengestellt, sagte darauf zum Joseph:
[JJ.01_108,02] „Erhabenster Freund! nun ist ein jeder meiner Wünsche erfüllt,
und ich habe nun nichts mehr, das ich wünschen möchte!
[JJ.01_108,03] Nur ein fataler Umstand waltet noch neben meinem großen Glücke,
und dieser besteht darinnen:
[JJ.01_108,04] Tullia, die himmlische, ist nun zwar von Gott aus gesegnet mein
rechtmäßiges Weib; aber siehe, ich bin dem Außen nach noch ein Römer und muß
daher auch des Volkes wegen mich von einem Priester zeugnisweise förmlich
einsegnen lassen!
[JJ.01_108,05] Eine solche Einsegnung aber kann nur von einem Oberpriester des
Hymen vorgenommen werden, wodurch sie dann erst ein rechtskräftiges Bündnis
wird.
[JJ.01_108,06] Wie stellen wir aber hier solches an, da außer den drei
Unterpriestern nicht einer mehr vorhanden ist?“
[JJ.01_108,07] Und der Joseph sprach zum Cyrenius: „Was kümmert dich das, an dem
nichts liegt?
[JJ.01_108,08] Wenn du nach Tyrus wieder zurückkehren wirst, da wirst du der
Priester genug treffen, die dich ums Geld einsegnen werden, wenn du schon auf
dieser Einsegnung Wert irgendein Gewicht legst.
[JJ.01_108,09] So du aber bleibst, wie du nun bist, so wirst du besser tun; denn
du bist ja auch ein Herr über dein eigen Gesetz!
[JJ.01_108,10] Ich aber erinnere mich, einmal von einem Römer gehört zu haben,
daß da in Rom ein geheimes Gesetz bestehe, welches also laute:
[JJ.01_108,11] ,So ein Mann ein Mädchen erwählt in der Gegenwart eines Stummen,
eines Narren oder eines unmündigen Kindes,
[JJ.01_108,12] und diese sind bei der Erwählung gutmütig und lächeln dabei, so
ist die Ehe dadurch vollkommen gültig, und muß darauf dem betreffenden Priester
davon eine Anzeige gemacht werden,
[JJ.01_108,13] wobei freilich ein kleines glänzendes Opfer nicht fehlen darf.‘
[JJ.01_108,14] Hat es mit diesem geheimen Gesetze seine Richtigkeit, was braucht
es da mehr?
[JJ.01_108,15] Lasse die drei Priester kommen, die da bei mir sind; diese werden
dir das Zeugnis geben, daß du in der Gegenwart eines dich anlächelnden und dich
sogar segnenden Kindes, das erst kaum im vierten Monat Alters ist, die Tullia
erwählet hast!
[JJ.01_108,16] Hast du dieses ganz unschuldige Zeugnis und etwas Goldes, was
braucht es da mehr fürs ganze römische Volk?!“
[JJ.01_108,17] Und der Cyrenius hüpfte vor Freude förmlich in die Höhe und
sprach zum Joseph:
[JJ.01_108,18] „Fürwahr, du erhabenster Bruder hast vollkommen recht! Es besteht
im Ernste ein solches Gesetz; nur konnte ich mich anfangs desselben nicht
sogleich entsinnen!
[JJ.01_108,19] Jetzt ist alles in der besten Ordnung; bestelle mir daher nur die
drei Priester, und ich werde alsogleich über diesen Punkt eine gehörige
Rücksprache mit ihnen führen!“ – Und Joseph ließ darauf sogleich die drei noch
stummen Priester ins Zimmer treten.
[JJ.01_109] 109. Kapitel – Die Bedenken der Priester. Die Übernahme der
Verantwortung durch Cyrenius. Ein schlechtes Zeugnis für Roms Geldgier. Des
Cyrenius Eheschließung mit Tullia.
5. Januar 1844
[JJ.01_109,01] Die drei Priester kamen sogleich, und einer sagte: „Nur ein Gebot
des Statthalters vermag uns heute die Zunge zu lösen;
[JJ.01_109,02] denn wir taten heute am Morgen einen Schwur, diesen ganzen Tag
über kein Wort zu reden und keinen Bissen in den Mund zu nehmen!
[JJ.01_109,03] Aber, wie gesagt, wir brechen nun am Abende diesen Schwur, weil
wir dazu durch das Gebot des Statthalters genötiget werden! – Möge er dereinst
für uns die Rechnung machen!“
[JJ.01_109,04] Der Cyrenius aber sprach: „Wahrlich, genötiget habe ich euch
mitnichten; aber so ihr euch darüber ein Gewissen macht, da nehme ich ja recht
gerne die Rechnung auf mich!
[JJ.01_109,05] Denn ich bin ja im Hause Dessen, den derlei Rechnungen
grundursächlich angehen, und da glaube ich, daß es mir in der Probe dieser
Rechnung nicht so schwer gehen dürfte, als ihr es euch törichterweise
vorstellet!“
[JJ.01_109,06] Und der Joseph sprach: „O Bruder! Die Probe ist schon fertig,
daher sage den dreien nur, was du von ihnen zu verlangen hast!“
[JJ.01_109,07] Einer der Priester aber kam dem Cyrenius zuvor und fragte ihn,
was sie für ihn etwa tun sollten.
[JJ.01_109,08] Und der Cyrenius, sich ganz kurz fassend, trug den dreien
sogleich sein Anliegen vor.
[JJ.01_109,09] Die drei aber sprachen: „Das Gesetz ist richtig, und die Tat ist
es desgleichen; aber wir sind nur Unterpriester, und unser Zeugnis wird nicht
als gültig angesehen werden!“
[JJ.01_109,10] Und der Cyrenius erklärte ihnen, daß in diesem Falle wegen
gänzlicher Ermangelung eines Oberpriesters jeder Unterpriester ein
oberpriesterliches Amt und Recht auszuüben sogar verpflichtet sei.
[JJ.01_109,11] Die Priester aber sprachen: „Das ist richtig; aber siehe, als wir
vor zwei Tagen die oberpriesterliche Gewalt ausüben wollten, da hattest du uns
verdammt!
[JJ.01_109,12] Wenn wir nun wieder vor dir ein oberpriesterliches Recht
ausübeten, würdest du uns da nicht abermals etwa verdammen?!“
[JJ.01_109,13] Cyrenius aber sprach etwas erregt: „Damals verdammte ich euch,
weil ihr ein oberpriesterliches Recht ganz gesetzwidrig ausüben wolltet.
[JJ.01_109,14] Nun aber habt ihr das gesetzliche Recht vor euch; so ihr darnach
handelt, da habt ihr sicher keine Verdammung von mir zu fürchten!
[JJ.01_109,15] Wohl aber will ich euch darob ein Opfer verabreichen, das euch
euren Lebensunterhalt sichern soll! Und ein Opfer für Rom wird nicht unterm Wege
bleiben!“
[JJ.01_109,16] Und die Priester sprachen: „Gut; aber wir drei gehören nun auch
nicht mehr den Göttern zu und wollen mit Roms Heidentume nichts mehr zu schaffen
haben!
[JJ.01_109,17] Wird unser Zeugnis wohl gültig sein, so man in Rom erfahren wird,
daß wir zum Glauben Israels übergetreten sind?“
[JJ.01_109,18] Und der Cyrenius sprach: „Ihr wisset es so gut als ich, daß in
Rom ums Geld jedes Zeugnis gültig ist!
[JJ.01_109,19] Daher tut ihr das, was ich von euch verlange, alles andere geht
euch nichts an; denn darum werde schon ich sorgen!“
[JJ.01_109,20] Diese Versicherung erst bewog die Priester, dem Cyrenius das
verlangte Zeugnis auszustellen und ihn damit zu segnen.
[JJ.01_109,21] Als der Cyrenius nun das Zeugnis hatte, dann erst reichte er der
Tullia die Hand und erhob sie als nun sein rechtmäßiges Weib
[JJ.01_109,22] und gab ihr einen Ring und ließ sogleich königliche Kleider für
sie aus der Stadt holen.
[JJ.01_110] 110. Kapitel – Tullia in königlichen Kleidern. Eudokias Schmerz. Das
Kindlein tröstet Eudokia. Eudokias Freudentränen. Marias Teilnahme.
8. Januar 1844
[JJ.01_110,01] In kurzer Zeit waren die königlichen Kleider für die Tullia
herbeigeschafft, und sie ward mit denselben angetan, wie schon voran bemerkt
ward.
[JJ.01_110,02] Maria aber nahm ihr Kleid wieder, wusch es, und behielt es dann
wieder für sich.
[JJ.01_110,03] Cyrenius wollte der Maria freilich wohl auch königliche Kleider
dafür geben;
[JJ.01_110,04] aber Maria wie Joseph lehnten solches feierlichst von sich ab.
[JJ.01_110,05] Da aber die Eudokia sah die Tullia in ihrer wahren Königspracht,
da ward es ihr doch schwer ums Herz, daß sie heimlich zu seufzen anfing.
[JJ.01_110,06] Aber das Kindlein sprach leise zu ihr: „Eudokia, Ich sage dir,
seufze du nicht der Welt wegen, sondern seufze du deiner Sünde wegen, so wirst
du besser fahren!
[JJ.01_110,07] Denn siehe, Ich bin mehr als Cyrenius und Rom; hast du Mich, dann
hast du mehr, als besäßest du die ganze Welt.
[JJ.01_110,08] Willst du aber Mich vollkommen haben, dann mußt du bereuen deine
Sünde, der zufolge du unfruchtbar wurdest.
[JJ.01_110,09] Wirst du aber in Liebe zu Mir deine Sünde bereuen, dann erst
wirst du nach dem Maße deiner Liebe zu Mir erkennen, Wer Ich so ganz eigentlich
bin!
[JJ.01_110,10] Wann du Mich aber erkennen wirst, dann wirst du glücklicher sein,
als wärest du die Gemahlin des Kaisers selbst!
[JJ.01_110,11] Denn siehe, der Kaiser muß starke Wachen halten, auf daß er nicht
vom Throne vertrieben wird.
[JJ.01_110,12] Ich aber bin Mir allein genug! Geister, Sonnen, Monde, Erden und
alle Elemente sind Mir gehorsam; und dennoch brauche Ich keine Wachen und lasse
Mich von dir dennoch auf den Armen tragen trotz dem, daß du eine Sünderin bist!
[JJ.01_110,13] Daher sei ruhig und weine nicht; denn du hast empfangen, was der
Tullia abgenommen ward, da sie empfing die königlichen Kleider!
[JJ.01_110,14] Und das ist endlos mehr als jene goldschimmernden Königskleider,
welche tot sind und den Tod bringen,
[JJ.01_110,15] während du das Leben auf deinen Armen trägst und den Tod ewig
nimmer schmecken wirst, so du Mich liebst!“ –
[JJ.01_110,16] Diese Worte des Kindleins wirkten so sehr heilsam auf das Gemüt
der Eudokia, daß sie vor gar großen Freuden hoher seligster Verwunderung zu
weinen anfing.
[JJ.01_110,17] Maria aber bemerkte, daß die Eudokia in Freudentränen ihre Augen
badete, ging darum zu ihr und fragte sie:
[JJ.01_110,18] „Holde Eudokia, was wohl ist dir, darum ich süße Tränen in deinen
Augen entdecke?“
[JJ.01_110,19] Und die Eudokia erwiderte nach einem tiefen Wonneseufzer:
[JJ.01_110,20] „O du glücklichste der Mütter auf der ganzen Erde! Siehe, dein
Kindlein hat zu mir wunderbar geredet!
[JJ.01_110,21] Wahrlich, nicht sterbliche Menschen in all ihrer Weltgröße,
sondern nur Götter können solcher Worte fähig sein!
[JJ.01_110,22] Großer Gedanken und Ahnungen ist nun voll meine Brust. Wie aus
einer verborgnen Tiefe steigen sie in mir gleich wie helle Sterne aus dem Meere
empor; und darum weine ich vor Entzückung!“
[JJ.01_110,23] Maria aber sprach: „Eudokia, gedulde dich nur, nach den Sternen
wird auch die Sonne kommen; in ihrem Lichte erst wirst du erschauen, wo du bist!
– Aber nun stille, denn Cyrenius kommt hierher.“
[JJ.01_111] 111. Kapitel – Des Cyrenius Dank an das Kindlein. Des Kindleins
Segensworte an das Brautpaar. Josephs Einladung zum Hochzeitsmahl. Die Rückkehr
des Cyrenius in die Stadt.
9. Januar 1844
[JJ.01_111,01] Als Cyrenius mit der Tullia hinkam zur Eudokia, die noch das
Kindlein auf dem Arme hielt, da sprach er zum Kindlein:
[JJ.01_111,02] „O Du mein Leben, Du mein Alles! Dir allein danke ich dies mein
großes, wunderbares Glück!
[JJ.01_111,03] Ich tat nur etwas Weniges für Dich, und Du belohntest mich so
unaussprechlich und machtest mich zum glücklichsten Menschen der Erde!
[JJ.01_111,04] O wie solle ich armer Sünder Dir je genug dafür danken können?!“
[JJ.01_111,05] Das Kindlein aber richtete Sich auf, hob Seine rechte Hand empor
und sprach:
[JJ.01_111,06] „O Mein lieber Cyrenius Quirinus, Ich segne dich nun und dein
Weib Tullia, auf daß ihr auf der Welt miteinander glücklich leben sollet!
[JJ.01_111,07] Aber das sage Ich dir auch: Schätze dich im Glücke der Welt nie
als zu glücklich, sondern halte die Welt samt ihrem Glücke für einen Schauplatz
des Truges, so wirst du in der rechten Weisheit das Leben der Welt genießen!
[JJ.01_111,08] Denn siehe, alles in der Welt ist gerade das Gegenteil von dem,
als was es sich dir darstellt; die alleinige Liebe nur, wenn sie aus des Herzens
Grunde kommt, ist wahr und gerecht!
[JJ.01_111,09] Wo du Leben ohne der Liebe erblickst, da ist kein Leben, sondern
der Tod!
[JJ.01_111,10] Wo du aber ob der Ruhe der wahren Liebe den Tod wähnest, da ist
Leben zu Hause, und niemand kann dasselbe zerstören!
[JJ.01_111,11] Du weißt es nicht, wie locker die Unterlage ist, auf der du
stehst; Ich aber weiß es, darum sage Ich dir solches alles!
[JJ.01_111,12] Grabe hier nur tausend Klafter tief, und du wirst einen mächtigen
Abgrund vor dir haben, der dich verschlingen wird.
[JJ.01_111,13] Also grabe nicht zu tief in die Welt hinein, und freue dich der
Entdeckungen in der Tiefe der Welt nicht;
[JJ.01_111,14] denn wo immer jemand zu tief in die Welt hinein gräbt, da auch
bereitet er sich den eigenen Untergang.
[JJ.01_111,15] Traue dem Punkte nicht, auf dem du stehst; denn er ist locker und
kann dich verschlingen, so du ihn aufgräbst und machest eine Mine in den Boden!
[JJ.01_111,16] Bedenke, alles auf der Welt kann dich töten, weil alles selbst in
sich den Tod trägt, – nur die alleinige Liebe nicht, so du sie bewahrest in
ihrer Reinheit!
[JJ.01_111,17] Mischest du sie aber mit weltlichen Dingen, so wird sie schwer
und kann dich auch töten, wie leiblich also auch geistig.
[JJ.01_111,18] Bleibe sonach in der reinen uneigennützigen Liebe; liebe den
einen Gott als deinen Vater und Schöpfer über alles und die Menschen als deine
Brüder wie dich selbst, so wirst du das ewige Leben haben in solcher deiner
Liebe, Amen.“
[JJ.01_111,19] Diese überweisen Worte des Kindleins flößten dem Cyrenius wie
allen Anwesenden eine so tiefe Achtung ein, daß sie bebten am ganzen Leibe.
[JJ.01_111,20] Joseph aber ging hin zum Cyrenius und sprach: „Bruder, fasse
dich, und ziehe unter dem Segen dieses Hauses in die Stadt! Halte aber alles,
was du hier hörtest und empfingst, vorderhand verborgen! Morgen aber komme und
halte hier das Hochzeitsmahl!“ – Und Cyrenius begab sich sogleich in die Stadt
mit der Tullia und mit seinem Gefolge.
[JJ.01_112] 112. Kapitel – Eine neue Überraschung bei Joseph: fremde
weißgekleidete Jünglinge als Helfer im Hause.
10. Januar 1844
[JJ.01_112,01] Als der Cyrenius schon ziemlich stark am Abende aus dem Hause
Josephs mit den Seinen sich in die Stadt begab, da sagte Joseph zu seinen
Söhnen:
[JJ.01_112,02] „Kinder, gehet nun, und bestellet unsere Wirtschaft! Versorget
die Kühe und die Esel, und bereitet uns dann ein Nachtmahl, und das ein gutes
und frisches; denn ich muß ja heute noch meine neue Tochter beim fröhlichen
Mahle adoptieren und segnen!“
[JJ.01_112,03] Darauf gingen die Söhne Josephs sogleich und taten, wie es ihnen
Joseph befohlen hatte.
[JJ.01_112,04] Aber wie erstaunten sie, als sie im Stalle mehrere weißgekleidete
Jünglinge antrafen, die da gar emsig das Vieh Josephs warteten.
[JJ.01_112,05] Die Söhne Josephs fragten sie, wer ihnen solches zu tun geboten
habe, und wessen Diener sie seien.
[JJ.01_112,06] Die Jünglinge aber sprachen: „Wir sind allzeit Diener des Herrn,
und der Herr hat solches zu tun uns geboten; darum tun wir es auch!“
[JJ.01_112,07] Die Söhne Josephs aber fragten die Jünglinge: „Wer ist euer Herr,
und wo ist er zu Hause? Ist es etwa der Cyrenius?“
[JJ.01_112,08] Und die Jünglinge sprachen: „Unser Herr ist auch der eurige,
wohnt bei euch, – aber Cyrenius ist nicht Sein Name!“
[JJ.01_112,09] Da meinten die Söhne Josephs, solches sei offenbar ihr Vater
selbst, und sprachen daher zu den Jünglingen:
[JJ.01_112,10] „Wenn also, da gehet mit uns, auf daß euch unser Vater, der hier
der Herr dieses Hauses ist, erkenne, ob ihr wirklich seine Diener seid!“
[JJ.01_112,11] Und die Jünglinge sprachen: „Melket die Kühe zuvor, sodann wollen
wir mit euch gehen und uns eurem Herrn vorstellen!“
[JJ.01_112,12] Hier nahmen die Söhne die Milchgefäße und melkten dreimal soviel
als sonst, wenn sie ihre Kühe zuvor noch so gut bestellt hatten.
[JJ.01_112,13] Da erstaunten sie über die Maßen und konnten sich nicht erklären,
wie die Kühe diesmal gar so viel Milch gaben.
[JJ.01_112,14] Als sie aber mit dem Melken der Kühe zu Ende waren, da sprachen
die Jünglinge:
[JJ.01_112,15] „Nun, da ihr mit eurer Arbeit fertig seid, so lasset uns ins Haus
ziehen, allda euer und unser Herr wohnet!
[JJ.01_112,16] Aber euer Vater hatte auch ein gutes Nachtmahl bei euch
angeordnet; dieses muß eher bereitet sein, bevor wir ins Gemach des Herrn
treten!“
[JJ.01_112,17] Sogleich gingen die Jünglinge in die Küche, und siehe, da waren
auch schon mehrere Jünglinge mit der Bereitung eines köstlichen Abendmahles
vollauf beschäftigt. –
[JJ.01_112,18] Es dauerte aber dem Joseph die Arbeit der Söhne etwas über die
gewohnten Maßen; daher ging er nachzusehen, was diese täten.
[JJ.01_112,19] Wie aber erstaunte er, als er die Küche gedrängt voll Arbeiter
traf!
[JJ.01_112,20] Er fragte sogleich die Söhne, was denn das um des Herrn willen
wäre.
[JJ.01_112,21] Aber die Jünglinge antworteten: „Joseph, kümmere dich nicht; denn
was da ist und geschieht, ist und geschieht wirklich um des Herrn willen! – Lasse uns aber erst das Nachtmahl bereiten, dann wirst du das Nähere vom Herrn
Selbst erfahren.“
[JJ.01_113] 113. Kapitel – Marias Erstaunen über die andauernden Heimsuchungen.
Josephs Trost. Der Engel Ehrfurcht vor dem Kindlein und dessen Worte an die
Erzengel. Das gemeinsame Abendmahl.
11. Januar 1844
[JJ.01_113,01] Joseph ging darauf sogleich wieder ins Zimmer und erzählte der
Maria und der Eudokia, was er nun gesehen habe, und was draußen in der Küche vor
sich gehe.
[JJ.01_113,02] Maria und die Eudokia erstaunten darob ganz gewaltig, und die
Maria sprach:
[JJ.01_113,03] „O großer Gott, so sind wir doch keine Sekunde sicher vor Deinen
Heimsuchungen! – Kaum hat die eine den Fuß außer der Türe, so setzen schon
wieder hundert neue dafür die Füße ins Zimmer!
[JJ.01_113,04] O Herr, willst Du uns denn gar keine Ruhe gönnen?! – Sollen wir
etwa schon wieder fliehen, und nun etwa vor den Römern? Oder was solle aus
dieser Erscheinung werden?“
[JJ.01_113,05] Joseph aber sprach: „Liebe Maria, ängstige dich nicht vergeblich!
Siehe, wir sind ja lauter Wanderer in dieser Welt, und der Herr ist unser
Führer!
[JJ.01_113,06] Wohin der Herr uns führen will, dahin folgen wir Ihm auch ganz
ergeben in Seinen heiligen Willen; denn Er allein weiß es ja, wo und was für uns
am besten ist!
[JJ.01_113,07] Siehe, du ängstigest dich allzeit, so uns der Herr etwas Neues
zusendet; ich aber bin darob voll Freuden, – denn nun weiß ich es ja, daß der
Herr allzeit für unser Bestes sorget!
[JJ.01_113,08] Heute morgen hat der Herr eine starke Prüfung über mich gesandt;
ich ward darob sehr traurig.
[JJ.01_113,09] Aber die Traurigkeit währte nicht lange; der Getötete ward
erweckt und lebt, und ich bin wieder voll Heiterkeit und freue mich nun auf ein
gutes, gesegnetes Nachtmahl.
[JJ.01_113,10] Tue du desgleichen, und es wird dir viel besser bekommen als alle
deine vergebliche jugendliche Furcht und Ängstlichkeit!“
[JJ.01_113,11] Diese Worte Josephs beruhigten die Maria, und sie ward nun selbst
voll Neugierde, zu sehen die neuen Köche in der Küche.
[JJ.01_113,12] Sie erhob sich darum und wollte nachsehen; aber im Augenblicke
traten die Söhne Josephs mit Speisen beladen ins Zimmer, und alle die Jünglinge
folgten ihnen mit der allerhöchsten Ehrfurcht.
[JJ.01_113,13] Und als sie in die Nähe des Kindleins kamen, da fielen sie
plötzlich auf ihre Knie nieder und beteten dasselbe an.
[JJ.01_113,14] Das Kindlein aber richtete Sich auf und sprach zu den Jünglingen:
„Erhebet euch, ihr Erzengel Meiner endlosen Himmel!
[JJ.01_113,15] Ich habe eure Bitte erhört! Eure Liebe will Mir dienen auch hier
in Meiner Niedrigkeit; doch Ich, euer Herr von Ewigkeit, habe noch nie eures
Dienstes bedurft!
[JJ.01_113,16] Da aber eure Liebe so mächtig ist, da bleibet drei Erdtage hier
und dienet diesem Hause; aber außer denen, die hier im Hause sind, erfahre
niemand, wer ihr seid!
[JJ.01_113,17] Nun aber haltet das Nachtmahl mit Meinem Nährvater und mit Meiner
Gebärerin und mit dieser Tochter, die Mich auf ihren Händen hat, mit den drei
Suchenden und mit Meinen Brüdern!“
[JJ.01_113,18] Darauf erhoben sich die Jünglinge, Maria nahm das Kindlein, und
alles setzte sich zum Tische, stimmte mit Joseph das Loblied an, und aß und
trank überselig und fröhlich.
[JJ.01_113,19] Die Erzengel als Jünglinge aber weinten vor Seligkeit und
sprachen:
[JJ.01_113,20] „Wahrlich, Ewigkeiten sind unter unseren Blicken vergangen voll
der höchsten Wonne;
[JJ.01_113,21] aber alle die wonnevollsten Ewigkeiten sind aufgewogen durch
diesen Augenblick, in dem wir am Tische des Herrn speisen, ja am Tische Seiner
Kinder, unter denen Er ist in aller Seiner Fülle! – O Herr! Lasse auch uns zu
Deinen Kindern werden!“
[JJ.01_114] 114. Kapitel – Maria im Gespräch mit Zuriel und Gabriel. Des
Kindleins Hinweis auf die neue Ordnung im Himmel und auf Erden. Eudokias
Wißbegier wegen der ,Erzboten‘.
12. Januar 1844
[JJ.01_114,01] Als das Nachtmahl eingenommen war und sodann alle dem Herrn mit
Joseph ein Danklied dargebracht hatten, da sprach einer der Jünglinge zur Maria:
[JJ.01_114,02] „Maria, du Gebenedeite unter den Weibern der Erde! erinnerst du
dich meiner nicht mehr? – Bin ich nicht der, welcher im Tempel so oft mit dir
gespielt hat und hat dir allzeit eine gute Speise und einen süßen Trank
gebracht?“
[JJ.01_114,03] Hier schmuzte die Maria und sprach: „Ja, ich erkenne dich, du
bist Zuriel, ein Erzengel! Du hast mich aber manchmal auch sehr geneckt, da du
mit mir sprachst, aber dich nicht sehen ließest;
[JJ.01_114,04] und ich mußte dich oft stundenlang bitten, bis du dich bewegen
ließest dazu, daß ich dich ersah!“
[JJ.01_114,05] Und der Jüngling sprach: „Siehe, du gebenedeite Mutter, also war
es des Herrn Wille, der dich überlieb hatte.
[JJ.01_114,06] Wie aber das Herz in dir, als der Sitz der Liebe, fortwährend
pocht und dein ganzes Wesen stupft und neckt,
[JJ.01_114,07] also ist das auch die Art der Liebe des Herrn, daß sie ihre
Lieblinge fortwährend stupft, zupft und neckt, aber auch eben dadurch das Leben
bildet und dauerhaft macht für die Ewigkeit!“
[JJ.01_114,08] Maria ward über diese Erklärung sehr erfreut und lobte die große
Güte des Herrn.
[JJ.01_114,09] Ein anderer Jüngling aber wandte sich auch zur Maria und sprach:
„Gebenedeite Jungfrau! erkennst du auch mich? Es wird nicht viel über ein Jahr
sein, als ich dich besucht habe in Nazareth!“
[JJ.01_114,10] Und Maria erkannte ihn an der Stimme und sprach: „Ja, ja, du bist
Gabriel! Wahrlich, dir gleich ist keiner; denn du hast der Erde wohl die größte
Botschaft gebracht, und das Heil allen Völkern!“
[JJ.01_114,11] Und der Jüngling erwiderte der Maria: „O Jungfrau! im Anfange
hast du dich geirrt; denn siehe, der Herr hat schon mit mir angefangen, Sich zur
Ausführung der größten Tat der kleinsten und geringsten Mittel zu bedienen!
[JJ.01_114,12] Darum bin ich wohl nur der Geringste und Kleinste im Reiche
Gottes, aber nicht der Größte! – Wohl habe ich der Erde die größte und heiligste
Botschaft gebracht;
[JJ.01_114,13] aber darum bin ich nicht, als wäre mir an Größe keiner gleich;
wohl aber umgekehrt, wie ich nämlich der Geringste bin im Reiche Gottes!“
[JJ.01_114,14] Da verwunderte sich Maria samt Joseph über die große Demut des
Jünglings.
[JJ.01_114,15] Das Kindlein aber sprach: „Ja, dieser Engel hat recht! Im Anfange
war der Größte Mir der Nächste.
[JJ.01_114,16] Dieser aber erhob sich und wollte Mir gleich sein, und wollte
Mich übertreffen, und entfernte sich darum von Mir.
[JJ.01_114,17] Darum aber baute Ich dann Himmel und Erde und gab die Ordnung,
daß nur das Geringe Mir am nächsten sein solle!
[JJ.01_114,18] Nun aber erwählte Ich für Mich alle Niedrigkeit der Welt; und es
werden darum nur die die Größten sein bei Mir, die gleich Mir in der Welt wie in
sich selbst die Geringsten und Niedrigsten sind.
[JJ.01_114,19] Und so hast du, Mein Gabriel, recht aus dir, und die Mutter hat
auch recht; denn also bist du der Größte, weil du der Geringste bist aus und in
dir!“
[JJ.01_114,20] Als das Kindlein solche Worte zu dem Jünglinge Gabriel redete, da
fielen sobald alle Jünglinge nieder auf ihre Knie und beteten Dasselbe an.
[JJ.01_114,21] Die Eudokia aber forschte hin und her; denn sie wußte nicht, was
sie aus diesen überschönen Jünglingen machen sollte.
[JJ.01_114,22] Sie vernahm wohl, wie man diese Jünglinge ,Erzboten‘ nannte, und
das aus dem Reiche Gottes, – aber sie hielt Palästina wie auch Oberägypten
dafür. Sie fragte daher, ob das etwa Gesandte seien.
[JJ.01_114,23] Ein Jüngling aber sprach: „Eudokia, gedulde dich nur! Siehe, wir
bleiben ja drei Tage hier, und da werden wir uns schon noch besser
kennenlernen!“ – Und die Eudokia war damit zufrieden und begab sich bald zur
Ruhe.
[JJ.01_115] 115. Kapitel – Joseph mahnt zur Nachtruhe. Der Jünglinge Eröffnung
über den nächtlichen Anschlag der dreihundert Räuber. Der Überfall. Der Sieg der
Engel.
13. Januar 1844
[JJ.01_115,01] Joseph aber sprach: „Kinder und Freunde! Es ist schon spätabends
geworden; daher meine ich, es wird an der Zeit sein, sich zur Ruhe zu begeben!“
[JJ.01_115,02] Die Jünglinge aber sprachen: „Ja, Vater Joseph, du hast recht;
ihr alle, die ihr noch in den sterblichen Leibern wohnet, gehet zur stärkenden
Ruhe!
[JJ.01_115,03] Wir aber werden hinausziehen vor dein Haus und werden es
bewachen!
[JJ.01_115,04] Denn es hat der Feind des Lebens nun listigerweise erfahren, daß
hier der Herr wohnt, und hat beschlossen, in dieser Nacht dieses Haus mörderisch
zu überfallen.
[JJ.01_115,05] Daher aber sind wir da, um zu schützen dieses Haus; und so der
Feind kommen wird, da solle er übel zugerichtet werden!“
[JJ.01_115,06] Joseph und Maria, die noch wache Eudokia, die drei Priester und
die Söhne Josephs erschraken gewaltigst über diese Nachricht;
[JJ.01_115,07] und Joseph sprach: „Wenn also, da mag ich nicht ruhen, sondern
mit euch wachen die ganze Nacht hindurch!“
[JJ.01_115,08] Die Jünglinge aber sprachen: „Seid alle ganz außer Sorge; wir
sind unser genug und haben auch Kraft genug, nach dem Willen des Herrn die ganze
Schöpfung in Nichts zu verwandeln!
[JJ.01_115,09] Wie sollen wir uns dann vor einer Handvoll gedungener feiger
Mörder fürchten!?
[JJ.01_115,10] Denn siehe, die ganze Sache besteht darinnen: einige Freunde der
zugrunde gegangenen Priesterschaft haben in Erfahrung gebracht durch die Mühe
des Satans, daß der Cyrenius ein großer Freund der Juden geworden ist, und das
durch dieses Haus.
[JJ.01_115,11] Darum machten sie ein geheimes Komplott und schworen, in dieser
Nacht dies Haus zu überfallen und alles zu ermorden, was darinnen ist.
[JJ.01_115,12] Wir aber haben solchen Plan schon lange vorausgesehen und sind
darum gekommen, um dieses Haus zu schützen.
[JJ.01_115,13] Sei daher ganz ruhig; morgen aber wirst du sehen, wie wir diese
Nacht hindurch für dich arbeiten werden!“
[JJ.01_115,14] Als der Joseph aber solche treue Schutzversicherung von den
Jünglingen vernommen hatte, da lobte und pries er Gott,
[JJ.01_115,15] zeigte darauf zuerst der Eudokia ihr Schlafgemach, segnete sie
als seine Tochter, und sie begab sich zuerst und sogleich zur Ruhe.
[JJ.01_115,16] Darauf ging Maria mit dem Kindlein ins selbe Gemach und nahm
diesmal Dasselbe zu sich ins Bett.
[JJ.01_115,17] Dann gingen auch die drei Priester in ihr Gemach; Joseph und die
Söhne aber blieben im Speisezimmer und wachten.
[JJ.01_115,18] Die Jünglinge aber gingen hinaus und lagerten sich um das Haus.
[JJ.01_115,19] Als die Mitternacht herankam, da vernahm man Waffengeklirr auf
dem Wege aus der Stadt zur Villa.
[JJ.01_115,20] In wenigen Minuten war das ganze Haus Josephs umzingelt von
dreihundert bewaffneten Männern.
[JJ.01_115,21] Als sie aber nun ins Haus dringen wollten, da erhoben sich die
Jünglinge und erwürgten im Augenblick bis auf einen Mann die ganze Schar.
[JJ.01_115,22] Den einen aber banden sie und führten ihn in eine Kammer zum
Zeugnisse für den nächsten Tag.
[JJ.01_115,23] Und so ward Josephs Haus wunderbar gerettet und blieb dann im
Frieden und sicher vor jedem künftigen Anfalle.
[JJ.01_116] 116. Kapitel – Die Vorbereitungen zum Hochzeitsmahl des Cyrenius.
Die Ehrerbietung der Engel angesichts des badenden Kindleins. Die Belebung der
Mörderleichen durch das Badewasser des Kindleins.
15. Januar 1844
[JJ.01_116,01] Am Morgen, schon frühe vor dem Aufgange, war alles tätig im Hause
Josephs.
[JJ.01_116,02] Die Jünglinge bestellten den Stall und die Küche mit den Söhnen
Josephs; denn es mußte ja so manches fürs Hochzeitsmahl des Cyrenius bereitet
werden.
[JJ.01_116,03] Joseph selbst aber ging mit ein paar Jünglingen, mit Zuriel und
Gabriel, hinaus und besichtigte die Leichen und sprach zu den beiden:
[JJ.01_116,04] „Was solle daraus werden? Werden wir sie doch zuvor begraben
müssen, bis Cyrenius aus der Stadt kommen wird?!“
[JJ.01_116,05] Die Jünglinge aber sprachen: „Joseph! sorge dich nicht darum,
denn gerade der Statthalter muß das sehen, welche Macht in deinem Hause wohnet!
[JJ.01_116,06] Darum bleiben diese Leichen liegen, bis der Cyrenius kommt, und
er selbst mag sie dann hinwegräumen lassen.“
[JJ.01_116,07] Joseph war mit diesem Bescheide zufrieden und begab sich dann mit
den beiden wieder ins Haus.
[JJ.01_116,08] Als sie ins Zimmer traten, war Maria gerade mit dem Bade des
Kindleins beschäftigt, wobei ihr die Eudokia – wo möglich – half.
[JJ.01_116,09] Die beiden aber blieben stehen in der größten Ehrerbietung, mit
übers Kreuz an die Brust gelegten Händen, solange das Kindlein gebadet ward.
[JJ.01_116,10] Als aber das Kindlein gebadet und wieder angezogen war mit
frischer Wäsche, da berief Es sobald den Joseph um einer Sache willen zu sich
und sprach:
[JJ.01_116,11] „Joseph! es solle auf dem Grunde, der diesem Hause angehört,
niemand ums Leben kommen!
[JJ.01_116,12] Die Sache aber, um derentwillen Ich dich berief, ist, daß du dies
Wasser nimmst und es aufbewahrest.
[JJ.01_116,13] Wann aber der Cyrenius aus der Stadt kommen wird und wird sehen
die Erwürgten, sodann nehme das Wasser und besprenge sie; und sie werden dann
erwachen und vor das Staatsgericht geführt werden.
[JJ.01_116,14] Bindet aber zuvor einer jeden Leiche am Rücken die Hände, auf
daß, so sie erwache, sie nicht sobald die Waffe ergreife und sich verteidige!“
[JJ.01_116,15] Als Joseph solches vernommen hatte, da tat er mit Hilfe der
beiden sogleich, was das Kindlein geredet hatte;
[JJ.01_116,16] und als er der letzten Leiche die Hände gebunden hatte, da kam
auch schon der Cyrenius im vollen Glanze aus der Stadt mit einem großen Gefolge.
[JJ.01_116,17] Er entsetzte sich aber beim Anblicke dieser gebundenen Leichen
und fragte hastig, was hier geschehen.
[JJ.01_116,18] Joseph aber, ihm alles kundgebend, ließ sich das Wasser bringen
und besprengte sogleich die Leichen, worauf sich diese wie aus einem tiefen
Schlafe erhoben.
[JJ.01_116,19] Cyrenius aber, nun von allem unterrichtet, ließ diese Erweckten
sogleich ins Staatsgefängnis bringen.
[JJ.01_116,20] Und als diese alle, samt dem am Leben Gelassenen, abgeführt
wurden unter scharfer Bewachung, begab sich Cyrenius mit seiner Braut ins Gemach
und lobte und pries da den Gott Israels über alle Maßen.
[JJ.01_117] 117. Kapitel – Cyrenius verstimmt wegen der Verräter. Josephs
Hinweis auf die Hilfe des Herrn. Cyrenius und die Engel. Das Machtwunder der
Engel.
16. Januar 1844
[JJ.01_117,01] Es hatte aber diese Erscheinung den Cyrenius dennoch etwas
verstimmt, und er wußte nicht, was er nun mit diesen Verrätern tun solle.
[JJ.01_117,02] Er trat darum zum Joseph hin und besprach sich mit ihm; Joseph
aber erwiderte ihm:
[JJ.01_117,03] „Sei guten Mutes, du mein Bruder im Herrn! Denn es wird dir darob
kein Haar gekrümmt werden.
[JJ.01_117,04] Siehe, du bist auf der Erde sicher mein größter Freund und
Wohltäter; aber was hätte mir heute in der Nacht alle deine Freundschaft
genützt?
[JJ.01_117,05] Diese gedungenen Mörder hätten mich in der Nacht samt meinem
ganzen Hause sieden und braten können, ohne daß du davon etwas eher erfahren
hättest, als bis du heute am Morgen, da du zu mir kamst, nichts mehr von mir
gefunden hättest!
[JJ.01_117,06] Wer war da mein Retter? Wer hatte die geheimen Pläne der Bösen
schon lange eher durchschaut und hat mir zur rechten Zeit Hilfe gesandt?
[JJ.01_117,07] Siehe, es war der Herr, mein Gott und dein Gott! – Also sei du
guten Mutes; denn auch du bist nun in der allschützenden Hand des Herrn, und Er
wird es nicht zulassen, daß dir auch nur ein Haar gekrümmt werde!“
[JJ.01_117,08] Mit gerührtem Herzen dankte der Cyrenius an der Seite seiner
Tullia, die sich mit dem Kindlein beschäftigte, dem Joseph für diesen Trost.
[JJ.01_117,09] Aber er ersah zugleich die zwei herrlichen Jünglinge und gewahrte
auch, daß deren in der Küche noch mehrere zugegen sind.
[JJ.01_117,10] Er fragte darum den Joseph, woher denn diese gar so schönen,
überzarten Jünglinge wären, ob das etwa auch gerettete Unglückliche seien.
[JJ.01_117,11] Joseph aber sprach: „Siehe, ein jeder Herr hat seine Diener; du
weißt aber nun ja, daß mein Kindlein auch ein Herr ist!
[JJ.01_117,12] Und siehe, das sind Seine Diener; diese sind es auch, die dies
Haus heute Nacht vor dem Untergange bewahrt haben!
[JJ.01_117,13] Rate aber nicht, woher des Landes sie sind; denn da wirst du
nichts richten, indem diese Helfer von einer unbeschreiblichen Kraft und Macht
sind.“
[JJ.01_117,14] Also werden sie es dir nicht kundgeben, und mit Zwang wirst du
gegen sie nichts ausrichten, indem sie zu mächtig und endlos kräftig sind!
[JJ.01_117,15] Und der Cyrenius sprach: „So sind das Halbgötter, wie wir sie
haben in unserer fabelhaften Lehre?
[JJ.01_117,16] Wie?! – Solltet auch ihr neben dem einen Gotte solche Halbgötter
haben, welche bestimmt sind, dem Menschen wie dem Hauptgotte gute Dienste zu
leisten?!“
[JJ.01_117,17] Und der Joseph sprach: „O Bruder, da irrst du gewaltig! Siehe,
von Halbgöttern ist bei uns ewig keine Rede;
[JJ.01_117,18] wohl aber von schon überseligen Geistern, die nun Engel Gottes
sind, einst aber auch wie wir auf der Erde gelebt haben!
[JJ.01_117,19] Doch was du nun von mir erfahren hast, davon schweige, als
hättest du nie etwas erfahren, sonst könnte deinem Leibe Übles begegnen!“
[JJ.01_117,20] Hier legte Cyrenius den Finger auf den Mund und schwor zu
schweigen bis in seinen Tod.
[JJ.01_117,21] Hier traten die zwei Jünglinge hin zum Cyrenius und sprachen:
„Nun gehe mit uns hinaus, auf daß wir dir unsere Kraft zeigen!“
[JJ.01_117,22] Und der Cyrenius ging mit ihnen hinaus, und siehe, ein Berg im
tiefen Hintergrunde verschwand durch ein Wort aus dem Munde der Jünglinge!
[JJ.01_117,23] Hier ersah der Cyrenius erst den Grund, warum er schweigen müsse,
und er schwieg davon auch durch sein ganzes Leben – und alle, die mit ihm waren.
[JJ.01_118] 118. Kapitel – Der Unterschied zwischen des Herrn Macht und der
Macht Seiner Diener. Des Cyrenius Frage nach dem Zweck der Engel. Das Gleichnis
vom liebenden Vater und seinen Kindern.
17. Januar 1844
[JJ.01_118,01] Nach dieser Machtbezeigung führten die beiden Jünglinge den
Cyrenius wieder ins Gemach, da Joseph, Maria mit dem Kindlein, die Tullia, die
Eudokia und die drei Priester, der Maronius und noch anderes Gefolge des
Cyrenius sich befanden.
[JJ.01_118,02] Und der Joseph trat sogleich zum Cyrenius hin und fragte ihn:
[JJ.01_118,03] „Nun, erlauchtester Bruder und Freund, was sagst du zu diesen
Dienern des Herrn?“
[JJ.01_118,04] Und der Cyrenius sagte: „O erhabenster Bruder! Da ist zwischen
ihnen und dem Herrn ja nahe gar kein Unterschied; denn sie sind ebenso mächtig
wie Er!
[JJ.01_118,05] Das Kindlein zerstörte letzthin durch den Wink mit einer Hand die
große Statue des Zeus;
[JJ.01_118,06] diese Diener aber zerstörten durch ein Wort einen ganzen Berg! – Sage, was Unterschiedes wohl ist da zwischen Herr und Diener?!“
[JJ.01_118,07] Und der Joseph erwiderte dem Cyrenius: „O Freund! dazwischen ist
ein endlos großer Unterschied!
[JJ.01_118,08] Siehe, der Herr tut solches alles aus Sich Selbst ewig; Seine
Diener aber mögen solches nur aus dem Herrn dann tun, wann Er es haben will!
[JJ.01_118,09] Ist das nicht der Fall, da vermögen sie aus sich so wenig als ich
und du, und alle ihre eigne Kraft vermag nicht ein Sonnenstäubchen zu
zermalmen!“
[JJ.01_118,10] Der Cyrenius aber erwiderte: „Ich verstehe dich; was du gesagt
hast, ist richtig und bedarf keiner weiteren Erläuterung.
[JJ.01_118,11] Aber so das alles nur der Herr wirkt und die Diener in sich keine
Kraft haben, wozu sind sie Ihm denn hernach?“
[JJ.01_118,12] Und der Joseph sprach: „Siehe, du Herrlicher, du lieber Bruder,
hier ist das Kindlein, wende dich mit dieser Frage an Dasselbe, – das wird dir
darüber die gültigste Antwort geben!“
[JJ.01_118,13] Und der Cyrenius tat dies, und das Kindlein richtete Sich auf und
sprach:
[JJ.01_118,14] „Cyrenius, du bist nun Gatte und hast in dieser Nacht schon
befruchtet dein Weib, auf daß dir ein Nachkomme werde!
[JJ.01_118,15] Ich sage dir aber, du wirst deren zwölf noch bekommen! Wenn du
aber ein Vater von zwölf Kindern sein wirst, sage Mir, wozu sie dir sein werden,
und warum und wozu du überhaupt Kinder haben willst?
[JJ.01_118,16] Kannst du denn etwa ohne solche deine Geschäfte nicht gut und
rüstig genug versehen?“
[JJ.01_118,17] Hier stutzte der Cyrenius gewaltig und sprach nach einer Weile
etwas verlegen:
[JJ.01_118,18] „Was das Versehen meiner regierenden Staatsgeschäfte betrifft, da
hat es seine geweisten Wege, und ich bedarf dazu der Kinder nicht!
[JJ.01_118,19] Aber nur in meinem Herzen spricht sich ein mächtiges Bedürfnis
für den Besitz der Kinder aus, und dieses Bedürfnis heißt Liebe!“
[JJ.01_118,20] Und das Kindlein sprach: „Gut, wenn du aber Kinder haben wirst,
wirst du sie nicht auch aus purer Liebe in deine Geschäfte ziehen und wirst
ihnen geben Macht und Gewalt darum, weil sie deine Kinder sind, und wirst sie
machen zu deinen gewaltigen Dienern?“
[JJ.01_118,21] Und der Cyrenius erwiderte: „O Herr, das werde ich wohl gewiß
sicher tun!“
[JJ.01_118,22] Und das Kindlein erwiderte wieder: „Nun siehe, wenn du als Mensch
schon solches aus deiner Liebe zu deinen Kindern tust, warum sollte es denn Gott
nicht tun als ein heiliger Vater mit Seinen Kindern aus Seiner unendlichen Liebe
zu ihnen?!“
[JJ.01_118,23] Diese Antwort sagte dem Cyrenius alles, erfüllte ihn, wie alle,
mit der höchsten Achtung, und er fragte hernach um nichts mehr.
[JJ.01_119] 119. Kapitel – Josephs Anordnungen zum Hochzeitsmahl. Das Anlegen
der Festkleider. Das strahlende Festgewand der Engel. Die Beklommenheit des
Cyrenius und der übrigen. Das Wiederablegen der Festkleider.
18. Januar 1844
[JJ.01_119,01] Hier kamen aber auch schon die Söhne Josephs herein und sagten zu
ihm: „Vater, das Morgenmahl ist reichlich bereitet!
[JJ.01_119,02] So du willst, wollen wir den großen Speisetisch ordnen und sodann
das Mahl aufsetzen.“
[JJ.01_119,03] Und der Joseph sprach: „Gut, meine Kinder, tut das, ziehet aber
eure neuen Kleider an, denn wir werden nun am Morgen das Hochzeitsmahl des
Cyrenius halten!
[JJ.01_119,04] Ihr müsset auch am Tische sein, darum müßt ihr auch hochzeitlich
angezogen sein! Gehet nun, und tut alles, was da gut, recht und schicklich ist!“
[JJ.01_119,05] Und die Söhne ordneten den Tisch und gingen dann und taten, wie
es ihnen Joseph geboten hatte.
[JJ.01_119,06] Es traten aber auch die beiden Jünglinge hin zum Joseph und
sprachen:
[JJ.01_119,07] „Vater Joseph, was meinst du wohl? Siehe, unser Gewand, das wir
anhaben, ist nur unser Werkkleid; sollen auch wir uns in ein hochzeitliches
Kleid werfen?“
[JJ.01_119,08] Joseph aber erwiderte: „Ihr seid Engel des Herrn, und dies euer
Gewand ist ja ohnehin das schönste Hochzeitsgewand; wozu solle da euch ein
anderes zieren?“
[JJ.01_119,09] Die Jünglinge aber sprachen: „Siehe, wir wollen niemandem ein
Ärgernis geben; das du deinen Söhnen befohlen hast, wollen auch wir tun und
wollen bei deinem Tische in unsern Hochzeitskleidern zugegen sein!
[JJ.01_119,10] Lasse uns daher hinausziehen, auf daß wir die Kleider wechseln
gleich deinen Söhnen!“
[JJ.01_119,11] Und Joseph sprach: „So tut denn, was ihr sicher vom Herrn aus für
nötig findet! Ihr seid ja allzeit Diener des Herrn und wisset auch allzeit
Seinen Willen; also tuet darnach!“
[JJ.01_119,12] Und die beiden Jünglinge gingen hinaus, und in kurzer Zeit kamen
sie mit den Söhnen Josephs und all den andern Jünglingen in also hellstrahlenden
Kleidern wie die Morgenröte im schönsten Rotglanze;
[JJ.01_119,13] ihre Gesichter, Füße und Hände aber strahlten wie die Sonne, wenn
sie aufgeht.
[JJ.01_119,14] Cyrenius und all sein Gefolge entsetzten sich vor dieser
unendlichen Pracht und Majestät.
[JJ.01_119,15] Und der Cyrenius sprach in einer ängstlichen Eile zum Joseph:
[JJ.01_119,16] „Allererhabenster Freund, ich habe jetzt gesehen die endlose
Herrlichkeit deines Hauses! Lasse mich aber hinausziehen, denn diese
Herrlichkeit verzehrt mich!
[JJ.01_119,17] Warum mußtest du aber auch deinen Söhnen eine Umkleidung geboten
haben? Ohne die wären sicher auch des Herrn Diener in ihrer früheren, mir so
wohltuenden Einfachheit und Glanzlosigkeit geblieben!“
[JJ.01_119,18] Hier ermannte sich Joseph, dem auch sein Atem vor lauter Glanz zu
kurz wurde, und befahl wieder seinen Söhnen, ihre Werkkleider anzuziehen.
[JJ.01_119,19] Die Söhne gingen und taten das; aber auch die Jünglinge gingen
und wechselten ihr Gewand und kamen dann mit den Söhnen Josephs wieder in ihrer
ersten Einfachheit.
[JJ.01_119,20] Nun ward es dem Cyrenius wieder leichter ums Herz, und er konnte
sich nun zum Tische setzen mit seinem Weibe und seinen Gefährten.
[JJ.01_119,21] Und so besetzte er den oberen Teil des Tisches mit den Seinen und
Joseph, Maria mit dem Kindlein, die Eudokia, die Söhne Josephs und die Jünglinge
den unteren Teil des Tisches und aßen und tranken alle nach dem Lobgesange
Josephs.
[JJ.01_119,22] Einige Hauptleute samt dem Obersten aber meinten, sie seien nun
leibhaftig an der Tafel der Götter im Olymp, und wußten sich vor lauter Wonne
nicht zu helfen; denn sie wußten nichts vom Hause Josephs, wie es beschaffen
ist.
[JJ.01_120] 120. Kapitel – Joseph besorgt wegen der vorschriftsmäßigen Feier des
Osterfestes. Die beruhigenden Worte der Engel. Josephs neue Sorge wegen der
vielen anwesenden Heiden. Des Kindleins Antwort.
19. Januar 1844
[JJ.01_120,01] Nach der Beendigung der köstlichen Morgenmahlzeit, welche bei
einer Stunde lang gedauert hatte, ward von Joseph der Lobgesang gesprochen, und
alles erhob sich vom Tische.
[JJ.01_120,02] Da aber der Tag ein Vorsabbat, also ein Freitag war, auf den die
Osterfeste der Juden fielen, so war es dem Joseph etwas bange, und er wußte hier
mitten unter lauter Römern nicht, wie er diese Feste begehen solle.
[JJ.01_120,03] Denn er wußte, daß ihn diese nun auch am Sabbate der Ostern so
gut wie an einem andern Tage besuchen werden.
[JJ.01_120,04] Darum war es ihm, wie gesagt, bange, wie er diesen gar
außerordentlich hohen Sabbat heiligen solle.
[JJ.01_120,05] Da umringten ihn aber die Jünglinge und sprachen: „Höre uns an,
du gerechter, aber vergeblich besorgter Mann!
[JJ.01_120,06] Du weißt es, daß um diese Zeit auch die Engel Gottes sich in
Jerusalem einfanden – als Erzengel, Cherubim und Seraphim.
[JJ.01_120,07] Und das Allerheiligste ward stets von ihnen bewohnt, wie du es
weißt, und wie es weiß dein Weib.
[JJ.01_120,08] Weil du aber weißt, daß wir nur dem Herrn nachgehen und nicht dem
Tempel zu Jerusalem, – so sind wir auch nicht im Tempel!
[JJ.01_120,09] Da der Herr im Tempel wohnte zu Jerusalem, da auch waren wir im
Tempel.
[JJ.01_120,10] Nun aber wohnet Er hier, und wir sind auch hier, zu feiern mit
dir die Ostern, und ist keiner aus uns im Tempel, der nun gar weidlich verlassen
ist.
[JJ.01_120,11] Wie sollst du aber besser die Ostern feiern, als so du gleich uns
handelst?!
[JJ.01_120,12] Siehe, wir aber werden morgen dasselbe tun, was wir heute getan
haben und noch tun werden, und das wird recht sein!
[JJ.01_120,13] Tue du desgleichen, und du wirst mit uns in der vollsten
Gegenwart des Herrn des Sabbats und aller Feste den Sabbat und das Osterfest
recht begehen!
[JJ.01_120,14] Frage das allerhabenste Kindlein, und Es wird dir dasselbe sagen
und treulichst kundtun!“
[JJ.01_120,15] Und der Joseph sprach: „Es ist alles recht und gut und wahr, aber
was ist da mit dem Gesetze Mosis? Hört dieses auf?“
[JJ.01_120,16] Die Jünglinge aber sprachen: „Gerechter Mann, du irrst dich, – sage, hatte Moses je das Osterfest nach Jerusalem beschieden?
[JJ.01_120,17] Hat er nicht allein nur da das Fest bestimmt, wo der Herr mit der
Bundeslade ist!?
[JJ.01_120,18] Siehe, nun aber ist der Herr nicht mehr mit der Bundeslade,
sondern Er ist mit dir und mit deinem Hause leibhaftig!
[JJ.01_120,19] Sage nun, wo solle nach Moses rechtermaßen das Osterfest begangen
werden?“
[JJ.01_120,20] Und der Joseph sprach: „Wenn also, da muß das Fest freilich wohl
hier begangen werden! Aber was tun wir mit den vielen Heiden hier?“
[JJ.01_120,21] Und die Jünglinge sprachen: „O gerechter Sohn aus David, kümmere
dich dessen nicht, sondern tue, was wir tun werden, und es wird schon alles
recht sein!“
[JJ.01_120,22] Hier verlangte das Kindlein den Joseph, bei welcher Gelegenheit
die Jünglinge sobald niederfielen, und sprach:
[JJ.01_120,23] „Joseph, wie heute, so morgen und übermorgen; – sorge dich aber
nicht der Unbeschnittenen wegen, denn diese sind nun besser als die
Beschnittenen!
[JJ.01_120,24] Siehe, an der Beschneidung der Vorhaut liegt nichts, alles aber
an der Beschneidung des Herzens!
[JJ.01_120,25] Diese Römer aber haben ein edel beschnittenes Herz; darum halte
Ich auch nun mit ihnen und nicht mit den Juden das Osterfest!“
[JJ.01_120,26] Diese Worte brachten den Joseph wieder ins Gleichgewicht; er ward
voll Freude und übergab alle Sorge den Jünglingen für das Osterfest.
[JJ.01_121] 121. Kapitel – Joseph, von Cyrenius zum Osterfest in seine Burg
geladen, in Osterfeiernöten. Des Kindleins beruhigende Worte. „Wo Ich bin, da
sind auch die wahren Ostern!“
20. Januar 1844
[JJ.01_121,01] Nachdem aber also die Feierung der Ostern bestimmt war und Joseph
sich in alles ergab,
[JJ.01_121,02] da trat der Cyrenius hin zu Joseph und sprach: „Erhabenster
Freund und Bruder! Siehe, heute war ich dein Gast und werde es bis auf den Abend
verbleiben!
[JJ.01_121,03] Morgen aber werde ich in meiner Burg ein kleines Fest bereiten
und lade dazu dein ganzes Haus ein, wie es hier versammelt ist,
[JJ.01_121,04] und ich hoffe, du wirst mir diese Freundschaft nicht abschlagen?!
[JJ.01_121,05] Denn nicht, um dir dadurch einen Ersatz zu machen, lade ich dich,
sondern aus meiner großen Liebe und Achtung, die ich für dich und dein ganzes
Haus hege, tue ich das!
[JJ.01_121,06] Denn siehe, auf übermorgen habe ich meine Abreise darum
festgesetzt und kann nicht so lange hier verweilen, als ich mir anfangs
vorgenommen habe;
[JJ.01_121,07] denn dringende Geschäfte veranlassen mich dazu, daß ich meinen
Plan abändern muß.
[JJ.01_121,08] Aber eben aus dem Grunde möchte ich einmal das Glück haben, dich
bei mir zu bewirten, und das sicher auf eine deiner würdige Art!“
[JJ.01_121,09] Hier stutzte der Joseph wieder und wußte nicht, was er tun solle;
denn er hatte den heiligen Ostersabbat vor sich, den er doch wenigstens in
seinem Hause feiern wollte.
[JJ.01_121,10] Er sagte daher zum Cyrenius: „Allerwertester Freund und Bruder im
Herrn!
[JJ.01_121,11] Siehe, morgen ist bei uns Juden der wichtigste Festtag, den ein
jeder Jude innerhalb seiner Hausflur wenigstens feiern muß, wenn er schon nicht
zum Tempel in Jerusalem ziehen kann!
[JJ.01_121,12] Ich müßte mir den bittersten Vorwurf machen, wenn ich dies erste
unserer Gesetze verletzen würde;
[JJ.01_121,13] daher kann ich dir in dieser Hinsicht wirklich nichts
versprechen!
[JJ.01_121,14] So du aber zu mir kommen willst und dein bevorhabendes Fest in
meinem Hause feiern, das eigentlich auch dir gehört, so wird es mir überaus
angenehm sein!“
[JJ.01_121,15] Und Cyrenius sprach: „Aber Bruder! Bist du denn ungläubiger denn
ich, ein Heide nach deinen Worten von Geburt an!?
[JJ.01_121,16] Was ist dein Kind? Ist Es nicht der Herr, von dem alle deine
Gesetze sind vom Anfange!?
[JJ.01_121,17] Sind die Jünglinge nicht Seine Urdiener? – Hat Er nicht das
Recht, die Gesetze zu bestimmen, der so allmächtig auf den Armen der jungen
Mutter ruht?!
[JJ.01_121,18] Wie, wenn Dieser mich erhörte, würdest du auch dann noch deinen
Festtag höher halten als Sein göttlich Wort?“
[JJ.01_121,19] Hier erhob Sich das Kindlein und sprach: „Ja Cyrenius, du hast
recht geredet; aber nur behalte alles bei dir!
[JJ.01_121,20] Morgen aber sind wir alle deine Gäste; denn wo Ich bin, da sind
auch die wahren Ostern, – denn Ich bin der Befreier der Kinder Israels aus
Ägypten!“ –
[JJ.01_121,21] Als der Joseph solches vernahm, da ließ er seine Ostern fahren
und nahm des Cyrenius Einladung an.
[JJ.01_122] 122. Kapitel – Josephs Frage nach dem Wegräumen des Tempelschuttes,
nach dem Schicksal der Meuterer und der drei Unterpriester und nach den acht
Kindern. Des Cyrenius Antwort.
22. Januar 1844
[JJ.01_122,01] Nach dieser Osterfesthaltungsbestimmung, mit der, wie schon
erwähnt, Joseph zufriedengestellt ward, fragte aber wieder Joseph den Cyrenius,
wie es mit der Wegschaffung des Tempelschuttes aussehe und wie mit den
Ausgegrabenen.
[JJ.01_122,02] Und der Cyrenius sprach: „O du mein erhabenster Bruder und
Freund, kümmere nur du dich dessen nicht;
[JJ.01_122,03] denn damit sind schon nach meiner Einsicht die besten
Bestimmungen getroffen worden!
[JJ.01_122,04] Der Schutt ist schon bis aufs letzte Steinchen hinweggeräumt, die
rein erschlagenen Priester begraben, und die Geretteten werde ich übermorgen
nach Tyrus mitnehmen und dort mit ihnen die rechten Verfügungen treffen!
[JJ.01_122,05] Siehe, also steht es mit dieser Sache! Ich meine, sie ist so gut
und gerecht als möglich bestellt?“
[JJ.01_122,06] Und der Joseph sprach: „Ja, fürwahr, besser hätte auch ein Vater
für seine eigenen Kinder nicht gesorgt! Ich bin damit vollkommen zufrieden!
[JJ.01_122,07] Aber was wirst du mit den Meuterern machen, die da gestern in der
Nacht mein Haus überfielen?“
[JJ.01_122,08] Und der Cyrenius sprach: „Siehe, das sind Hochverräter und haben
sich dadurch der Todesstrafe schuldig gemacht.
[JJ.01_122,09] Du aber weißt es, daß ich vom Blutvergießen kein Freund, sondern
nur der größte Feind bin!
[JJ.01_122,10] Daher habe ich ihnen die Todesstrafe erlassen und habe aber dafür
ihre wohlverdiente Strafe dahin beschieden, daß sie darum zu lebenslänglichen
Sklaven werden!
[JJ.01_122,11] Und ich meine, diese Strafe wird an Stelle der Todesstrafe nicht
zu groß sein, besonders wenn dem sich ganz Gebesserten auch geheim die
Freiwerdung möglich belassen wird.
[JJ.01_122,12] Sie kommen auch nach Tyrus mit, allwo mit ihnen die weiteren
Verfügungen getroffen werden.“
[JJ.01_122,13] Und der Joseph sprach: „Lieber Bruder! Auch da hast du ganz der
göttlichen Ordnung getreu gehandelt, und ich kann dich darum nur loben als einen
wahrhaft weisen Statthalter!
[JJ.01_122,14] Aber nun hätte ich noch eines auf dem Herzen! Siehe, da sind noch
die drei Unterpriester; was solle mit diesen nach deinem Rate?“
[JJ.01_122,15] Und der Cyrenius sprach: „O erhabenster Freund und Bruder! Auch
für die habe ich gesorgt.
[JJ.01_122,16] Der nun so wie ich denkende Maronius nimmt sie zu sich und wird
sie zu seinen Beamten verwenden in dem Amte, das ich ihm zuteilen werde.
[JJ.01_122,17] Sage, ist es recht also? – Wahrlich, wäre größer und tiefer meine
Einsicht, so könnte ich sicher noch bessere Verfügungen treffen!
[JJ.01_122,18] Aber so handle ich denn, wie es mir am besten vorkommt, und
denke, dein Herr und dein Gott wird ja segnen meinen guten Willen, wenn er auch
nicht aus der besten Einsicht hervorgeht?!“
[JJ.01_122,19] Und der Joseph sprach: „Der Herr hat schon gesegnet deine
Einsicht, wie deinen Willen, und du hast darum auch schon die besten Verfügungen
getroffen!
[JJ.01_122,20] Nun aber noch eines: Bis wann wirst du mir die acht Kinder
übersenden, darunter fünf Knaben und drei Mädchen seien?“
[JJ.01_122,21] Und der Cyrenius sprach: „Mein Bruder, mein Freund, das wird
meine erste Sorge sein, sowie ich in Tyrus anlangen werde!
[JJ.01_122,22] Nun aber lasse uns hinaus ins Freie ziehen, denn es ist heute ein
äußerst freundlicher Tag, und wir wollen da unsern Herrn loben.“ – Und Joseph
setzte darum gleich das ganze Haus in Bewegung.
[JJ.01_123] 123. Kapitel – Der Zug nach dem hl. Berg. Die Begegnung mit den
wilden Tieren. Die Zähmung der Bestien durch die zwei himmlischen Jünglinge.
23. Januar 1844
[JJ.01_123,01] Cyrenius mit seinem Gefolge, Maronius mit den drei Priestern und
Joseph mit der Maria und mit dem Kindlein, zwei Jünglinge und die Eudokia
bildeten den Zug;
[JJ.01_123,02] Maria und die Eudokia saßen auf zwei Eseln, die die beiden
Jünglinge leiteten.
[JJ.01_123,03] Die andern Jünglinge aber blieben mit den Söhnen Josephs daheim
und halfen ihnen das Haus bestellen und bereiten ein gutes Brot und Mittagsmahl,
welches aber freilich erst am Abende verzehrt ward.
[JJ.01_123,04] Außer der Stadt befand sich aber ein Berg, der ganz mit Zedern
bewachsen war und maß bei vierhundert Klafter Höhe.
[JJ.01_123,05] Dieser Berg ward von den Heiden als ein Heiligtum verehrt, daher
auch auf ihm kein Baum gefällt ward.
[JJ.01_123,06] Nur ein Weg, den die Priester angelegt hatten, führte bis zur
Vollhöhe, auf der ein offener Tempel errichtet war, von dem man nach allen
Seiten hin eine weite und reizende Aussicht hatte.
[JJ.01_123,07] Wegen der dichten Bewaldung dieses ziemlich weitgedehnten Berges
aber hielten sich auch fortwährend eine Menge reißender Bestien in den dichten
Waldungen dieses Berges auf, die die Besteigung des Berges unsicher und
gefährlich machten.
[JJ.01_123,08] Die drei Priester aber wußten wohl von dieser Eigenschaft des
Berges; daher traten sie auch hin zum Cyrenius, als er schon den Fuß des Berges
erreicht hatte, und zeigten ihm solches an.
[JJ.01_123,09] Und der Cyrenius sprach: „Sehet ihr denn nicht, daß ich keine
Furcht habe?
[JJ.01_123,10] Warum sollte ich auch diese haben? – Ist ja doch der Herr aller
Himmel und aller Welt mitten unter uns und zwei von Seinen allmächtigen
Dienern!“
[JJ.01_123,11] Die Priester ermannten sich bei diesen Worten des Cyrenius und
traten wieder zurück, und der Zug ging rasch bergan.
[JJ.01_123,12] Als aber die ganze Gesellschaft sich etwa eine gute halbe Stunde
tief im Gebirgswalde befand, da sprangen plötzlich drei mächtige Löwen aus des
Waldes Dickicht hervor und verrammten dem Cyrenius den Weg.
[JJ.01_123,13] Cyrenius erschrak darob nicht wenig und schrie um Hilfe.
[JJ.01_123,14] Und sogleich traten die zwei Jünglinge hervor, bedrohten die drei
Bestien, und diese verließen im Augenblick brüllend die Stelle;
[JJ.01_123,15] aber sie flohen nicht ins Dickicht zurück, sondern begleiteten
die Gesellschaft am Rande des Weges und taten niemandem etwas Leids an.
[JJ.01_123,16] Als aber die Gesellschaft wieder eine halbe Stunde weiter kam, da
kam ihr eine ganze Karawane von Löwen und Panthern und Tigern entgegen.
[JJ.01_123,17] Als aber diese unheimliche Karawane der beiden Jünglinge
ansichtig ward, da teilte sie sich zu beiden Seiten des Weges und machte also
unserer Gesellschaft Platz.
[JJ.01_123,18] Vielen in der Gesellschaft im Gefolge des Cyrenius aber war diese
Begegnung Ehrfurcht und allen Respekt einflößend, daß sie sich darob kaum zu
atmen getrauten.
[JJ.01_123,19] Als sie aber bemerkten, wie die Bestien in der Nähe des Kindleins
niedersanken und bebten, da ging den furchtsamen Heiden ein Licht auf, und sie
fingen an zu ahnen, wer im Kinde zu Hause ist. –
[JJ.01_124] 124. Kapitel – Eudokias und Tullias Ohnmacht. Die giftigen Schlangen
auf der Vollhöhe. Die Reinigung des Platzes durch Maria mit dem Kinde. Das
Erstaunen des Gefolges des Cyrenius.
24. Januar 1844
[JJ.01_124,01] Diese Bestienkarawane aber kehrte nicht um, sondern sie zog etwas
knurrend ihren Weg weiter.
[JJ.01_124,02] Die Eudokia an der Seite Marias, wie auch die Tullia an der Seite
des Cyrenius, der nun knapp vor den zwei Eseln ging, überfiel bei dem Anblick
wohl eine kleine Ohnmacht;
[JJ.01_124,03] aber der Joseph und die Maria flößten ihnen so viel Mut ein, daß
ihnen bald alle Furcht wieder verging.
[JJ.01_124,04] Und der Zug ging wieder ungehindert weiter und hatte nun bis auf
die Vollhöhe keinen Anstand mehr.
[JJ.01_124,05] Aber auf der Vollhöhe angelangt, und zwar in die herrliche Freie,
allda auf dem höchsten Punkte der Tempel stand, da erhob sich ein neuer Anstand.
[JJ.01_124,06] In der Gegend des Tempels war ein förmliches Lager von den
giftigsten Klapperschlangen und Vipern.
[JJ.01_124,07] Zu Hunderten sonnten sie sich auf dem weiten freien Platze um den
Tempel herum.
[JJ.01_124,08] Als dieses Geschmeiß der anrückenden Gesellschaft ansichtig ward,
da fing es an zu klappern und zu züngeln und zu pfeifen.
[JJ.01_124,09] Das Gefolge des Cyrenius ward darob ganz starr vor Angst.
Besonders schlecht ging es hier der Tullia, die zu Fuße ging; die ward ganz wie
von Sinnen und sah hier ihren Untergang vor Augen in ihrer großen Angst.
[JJ.01_124,10] Aber nicht nur die Menschen, sondern auch die drei Löwen fingen
an, ein gewisses Angstgetöne von sich zu geben, und schmiegten sich so eng als
möglich an die Menschen.
[JJ.01_124,11] Dem Cyrenius machte zwar dieser Anblick nichts, aber dennoch
genierte er ihn seines Weibes und seines Gefolges wegen.
[JJ.01_124,12] Er wandte sich darum an den Joseph und sprach: „Bruder! sage den
beiden Dienern des Herrn, daß sie dieses Geschmeiß bedrohen sollen!“
[JJ.01_124,13] Der Joseph aber sprach: „Es ist dieses nicht vonnöten!
[JJ.01_124,14] Denn siehe, da ist mein Weib eine Hauptmeisterin; lassen wir sie
nur voraustreten mit ihrem Lasttiere,
[JJ.01_124,15] und du wirst es sehen, wie dieses Geschmeiß vor ihr die Flucht
ergreifen wird!“
[JJ.01_124,16] Und die Maria mit dem Kindlein auf dem Arme trat mit ihrem
Lasttiere hervor; und als die Bestien die Maria ersahen,
[JJ.01_124,17] da flohen sie plötzlich mit Blitzesschnelle von dannen, und nicht
eine war irgend mehr zu erblicken.
[JJ.01_124,18] Es verwunderte sich aber darob das ganze Gefolge des Cyrenius,
und viele fragten sich ganz erstaunt untereinander:
[JJ.01_124,19] „Ist das nicht etwa gar die Hygéa, der auch alle Schlangen sollen
auf einen Wink gehorcht haben?“
[JJ.01_124,20] Cyrenius aber, der solches Fragen vernahm, sprach: „Was redet ihr
von Hygéa, die nie war!?
[JJ.01_124,21] Hier ist mehr als Juno, die auch nie war; es ist das von Gott dem
Höchsten erwählte Weib dieses erhabensten Weisen!“
[JJ.01_124,22] Hier stutzten alle aus dem Gefolge des Cyrenius; aber keiner
getraute sich weiter jemanden darüber zu fragen.
[JJ.01_125] 125. Kapitel – Der gefährliche Tempel. Der Schwarm schwarzer
Fliegen. Der Tempel stürzt ein. Die Gesellschaft unter dem Feigenbaum.
25. Januar 1844
[JJ.01_125,01] Als die Vollhöhe dieses Berges auf die Weise von all dem
Geschmeiße gereinigt war, da sprach der Cyrenius zu seiner Dienerschaft:
[JJ.01_125,02] „Gehet in den Tempel und feget ihn, und bedecket den Altar mit
reinen Tüchern, und leget dann den mitgenommenen Mundvorrat auf denselben!
[JJ.01_125,03] Wir werden sodann in diesem schönen Aussichtstempel eine kleine
Stärkung zu uns nehmen!“
[JJ.01_125,04] Sogleich ging die Dienerschaft des Cyrenius und tat, was ihr
anbefohlen ward.
[JJ.01_125,05] Als also alles bestellt war, da machte der Cyrenius dem Joseph
und der Maria die Einladung, daß sie ihm in den Aussichtstempel folgen sollen,
um dort eine kleine Stärkung und Erfrischung zu nehmen.
[JJ.01_125,06] Der Joseph aber sprach: „Bruder, ich sage dir, lasse eilends
alles aus dem Tempel holen, sonst fällt er eher zusammen, als bis du deine
Sachen wirst herausgeholt haben!
[JJ.01_125,07] Denn siehe, dies Gebäude ist schon überaus alt, verwittert und
locker und hat einst zu großen Schändlichkeiten den Priestern gedient!
[JJ.01_125,08] Darum wird es nun nur noch von einigen argen Geistern
zusammengehalten.
[JJ.01_125,09] Trete nun ich mit meinem Weibe und Kindlein in dies lose Gebäude,
da werden die argen Geister entfliehen, und der ganze Tempel stürzt dann in
dampfende Trümmer über uns zusammen!
[JJ.01_125,10] Ich bitte dich darum, befolge meinen Rat, und du wirst gut
fahren!“
[JJ.01_125,11] Der Cyrenius machte hier große Augen und befolgte den Rat Josephs
aber dennoch augenblicklich.
[JJ.01_125,12] Es war aber seine Dienerschaft kaum noch, wennschon eiligst, mit
diesem Geschäfte fertig, als man eine große Menge schwarzer Fliegen aus dem
Tempel entfliegen sah unter einem wilden Stoßgesumse.
[JJ.01_125,13] Bei dieser Erscheinung rief Joseph den Dienern zu: „Begebet euch
schleunigst aus dem Tempel, sonst leidet ihr Schaden!“
[JJ.01_125,14] Wie vom Sturmwinde ergriffen, schossen auf diesen Zuruf Josephs
die Diener des Cyrenius aus dem Tempel.
[JJ.01_125,15] Als sie aber kaum noch einige Schritte in größter Eile vom Tempel
entfernt waren, da stürzte schon der Tempel unter großem Gekrache zusammen.
[JJ.01_125,16] Alles entsetzte sich und schlug die Hände über dem Kopfe
zusammen; selbst die drei getreuen Löwen machten bei dieser Gelegenheit etwas
Reißaus, kamen aber nachderhand wieder.
[JJ.01_125,17] Man fragte sich allseitig um den Grund dieser Begebenheit; aber
unter den Heiden – mit Ausnahme des Cyrenius – konnte niemand dem andern einen
Bescheid erteilen.
[JJ.01_125,18] Als aber die Gesellschaft sich von dem Schreck ein wenig erholt
hatte, da fragte der Cyrenius den Joseph, wo da wohl ein sicherer Platz wäre,
den er möchte für die Erfrischungen decken lassen.
[JJ.01_125,19] Und Joseph zeigte ihm ein ganz freies grünes Plätzchen unter
einem Gebirgsfeigenbaume, der voll von Blüten und Früchten war.
[JJ.01_125,20] Und sogleich sandte Cyrenius seine Diener dahin, ließ den Platz
reinigen und dann gar zierlich decken und darauf legen allerlei mitgenommene
Erfrischungen.
[JJ.01_126] 126. Kapitel – Der Imbiß im Freien mit den Jünglingen. Der Brand des
kaiserlichen Palastes. Des Cyrenius Aufregung und Zorn. Josephs Ruhe und
gelassene Antwort an den erregten Cyrenius.
26. Januar 1844
[JJ.01_126,01] Darauf lud der Cyrenius den Joseph abermals ein, daß er sich mit
ihm an die Erfrischungen machen möchte samt der Maria, dem Kindlein und der
Eudokia.
[JJ.01_126,02] Hier ging der Joseph sogleich mit den Seinen und nahm zuunterst
Platz und segnete die Speise und aß und trank.
[JJ.01_126,03] Dem Beispiele Josephs folgten auch die zwei Jünglinge und dann
die ganze andere Gesellschaft.
[JJ.01_126,04] Als sie aber also ganz wohlgemut beisammensaßen und aßen und
tranken,
[JJ.01_126,05] siehe, da bemerkte der Maronius, der da an der Seite des Cyrenius
saß, wie sich über die Stadt Ostracine eine mächtige Rauchsäule zu erheben
anfing,
[JJ.01_126,06] und wie auch am etwas fernen Meeresufer sich ebenfalls dichte
Rauchsäulen erhoben.
[JJ.01_126,07] Er zeigte solches dem Cyrenius sogleich an, und dieser erkannte
sobald, daß da in der Stadt eben sein Palast in Flammen stehe, – und vermutete,
daß auch am etwas fernen Meeresufer seine Schiffe angezündet seien.
[JJ.01_126,08] Wie von tausend Blitzen getroffen, sprang hier Cyrenius auf und
schrie:
[JJ.01_126,09] „Um des Herrn willen, – was muß ich erschauen?! – Sind das die
Früchte meiner Güte an euch elenden Ostracinern?
[JJ.01_126,10] Wahrlich, ich will diese Güte in die Wut eines Tigers umwandeln,
und ihr sollt euren Frevel büßen, wie ihn noch keine Furie in der untersten
Hölle gebüßt hat!
[JJ.01_126,11] Auf, Freunde und Brüder! Nun ist für uns hier keines Bleibens
mehr! Auf, auf zur gerechten Rache gegen diese Frevler!!!“
[JJ.01_126,12] Alles Gefolge des Cyrenius sprang auf diesen furchtbaren Ruf des
Cyrenius mit Blitzesschnelle auf und raffte im Nu alles zusammen.
[JJ.01_126,13] Nur Joseph blieb mit den Seinigen ganz ruhig sitzen und sah kaum
nach der Gegend hin, da es brannte.
[JJ.01_126,14] Cyrenius bemerkte das und fuhr den Joseph hastig an, sagend:
[JJ.01_126,15] „Was für ein Freund bist du mir wohl, so du im Anblicke meines
Unglücks also ruhig hier sitzen kannst?!
[JJ.01_126,16] Weißt du doch, daß ich ohne dich diesen Gebirgsweg nicht sicher
passieren kann wegen der vielen reißenden Bestien!
[JJ.01_126,17] Daher erhebe dich und stelle mich sicher, sonst erbitterst du
mich auch gegen dich!“
[JJ.01_126,18] Und Joseph sprach ganz gelassen: „Siehe, du zornentbrannter
Römer, gerade jetzt werde ich dir nicht folgen!
[JJ.01_126,19] Was wirst du wohl tun, so du etwa in zwei Stunden hinabkommst? – Wird in der Zeit nicht alles schon von den Flammen verzehrt sein?!
[JJ.01_126,20] Willst du aber dafür Rache üben, da meine ich, es dürfte dazu
noch immer Zeit genug sein!
[JJ.01_126,21] Wärest du nicht also aufgefahren, wahrlich, ich hätte es den
beiden Jünglingen gesagt, und diese hätten dem Brande augenblicklich den Garaus
gemacht.
[JJ.01_126,22] Da du aber selbst also aufgefahren bist, so ziehe nun selbst hin,
und dämpfe mit deinem Zorne das Feuer!“
[JJ.01_127] 127. Kapitel – Cyrenius versucht durch Tullia Joseph günstiger zu
stimmen. Josephs Freundesworte. Die Löschung des Brandes durch die Willenskraft
der zwei Jünglinge.
27. Januar 1844
[JJ.01_127,01] Diese ganz ernstlich von Joseph gesprochenen Worte machten auf
den Cyrenius einen gar mächtigen Eindruck, und er wußte nicht, was er darauf
sagen solle;
[JJ.01_127,02] auch getraute er sich dem sichtlich etwas aufgeregten Manne nicht
noch mit irgendeinem Worte zu kommen.
[JJ.01_127,03] Darum sagte er zur Tullia: „Gehe du hin zu dem weisen Manne und
trage ihm meine verzeihliche Not und die von ihr bewirkte Aufregung meines
Gemütes vor!
[JJ.01_127,04] Bitte ihn um Verzeihung und versichere ihm, daß ich ihm in alle
Zukunft keine solche Minute mehr bereiten werde!
[JJ.01_127,05] Nur möchte er mich diesmal nicht sitzenlassen und solle mir nicht
versagen seinen Beistand!“
[JJ.01_127,06] Joseph aber vernahm wohl, was Cyrenius zu der Tullia geredet
hatte;
[JJ.01_127,07] er stand darum auf, ging hin zum Cyrenius und sprach: „Edler
Freund und Bruder in Gott dem Herrn! Wir haben bis jetzt noch keine Unterhändler
gebraucht,
[JJ.01_127,08] sondern wir haben unser gegenseitiges Anliegen uns allzeit offen
bekannt!
[JJ.01_127,09] Wozu solle da dein Weib eine Unterhändlerin machen, als wären wir
beide uns nicht genug?
[JJ.01_127,10] Meinst du etwa, als könnte auch ich mich irgendeiner Sache wegen
erzürnen?
[JJ.01_127,11] O siehe, da würdest du dich sehr irren an mir! – Mein Ernst ist
nur die Frucht meiner großen Liebe zu dir!
[JJ.01_127,12] Schlecht aber ist der Freund, der seinen Freund im Notfalle nicht
auch ein Wort des Ernstes kann vernehmen lassen!
[JJ.01_127,13] Siehe, wäre an der Sache, die dich nun so kümmert, etwas, da
dürftest du doch versichert sein, daß ich dich zuerst darauf aufmerksam gemacht
hätte, wie ich es dir sonst noch bei jeder Gelegenheit tat!
[JJ.01_127,14] Hier aber ist nichts als ein ganz leeres Blendwerk von seiten
derjenigen argen Geister, die hier vertrieben wurden!
[JJ.01_127,15] Sie üben nun eine blinde Rache aus und wollen uns darum
beunruhigen, weil wir sie hier aus ihrem alten Neste vertrieben haben.
[JJ.01_127,16] Siehe, das ist das Ganze! – Hättest du mich früher gefragt, bevor
du dich erregtest, da hättest du nicht einmal vonnöten gehabt, dich vom Boden zu
erheben!
[JJ.01_127,17] Du aber trautest sogleich deinen Sinnen und erregtest dich für
nichts und nichts!
[JJ.01_127,18] Nun aber setze dich nur ganz beruhigt wieder nieder, und schaue
mit gelassenen Blicken dem Brande zu, und sei versichert, er wird bald ein Ende
nehmen!“
[JJ.01_127,19] Diese Kundgabe Josephs war für den Cyrenius freilich wohl
ungefähr das, was da ist für eine Kuh ein neues Tor;
[JJ.01_127,20] aber er glaubte dennoch, was ihm der Joseph gesagt hatte, obschon
er von dieser Sache nichts verstand.
[JJ.01_127,21] Joseph aber sprach in der Gegenwart des Cyrenius zu den
Jünglingen:
[JJ.01_127,22] „Blicket auch ihr einmal hin nach der Stätte, da die hier
Vertriebenen ihren Mutwillen treiben, damit des ein Ende werde zur Beruhigung
meines Bruders!“
[JJ.01_127,23] Und die zwei taten das, und siehe, im Augenblick war von dem
Brande keine Spur mehr zu entdecken!
[JJ.01_127,24] Nun erst begriff Cyrenius etwas besser, was ihm zuvor Joseph
kundgab, und ward nun wieder heiteren Mutes; aber vor den zwei Jünglingen wie
vor dem Joseph bekam er einen ungeheuren Respekt.
[JJ.01_128] 128. Kapitel – Cyrenius wird belehrt über die verheißenen Zupfereien
des Herrn. Joseph erklärt die wunderbaren Erscheinungen in der Natur.
29. Januar 1844
[JJ.01_128,01] Nachdem also alles wieder zur Ordnung und Ruhe gebracht ward, da
richtete Sich das Kindlein auf und sprach zum Cyrenius:
[JJ.01_128,02] „Höre Mich an, du edelherziger Mann! – Erinnerst du dich noch
dessen, wie Ich den Bruder Jakob bei den Haaren zupfte?
[JJ.01_128,03] Siehe, da wolltest du, daß Ich auch dich also bei den Haaren
zupfen sollte!
[JJ.01_128,04] Ich versprach dir solches, und siehe, nun halte Ich auch schon
Mein Versprechen;
[JJ.01_128,05] denn all die kleinen Überraschungen, die dir seither vorkamen,
sind nichts als die dir verheißenen Zupfereien bei deinen Haaren!
[JJ.01_128,06] Wenn dir aber in Zukunft wieder solche vor- und zukommen werden,
da erinnere dich dieser Meiner Worte und fürchte nichts, und werde nimmer
zornig;
[JJ.01_128,07] denn du wirst darob kein Haar verlieren! Dem Ich solches tue, den
liebe Ich! – und der hat nichts zu fürchten weder in dieser noch in der andern
Welt!“
[JJ.01_128,08] Dem Cyrenius kamen bei dieser Erklärung des Kindleins die Tränen,
und er wußte sich vor lauter Liebe und Dank nicht zu helfen.
[JJ.01_128,09] Es vernahmen aber auch viele umstehende Heiden solche Rede des
Kindleins und erstaunten über alle Maßen, wie dies Kindlein von einem
Vierteljahre Alters also vollkommen weise und klarst zu reden vermag.
[JJ.01_128,10] Und es wandten sich einige an den Joseph und fragten ihn, wie
doch solches zuging, daß dies Kindlein in so frühester Zeit also vollkommen
ausgebildet zu reden vermag?
[JJ.01_128,11] Joseph zuckte hier mit den Achseln und sprach: „Liebe Freunde! – Auf der großen Erde, und besonders im Gebiete des Lebens, zeigen sich hie und da
die wunderbarsten Erscheinungen.
[JJ.01_128,12] Sie geschehen vor unseren Augen zwar, aber wer kann die geheimen
Gesetze einer schaffenden Gottheit bestimmen, nach denen sie solches wirkt?!
[JJ.01_128,13] Fürwahr, wir treten, als selbst die größten Wunder, der Wunder
Unzahl täglich mit unseren Füßen – und beachten sie kaum!
[JJ.01_128,14] Wer von uns aber weiß, wie dieses zahllose Wunderwerk entsteht – wie das Gras, wie der Baum, wie der Wurm, wie die Mücke, wie der Fisch im
Wasser?
[JJ.01_128,15] Fürwahr, uns bleibt da nichts übrig, als die Wunder zu betrachten
und den großen heiligen Werkmeister derselben zu rühmen, zu loben und
anzubeten!“
[JJ.01_128,16] Diese Erklärung des Joseph beruhigte vollkommen die fragenden
Heiden,
[JJ.01_128,17] und sie sahen von diesem Augenblicke die ganze Natur mit ganz
anderen Augen an.
[JJ.01_128,18] Sie zerstreuten sich dann nach allen Seiten des freien Berges und
betrachteten die Wunder der Schöpfung.
[JJ.01_128,19] Cyrenius aber wandte sich dennoch heimlich an den Joseph und
fragte ihn, ob er solches im Ernste nicht wüßte.
[JJ.01_128,20] Und Joseph beteuerte ihm das und sprach: „Wende dich darob an das
Kindlein; das wird dir sicher die beste Auskunft geben.“
[JJ.01_129] 129. Kapitel – Des Cyrenius Frage über die wunderbare Redefähigkeit
des drei Monate alten Jesuskindleins. Die tiefweise Antwort der Engel über das
geheimnisvolle Wesen des Kindleins.
30. Januar 1844
[JJ.01_129,01] Und der Cyrenius wandte sich darauf sogleich allerdemütigst an
das Kindlein und sprach:
[JJ.01_129,02] „Du mein Leben, Du mein Alles! – Siehe, es ist dennoch, so man es
auch weiß, Wer Du bist, zu unerhört wunderbar, daß Du, ein Kindlein von drei
Monden Alters, gar so vollkommen und überweise zu reden vermagst!
[JJ.01_129,03] Ich möchte darum von Dir auf diesem Berge, da sich schon so viel
Wunderbarstes zutrug, ein kleines Licht empfangen! – Möchtest Du mir denn
darüber nicht einige Worte geben?“
[JJ.01_129,04] Das Kindlein aber sprach: „Cyrenius, siehe, dort an der Seite
Josephs befinden sich die zwei Diener; wende dich an sie, die werden dir das
kundtun!“
[JJ.01_129,05] Cyrenius befolgte sogleich diesen Rat und wandte sich in dieser
Sache an die beiden Jünglinge.
[JJ.01_129,06] Und die sprachen: „Siehe, das ist eine rein himmlische Sache; so
wir sie dir auch kundgeben, da wirst du sie aber dennoch nicht fassen!
[JJ.01_129,07] Denn naturmäßige Menschen können nimmer das reinst Himmlische
erfassen, weil ihr Geist noch nicht ledig ist, sondern gefangen von aller
Materie der Welt.
[JJ.01_129,08] Du aber bist auch noch zum größten Teile naturmäßig; also wirst
du auch das nicht fassen, was wir dir kundgeben werden!
[JJ.01_129,09] Du aber willst davon Kunde erhalten, so wollen wir sie dir auf
des Herrn Geheiß auch geben;
[JJ.01_129,10] aber das Verstehen können wir dir nicht geben darum, da du noch
ein naturmäßiger Mensch bist.
[JJ.01_129,11] Und so höre uns! – Siehe, das Kindlein, wie Es ist in Seiner
menschlichen Art, kann euch gegenüber als naturmäßigen Menschen noch lange nicht
reden!
[JJ.01_129,12] Das wird Es erst in einem Jahre halbwegs imstande sein!
[JJ.01_129,13] Aber im Herzen des Kindleins wohnet die Fülle der ewigen
allmächtigen Gottheit!
[JJ.01_129,14] Wenn nun dies Kindlein dir vernehmlich und überweise spricht, da
spricht nicht das dir sichtbare Kind, sondern die Gottheit aus dem Kinde in dein
zu dem Behufe erwecktes Gemüt.
[JJ.01_129,15] Und du vernimmst dann die Worte also, als redete das dir
sichtbare Kindlein.
[JJ.01_129,16] Aber dem ist nicht also, sondern da redet nur die dir unsichtbare
Gottheit!
[JJ.01_129,17] Und was du wie von außen her zu hören meinst, das hörst du nur in
dir selbst; und das ist mit jedem der Fall, so er dies Kindlein reden hört!
[JJ.01_129,18] Damit du dich aber davon überzeugst, so stelle dich nun so ferne,
als du willst, von hier, da man des Kindleins natürliche Stimme nicht mehr
vernehmen möchte.
[JJ.01_129,19] Und das Kindlein wird dann dich anreden, und du wirst Es in der
Ferne so gut vernehmen wie in der größten Nähe! – Gehe und erfahre das!“
[JJ.01_129,20] Und der Cyrenius, vom Ganzen zwar nichts verstehend, ging aber
dennoch bei tausend Schritte nach des Berges Fläche hin.
[JJ.01_129,21] Da vernahm er auf einmal den Ruf des Kindleins ganz hell und
klar, der also lautete:
[JJ.01_129,22] „Cyrenius! Kehre nur schnell wieder zurück; denn unter dem
Punkte, darüber du stehest, ist eine Höhle, voll von Tigern!
[JJ.01_129,23] Diese fangen an dich zu wittern; daher eile zurück, ehe sie
deiner ansichtig werden!“
[JJ.01_129,24] Cyrenius, solches vernehmend, floh sogleich mit Windesschnelle
zurück und stand nun ganz verblüfft da. Er wollte weiter fragen, aber er wußte
am Ende nicht, um was er so ganz eigentlich fragen sollte; denn diese Erfahrung
war ihm zu wunderlich.
[JJ.01_130] 130. Kapitel – Cyrenius bekennt seine Unwissenheit in geistigen
Dingen. Seine Bitte um Licht. Die Antwort der Engel als ein großes und klares
Zeugnis über des Herrn Wesen und Menschwerdung. Des Kindleins Segen über
Cyrenius.
31. Januar 1844
[JJ.01_130,01] Die beiden Jünglinge sprachen darauf nichts weiter; aber der
Cyrenius war durch diese Erklärung zu sehr angestochen worden, als daß er nun
ruhen konnte.
[JJ.01_130,02] Als er sich nach einiger Zeit erst wieder gesammelt hatte, da
sprach er zu den beiden Jünglingen:
[JJ.01_130,03] „Hocherhabenste Diener Gottes von Ewigkeit ganz sicher! Eure
Erklärung ist zu wunderbar erhaben und all mein Leben anziehend, als daß ich
mich mit dem begnügen sollte, was ihr mir gesagt und gezeigt habt!
[JJ.01_130,04] Ich erkenne nun wohl vollkommen, daß ich ein aller höheren
Weisheit vollkommen lediger Verstand- und Naturmensch bin, der kaum um eine
Spanne weiter sieht, als er greift.
[JJ.01_130,05] Sollte es aber nicht möglich sein, mir nur ein wenig mehr
Einsicht zu verschaffen?!
[JJ.01_130,06] Ich bitte euch demütigst darum, tut mir solches! Öffnet mir ein
in mir sicher verborgen liegendes tieferes Erkenntnisvermögen,
[JJ.01_130,07] auf daß ich wenigstens das, was ihr mir kundgegeben habt, klarer
verstehen möchte!“
[JJ.01_130,08] Die beiden aber sprachen: „Siehe, du sonst so lieber Freund und
Bruder, du bittest hier um vor der Zeit Unmögliches!
[JJ.01_130,09] Denn solange du noch im Fleische wandelst, magst du nimmer Dinge
der höchsten göttlichen Weisheit begreifen!
[JJ.01_130,10] Denke dir, Gott der Herr, der hier in aller Seiner endlosen und
ewigen Fülle in diesem Kindlein wohnet, hätte zahllose Myriaden der herrlichsten
und übergroßen Welten und Erden, deren endlos kleinsten Teil du zur Nachtzeit
als Sternchen am Himmel erschauest,
[JJ.01_130,11] die Er Sich hätte, wie diese Erde, für Seine Menschwerdung
erwählen können! Und dennoch hat Er diese magere Erde erwählt, die doch unter
allen zahllosen Weltkörpern der elendeste und schlechteste ist in jeder Hinsicht
genommen!
[JJ.01_130,12] Aber Ihm, dem ewigen Herrn der Unendlichkeit, hat es also
wohlgefallen; Er tat es, wie es vor unseren Augen liegt!
[JJ.01_130,13] Meinst du aber, Er hat dazu etwa unseres Rates bedurft oder etwa
unserer Einwilligung?
[JJ.01_130,14] O siehe, das wäre grundirrig gedacht! – Er tut von Ewigkeit
allein, was Er will, und noch nie ist jemand Sein Ratgeber gewesen!
[JJ.01_130,15] Wer aber kann Ihn fragen und sagen: ,Herr! was tust Du, und warum
tust Du es?‘
[JJ.01_130,16] Er Selbst ist in Sich ewig die höchste Vollendung, die höchste
Weisheit, die größte Liebe und Sanftmut!
[JJ.01_130,17] Er ist in Sich die allein allerhöchste Kraft und Macht; ein
Gedanke der Vernichtung in Seiner Brust, und alles sinkt im schnellsten
Augenblicke ins Nichts zurück!
[JJ.01_130,18] Und siehe, dennoch läßt Er Sich hier als ein schwaches
Menschenkind auf den Armen einer schwachen jüdischen Jungfrau locken!
[JJ.01_130,19] Und Er, der zahllose Sonnen, Welten und Wesen endloser Art mit
der belebenden, allerweisest zweckdienlichsten Kost allerreichlichst von
Ewigkeit versieht, sauget hier auf dieser mageren Erde Selbst die schwachen
Brüste einer fünfzehnjährigen Jungfrau!
[JJ.01_130,20] Er als das Grundleben alles Lebens hat Selbst das Kleid des
Todes, der Sünde angezogen und hat Sich verborgen im Fleische und Blute!! –
[JJ.01_130,21] Was sagst denn du dazu? – Wie kommt dir das vor? – Möchtest du
darüber nicht auch eine hellere Beleuchtung haben?!
[JJ.01_130,22] Siehe, sowenig aber du das je in der Tiefe erfassen wirst,
ebensowenig kann dir hier über das Frühreden dieses allerhöchsten Kindes mehr
gesagt werden.
[JJ.01_130,23] Liebe Es aber aus allen deinen Kräften in dir, und verrate Es
nirgends, so wirst du auch in dieser Liebe etwas finden, was dir sonst alle
Himmel in Ewigkeiten nicht zu offenbaren vermöchten!“
[JJ.01_130,24] Diese Worte erfüllten den Cyrenius mit einer so ungeheuren
Achtung vor dem Kinde, daß er sogleich vor Demselben niederfiel und weinend
sprach: „O Herr! Ich bin ewig solcher Gnade nicht wert, die ich hier genieße!“
[JJ.01_130,25] Das Kindlein aber sprach: „Cyrenius, stehe auf, und verrate Mich
nicht! Ich kenne ja dein Herz, und liebe dich, und segne dich; darum erhebe
dich!“ – Und der Cyrenius erhob sich sobald, ganz bebend vor Liebe und Achtung.
[JJ.01_131] 131. Kapitel – Ein nahender Gewittersturm. Josephs Rat. Die
Vorahnung und Flucht der Löwen nach dem Walde.
1. Februar 1844
[JJ.01_131,01] Es kamen aber die andern, die sich ehedem nach allen Seiten der
sehr gedehnten Fläche des Berges zerstreut hatten, mit ganz bekümmerten
Gesichtern zurück.
[JJ.01_131,02] Denn sie ersahen aus dem südwestlichen Teile Ägyptens sich gar
mächtige schwarze Wolken erheben, die allzeit Vorläufer großer Stürme waren.
[JJ.01_131,03] Nordöstlich gegen Ostracine hin war freilich wohl alles rein;
aber desto schauerlicher sah es über dem Gebirge, wie schon gesagt, südwestlich
aus.
[JJ.01_131,04] Diese Zurückgekommenen rieten daher zu einer schnellen Heimkehr.
[JJ.01_131,05] Cyrenius aber sagte: „Wenn es an der rechten Zeit sein wird,
werden uns schon diese mächtigen Weisen kundgeben;
[JJ.01_131,06] solange sich aber diese ruhig verhalten, da wollen auch wir uns
kein graues Haar wachsen lassen!“
[JJ.01_131,07] Maronius und der Oberste sprachen aber: „Du hast recht; aber gehe
hin über diese kleine Anhöhe, und sieh, und du wirst sicher auch unserer Meinung
sein!
[JJ.01_131,08] Denn da sieht es ja aus, als wenn alle Furien auf einmal die Erde
in den Brand gesteckt hätten!“
[JJ.01_131,09] Cyrenius aber fragte den etwas schlummernden Joseph:
[JJ.01_131,10] „Freund und Bruder, hast du vernommen, was diese da mir für eine
warnende Nachricht gebracht haben?“
[JJ.01_131,11] Und der Joseph sprach: „Ich schlummerte und weiß kaum, wovon da
nun unter euch die Rede war.“
[JJ.01_131,12] Und der Cyrenius sprach: „So erhebe dich, und gehe mit mir auf
diese Anhöhe, und du wirst den Stoff unserer Rede sogleich entdecken!“
[JJ.01_131,13] Und Joseph erhob sich und ging mit dem Cyrenius auf die Höhe.
[JJ.01_131,14] Als sie da anlangten, zeigte Cyrenius dem Joseph sogleich das
höchst drohende Aussehen des herannahenden Sturmes.
[JJ.01_131,15] Und der Joseph sprach: „Ja, was willst du da nun machen?
[JJ.01_131,16] Fliehen? – Wohin? – In einer Viertelstunde ist der Sturm
längstens da!
[JJ.01_131,17] Nach Ostracine brauchen wir laufend anderthalb Stunden; bevor wir
noch durch den oberen Teil der Gebirgswaldung kommen, hat uns der Sturm lange
schon eingeholt!
[JJ.01_131,18] Was dann in der unsicheren Schlucht, wenn uns eine Legion von
Bestien umringen werden, was sie bei großen Stürmen gerne tun?!
[JJ.01_131,19] Und wenn uns obendrauf noch reißende Wolkenbruchströme ereilen
und uns schonungslos in die Tiefe mitreißen, – was machen wir dann?!
[JJ.01_131,20] Daher bleiben wir lieber hier auf der Höhe, da können wir
höchstens naß werden, während uns im Walde allerlei Ungemach zustoßen kann!“
[JJ.01_131,21] Cyrenius war mit diesem Rate zufrieden und ging mit Joseph unter
den Feigenbaum zurück.
[JJ.01_131,22] Aber die Gesellschaft des Cyrenius machte dabei dennoch sehr
bedenkliche Mienen, – besonders als sie die drei Löwen auf einmal aufspringen
und die Flucht in die Wälder ergreifen sah.
[JJ.01_131,23] Und der Maronius sprach zum Joseph selbst: „Siehe, die drei uns
getreu gewordenen Bestien haben sicher im Vorgefühle für die Kalamität, die uns
hier erwartet, die sie schützende Flucht ergriffen! Sollen wir nicht desgleichen
tun?“
[JJ.01_131,24] Joseph aber sprach: „Der Mensch hat nicht vom Tiere zu lernen,
was er tun soll, sondern vom Herrn der Natur!
[JJ.01_131,25] Ich aber bin der Meinung, daß ich klüger bin als das Tier; darum
bleibe ich und werde den Sturm hier abwarten und nach demselben erst aufbrechen,
falls einer kommen wird!“ – Damit mußten sich nun alle zufriedenstellen und
bleiben in banger Erwartung.
[JJ.01_132] 132. Kapitel – Der Berggipfel im Nebel. Die Götterfurcht der Heiden.
Cyrenius' Mut erprobt im Toben des Unwetters. Das Verstummen des Gewitters auf
das Machtwort des Jesuskindleins.
3. Februar 1844
[JJ.01_132,01] Es dauerte aber keine Viertelstunde, als sich der Gipfel des
Berges auf einmal in Nebel zu hüllen anfing, und das so dicht, daß es förmlich
finster wurde.
[JJ.01_132,02] Die ganze Gesellschaft des Cyrenius fing an zu wehklagen und
sprach:
[JJ.01_132,03] „Da haben wir's jetzt! – der Zeus wird uns hier schön bedienen!
[JJ.01_132,04] Hier wird es nicht heißen: Ferne von Zeus, ferne vom Blitze!
[JJ.01_132,05] Sondern hier können wir alle gar übel umkommen; denn Sterbliche
sollen sich den Göttern nie über die Gebühr nahen, wollen sie mit heiler Haut
auf der Erde wandeln!“
[JJ.01_132,06] Der Cyrenius aber sprach etwas scherzhaft: „Nun sollen mich eure
Götter allesamt etwas gerne haben!
[JJ.01_132,07] Ich habe einen besseren Gott gefunden, bei dem es nicht heißt:
Ferne von Ihm, auch ferne vom Blitze!
[JJ.01_132,08] Sondern da heißt es ganz umgekehrt: Ferne von Ihm, ferne vom
Leben – und sehr nahe dem tötenden Blitze!
[JJ.01_132,09] Aber nahe bei Ihm heißt dann auch soviel als: Nahe dem Leben – und sehr ferne vom tötenden Blitze!
[JJ.01_132,10] Darum schrecken mich nun auch diese Nebel gar nicht; denn ich
weiß ja, daß wir alle dennoch sehr ferne vom tötenden Blitze sind!“
[JJ.01_132,11] Als aber der Cyrenius solches noch kaum ausgesprochen hatte, da
zuckte schon ein knallender Blitz gerade vor der Gesellschaft in die Erde, und
diesem folgte bald eine Legion!
[JJ.01_132,12] Das frappierte den Cyrenius ein wenig, und seine Gefährten
sprachen: „Wie gefällt dir das auf deine frühere Äußerung?“
[JJ.01_132,13] Und der Cyrenius sprach: „Sehr gut; denn das ist ja ein
wahrhaftes Mordsspektakel, bei dem von uns noch keiner das Leben verloren hat!
[JJ.01_132,14] Mir scheint, eure Götter gewahren hier den Bruder des Kaisers – und wen ganz andern noch! Darum tun sie uns diese Ehre an!“
[JJ.01_132,15] Ein Hauptmann aber aus der Gesellschaft des Cyrenius, der noch so
ziemlich stark unter dem Pantoffel der Götter stand, sprach zum scherzenden
Cyrenius:
[JJ.01_132,16] „Aber ich bitte Eure Kaiserliche Consulische Hoheit, scherzet ja
nicht hier mit den Göttern! – denn wie leicht könnte das der flinke Merkur dem
Zeus benachrichten, und wir wären dann alle mit einem Blitze verloren!“
[JJ.01_132,17] Und der Cyrenius sprach, noch mehr scherzend: „Mein lieber
Hauptmann, setze dich darob ganz ruhig zur Erde nieder!
[JJ.01_132,18] Denn der Merkur hat nun einen ewigen Hausarrest von Zeus
bekommen, und der Zeus selbst hat von einer ganz andern Juno eine so derbe
Maulschelle bekommen, daß ihm darob das Hören und Sehen für ewig verging!
[JJ.01_132,19] Daher magst du nun ganz ruhig sein in dieser Hinsicht; denn von
nun an wird der Zeus mit Blitz und Donner nicht viel mehr zu schaffen haben!“
[JJ.01_132,20] Es fing aber bei dieser Gelegenheit stets heftiger an zu blitzen
und gar furchtbar zu donnern, und der Hauptmann bemerkte:
[JJ.01_132,21] „Oh! Ihre Kaiserliche Consulische Hoheit werden diese Schmährede
gegen die Götter sicher noch hoch bereuen!“
[JJ.01_132,22] Und der Cyrenius sprach: „Heute sicher nicht; vielleicht morgen,
wenn mir so viel Zeit übrigbleiben wird!
[JJ.01_132,23] Denn siehe, so ich gleich dir und noch so manchem anderen Toren
die Götter fürchten möchte, da würde ich gerade jetzt unter diesem Feuermeere
nicht also reden!
[JJ.01_132,24] Weil ich aber eben die Götter durchaus nicht mehr fürchte, darum
rede ich also!“
[JJ.01_132,25] Damit war der Hauptmann abgefertigt und getraute sich dann nicht
weiter mit der Kaiserlichen Hoheit zu reden.
[JJ.01_132,26] Ein Blitz aber schlug gerade zwischen dem Joseph, der Maria und
den beiden Jünglingen ein.
[JJ.01_132,27] Da richtete sich das Kindlein auf und sprach: „Entlarve dich, du
Ungetüm!“
[JJ.01_132,28] Auf dies Wort fielen auf einmal alle die Wolken nieder. Der
Himmel ward ganz rein; aber dafür erblickte man eine Menge Geschmeiß am Boden
herumkriechen.
[JJ.01_132,29] Die beiden Jünglinge aber richteten einen Blick auf den Boden,
und alles Geschmeiß floh teilweise dem Walde zu, teilweise aber ward es
vernichtet.
[JJ.01_132,30] Dieser Akt machte alles verstummen, was mit Cyrenius sich auf dem
Berge befand; denn man wußte nicht, wie solches kam.
[JJ.01_133] 133. Kapitel – Die Wißbegier des nachdenklich gewordenen römischen
Obersten und sein Gespräch mit Cyrenius über die Naturgesetze und ihren
Gesetzgeber. Die Rückkehr vom Berge nach Hause.
5. Februar 1844
[JJ.01_133,01] Nach einer langen Weile des Staunens über Staunens nahte sich der
Oberste ganz bescheiden dem Cyrenius und sprach:
[JJ.01_133,02] „Eure Hoheit! Ich weiß, daß dieselben sich sehr viel mit der
Naturwissenschaft abgegeben haben, wie solches auch mehrere erlauchte Häupter
Roms es taten!
[JJ.01_133,03] Ich bin zwar für mich stets mehr Soldat als irgendein
Naturgelehrter gewesen;
[JJ.01_133,04] aber diese höchst sonderbare Erscheinung, die hier vor unsern
Augen geschah, nötigt mich zum Nachdenken.
[JJ.01_133,05] Doch aber mag ich keinen anderen Grund irgend erschauen als im
Ernste den wunderbaren nur, der da durch die sonderbare Macht dieses jüdischen
Kindes erklärlich ist.
[JJ.01_133,06] Sollte aber da im Ernste kein anderer Grund vorhanden sein? – Sollte es nicht irgend geheime Gesetze in der Natur geben, nach denen solches
ebensogut erzeugt werden muß, wie sonst der Regen, Hagel und der Schnee?
[JJ.01_133,07] O gebet mir da ein kleines Lichtlein, damit ich doch auch etwas
verstehen möchte und nicht wie ein Strumpf eines Illyriers dastehe!“
[JJ.01_133,08] Und der Cyrenius sprach zum Obersten: „O Freund! – du hast dich
schlecht beraten, darum du dich in dieser Sache an mich gewendet hast!
[JJ.01_133,09] Denn da verstehe ich geradesoviel als du; daß solches sicher nach
einem Gesetze geschah, so viel ist gewiß!
[JJ.01_133,10] Wie aber das Gesetz beschaffen ist, das wird wohl schwerlich
jemand anderer wissen als allein der große Gesetzgeber der Natur!
[JJ.01_133,11] Ob wir Sterbliche aber berechtigt sind, den großen Gesetzgeber um
die Beschaffenheit solcher Gesetze zu fragen, das ist mir wenigstens völlig
unbekannt!“
[JJ.01_133,12] Der Oberste aber sprach: „Sehet, Eure Hoheit, da ist ja der weise
Jude, da sein wunderbares Kind und die höchst merkwürdigen beiden Jünglinge, die
uns heute morgen mit ihren Glanzkleidern so sehr außer aller Fassung gebracht
haben!
[JJ.01_133,13] Wie wäre es denn, so wir uns in dieser höchst merkwürdigen Sache
an sie wendeten?“
[JJ.01_133,14] Und der Cyrenius sprach: „Versuche es, so du dazu Mut genug
besitzest!
[JJ.01_133,15] Mir mangelt bei dieser Gelegenheit dieser; denn ich ersehe nun
ganz klar, daß das – Wesen ganz anderer Art sind, als wir es sind!“
[JJ.01_133,16] Und der Oberste sprach: „An Mut gerade gebricht es mir nicht;
[JJ.01_133,17] aber wenn Ihre Hoheit solcher Meinung sind, da will ich doch
sicher keinen Hochverräter machen und begnüge mich mit meiner Ignoranz!“
[JJ.01_133,18] Der Joseph aber sprach zum Cyrenius: „Bruder, nun lasse zum
Aufbruche ordnen; denn die Sonne hat sich schon ziemlich geneigt!“
[JJ.01_133,19] Der Cyrenius tat solches, und in kurzer Zeit ward die Rückreise
angetreten, die ohne alle Hindernisse vor sich ging; und in zwei Stunden ward
die Villa wieder erreicht.
[JJ.01_134] 134. Kapitel – Der Empfang im Hause Josephs durch die
Zurückgebliebenen. Joels Erzählung. Die drei Löwen als Leibwache des Cyrenius.
6. Februar 1844
[JJ.01_134,01] Bei der Villa wieder angelangt, ward die Gesellschaft sogleich
von den Söhnen Josephs und ganz besonders aber von den zurückgebliebenen
Jünglingen auf das liebfreundlichste begrüßt.
[JJ.01_134,02] Und die Söhne zeigten dem Vater Joseph sogleich alles an, was sie
unterdessen gemacht und wie sie seinen Willen auf das pünktlichste erfüllt
hatten.
[JJ.01_134,03] Zugleich aber erzählte der älteste Sohn dem Joseph, was alles
sich unter der Zeit wunderbar in der Gegend von Ostracine zugetragen hatte.
[JJ.01_134,04] „Ganz besonders“, sagte der Erzähler, „hat der plötzliche Brand
der Residenz in der Stadt alle Bewohner erschreckt!
[JJ.01_134,05] Als aber diese sich bemühten, dem Brande Einhalt zu tun, da
erlosch das gewaltige Feuer auf einmal und war keine Spur mehr vom selben zu
entdecken.
[JJ.01_134,06] Darauf ersahen wir auf einmal, daß sich der Berg in feurige
Wolken einzuhüllen begann, und tausend Blitze zuckten durcheinander.
[JJ.01_134,07] Da gedachten wir des Sinai, der zur Zeit der großen Offenbarung
Gottes an unsere Väter gerade also ausgesehen haben mag.
[JJ.01_134,08] Wir waren da sehr, sehr besorgt um euch; aber die Jünglinge
vertrösteten uns und sagten, daß da niemandem auch nur ein Haar gekrümmt wird.
[JJ.01_134,09] Wie aber der Berg also sich in feurige Wolken zu hüllen anfing,
siehe, da wurden wir aber gar bald dennoch recht gewaltig erschreckt:
[JJ.01_134,10] Drei ungeheure Löwen sprangen in großer Hast auf uns zu vom Wege
des Berges.
[JJ.01_134,11] Wir erschraken darob sehr. Aber die Jünglinge sprachen: ,Fürchtet
euch nicht; denn diese Tiere suchen Schutz in der Wohnung Dessen, dem alle Dinge
gehorchen müssen!‘
[JJ.01_134,12] Und siehe, also war es auch! Die drei Löwen eilten sogleich in
unsere Karrenschuppen, allwo sie sich noch ganz ruhig befinden.
[JJ.01_134,13] Wir gingen nach dem Sturme mit einigen Jünglingen hin und besahen
die riesigen Bestien;
[JJ.01_134,14] da erhoben sie sich bald und gaben Zeichen von unverkennbarer
Ergebung und Freundlichkeit! – Siehe, Vater Joseph, das alles ist wunderbarst
vor sich gegangen in eurer Abwesenheit.“
[JJ.01_134,15] Und der Joseph sprach: „Nun gut, gut mein Sohn; das alles haben
auch wir erlebt! Du hättest deine Erzählung fast etwas zu lange dauernd gemacht!
[JJ.01_134,16] Nun gehet aber und bestellet den Tisch; denn wir alle brauchen
Stärkung, da uns der Berg ein wenig mitgenommen hat!“
[JJ.01_134,17] Und die Söhne mit den andern Jünglingen eilten sogleich in die
Küche und in das Speisezimmer und brachten in kurzer Zeit alles in die schönste
Ordnung.
[JJ.01_134,18] Der Cyrenius aber sprach: „Fürwahr, das nimmt mich sehr wunder,
daß diese drei Bestien, anstatt sich in ihre Höhlen zu verkriechen, hierher die
Zuflucht nahmen!
[JJ.01_134,19] Am Ende werden sie beim Hause bleiben und dasselbe treu bewachen,
wie man ähnliche Beispiele von dieser Tiergattung mehrere hat!“
[JJ.01_134,20] Und der Joseph sprach: „Mir ist alles recht, was dem Herrn recht
und wohlgefällig ist!
[JJ.01_134,21] Es kann aber auch sein, daß diese Tiere dir folgen werden zu
einem Schutze deines Schiffes?!“
[JJ.01_134,22] Und der Cyrenius sprach: „Dann wird es auch mir recht sein, was
der Herr will, – obschon mich der Herr auch ohne diese Löwen beschützen kann!“
[JJ.01_134,23] Hier kamen die drei Löwen hervor und stellten sich um den
Cyrenius und gaben ihm ihre Freundlichkeit zu erkennen.
[JJ.01_134,24] Und der Cyrenius sprach: „Das ist aber im Ernste sonderbar; du
lieber Bruder darfst nur etwas reden, so geschieht es auch schon!“
[JJ.01_134,25] Die beiden Jünglinge aber sprachen: „Diese drei Tiere werden dir
noch heute in der Nacht gute Dienste tun!
[JJ.01_134,26] Denn der Herr weiß allzeit die tauglichsten Mittel, durch die Er
jemandem hilft.
[JJ.01_134,27] Solche Tiere aber waren schon öfter in göttlichem Dienste; daher
werden sie jetzt auch erwählt, dir zu dienen in einer Sache, die deiner harret!
– Und also geschehe es!“
[JJ.01_135] 135. Kapitel – Das Mahl im Hause Josephs. Des Kindleins Eröffnung
über das bevorstehende Attentat auf Cyrenius. Des Cyrenius Heimkehr. Die Löwen
als Nachtwache. Der Überfall. Das Gottesgericht über die Attentäter.
7. Februar 1844
[JJ.01_135,01] Nach dieser Beredung verließen die drei Löwen den Cyrenius wieder
und zogen sich in ihre Karrenschuppen zurück.
[JJ.01_135,02] Der Cyrenius wollte zwar noch so manches über diese Erscheinung
mit dem Joseph sprechen, aber es kamen soeben die Söhne Josephs und zeigten ihm
an, daß das Mahl bereitet und der Tisch bestellt sei.
[JJ.01_135,03] Und der Joseph lud daher sogleich die ganze Gesellschaft ein, in
das Speisegemach zu treten und sich zu stärken am Tische mit Speise und Trank.
[JJ.01_135,04] Auf diese Einladung begab sich nun alles in das Speisegemach und
aß die gesegneten Speisen und stillte sich den Durst mit Wasser und etwas
Zitronensaft.
[JJ.01_135,05] Nach der Mahlzeit, die bei einer Stunde gedauert hatte, dankte
Joseph Gott und segnete alle die hier anwesenden Gäste.
[JJ.01_135,06] Das Kindlein aber verlangte den Cyrenius; und als dieser in der
höchsten Demut sich Diesem näherte, sprach Es zu ihm:
[JJ.01_135,07] „Cyrenius, heute in der Nacht wirst du von einer kleinen
verräterischen Rotte überfallen werden in deinem Schlafgemache!
[JJ.01_135,08] Ich aber gebe dir darum die drei Löwen mit; diese lasse im
Gemache bei dir, wie sie dir folgen werden.
[JJ.01_135,09] Wenn die verräterische Horde in dein Gemach treten wird, da wird
sie plötzlich von den drei Löwen auf das grimmigste angefallen und zerrissen
werden;
[JJ.01_135,10] dir aber wird dabei kein Haar gekrümmt werden! – Scheue dich aber
nicht vor den drei Löwen; denn diese erkennen in dir vollkommen ihren Herrn!“
[JJ.01_135,11] Inbrünstigst dankte der Cyrenius dem Kindlein in seinem Herzen
und überhäufte Es mit vielen Küssen, desgleichen auch sein Weib, die Tullia, die
aber nicht wußte, was das Kindlein ehedem mit dem Cyrenius geredet hatte.
[JJ.01_135,12] Und als es schon ziemlich Abend geworden war, da brach Cyrenius
mit seiner Gesellschaft auf, wiederholte noch einmal seine Einladung auf den
nächsten Tag und begab sich dann gesegnet in die Stadt.
[JJ.01_135,13] Als er aber seinen Fuß über die Hausflur gesetzt hatte, da waren
auch die drei Löwen schon bei der Hand und begleiteten den Cyrenius festweg in
seine Wohnung.
[JJ.01_135,14] Und als er da sich auf sein Lager mit der Tullia begab,
umlagerten die Löwen dasselbe, ihre leuchtenden Augen auf die Eingangstüre
unverwandt richtend.
[JJ.01_135,15] Es gingen die Diener des Cyrenius noch öfter aus und ein; aber
die Löwen achteten ihrer nicht.
[JJ.01_135,16] Es war aber um die zweite Nachtwache, da kamen zwanzig vermummte
Männer ganz leisen Trittes ins Gemach des Cyrenius und nahten sich ganz leise
dem Schlaflager desselben.
[JJ.01_135,17] Als sie aber kaum mehr fünf Schritte vom Lager entfernt standen
und ihre Dolche hervorzogen,
[JJ.01_135,18] da stürzten auf einmal die drei Löwen unter dem furchtbarsten
Gebrülle auf sie los und zerrissen sie in wenigen Augenblicken in Stücke, und
nicht einer entkam diesem Angriffe!
[JJ.01_135,19] Denn auf so einen Angriff war keiner gefaßt; bei dem ersten
Ansprunge geriet alles in die größte Angst und Verwirrung und gedachte an keine
Verteidigung.
[JJ.01_135,20] Aus dem Grunde fand auch keiner den Rückweg und ward somit eine
Beute der Wut der Löwen.
[JJ.01_135,21] Und so ward der Cyrenius in dieser Nacht wunderbar durch die drei
Löwen gerettet und staunte am nächsten Tage morgens nicht wenig, als er der
zerrissenen Leichen im Zimmer ansichtig ward.
[JJ.01_136] 136. Kapitel – Das Verhör der Dienerschaft des Cyrenius. Die Angst
der Diener vor den drei Richtern. Die Entdeckung des Verräters. Des Löwen
vorbildliches Gericht.
8. Februar 1844
[JJ.01_136,01] Cyrenius weckte aber auch sogleich seine Dienerschaft und berief
sie, daß sie ihm zur Rede stehe, wie solche Verräterei geschah.
[JJ.01_136,02] Die Dienerschaft erschrak über diesen Anblick und sprach zum
erzürnten Statthalter:
[JJ.01_136,03] „Allergestrengster, gerechtester und mächtigster Herr, Herr! – Die Götter sollen unsere Zeugen sein, daß wir von allem dem nicht eine Silbe
wußten!
[JJ.01_136,04] Wir wollen alle des Todes sein, so wir daran nur die
allergeringste Teilnahme oder selbst nur die geringste Wissenschaft haben!“
[JJ.01_136,05] Und der Cyrenius sprach: „Also schaffet denn diese Leichen hinaus
und beerdiget sie vor dieser Burg auf dem offenen Platze zum abschreckenden
Beispiele für alle jene, die etwa noch ihres Sinnes wären!“
[JJ.01_136,06] Die Dienerschaft aber hatte eine große Furcht vor den drei Löwen,
die noch das Lager des Cyrenius strenge bewachten, und sprach:
[JJ.01_136,07] „O Herr, Herr! Siehe, wir getrauen uns nicht, hier etwas
anzurühren; denn die drei Bestien sehen zu grimmig aus und könnten uns das tun,
was sie diesen Meuterern taten?!“
[JJ.01_136,08] Und der Cyrenius sprach: „Wer aus euch redlichen Gewissens ist,
der trete hervor und überzeuge sich, daß auch diese grimmigen Tiere die Treue
respektieren!“
[JJ.01_136,09] Auf diese Rede des Cyrenius traten bis auf einen alle hervor, und
die Löwen taten ihnen nicht das mindeste zuleide.
[JJ.01_136,10] Cyrenius aber fragte den Zurückgebliebenen: „Warum bleibst denn
du zurück, während du doch siehst, wie deine Kameraden von den Löwen nicht im
allergeringsten beleidigt werden?!“
[JJ.01_136,11] Und der Gefragte sprach: „Herr, Herr, sei mir barmherzig; denn
ich habe ein unreines Gewissen!“
[JJ.01_136,12] Und der Cyrenius fragte ihn: „Worin besteht denn die Unreinheit
deines Gewissens? – Rede, willst du nicht sterben!“
[JJ.01_136,13] Und der Gefragte sprach: „Herr, Herr! – ich wußte von diesem
Verrat seit gestern morgen, wollte aber dir nichts davon kundtun, weil ich
bestochen ward mit hundert Pfund Silbers!
[JJ.01_136,14] Denn ich dachte mir, du würdest ohnehin gerettet werden, wie der
weise Mann draußen in der Villa gerettet ward, und so nahm ich das Silber an.“
[JJ.01_136,15] Hier sprang der Cyrenius auf und sprach: „Also muß denn ein jeder
ehrliche Menschenfreund unter seinen Dienern und Freunden auch einen Teufel
haben!?
[JJ.01_136,16] Du elender Schurke, da tritt her vor das Gericht Gottes! Findest
du Gnade vor diesem Gericht, da will auch ich dich nicht richten;
[JJ.01_136,17] findest du aber vor diesem Gerichte keine Gnade, so bist du schon
gerichtet für ewig!“
[JJ.01_136,18] Hier fing der Gefragte und also Beheißene an zu zagen und sank
ohnmächtig zusammen.
[JJ.01_136,19] Da stand ein Löwe auf, bewegte sich hin zu dem Ohnmächtigen,
erfaßte dessen Hand und schleppte ihn ganz behutsam hin vor den Cyrenius, allwo
der Schuldige regungslos liegenblieb.
[JJ.01_136,20] Dann aber sprang derselbe Löwe mit großer Hast in das offene
Gemach und packte im selben einen Ballen, zog ihn hervor und zerriß ihn in
tausend Stücke.
[JJ.01_136,21] Und die hundert Pfunde Silbers kamen zum Vorscheine, die der
Diener für sein Schweigen erhielt.
[JJ.01_136,22] Der Cyrenius staunte nicht wenig über diese Erscheinung.
[JJ.01_136,23] Der Löwe aber faßte darauf wieder den Schuldigen am Arme, zog ihn
in das Seitengemach und legte ihn gerade an die Stelle hin, wo ehedem der Ballen
lag.
[JJ.01_136,24] Da versetzte er ihm einige Schweifhiebe, die den Betäubten wieder
zu sich brachten, und tat ihm sonst nichts an.
[JJ.01_136,25] Darauf kam der Löwe wieder zurück an seine vorige Stelle und
verhielt sich mit den zwei Kameraden ganz ruhig.
[JJ.01_136,26] Die Dienerschaft begann nun die Leichen wegzuräumen nach des
Cyrenius Befehl. Und der Cyrenius lobte und pries den Gott Israels, daß Er ihn
also wunderbar gerettet hatte, – und in einer Stunde war das Schlafgemach völlig
wieder gereinigt.
[JJ.01_137] 137. Kapitel – Tullia erwacht aus tiefem Schlaf. Cyrenius erzählt,
was geschah. Das Wiedersehen mit der heiligen Familie.
9. Februar 1844
[JJ.01_137,01] Die Tullia aber erwachte erst von einem stärkenden Schlafe, als
im Schlafgemache keine Spur mehr von dem vorhanden war, was in dieser Nacht
vorging.
[JJ.01_137,02] Und der Cyrenius fragte sie, ob sie ganz ruhig geschlafen habe.
[JJ.01_137,03] Und die Tullia beteuerte ihm solches, indem sie von der
Gebirgsreise sehr ermüdet war.
[JJ.01_137,04] Und der Cyrenius sprach: „Das war ein großes Glück für dich!
[JJ.01_137,05] Denn wärest du wach gewesen in der Nacht, so hättest du eine
große Angst ausgestanden!
[JJ.01_137,06] Denn siehe, noch vor einer Stunde war dieses Gemach ein Anblick
des Schreckens!“
[JJ.01_137,07] Ganz erstaunt fragte die Tullia hier den Cyrenius, was es denn
gegeben habe, und was da vorgefallen sei.
[JJ.01_137,08] Und der Cyrenius zeigte der Tullia die drei Löwen und sprach mit
einer sehr erhobenen Stimme:
[JJ.01_137,09] „Tullia! – siehe, das sind doch drei schreckliche Tiere; sie sind
Könige der tierischen Kraft, Wut und Grausamkeit, so sie gereizt werden!
[JJ.01_137,10] Und wehe jedem Wanderer in der Wildnis, da sie hausen!
[JJ.01_137,11] Nichts rettet ihn vor ihrer Wut – ein Sprung, und der Mensch
liegt zerrissen im glühenden Staube der Wüste!
[JJ.01_137,12] Und doch gibt es Menschen, gegen die diese Tiere Genien der
Himmel sind!
[JJ.01_137,13] Also haben die drei reißenden Tiere uns beide in dieser Nacht vor
der Wut der Menschen bewahrt und haben zwanzig Meuterer in diesem Gemache
zerrissen!“ –
[JJ.01_137,14] Tullia entsetzte sich ob dieser Erzählung ihres Gemahls und
sprach:
[JJ.01_137,15] „Wie ging denn das zu? – Warum wußte ich denn nichts davon? Hast
du schon eher etwas gewußt, warum gabst du mir nichts kund davon?“
[JJ.01_137,16] Und der Cyrenius sprach: „Tullia, ich wußte wohl, daß in dieser
Nacht etwas vorfallen werde;
[JJ.01_137,17] aber in welcher Art, genau gesprochen, wußte ich nicht; denn ich
wußte nur so viel, als mir das göttliche Kind meines Freundes kundgab.
[JJ.01_137,18] Daß ich dir aber davon nichts kundgab, lag in meiner großen Liebe
zu dir, du mein Herzensweibchen!
[JJ.01_137,19] Und siehe, nun ist alles vorüber; der Gott Israels hat uns
wunderbar vor einem schändlichsten Untergange gerettet,
[JJ.01_137,20] dafür wir Ihn aber auch lieben, loben und preisen wollen unser
Leben lang in unseres Herzens Tiefe!
[JJ.01_137,21] Nun aber, da du schon angekleidet bist, lasse uns der erhabenen
Familie entgegenziehen und sie empfangen noch vor dem Tore der Stadt!“
[JJ.01_137,22] Cyrenius gebot nun seiner Dienerschaft, alles fürs bevorstehende
Fest zu bereiten und gar wohl zu ordnen,
[JJ.01_137,23] und befahl dem verräterischen Diener, ihm zu folgen vor das
Stadttor.
[JJ.01_137,24] Im selben Augenblicke aber kam der Maronius mit den drei
Priestern hervor aus einem anderen Teile der Burg und kündigte dem Cyrenius an,
daß sich die erhabenste Familie schon der Burg nahe.
[JJ.01_137,25] Hier ließ der Cyrenius alles im Stiche und eilte mit pochendem
Herzen seinem Freunde Joseph entgegen, der ihm aber schon an der ersten Treppe
mit Maria mit dem Kinde und mit seinem ganzen himmlischen Gefolge mit
ausgebreiteten Armen entgegenkam.
[JJ.01_138] 138. Kapitel – Des Cyrenius Bericht und Josephs Kritik. Liebe und
Mitleid sind besser als die strengste Gerechtigkeit. Des Cyrenius Dank. Die
Gesellschaft im großen Schlafsaal des Cyrenius.
10. Februar 1844
[JJ.01_138,01] Cyrenius umarmte den Joseph mit der größten Innigkeit und gab ihm
kund in kurzen Worten, was diese Nacht hindurch in der Burg vorgefallen ist.
[JJ.01_138,02] Und der Joseph sprach: „Mein geliebtester Freund und Bruder im
Herrn, – was du mir erzählen willst, wußte ich noch eher, als es geschah, auf
ein Haar, wie es hernach geschehen ist!
[JJ.01_138,03] Aber eines hättest du darnach nicht also tun sollen, wie du es
getan hast, –
[JJ.01_138,04] und dieses eine besteht darin, daß du die zerrissenen Leichen auf
dem öffentlichen Platze hast begraben lassen!
[JJ.01_138,05] Du hast es zwar in einer rechtlich politischen Hinsicht getan, um
nämlich damit das andere Volk durch ein solches Beispiel abzuhalten von
ähnlichen Versuchen;
[JJ.01_138,06] aber das ist ein sehr unhaltbares Mittel! Denn siehe, nichts auf
der Welt dauert kürzer als der Schreck, die Furcht und die Traurigkeit!
[JJ.01_138,07] Daher ist auch ein diese drei Stücke erweckendes Mittel um kein
Haar haltbarer, als die durch dasselbe erweckten Stücke selbst.
[JJ.01_138,08] Hat aber irgend ein Mensch diese drei Embleme des Gerichtes mit
der Freiheit seines Geistes abgeschüttelt, dann wird er erbost und fällt dann
mit doppelter Wut über den grausamen Richter her.
[JJ.01_138,09] Daher leite du die Menschen allzeit mit der ewig bleibenden
Liebe, und suche solche notwendigen, aber dabei dennoch schaudererregenden
Beispiele vor dem Volke zu verbergen, so wirst du stets die Liebe des Volkes
genießen!
[JJ.01_138,10] Ich sage dir: Ein Tropfen Mitleid bei jeder Gelegenheit ist
besser denn ein ganzer Palast voll der besten und strengsten Gerechtigkeit!
[JJ.01_138,11] Denn das Mitleid bessert den Feind wie den Freund; aber die
strengste und beste Gerechtigkeit macht den Gerechten stolz und hochmütig,
[JJ.01_138,12] und der Schuldige und Gerichtete wird voll Ingrimms und sinnt
nur, wie er sich rächen möchte an dem Gerechten.
[JJ.01_138,13] Was du aber nun getan hast, das läßt sich nicht mehr ungetan
machen.
[JJ.01_138,14] Aber für die Zukunft merke dir diese Regel; sie ist besser als
Gold, und besser als reinstes Gold!“
[JJ.01_138,15] Cyrenius fiel hier dem Joseph abermals um den Hals und dankte ihm
für diese Lehre wie ein Sohn seinem Vater.
[JJ.01_138,16] Darauf begab sich die ganze Gesellschaft ins Schlafgemach des
Cyrenius, das da, wie es bei den Großen Roms üblich war, stets in einem großen
Saale bestand.
[JJ.01_138,17] Denn die Römer sagten: Im Schlafe dünste der Mensch allzeit die
Krankheit aus;
[JJ.01_138,18] hat diese nicht den gerechten Raum, sich im Schlafgemache zu
zerstreuen, so fällt sie wieder auf den Menschen zurück, und er wird krank!
[JJ.01_138,19] Aus diesem Grunde hatten dann reiche Römer sogar Fontänen in
ihren großen Schlafsälen, die die Luft reinigten und die bösen Dünste an sich
zogen.
[JJ.01_138,20] Und so war auch in dieser Burg das Schlafgemach des Cyrenius der
größte Saal und war versehen mit zwei Fontänen mit breiten Wasserbassins, in
denen mehrere Meerzwiebeln herumschwammen.
[JJ.01_138,21] Der Boden des Saales war aus schwarzem und braunem Marmor, und
der ganze Saal war von großer altägyptischer Pracht.
[JJ.01_138,22] In diesem Saale also befand sich nun die ganze Gesellschaft und
besprach sich über so manches aus der Vorzeit, während die Dienerschaft des
Cyrenius auf das eifrigste bemüht war, alles Anbefohlene bestens zu ordnen in
den Nebensälen.
[JJ.01_139] 139. Kapitel – Des Verräters Reue. Das Mitleid der drei Löwen mit
dem Reumütigen. Josephs guter Rat. Des Cyrenius Großmut und ihre herrliche
Wirkung auf den reumütigen Diener.
12. Februar 1844
[JJ.01_139,01] Es stand aber auch der verräterische Diener in einer Ecke des
Saales und bereute bei sich seinen Schritt, den er gegen seinen Herrn
unternommen hatte;
[JJ.01_139,02] aber niemand gedachte seiner, denn alles war in tiefweise
Gespräche vertieft.
[JJ.01_139,03] Die getreue Dienerschaft des Cyrenius aber hatte ohnehin links
und rechts vollauf zu tun mit der Arrangierung der Tafel, mit der Küche und mit
dem Aufrichten von Ornamenten aller Art.
[JJ.01_139,04] Und so gedachte auch die Dienerschaft nicht ihres übertraurigen
Kameraden.
[JJ.01_139,05] Da erhoben sich auf einmal die drei Löwen und trabten hin zu dem
reuevollen Diener des Cyrenius und beleckten ihn und gaben ihm durch allerlei
Gebärden gewisserart ihr Mitleid zu erkennen.
[JJ.01_139,06] Da bemerkte zuerst der Maronius, was da die drei Löwen für ein
Wesen hatten mit dem Diener, und zeigte solches dem Cyrenius an;
[JJ.01_139,07] denn Maronius befürchtete, es möchten die drei Bestien etwa gar
einen Appetit auf den Diener bekommen.
[JJ.01_139,08] Als der Cyrenius diese sonderbare Situation seines verräterischen
Dieners bemerkte, da erst fing er an, sich mit Joseph über das Vergehen dieses
Dieners zu besprechen.
[JJ.01_139,09] Und der Joseph sprach: „Freund und Bruder, siehe hier einen Akt
dessen, was ich dir ehedem auf der Treppe geraten habe und habe es dir gezeigt,
wie ein Tropfen Mitleid besser ist als ein ganzer Palast voll der besten
Gerechtigkeit!
[JJ.01_139,10] Die drei Tiere gehen dir hier mit einem guten Beispiele vor; gehe
hin und tue als Mensch etwas Besseres!
[JJ.01_139,11] Ich aber habe auf der Herreise von der Villa von einem dieser
Diener des Herrn erfahren, wie du bei deinem Weibe heute morgen diese drei Tiere
gerühmt hast.
[JJ.01_139,12] Wie kommt es denn nun, daß dir nun eben diese drei Tiere zeigen,
was du gleich anfangs hättest tun sollen?
[JJ.01_139,13] Siehe, also lehrt der Herr fortwährend den Menschen!
[JJ.01_139,14] Es geschieht in der Welt nichts umsonst; aus der Drehung eines
Sonnenstäubchens sogar kannst du wahre Weisheit lernen!
[JJ.01_139,15] Denn es wird durch dieselbe Weisheit und Allmacht Gottes gelenkt
und erhalten wie die Sonne und der Mond des Himmels!
[JJ.01_139,16] Um so mehr aber kannst du diese Erscheinung als einen gar starken
Wink des Herrn betrachten, der dir gar klar sagt, was du tun sollest.
[JJ.01_139,17] Gehe hin, und erhebe den dreifach Armen und Tiefgesunkenen; gehe
hin, und erhebe einen überaus betrübten und reuevollsten Bruder!
[JJ.01_139,18] Denn diesen hat nun der Herr dir zubereitet, auf daß er dir ein
allergetreuester Bruder werde!“
[JJ.01_139,19] Als der Cyrenius solches von Joseph vernommen hatte, da eilte er
hin und griff dem Diener unter die Arme und sprach:
[JJ.01_139,20] „Bruder! du hast an mir übel gehandelt; da ich aber Reue bei dir
fand, so erhebe ich dich wieder!
[JJ.01_139,21] Doch von nun an sollst du nicht mehr als ein Knecht, sondern als
ein getreuer Bruder an meiner Seite wandeln!“
[JJ.01_139,22] Das brach dem Diener das Herz, daß er laut zu weinen anfing und
zu klagen, wie er sich an solchem Adel eines Menschen der Menschen habe
versündigen können!? –
[JJ.01_140] 140. Kapitel – Des Cyrenius brüderliche Worte an seinen reuigen
Diener. Dessen Aufnahme in die Gesellschaft. Die neiderfüllten Diener und des
Cyrenius Antwort an sie.
13. Februar 1844
[JJ.01_140,01] Da der Cyrenius aber die große Erkenntlichkeit dieses Dieners sah
und seine große Reue, so tröstete er ihn und sprach:
[JJ.01_140,02] „Siehe, du mein neuer Bruder im Herrn, wir Menschen alle sind
fehlerhaft vor Gott, und Gott verzeiht uns die Fehler, so wir sie erkennen und
bereuen!
[JJ.01_140,03] Und doch ist Gott heilig, während wir alle große Sünder vor Ihm
sind!
[JJ.01_140,04] Wenn aber der Heilige verzeiht, warum sollen wir Sünder
gegenseitig uns unsere Fehler nicht verzeihen?
[JJ.01_140,05] Solange der Mensch nicht zur wahren Furie herabgesunken ist, so
lange bleibt auch die Gnade Gottes über ihm;
[JJ.01_140,06] ist aber der Mensch auf der Welt einmal ein kompletter Teufel
geworden, da hat Gott Seine Gnade von ihm genommen und hat ihn übergeben dem
Gerichte der Hölle!
[JJ.01_140,07] Darum sind die zwanzig, die dich bestochen haben, von den Löwen
zerrissen worden, – denn sie waren schon Teufel!
[JJ.01_140,08] Du aber wardst verschont, indem du nur ein Verlockter warst und
warst blind und wußtest nicht, was du getan hast!
[JJ.01_140,09] Gott der Herr hat Seine Gnade nicht von dir genommen und hat dir
die Augen geöffnet, auf daß du zur vollen Einsicht der Sünde an dir gelangt
bist.
[JJ.01_140,10] Du hast deine erkannte Sünde bereut, und Gott hat dir die Sünde
vergeben!
[JJ.01_140,11] Darum vergebe auch ich dir das Vergehen an mir und mache dich
somit zu meinem Freunde und zu meinem Bruder im Herrn!
[JJ.01_140,12] Ich erhebe dich darum und führe dich hin zu meiner heiligst
erhabenen Gesellschaft.
[JJ.01_140,13] Sei daher nun guten Mutes, und folge mir, auf daß du von meinem
hohen Freunde gesegnet werdest mir zu einem wahrhaftigen Bruder!“
[JJ.01_140,14] Diese recht herrliche Rede des Cyrenius an den verräterischen
Diener war von bester Wirkung.
[JJ.01_140,15] Der Diener ward getröstet und gestärkt dadurch, erhob sich und
folgte, in Tränen zerfließend, dem Cyrenius hin zur Gesellschaft.
[JJ.01_140,16] Als er dort anlangte, da hob Joseph sobald seine Hände auf und
segnete den Diener und sprach dabei nichts als: „Der Herr sei mit dir!“
[JJ.01_140,17] Darauf befahl der Cyrenius, sogleich glänzende herrliche Kleider
herbeizuschaffen und sie dem Diener anzulegen,
[JJ.01_140,18] und belehnte ihn sogleich mit einem Ehrennamen und gab ihm dann
einen Bruderkuß.
[JJ.01_140,19] Darauf berief Cyrenius die gesamte Dienerschaft zusammen und
stellte diesen neuen Bruder ihr vor und gebot ihr, ihm zu gehorchen.
[JJ.01_140,20] Die Diener aber sprachen: „Wie bist du denn ein gerechter
Richter, so du den Verräter erhöhest, uns aber erniedrigest, die wir dir allzeit
die größte Treue erwiesen haben?!“
[JJ.01_140,21] „Kümmert euch das“, sprach der Cyrenius, „wenn ich gut und
barmherzig bin? – Wem aus euch ist bei mir je etwas abgegangen? Und doch hat
noch nie einer aus euch sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt!
[JJ.01_140,22] Dieser aber war der Letzte allzeit unter euch und hat sein Leben
um mich aufs Spiel gesetzt; durch seine Handlung bin ich meiner Feinde ledig
geworden! Verdient er darum nicht diesen Rang?“
[JJ.01_140,23] Hier verstummte die Dienerschaft und ging wieder an ihr Geschäft
und war mit diesem Bescheide zufrieden.
[JJ.01_140,24] Ein Jüngling der Himmel aber sprach: „Geradealso wird es einst
auch im Reiche Gottes zugehen; es wird mehr Freude über einen reuigen Sünder
sein als über neunundneunzig Gerechte, die nie gesündiget haben!“ – –
[JJ.01_141] 141. Kapitel – Die Vorbereitungen und Einladung zum Morgenfestmahl
durch Cyrenius. Die Weiherede des Kindleins. Die Einladung und Speisung der
Armen.
14. Februar 1844
[JJ.01_141,01] Während dieser Gelegenheit ward auch das Morgenmahl bereits
fertig und die Tische wohl bestellt;
[JJ.01_141,02] und die Diener kamen und zeigten solches dem Cyrenius an.
[JJ.01_141,03] Und der Cyrenius ging und besah alles, und da er alles in der
größten und besten Ordnung fand, da ging er und lud die Gesellschaft zum Tische
in den großen Nebensaal.
[JJ.01_141,04] Als Joseph da hineintrat, konnte er sich nicht genug verwundern,
darum er hier in diesem Saale sich in einem kleinen Tempel Salomons zu Jerusalem
zu befinden glaubte.
[JJ.01_141,05] Es war aber diese Arrangierung ein Werk des Maronius Pilla, der
natürlich als ehemaliger Statthalter von Jerusalem gar wohl wußte, wie der
Tempel aussah aus- und inwendig.
[JJ.01_141,06] Voll Freuden sprach Joseph: „Fürwahr, zu dem Zwecke hättest du,
mein Bruder Cyrenius Quirinus, keinen besseren Gedanken ins Werk setzen können!
[JJ.01_141,07] Und ich bin, wie in Jerusalem, nun auf dem Rüstfeste; es fehlt
bloß das Allerheiligste, und der Tempel wäre fertig, so dieses auch da wäre!
[JJ.01_141,08] Der Vorhang ist wohl da; aber hinter dem fehlt die Bundeslade!“
[JJ.01_141,09] Der Cyrenius aber sprach: „Bruder, ich dachte, das Allerheiligste
bringst du ohnehin lebendig mit, warum solle es künstlich dann da sein?“
[JJ.01_141,10] Hier erst ermannte sich Joseph aus seinem Überraschungstraume und
gedachte des Kindleins und der Maria.
[JJ.01_141,11] Es berief aber nun das Kindlein den Cyrenius zu Sich und sprach
zu ihm (hier fielen die Engel auf ihre Angesichter nieder):
[JJ.01_141,12] „Cyrenius, viel hast du getan, um dem reinsten Manne der Erde
eine Freude zu machen; aber eines hättest du bald vergessen!
[JJ.01_141,13] Siehe, du gibst heute ein großes, gar herrliches Gastmahl!
[JJ.01_141,14] Was drei Weltteile nur immer Bestes und Edelstes hervorbringen,
ist heute hier vereint!
[JJ.01_141,15] Daran tust du auch wohl; denn fürwahr, eine größere Ehre
widerfuhr durch alle Ewigkeit und Unendlichkeit auf keiner Welt einem Hause, als
nun diesem deinen!
[JJ.01_141,16] Denn du hast nun vor dir, vor Dem alle Himmelsmächte ihr Antlitz
verdecken!
[JJ.01_141,17] Joseph hat dir angedeutet, daß das Allerheiligste in diesem
Tempel leer ist.
[JJ.01_141,18] Siehe, also ist es auch! – Es solle aber nicht also sein.
[JJ.01_141,19] Sende hinaus deine Diener, und sie sollen allerlei Arme, Blinde,
Lahme, Krüppel und bresthafte Menschen hierher bringen!
[JJ.01_141,20] Für diese lasse im nachgebildeten Allerheiligsten auch einen
Tisch decken und sie festlich bewirten, und Meine Diener werden sie warten!
[JJ.01_141,21] Und siehe, also wird dann das Allerheiligste lebendig sein und
wird den Allerheiligsten besser vorstellen als nun die leere Bundeslade in
Jerusalem!
[JJ.01_141,22] Zugleich aber sorge auch für drei Ziegenböcke; diese werfe den
Löwen vor, auf daß auch sie genährt werden!“
[JJ.01_141,23] Der Cyrenius küßte darauf das Kindlein und befolgte sogleich
dessen Rat.
[JJ.01_141,24] Und im Verlaufe von einer Stunde war das vorbildliche
Allerheiligste mit Armen angefüllt, und die Löwen bekamen ihre Kost.
[JJ.01_142] 142. Kapitel – Josephs Dankgebet und Demut. Des Cyrenius
Liebesstreit mit Joseph wegen der Platzordnung. Josephs kluger Rat.
15. Februar 1844
[JJ.01_142,01] Nachdem alles also bestellt und geordnet war, da erst erhob
Joseph seine Augen gen Himmel und dankte dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
[JJ.01_142,02] Und als er sein Dankgebet beendet hatte, da erst nahm er ganz
untenan mit den Seinen Platz am königlich bestellten Tische des Cyrenius.
[JJ.01_142,03] Cyrenius aber eilte sogleich hin zum Joseph und sprach zu ihm:
[JJ.01_142,04] „Nein, nein, mein erhabenster Freund und Bruder! Das geht nicht
an; denn dieses Fest geht dich an und nicht mich!
[JJ.01_142,05] Daher ist dort zuoberst des Tisches dein Platz, und nicht hier
zuunterst!
[JJ.01_142,06] Erhebe dich demnach, und lasse dich von mir selbst dort zuoberst
am Tische, da er mit Gold gedeckt ist, hinsetzen, und das mit allen dir
Angehörigen!
[JJ.01_142,07] Hier aber werden meine Leute sitzen und liegen; denn also habe
ich selbst es angeordnet!“
[JJ.01_142,08] Joseph aber sprach: „Cyrenius! Siehe, eben darum, da ich dein
aufrichtigster Freund und Bruder bin, bleibe ich mit den Meinen hier auf diesem
Platze sitzen!
[JJ.01_142,09] Denn siehe, bei mir verlierst du nichts, wenn ich auch hier auf
dem untersten Platze sitze;
[JJ.01_142,10] aber bei deinen großen Staatsamtsgefährten verlierst du viel, so
du sie nicht obenan setzest!
[JJ.01_142,11] Daher lasse die Sache also gut sein! Auf der Welt solle die Welt
ihren Vorzug haben; im Reiche Gottes aber wird erst der ganz umgekehrte Fall
sein, – denn dort werden die Letzten die Ersten sein beim Tische Abrahams,
Isaaks und Jakobs!“
[JJ.01_142,12] Der Cyrenius aber sprach: „O Bruder! Ich habe mich gefreut auf
diesen Tag, daß ich dir, einem Königssohne, auch eine königliche Ehre antäte!
[JJ.01_142,13] Nun aber ist die Hälfte meiner Freude dahin, indem ich gerade
dich, dem alles das gilt, ganz untenan sehen muß!
[JJ.01_142,14] Bruder! Gehe und setze dich doch wenigstens auf den Mittelplatz,
auf daß ich dir beim Tische doch näher bin!“
[JJ.01_142,15] Und der Joseph sprach: „Aber mein geliebtester Bruder, du wirst
doch nicht kindisch sein!?
[JJ.01_142,16] Du weißt ja, daß ich allzeit und überall in der Ordnung bleiben
muß, die mir Gott der Herr vorschreibt in meinem Herzen!
[JJ.01_142,17] Wie willst du mich denn über diese Ordnung hinaus versuchen
wollen?!
[JJ.01_142,18] Setze du obenan deine Großen und Glänzenden; und du als Herr
kannst dich hinsetzen, wohin du willst, indem dir jeder Platz am Tische gebührt!
[JJ.01_142,19] Und somit ist diese Sache abgetan; am goldenen Gedecke werden
deine Großen schon den ersten Platz erkennen und werden sich höchst geehrt
fühlen, so du ihnen solche Ehrenplätze ganz einräumst und selbst einen
niedereren für dich erwählest!“
[JJ.01_142,20] Der Cyrenius verstand die Worte Josephs, wies darauf seinen
Großen die ersten Plätze an,
[JJ.01_142,21] er selbst aber setzte sich mit der Tullia an der Mitte des
Tisches.
[JJ.01_142,22] Und so war alles wohl geordnet; die Großen waren voll Freude, daß
sie obenan saßen,
[JJ.01_142,23] Cyrenius war vergnügt in der Mitte, und Joseph mit den Seinen war
überheiter, daß er auch bei diesem großen Glanzfeste in der Ordnung Gottes
verbleiben konnte.
[JJ.01_143] 143. Kapitel – Der fraglustige gottsuchende Hauptmann. Der Priester
über die Götterlehre, sein Bekenntnis zum allein wahren Gott. Joseph an den
fragenden Hauptmann: es hat alles seine Zeit!
16. Februar 1844
[JJ.01_143,01] Das Morgenmahl aber dauerte bei einer Stunde lang, und ward unter
dem Essen viel geredet über allerlei Dinge.
[JJ.01_143,02] Ein Hauptmann aber, der auch bei der Bergbesteigung mit war,
fragte zu Ende der Tafel einen von den drei ehemaligen Unterpriestern:
[JJ.01_143,03] „Höre du mich nun an! Siehe, wir haben eine Götterlehre, nach der
es von Göttern wimmelt, dahin wir nur immer sehen mögen;
[JJ.01_143,04] ich aber habe noch nie etwas von einem Gotte gesehen, noch irgend
wahrgenommen!
[JJ.01_143,05] Von tausend Dingen habe ich nicht selten geträumt, – aber von
irgendeiner Gottheit nie!
[JJ.01_143,06] Wer aber kann aus allen nun lebenden Menschen jetzt auftreten und
gewissenhaft wahr bekennen: ,Ich habe den Zeus oder irgendeine andere Gottheit
gesehen und gesprochen‘?
[JJ.01_143,07] Nachdem wir aber doch auch ebensogut Menschen sind als die,
welche in der Urzeit mit den Göttern sollen einen Umgang gehabt haben,
[JJ.01_143,08] so sehe ich da nicht ein, warum uns die Götter nun also im Stiche
lassen und kümmern sich nicht im geringsten mehr um uns!
[JJ.01_143,09] Könntest du als ein ehemaliger Priester mir denn nicht davon
irgendeinen haltbaren Grund angeben?“
[JJ.01_143,10] Der Unterpriester aber sprach: „Lieber Freund, ich bitte dich um
alles in der Welt, frage du mich nur um solche höchst alberne Dinge nimmer!
[JJ.01_143,11] Unsere Götter sind nichts als reine Ephemeriden, die dem Sumpfe
unserer Dummheit entstammen.
[JJ.01_143,12] Da wir aber in solcher unserer Dummheit nichts Besseres als
unsere eigenen Sumpfgeburten erspähen mögen, so bevorzugen wir diese und stellen
sie uns selbst als Götter vor,
[JJ.01_143,13] erbauen ihnen Tempel und beten dann in denselben die
allernichtigsten Produkte unserer Dummheit an.
[JJ.01_143,14] Siehe, das sind die Götter, denen wir Tempel erbaut haben, und
Rom an ihnen strotzt!
[JJ.01_143,15] Ja, es gibt wohl einen wahren Gott; dieser aber war allzeit
heilig, und wir allerunreinste Wesen in unseren Herzen können Ihn nicht
erschauen, wohl aber Seine Werke!
[JJ.01_143,16] Willst du aber von diesem einen Gotte mehreres erfahren, da wende
dich an jenen reinen Juden; der wird Ihn dich – ich schwöre es dir – sicher
näher kennen lehren!“
[JJ.01_143,17] Mit diesem Bescheide war der Hauptmann zufrieden; denn er bekam
da gerade die Antwort, die er schon lange gesucht hatte.
[JJ.01_143,18] Und er bewegte sich auch hin zum Joseph und brachte ihm sein
Anliegen vor.
[JJ.01_143,19] Und Joseph sprach: „Guter Mann, es hat alles seine Zeit! Wenn du
reif wirst, wird es dir geoffenbaret werden; darum begnüge dich vorderhand mit
dieser Verheißung!“
[JJ.01_144] 144. Kapitel – Josephs und des Cyrenius Absicht, das nachgebildete
Allerheiligste zu beschauen. Des Kindleins Einspruch. Joseph in Verlegenheit.
Marias aufklärende Worte und des Kindleins Zustimmung. Die nachträgliche
Belehrung des Hauptmanns.
17. Februar 1844
[JJ.01_144,01] Als der nach Gott forschende Hauptmann auf die Art abgefertigt
war, da sprach der Joseph zum Cyrenius:
[JJ.01_144,02] „Bruder, nun lasse uns auch einmal das Allerheiligste beschauen!“
[JJ.01_144,03] Und der Cyrenius fügte sich mit großer Freude der Anforderung
seines ihm über alles werten Freundes.
[JJ.01_144,04] Aber das Kindlein erhob sich und sprach zum Joseph:
[JJ.01_144,05] „Höre Mich an, du getreuer Ernährer Meines Leibes! Du selbst hast
ehedem zum nach Gott forschenden Hauptmann gesagt:
[JJ.01_144,06] ,Es hat alles seine Zeit; wenn du erst reif wirst, dann wird dir
schon das Weitere geoffenbart werden! Mit dieser Verheißung begnüge dich
vorderhand!‘
[JJ.01_144,07] Also sage denn Ich aber auch hier vor dem Eintritte in das hier
vorbildliche wie nachbildliche Allerheiligste:
[JJ.01_144,08] Es hat auch dieser Eintritt seine Zeit! Noch seid ihr alle nicht
reif dazu; wenn ihr aber reif werdet, da will Ich es durch Meine Diener vor euch
eröffnen lassen!
[JJ.01_144,09] Vorderhand aber begnüget euch auch ihr mit dieser Verheißung!“
[JJ.01_144,10] Hier sahen Joseph und Cyrenius einander groß an, und die
Verlegenheit des einen übertraf die des andern.
[JJ.01_144,11] Und der Joseph sprach zur Maria: „Das sieht gut aus, so das
Kindlein mir jetzt Gesetze gibt, wo Es Seine Füße noch in den Windeln hat!
[JJ.01_144,12] Was wohl wird Es dann tun, wenn Es zehn Jahre zählen wird, und
was, wenn zwanzig?“
[JJ.01_144,13] Maria aber sprach zum Joseph: „Aber lieber Vater Joseph, wie
kannst denn auch du schwach werden!?
[JJ.01_144,14] Zeigen es dir ja doch die Engel durch ihre übergroße Demut, wer
dies Kindlein ist!
[JJ.01_144,15] Und die vielen Wunder, die um uns geschehen, sind ja auch ein
lauter und sonnenklarer Beweis für diese große Wunderwahrheit aller Wahrheit – und aller Wahrheit!
[JJ.01_144,16] Siehe, ich, dein getreues Weib und deine Magd, aber merke es
wohl, was die Worte des Kindleins im Schilde führen!
[JJ.01_144,17] Tue du das, und ich glaube im voraus überzeugt zu sein, daß da
sogleich ein anderer Wind wird zu wehen anfangen!“
[JJ.01_144,18] Und der Joseph fragte darauf wieder die Maria: „Ja – was ist es
denn, das ich nun tun solle?“
[JJ.01_144,19] Und die Maria sagte: „Siehe an den Mann, der da sucht, und zeige
ihm weise, Das er sucht, – Dem er so ferne zu sein wähnt und doch so nahe ist!“
[JJ.01_144,20] Und das Kindlein sah den Joseph freundlichst lächelnd an und
sprach dazu:
[JJ.01_144,21] „Ja, ja, du Mein geliebtester Joseph, das Weib hat recht; gehe
hin und belehre den Hauptmann!
[JJ.01_144,22] Denn siehe, denen, die da bitten, suchen und anklopfen, muß
aufgetan werden die lange verschlossene Pforte in Mein Reich!
[JJ.01_144,23] Doch mußt du nicht gerade mit dem Finger auf Mich zeigen, indem
Meine Zeit noch nicht da ist; denn du weißt es ja, daß da alles seine Zeit haben
muß!“
[JJ.01_144,24] Joseph küßte darauf das Kindlein und ging dann hin zum Hauptmann
und sprach zu ihm:
[JJ.01_144,25] „Komme und höre! Wonach dich verlangt, das solle dir werden!“ Und
der Hauptmann horchte mit Freuden der Rede Josephs.
[JJ.01_145] 145. Kapitel – Der Hauptmann fragt nach dem Kommen des Messias.
Joseph über das Wesen des Messias. Des Unterpriesters voraussagende Worte über
das Ende der heidnischen Tempel. Vom lebendigen Tempel im Menschenherzen.
19. Februar 1844
[JJ.01_145,01] Als der Hauptmann von Joseph sogestaltig die Hauptgrundzüge der
Lehre Gottes erhielt und somit auch einige Andeutungen von dem Messias,
[JJ.01_145,02] da ward er sehr tiefsinnig und fragte nach einer Weile, wann
dieser Messias kommen werde.
[JJ.01_145,03] Joseph aber antwortete und sprach: „Dieser Messias, durch den
alle Menschen vom Joche des Todes befreit werden, und der die abgefallene Erde
wieder mit den Himmeln verbinden wird, ist bereits schon da!“
[JJ.01_145,04] Und der Hauptmann forschte und sprach: „So dieser Messias bereits
da ist, so sage es mir, wo Er ist – und woran kann man Ihn erkennen?“
[JJ.01_145,05] Und Joseph antwortete und sprach: „Das stehet mir nicht offen,
daß ich dir Ihn mit dem Finger zeigen solle;
[JJ.01_145,06] aber was da betrifft die Erkenntnismale, so will ich dir
gleichwohl einiges davon kundgeben, und so wolle mich hören!
[JJ.01_145,07] Siehe, der Messias wird fürs erste der lebendige ewige Sohn des
Allerhöchsten, dir bisher unbekannten Gottes sein!
[JJ.01_145,08] Eine allerreinste Jungfrau wird Ihn empfangen auf eine
allerwunderbarste Weise durch die alleinige Kraft des Allerhöchsten!
[JJ.01_145,09] Wenn Er aber empfangen und dann geboren sein wird, da wird alle
Fülle der allerhöchsten Kraft Gottes wohnen in Seinem Fleische.
[JJ.01_145,10] Und so Er auf der Erde wohnen wird leibhaftig, da werden Seine
Diener und Boten aus den hohen Himmeln zur Erde niedersteigen und werden geheim,
und vielen Menschen auch offenbar, Ihm dienen.
[JJ.01_145,11] Er wird durch Worte und Taten beseligen alle, die Ihm folgen
werden in der Tat nach Seinem Worte und werden entflammen ihre Herzen für Ihn!
[JJ.01_145,12] Die Ihn aber nicht werden erkennen wollen, die wird richten Sein
allmächtiges Wort, das Er mit ehernem Griffel in eines jeden Menschen Herz
schreiben wird!
[JJ.01_145,13] Seine Worte aber werden nicht sein wie die eines Menschen,
sondern werden sein voll Kraft und voll Lebens; und wer die Worte hören wird und
wird sie behalten in seinem Herzen zur Tat darnach, der wird den Tod nimmer
schmecken ewiglich!
[JJ.01_145,14] In Seinem Wesen aber wird Er sein so sanft wie ein Lamm und zart
wie eine Turteltaube;
[JJ.01_145,15] aber dennoch werden Seinem leisesten Hauche gehorchen alle
Elemente!
[JJ.01_145,16] So Er den Winden gebieten wird gar leise, da werden sie
losbrechen und werden das Meer zerfurchen bis in den Grund!
[JJ.01_145,17] Wenn Er über die wogende See hinblicken wird, da wird das
Gewässer zum ruhigen Spiegel werden!
[JJ.01_145,18] So Er zur Erde hauchen wird, da wird sie ihre alten Gräber öffnen
und alle Toten wieder zum Leben ausliefern müssen!
[JJ.01_145,19] Und das Feuer wird dem zur Kühlung werden, der des Messias Wort
lebendig in der Brust tragen wird! –
[JJ.01_145,20] Nun, lieber Hauptmann, hast du die wesentlichsten Merkmale des
Messias, an denen du Ihn leicht erkennen kannst.
[JJ.01_145,21] Mehr von Ihm zu sagen, ist mir nicht gestattet; das ,wo Er ist‘
aber wirst du da sicher recht leicht und recht bald finden!“
[JJ.01_145,22] Diese Erklärung machte einen gar mächtigen Eindruck auf den
Hauptmann, daß er darauf sich kaum mehr etwas zu reden getraute.
[JJ.01_145,23] Er ging darauf zu dem schon früher angeredeten Unterpriester und
sprach zu ihm:
[JJ.01_145,24] „Hast du von der Seite vernommen, was dieser überweise Jude zu
mir geredet hat?“
[JJ.01_145,25] Und der Unterpriester sprach: „Ich sage dir: ein jedes Wörtchen
drang tief in meine staunende Seele!“
[JJ.01_145,26] Und der Hauptmann sprach: „Also sage mir, was es denn da hernach
mit unsern Göttern für ein Ende nehmen wird, so der mir höchst merkwürdig
bezeichnete Weltmessias auftreten wird in der vollen Aktivität Seiner
vollgöttlichen Kraft?“
[JJ.01_145,27] Und der Unterpriester erwiderte: „Hast du vor drei Tagen nicht
empfunden die Kraft des nächtlichen Orkans?
[JJ.01_145,28] Auf dem Berge, – hast du da nicht gesehen das plötzliche Ende
unseres ehemaligen Apollotempels und alle die darauf folgenden Zeichen?
[JJ.01_145,29] Siehe, gerade also wird es in der Kürze der Zeit auch Rom
ergehen, – zum staubigen Schutte werden die Tempel werden!
[JJ.01_145,30] Und da man nun noch dem Zeus Opfer bringt, da wirst du in der
Kürze einen zerworfenen Steinhaufen erschauen; aber dafür werden die Menschen
lebendige Tempel erbauen in ihren Herzen!
[JJ.01_145,31] In diesen wird ein jeder Mensch gleich einem Priester dem einig
wahren Gotte ein lebendiges Opfer darbringen können, überall und zu jeder Zeit!
– Soviel und nicht mehr kann ich dir sagen! – Willst du mehr? Siehe, dort sind
sie, die mehr wissen als ich; darum frage mich nicht weiter!“
[JJ.01_146] 146. Kapitel – Weitere Fragen des Hauptmanns. Joseph über das Reich
des Messias. Die Liebe als Hauptschlüssel der Wahrheit. Die Gesellschaft im
nachgebildeten Allerheiligsten. Die armen Blinden erhalten ihr Augenlicht
wieder.
20. Februar 1844
[JJ.01_146,01] Darauf fragte der Hauptmann den Unterpriester auch nicht mehr
weiter, sondern begab sich sogleich wieder hin zum Joseph.
[JJ.01_146,02] Allda angelangt, erzählte er sogleich alles, was er von dem
Unterpriester vernommen hatte,
[JJ.01_146,03] und fragte aber darauf auch sogleich den Joseph, was er von allem
dem im Ernste halten solle.
[JJ.01_146,04] Und der Joseph antwortete und sprach: „Halte du vorderhand von
allem dem, was dir gesagt ward, so viel, als dir gesagt wurde;
[JJ.01_146,05] alles andere aber erwarte in aller Geduld von der Folge, so wirst
du am besten fahren!
[JJ.01_146,06] Denn siehe, in Fragen und Antworten besteht das heilige Reich des
Messias nicht,
[JJ.01_146,07] sondern allein nur in der Geduld, Liebe, Sanftmut und in der
völligen Ergebung in den göttlichen Willen!
[JJ.01_146,08] Denn bei Gott läßt sich nichts übers Knie brechen, nichts
erzwingen und am allerwenigsten aber etwas ertrotzen!
[JJ.01_146,09] Wann es der Herr aber für gut befinden wird für dich, dann auch
wird Er dich in die höhere Offenbarung leiten!
[JJ.01_146,10] Fasse aber sofort lebendige Liebe zu dem dir von mir ganz rein
geoffenbarten Gotte; durch sie wirst du am ersten dahin gelangen, wo du so ganz
eigentlich sein möchtest!
[JJ.01_146,11] Ja! – Solche Liebe wird dir in einem Wurfe mehr geben lebendig,
als was du mit einer Million toter Fragen erbeuten möchtest!“
[JJ.01_146,12] Und der Hauptmann fragte und sprach: „Gut, mein geachtetster
weisester Freund! Ich will solches alles tun; aber nur das mußt du mir sagen,
wie man deinen Gott liebt, den man noch zu wenig kennt?“
[JJ.01_146,13] Und der Joseph sprach: „Wie du deinen Bruder und deine allfällige
Braut liebst, also auch liebe Gott!
[JJ.01_146,14] Liebe deine Nebenmenschen als lauter Brüder und Schwestern in
Gott, und du wirst dadurch auch Gott lieben!
[JJ.01_146,15] Tue allzeit und allenthalben Gutes, so wirst du die Gnade Gottes
haben!
[JJ.01_146,16] Sei barmherzig gegen jedermann, so wirst du auch bei Gott die
wahre lebendige Barmherzigkeit finden!
[JJ.01_146,17] Ferner sei in allen Dingen gelassen, sanft und voll Geduld, und
fliehe den Stolz, den Hochmut und den Neid wie die Pestilenz,
[JJ.01_146,18] dann wird der Herr eine mächtige Flamme in deinem Herzen
erwecken,
[JJ.01_146,19] und das gewaltige Licht dieser geistigen Flamme wird alle
Finsternisse des Todes aus dir verscheuchen, und du wirst dann in dir selbst
eine Offenbarung finden, in der du alle deine Fragen auf das glänzendste
lebendig beantwortet finden wirst!
[JJ.01_146,20] Siehe, das ist der rechte Weg zum Lichte und Leben aus Gott, das
ist die rechte Liebe zu Gott; diesen Weg wandle!“
[JJ.01_146,21] Als der Hauptmann diese kräftige Lehre von Joseph erhielt, da
hielt er sobald inne mit seinen noch vielen übrigen Fragen und versenkte sich in
tiefe Gedanken.
[JJ.01_146,22] Zu gleicher Zeit aber ward auch von den Jünglingen der Vorhang
weit auseinandergezogen, und Joseph ersah sobald, daß es nun an der Zeit sei, in
dieses nachgebildete Allerheiligste zu treten.
[JJ.01_146,23] Schon von ferne der Tiefe dieses großen Saales ward von seiten
der armen Gespeisten ein mächtiger Dankruf entgegengesandt.
[JJ.01_146,24] Als aber der glänzende Cyrenius erst völlig mit Joseph und Maria
mit dem Kindlein in das nachbildliche Allerheiligste eintrat, da war es völlig
aus bei den Armen.
[JJ.01_146,25] Den Cyrenius kostete dieser Anblick viele Freuden- und
Mitleidstränen, desgleichen auch den Joseph und die Maria.
[JJ.01_146,26] Es waren aber viele Blinde, Lahme und Krüppel aller Art darunter;
denn ihre Zahl enthielt Hunderte.
[JJ.01_146,27] Da betete geheim die Maria, nahm dann das Tuch, womit sie öfter
das Kindlein abwischte, und wischte damit allen Blinden die Augen; und alle
bekamen darauf das Augenlicht wieder! – Nach dieser Tat wollte das Loben und
Preisen kein Ende nehmen; darum begab sich die Gesellschaft auf kurze Zeit
wieder in den Hauptsaal zurück.
[JJ.01_147] 147. Kapitel – Das Bittgeschrei der Kranken zu Maria. Ihr Hinweis
auf das Jesuskind. Die Heilung der Kranken. Ihre Belehrung durch die Engel. Der
Hauptmann sucht nach dem Wundertäter.
21. Februar 1844
[JJ.01_147,01] Nach einer Weile erst ging die erhabene Gesellschaft wieder in
das nachbildliche Allerheiligste und ward wieder mit der größten Preisung
empfangen.
[JJ.01_147,02] Die Lahmen, Krüppel und sonstigen Bresthaften aber schrien: „O du
herrliche Mutter! Die du halfst den Blinden, wir bitten dich, befreie auch uns
von unserer großen Qual!“
[JJ.01_147,03] Maria aber sprach: „Was rufet ihr zu mir? Ich kann euch keine
Hilfe leisten; denn ich bin gleich euch nur eine schwache sterbliche Magd meines
Herrn!
[JJ.01_147,04] Aber Der, den ich auf meinen Armen trage, kann euch wohl helfen;
denn in Ihm wohnt die ewige Fülle der göttlichen Allkraft!“
[JJ.01_147,05] Es horchten aber die Kranken nicht auf die Rede der Maria,
sondern schrien noch viel mehr: „O herrliche Mutter, helfe uns, helfe uns Armen,
und mache uns frei von unserer Qual!“
[JJ.01_147,06] Da richtete sich das Kindlein auf und streckte Seine Hand über
die Kranken aus, und sie wurden alle im Augenblick vollkommen gesund.
[JJ.01_147,07] Die Lahmen sprangen wie Hirsche, die Krüppel wurden gerade wie
die Zedern auf dem Libanon, und alle sonstigen Bresthaften wurden von ihren
Leiden befreit.
[JJ.01_147,08] Und die Engel traten dann zu allen diesen Armen, hießen sie
schweigen, und verkündigten ihnen die Nähe des Reiches Gottes auf Erden!
[JJ.01_147,09] Diese Begebenheit brachte unsern Hauptmann aus seinem tiefen
Gedankentraume, und er ging ebenfalls ins Allerheiligste der Gesellschaft nach.
[JJ.01_147,10] Allda angelangt, trat er sogleich zum Joseph hin und fragte ihn:
„Erhabener Freund, was geschah hier? – Ich sehe ja hier weder Blinde noch Lahme,
noch Krüppel und sonstige Elende mehr!
[JJ.01_147,11] Wie?! – Sind sie alle durch ein Wunder geheilt worden, oder war
ihr ehedem elender Zustand nur eine Verlarvung?“
[JJ.01_147,12] Und der Joseph sprach: „Gehe hin und rede darüber mit denen
selbst, die dir jetzt so rätselhaft vorkommen! Diese werden es dir am besten zu
sagen wissen, was sich nun mit ihnen zugetragen hat!“
[JJ.01_147,13] Und der Hauptmann tat sogleich, was ihm der Joseph geraten hatte;
denn das Fragen war überhaupt dieses Hauptmanns schwache Seite.
[JJ.01_147,14] Er bekam aber überall eine und dieselbe Antwort; überall lautete
es: „Auf wunderbare Weise ward ich gesund!“
[JJ.01_147,15] Und der Hauptmann kam wieder zum Joseph und fragte ihn:
[JJ.01_147,16] „Wer aus euch wirkte denn das Wunder? – Wem aus euch ist solch
eine Wunderkraft eigen? – Wer aus euch ist denn sicher ein Gott?!“
[JJ.01_147,17] Und der Joseph sprach: „Siehe, dort stehen wieder die armen
Geheilten!
[JJ.01_147,18] Gehe abermals hin und frage sie; diese werden dir schon den
rechten Wink geben!“
[JJ.01_147,19] Und der Hauptmann wandte sich sogleich wieder an die Armen und
fragte um den Wundermann.
[JJ.01_147,20] Die Armen aber sprachen: „Siehe an die große Gesellschaft; aus
ihrer Mitte kam uns wunderbar die Heilung!
[JJ.01_147,21] Die kleine Jüdin scheint die Macht zu tragen – wie aber? Das
werden die Götter besser wissen als wir!“
[JJ.01_147,22] Nun wußte der Hauptmann nicht viel mehr als vorher.
[JJ.01_147,23] Joseph aber sprach zum Hauptmanne: „Siehe, du bist ein Reicher
Roms; versorge nun diese Armen aus Liebe zu Gott, so wirst du mehr erfahren! Für
jetzt aber begnüge dich mit dem!“
[JJ.01_148] 148. Kapitel – Der Wetteifer im Gutes-Tun zwischen dem Hauptmann und
Cyrenius. Der ratlose Hauptmann und seine Belehrung durch Joseph.
22. Februar 1844
[JJ.01_148,01] Als der Hauptmann solches von Joseph vernommen hatte, da bedachte
er sich nicht lange, sondern ging hin zum Cyrenius und sprach:
[JJ.01_148,02] „Kaiserliche Consulische Hoheit! Hochdieselben haben sicher
vernommen, was da meiner Geringheit der weise Jude geraten hat?
[JJ.01_148,03] Ich habe mich darob sogleich entschlossen, seinem Rate die
pünktlichste Folge zu leisten.
[JJ.01_148,04] Darum bitte ich Hochdieselben, mir diesen meinen Beschluß zu
genehmigen, laut dem ich alle diese Armen wie meine eigenen Kinder in meine
Versorgung nehmen möchte!“
[JJ.01_148,05] Und der Cyrenius sprach: „Mein achtbarster lieber Hauptmann! Es
tut mir leid, daß ich dir dieses erhabene Vergnügen nicht zukommen lassen kann!
[JJ.01_148,06] Denn siehe, soeben habe ich sie alle schon in meine eigene
Versorgung übernommen!
[JJ.01_148,07] Aber darum darfst du dich nicht betrüben; denn du wirst noch Arme
genug antreffen.
[JJ.01_148,08] Befolge an denen den Rat des weisen Juden, und du wirst den
gleichen Lohn einernten!“
[JJ.01_148,09] Der Hauptmann verneigte sich hier vor dem Cyrenius, ging sogleich
zum Joseph hin und sprach:
[JJ.01_148,10] „Da siehe nun, was kann ich nun tun, wenn mir der Cyrenius schon
lange zuvorgekommen ist? Woher werde ich nun Arme nehmen? Denn hier sind sie von
ganz Ostracine beisammen!“
[JJ.01_148,11] Und der Joseph lächelte hier freundlich den Hauptmann an und
sagte zu ihm:
[JJ.01_148,12] „O mein bester Freund! Sorge du dich nur darum nicht; denn an
allem andern hat die Erde stets einen größeren Mangel gehabt als an Armen!
[JJ.01_148,13] Siehe, es dürfen da nicht gerade Blinde, Lahme, Krüppel und
sonstige Bresthafte sein!
[JJ.01_148,14] Gehe hin und durchsuche die Familien in den Häusern, überzeuge
dich von ihrer mannigfachen Not, und du wirst sogleich Gelegenheit in Menge
finden, deinen Überfluß gehörig an den Mann zu bringen!
[JJ.01_148,15] Siehe, diese Stadt ist ja im ganzen ohnehin mehr eine Ruine als
eine nur einigermaßen ansehnliche blühende Stadt!
[JJ.01_148,16] Durchsuche nur die halbzerfallenen Wohnungen so mancher Bürger,
und du wirst das Eitle deiner Betrübnis wegen Mangels an Armen sogleich überklar
einsehen!“
[JJ.01_148,17] Der Hauptmann aber sagte: „Lieber weiser Freund, da hast du wohl
recht;
[JJ.01_148,18] aber diese Armen werden mir wenig Aufschluß über den kommenden
Messias erteilen können, indem sie doch samt mir irrgläubig sind dir gegenüber!
[JJ.01_148,19] Diese hier aber haben nun an sich so viel Wunderbares erlebt und
hätten mir nach und nach so manches enthüllen können!?“
[JJ.01_148,20] Und der Joseph erwiderte dem Hauptmanne: „Oho, mein lieber
Freund! – Meinst du denn, die Enthüllung des Geistigen liege in den Armen?
[JJ.01_148,21] Oh – da bist du in großer Irre! – Siehe, die Enthüllung liegt nur
in der Liebe deines eigenen Herzens und Geistes! – Wenn du Liebe ausübest, dann
wird aus der Flamme solcher Liebe dir ein Licht werden, aber nie aus dem Munde
der Armen!“ – Mit dieser Erklärung ward der Hauptmann zufrieden und fragte
hinfort nicht mehr, was er tun solle.
[JJ.01_149] 149. Kapitel – Die Frage der Ausbesserung des alten
Karthagerschiffes am Sabbat. Des Kindleins Rede über das Gutes-Tun am Sabbat.
Der Ungehorsam des gesetzestreuen Joseph. Die wunderbare Ausbesserung des
Schiffes durch die Engel.
23. Februar 1844
[JJ.01_149,01] Nach dieser Beruhigung des Hauptmanns gab der Cyrenius dem
Obersten einen Befehl, laut dem dieser für den nächsten Tag noch ein Schiff
ausrüsten mußte, in welchem diese Armen nach Tyrus überbracht werden sollten.
[JJ.01_149,02] Der Oberste aber sprach: „Kaiserliche Consulische Hoheit! Es
liegt meines Wissens nur noch ein altes karthagisches Schiff draußen im Hafen,
das aber schon sehr schadhaft ist.
[JJ.01_149,03] Schiffsbauleute gibt es in dieser Stadt nicht, wohl hier und da
nur höchst elende Zimmerleute, die mit der genauesten Not etwa ein Fischerfloß
zusammenbinden können.
[JJ.01_149,04] Es steht demnach sehr in Frage, wie wir das alte Karthagerschiff
zurechtbringen werden!“
[JJ.01_149,05] Und der Cyrenius sprach: „Sorge dich nicht; dafür solle sogleich
der beste Rat geschafft werden!
[JJ.01_149,06] Siehe, jener weise Jude ist seiner Kunst nach ein großer Meister
als Zimmermann, und also auch seine fünf Söhne!
[JJ.01_149,07] Diesen will ich um Rat fragen, und ich bin überzeugt, er wird mir
ganz besonders in dieser Sache den besten Rat erteilen!“
[JJ.01_149,08] Hier wandte sich der Cyrenius sogleich an den Joseph und stellte
ihm die Sache vor.
[JJ.01_149,09] Joseph aber sprach: „Freund und Bruder! Es wäre alles recht und
gut, wenn nur heute nicht unser größter Sabbat wäre, an dem wir keine Arbeit
anrühren dürfen!
[JJ.01_149,10] Aber es gibt vielleicht hier Zimmerleute, die unser Sabbat nichts
angeht; denen will ich ja wohl die Anleitung geben.“
[JJ.01_149,11] Es erhob sich aber da das Kindlein und sprach: „Joseph! – des
Sabbats wegen darf ein jeder Mensch Gutes tun!
[JJ.01_149,12] Die Feier des Sabbats bestehet nicht sosehr im Müßigsein den
ganzen Tag hindurch, sondern vielmehr in guten Werken.
[JJ.01_149,13] Moses hat wohl die Feier des Sabbats hoch geboten und in seinem
Gebote jede unnötige und knechtlich bezahlte Arbeit als eine Schändung des
Sabbats bezeichnet, die vor Gott ein Greuel ist;
[JJ.01_149,14] aber an einem Sabbate den Willen Gottes zu tun, hat Moses nie
verboten!
[JJ.01_149,15] Es steht nirgends im Gesetze, daß man an einem Sabbate einen
Bruder solle zugrunde gehen lassen!
[JJ.01_149,16] Ich aber als der Herr des Sabbats sage: Tut auch am Sabbate
allzeit Gutes, so werdet ihr den Sabbat am besten feiern!
[JJ.01_149,17] Getraust du, Joseph, dich aber schon nicht, scheinbar nur das
Gesetz Mosis zu übertreten durch die leichte Ausbesserung jenes Schiffes, so
sollen das sogleich Meine Diener tun!“
[JJ.01_149,18] Und Joseph sprach: „Mein göttlich Söhnchen, Du hast wohl recht;
aber siehe, ich bin im Gesetze alt geworden und will es auch nicht dem Scheine
nach übertreten!“
[JJ.01_149,19] Da berief das Kindlein sogleich die Jünglinge und sprach: „Also
gehet ihr hin und erfüllet Meinen Willen;
[JJ.01_149,20] denn der Joseph achtet das Gesetz mehr als den Gesetzgeber und
den Sabbat mehr als den Herrn des Sabbats!“
[JJ.01_149,21] Und so schnell wie ein Gedanke verließen die Jünglinge den Saal
und brachten auch im Augenblicke das Schiff zurecht und kamen auch sobald wieder
zurück.
[JJ.01_149,22] Alles verwunderte sich über diese Schnelligkeit, und viele
glaubten nicht, daß das Schiff in Ordnung sei. Aber es kamen bald Boten vom
Hafen, die diese Tat dem Cyrenius anzeigten. Darauf begab sich dann die ganze
Gesellschaft ans Ufer und besichtigte das Schiff und wunderte sich über solche
Fertigkeit dieser Jünglinge.
[JJ.01_150] 150. Kapitel – Der Besuch des Hafens. Das kostbare Schiff. Des
Cyrenius Dank an Joseph. Des Kindleins Antwort und Hinweis auf das Wohltun den
Armen.
24. Februar 1844
[JJ.01_150,01] Cyrenius aber besah das Schiff genau und berechnete, für wie
viele Menschen darinnen wohl Raum sein dürfte.
[JJ.01_150,02] Und er fand, daß da recht bequem tausend Menschen im Notfalle
könnten untergebracht werden.
[JJ.01_150,03] Bei dieser Berechnungsgelegenheit aber überzeugte sich der
Cyrenius auch von der außerordentlichen Festigkeit und Zierlichkeit dieses
Schiffes;
[JJ.01_150,04] denn es sah nicht also aus, als wäre es ein altes und geflicktes,
sondern das ganze Schiff sah also aus, als wäre es gegossen.
[JJ.01_150,05] Keine Fuge war zu entdecken, und am Holze konnte man keine Jahre,
Äste und sonstige Fasern und Poren bemerken.
[JJ.01_150,06] Als der Cyrenius sich von allem dem überzeugte und vom Schiffe
zurück ans Ufer zu der Gesellschaft – natürlich mit seinem nötigen Gefolge – kam, da trat er sogleich zum Joseph hin und sprach:
[JJ.01_150,07] „Mein allererhabenster Freund, du glücklichster der Menschen auf
Erden! Über das Wunder wundere ich mich nun gar nicht mehr; denn ich weiß es ja
jetzt nur zu gut, daß bei Gott alle Dinge möglich sind!
[JJ.01_150,08] Ich weiß, daß das kein gemachtes und geflicktes, sondern ein ganz
neuerschaffenes Schiff ist; aber ich wundere mich dessen nicht.
[JJ.01_150,09] Denn dem Herrn wird es wohl ein gleich Leichtes sein, entweder
eine ganze Welt oder ein solches Schiff zu erschaffen; denn die Erde ist ja doch
auch ein Schiff, das gar viele Menschen trägt auf dem Meere der Unendlichkeit!
[JJ.01_150,10] Aber daß du mich nun zu deinem großen Schuldner gemacht hast,
siehe, das macht mich nun denken, auf welche Weise ich dir je diese Schuld werde
abtragen können?!
[JJ.01_150,11] Denn siehe, dieses Schiff, das ehedem kaum ein Pfund Silbers wert
war, indem es schon mehr einem Wrack als einem Schiffe glich, ist nun über
zehntausend Pfunde Goldes wert!
[JJ.01_150,12] Denn es kann nun zu einer Reise über die Herkulessäulen
(Gibraltar) nach Britannien gebraucht werden, wie zur Umschiffung von ganz
Afrika bis nach Indien!
[JJ.01_150,13] Wahrlich! – so ein Werk ist ja doch für den Weltgebrauch mit
keinem Golde zu bezahlen!
[JJ.01_150,14] Siehe, du mein erhabenster Freund, das ist es, was mich nun sehr
denken macht, wie ich dir je diese Schuld abtragen werde!
[JJ.01_150,15] Möchtest du das Gold achten, so wahr dein und nun auch mein Gott
lebt, so sollst du in sieben Tagen zehntausend Pfunde haben!
[JJ.01_150,16] Aber ich weiß, daß das Gold vor deinen Augen ein Greuel ist, und
so macht mich das nun traurig, daß ich dir, meinem größten Freunde, schuldig
bleiben muß!“
[JJ.01_150,17] Und der Joseph ergriff des Cyrenius Hand, drückte sie an seine
Brust und wollte reden; aber es kamen ihm auch die Tränen beim Anblicke dieses
edlen Römers.
[JJ.01_150,18] Dafür aber richtete sich das Kindlein auf, lächelte den Cyrenius
an und sprach: „Mein lieber Cyrenius Quirinus! Wahrlich sage Ich dir: So du
einen Armen nur in Meinem Namen aufgenommen hättest, da hättest du schon mehr
getan, als was zehntausend solche Schiffe wert sind!
[JJ.01_150,19] Du aber hast mehrere Hunderte nun in kurzer Zeit versorgt, und
Ich müßte dir gar viele solche Schiffe dafür geben, um dich irdisch dafür zu
entschädigen!
[JJ.01_150,20] Denn siehe, bei Mir gilt ein Mensch mehr als eine ganze Welt voll
solcher Schiffe! Darum lasse dich's nicht kümmern deiner vermeinten Schuld
wegen!
[JJ.01_150,21] Was du den Armen tust, das tust du auch Mir; aber nicht hier auf
der Erde werde Ich dich belohnen, sondern wenn du sterben wirst, da werde Ich
sobald deine Seele erwecken und dich gleichmachen diesen Meinen Dienern da, die
das Schiff ausbesserten!“
[JJ.01_150,22] Cyrenius weinte hier und beteuerte, daß er von nun an sein ganzes
Leben zum Wohle der armen leidenden Menschheit verwenden werde.
[JJ.01_150,23] Das Kindlein aber hob Seine Hand, sprach Amen, und segnete darauf
den Cyrenius und das Schiff. –
[JJ.01_151] 151. Kapitel – Das Mittagsmahl in der Burg. Der Hauptmann sucht nach
Armen in der Stadt, seine Rückkehr und des Cyrenius Lob. Des Kindleins
Segensworte.
26. Februar 1844
[JJ.01_151,01] Darauf begab sich dann die ganze Gesellschaft wieder in die Stadt
und da in die Burg, allwo unterdessen das Mittagsmahl nach vollkommen jüdischer
Sitte bereitet war.
[JJ.01_151,02] Alles nahm wieder die früheren Plätze ein und stärkte sich am
schmackhaft bereiteten Mittagsmahle.
[JJ.01_151,03] Zu Ende der Mahlzeit bemerkte erst der Cyrenius, daß der bekannte
Hauptmann sich nicht unter den Gästen befand.
[JJ.01_151,04] „Wo ist er, was tut er?“ war die allgemeine Frage zuoberst am
römischen Teile der Tafel.
[JJ.01_151,05] Cyrenius aber wandte sich an seinen Joseph und fragte ihn darum.
[JJ.01_151,06] Und der Joseph antwortete und sprach: „Kümmere dich nicht um ihn;
denn er ist gegangen, die Armen der Stadt aufzusuchen!
[JJ.01_151,07] Es liegt ihm nun freilich noch mehr an der Auffindung des inneren
Lichtes als so ganz eigentlich an den Armen;
[JJ.01_151,08] aber das tut nichts zur Beeinträchtigung seiner Sache, – denn im
Suchen selbst wird sich ihm der rechte Weg von selbst auftun!“
[JJ.01_151,09] Als der Cyrenius nun solches erfuhr, da ward er überfroh und
lobte den Hauptmann in seinem Herzen.
[JJ.01_151,10] Als sich aber der römische Teil in allerlei Mutmaßungen über den
Grund der Abwesenheit des Hauptmanns zerteilte, da kam er ganz heiter selbst zu
der Gesellschaft und ward sogleich von allen Seiten her mit tausend Fragen
bestürmt.
[JJ.01_151,11] Der Hauptmann aber, als selbst ein großer Freund vom Fragen, war
darum nichts weniger als ein Freund vom Antworten.
[JJ.01_151,12] Er ging daher sogleich zum Cyrenius hin und entschuldigte sich,
darum er bei der Mittagstafel diesmal einen Ausreißer gemacht hatte.
[JJ.01_151,13] Und der Cyrenius reichte dem Hauptmann die Hand und sprach zu
ihm:
[JJ.01_151,14] „Fürwahr, und stünden wir vor dem Feinde, und du hättest aus
einem solchen Grunde deinen Kampfplatz verlassen, so hättest du bei mir nichts
zu verantworten!
[JJ.01_151,15] Denn wahr, wahr, wie ich es jetzt einsehe, so tun wir mehr, so
wir auch nur einem Menschen Gutes tun, als gewönnen wir alle Reiche der Welt für
Rom!
[JJ.01_151,16] Gott dem Herrn liegt mehr an einem Menschen als an der ganzen
sonstigen Welt!
[JJ.01_151,17] Darum tun wir auch vor Gott ein bei weitem Größeres, so wir als
Brüder aus Liebe einen Bruder versorgen leiblich – und so viel möglich auch
geistig,
[JJ.01_151,18] als so wir gegen viele Tausende der ärgsten Feinde ins Feld
zögen!
[JJ.01_151,19] Ja, es ist vor Gott ums Endlose rühmlicher, ein Wohltäter an
seinen Brüdern zu sein, als zu sein der allergrößte Held in der tollen Welt!“
[JJ.01_151,20] Und das Kindlein sprach dazu: „Amen, also ist es, Mein Cyrenius
Quirinus!
[JJ.01_151,21] Bleibe du auf diesem Wege; fürwahr, so sicher wie dieser führt
kein anderer zum ewigen Leben! – Denn die Liebe ist das Leben; wer die Liebe
hat, der hat auch das Leben!“ – Darauf segnete das Kindlein den Cyrenius und den
Hauptmann mit den Augen.
[JJ.01_152] 152. Kapitel – Des Jesuskindleins Rede an Cyrenius bei der Übergabe
der Armen. Cyrenius als Vorläufer des Paulus. Eine Voraussage über den Fall
Jerusalems durch das Schwert der Römer.
27. Februar 1844
[JJ.01_152,01] Nach dieser Verhandlung öffneten die Jünglinge wieder den
Vorhang, und die ganze Gesellschaft begab sich wieder zu den Armen. Und das
Kindlein richtete Sich auf und segnete die Armen mit den Augen.
[JJ.01_152,02] Dann wandte Es Sich zu Cyrenius und sprach zu ihm mit einer gar
lieblichen Stimme:
[JJ.01_152,03] „Mein geliebter Cyrenius Quirinus! Siehe, diese Meine Diener, die
du als zarte Jünglinge hier erschauest, überwachen in Meinem Namen die ganze
Schöpfung!
[JJ.01_152,04] Jede Welt und jede Sonne muß ihnen gehorchen auf den leisesten
Wink;
[JJ.01_152,05] und so siehst du, daß Ich ihnen eine unbegrenzte Macht eingeräumt
habe.
[JJ.01_152,06] Wie Ich aber diesen Meinen Dienern zur geordneten Leitung alle
Schöpfung übergeben habe, also übergebe Ich hier dir diese viel größeren Welten
des Lebens!
[JJ.01_152,07] Siehe, diese Brüder und Schwestern sind mehr als eine ganze
Unendlichkeit voll Weltkörper und Sonnen für sich!
[JJ.01_152,08] Ja, Ich sage dir: Ein Kind in der Wiege ist mehr als alle Materie
im ewig endlosen Raume!
[JJ.01_152,09] Bedenke demnach, was Großes du in dieser Spende von Mir erhältst
und über wie Großes Ich dich setze!
[JJ.01_152,10] Leite mit aller Liebe, Sanftmut und Geduld diese Armen auf dem
rechten Wege zu Mir, und du sollst darum dereinst die Größe des Lohnes ewig nie
ermessen können!
[JJ.01_152,11] Ich, dein Herr und dein Gott, mache dich hiermit zu einem
Vorläufer im Reiche der Heiden, auf daß der, den Ich dereinst senden werde zu
den Heiden, eine leichte Aufnahme finden solle!
[JJ.01_152,12] Ich werde in der Folge aber auch einen Vorläufer zu den Juden
senden;
[JJ.01_152,13] aber Ich sage dir: dieser solle einen harten Stand haben! Und was
er tun wird im Schweiße seines Angesichts, das wirst du im Schlafe bewirken!
[JJ.01_152,14] Darum aber wird auch den Kindern das Licht genommen und euch in
aller Fülle überantwortet werden!
[JJ.01_152,15] Und Ich lege darum in dir als Kind den Samen, der einst Mir den
Baum geben wird, auf dem gar edle Früchte für Mein Haus erwachsen werden ewig.
[JJ.01_152,16] Aber den Feigenbaum bei den Kindern, den Ich schon zu den Zeiten
Abrahams pflanzte in Salem – einer Stadt, die Ich im Melchisedek mit Meiner
eignen Hand erbauet habe –, werde Ich verfluchen, darum er nichts als Blätter
trägt!
[JJ.01_152,17] Wahrlich, Mich hat es noch allzeit gehungert! Viele Male ließ Ich
den Baum in Salem durch gute Gärtner düngen, und dennoch trug er Mir keine
Frucht!
[JJ.01_152,18] Darum aber solle auch, ehe ein Säkulum verrinnen wird, die Stadt,
die Meine Hand für Meine Kinder erbauet hat, durch euch Fremdlinge fallen;
deines Bruders Sohn solle das Schwert gegen Salem ergreifen!
[JJ.01_152,19] Wie aber du nun diese Armen zu Kindern annimmst, so auch werde
Ich euch Fremdlinge zu Meinen Kindern annehmen, und sie werden hinausstoßen die
Kinder!
[JJ.01_152,20] Diese Worte behalte du bei dir und handle im Verborgenen darnach;
Ich aber werde dich allzeit segnen mit der unsichtbaren Krone Meiner ewigen
Liebe und Gnade, Amen!“
[JJ.01_152,21] Diese Worte machten alles verstummen. Die Engel lagen auf ihren
Angesichtern, und niemand getraute sich etwas zu reden und zu fragen. –
[JJ.01_153] 153. Kapitel – Des Cyrenius Frage über die Gottwesenheit des Kindes.
Josephs Erklärung am lebendigen Worte Gottes in den Propheten. Die Berichtigung
durch das Jesuskind.
28. Februar 1844
[JJ.01_153,01] Nach einer Weile erst zog der Cyrenius den Joseph auf die Seite
und sagte zu ihm:
[JJ.01_153,02] „Mein erhabenster Freund und Bruder! Hast du vernommen, was das
Kindlein geredet hat zu mir?!
[JJ.01_153,03] Hast du vernommen, wie Es nun einmal ganz offen heraussagte: Ich
– dein Herr – und dein – Gott?!
[JJ.01_153,04] Nehme ich dazu Seine Willensmacht und die Diener aus den Himmeln
der Himmel, die allzeit auf ihre Angesichter niederfallen, wenn das Kleine
spricht, so ist das Kind ja – der alleinige, ewige, wahrhaftige Gott und
Schöpfer der Welt und aller Dinge auf ihr?!
[JJ.01_153,05] Freund! Bruder! – was sagst du zu diesem meinem Bekenntnisse? – Ist es nicht also?
– Oder ist es anders?“
[JJ.01_153,06] Joseph stutzte hier selbst ein wenig; denn er hielt das Kind wohl
für einen vollkommenen Sohn Gottes, aber für die Gottheit Selbst hielt er Ihn
nicht!
[JJ.01_153,07] Er sprach daher nach einer Weile: „Das Kind für Gott Selbst zu
halten, dürfte etwas gewagt sein!
[JJ.01_153,08] Es ist aber ja bei den Juden also, daß sie Kinder Gottes sind – und sind demnach auch Söhne Gottes!
[JJ.01_153,09] Und das datiert sich schon seit dem Vater Abraham her, der auch
ein Sohn Gottes war, und also sind es auch seine Nachkommen.
[JJ.01_153,10] Zudem hat es bei uns noch allzeit große und kleine Propheten
gegeben, und wenn sie redeten, so redeten sie aus Gott, und Gott rechtete und
redete aus ihnen stets in der ersten Person.
[JJ.01_153,11] Also spricht einmal der Herr durch Isaias: ,Denn Ich bin der
Herr, dein Gott, der das Meer bewegt, daß seine Wellen wüten; – Mein Name heißt:
Herr – Zebaoth.
[JJ.01_153,12] Ich lege Mein Wort in deinen Mund und bedecke dich unter dem
Schatten Meiner Hände, auf daß Ich den Himmel pflanze und die Erde gründe und zu
Zion spreche: Du bist Mein Volk!‘
[JJ.01_153,13] Und siehe, wenn der Prophet auch also redet in der ersten Person,
als wäre er selbst der Herr, so ist er aber dennoch nicht der Herr, sondern des
Herrn Geist redet nur also durch des Propheten Mund!
[JJ.01_153,14] Und siehe, also wird es auch hier sein; Gott erweckt in diesem
Kinde einen gar mächtigen Propheten und redet nun schon durch seinen Mund
frühzeitig, wie einst durch den Mund des Knaben Samuel!“
[JJ.01_153,15] Hier war der Cyrenius beruhigt zwar, aber das Kindlein verlangte
den Joseph und den Cyrenius und sprach zu Joseph:
[JJ.01_153,16] „Joseph, du weißt wohl, daß der Herr durch den Mund der Propheten
geredet hat wie in der ersten Person zumeist;
[JJ.01_153,17] aber weißt du nicht, was der Herr eben einmal bei Isaias spricht,
da Er sagt:
[JJ.01_153,18] ,Wer ist Der, der von Edom kommt, mit rötlichten Kleidern von
Bazra? Der so geschmückt ist in Seinen Kleidern und einhertritt in Seiner großen
Kraft? –
[JJ.01_153,19] ,Ich bin Es, der Gerechtigkeit lehrt und ein Meister bin zu
helfen!
[JJ.01_153,20] ,Warum ist denn Dein Gewand so rotfarb und Dein Kleid wie eines
Keltertreters?
[JJ.01_153,21] ,Ich trete die Kelter allein, und ist niemand unter den Völkern
mit Mir. Ich habe sie gekeltert in Meinem Zorne und zertreten in Meinem Grimme.
[JJ.01_153,22] ,Daher ist ihr Vermögen auf Meine Kleider gespritzt, und Ich habe
all Mein Gewand besudelt!
[JJ.01_153,23] ,Denn Ich habe einen Tag der Rache Mir vorgenommen; das Jahr, die
Meinen zu erlösen, ist gekommen!
[JJ.01_153,24] ,Denn Ich sah Mich um, da war kein Helfer; und Ich war im
Schrecken, und niemand enthielt Mich, sondern Mein Arm mußte Mir helfen, und
Mein Zorn enthielt Mich!
[JJ.01_153,25] ,Darum habe Ich die Völker zertreten in Meinem Zorne und habe sie
trunken gemacht in Meinem Grimme und ihr Vermögen zu Boden gestoßen!‘ –
[JJ.01_153,26] Joseph! – Kennst du Den, der von Edom kommt und nun gekommen ist
und nun zu dir spricht: Ich bin Es, der Gerechtigkeit lehrt und ein Meister bin
zu helfen!?“
[JJ.01_153,27] Bei diesem Worte legte der Joseph seine Hand auf die Brust und
betete in sich das Kindlein an.
[JJ.01_153,28] Und Cyrenius sagte nach einer Weile ganz still zu Joseph:
„Bruder! Mir kommt es in dieser für Mich freilich zu weisen Rede des Kindleins
vor, als hätte ich doch recht?!“
[JJ.01_153,29] Und der Joseph sprach: „Ja, du hast recht; aber desto mehr muß
dir nun am Schweigen davon gelegen sein, willst du leben!“ – Und der Cyrenius
schrieb sich diese Mahnung tief in sein Herz und beobachtete sie auch sein Leben
lang.
[JJ.01_154] 154. Kapitel – Die dienstliche Frage des Hauptmanns. Des Cyrenius
abschlägige Erwiderung. Das Gespräch des neugierigen Hauptmanns mit dem schönen
Engel.
29. Februar 1844
[JJ.01_154,01] Nach dieser Szene kam unser Hauptmann hin zum Cyrenius und fragte
ihn, wieviel Mann er am Abend zu seinen Diensten zur Burg beordern solle.
[JJ.01_154,02] Solches aber fragte der Hauptmann darum, weil er wußte, daß
Cyrenius noch am Abende werde sein Gepäck ins Schiff bringen lassen und ebenso
auch den Mundbedarf für mehrere Hunderte, die er von Ostracine nach Tyrus
mitnahm.
[JJ.01_154,03] Der Cyrenius aber sah den Hauptmann an und sprach: „Mein lieber
Freund! Wenn ich dafür erst jetzt sorgen sollte, da wäre es übel gesorgt!
[JJ.01_154,04] Zur Versorgung des neuen Schiffes aber, das diese Armen aufnehmen
wird, wird heute noch also gedacht werden, daß da keiner der Reisenden Not
leiden wird.
[JJ.01_154,05] Hast du nicht gesehen, wie schnell das alte Karthagerschiff
hergestellt ward durch diese Jünglinge?
[JJ.01_154,06] Siehe, auf dieselbe Weise kann und wird es auch mit allem
versorgt werden!
[JJ.01_154,07] Was aber da meine eigenen Schiffe betrifft, so sind diese schon
lange mit allem auf ein Jahr versehen, und das im strengsten Falle für tausend
Mann.
[JJ.01_154,08] Aus dem Grunde solle nun meinetwegen kein Mann bemüht werden,
sondern in seinem kaiserlichen Dienste stehen bleiben.“
[JJ.01_154,09] Diese Erwiderung nahm den Hauptmann wunder, indem sonst der
Cyrenius sehr auf die militärische Aufmerksamkeit sah.
[JJ.01_154,10] Er fragte darauf den Cyrenius, sagend: „Eure Kaiserliche
Consulische Hoheit! Wer sind denn hernach diese Jünglinge? Sind das echte
ägyptische Zauberer, oder sind das etwa gar Halbgötter oder berühmte Magier und
Sternkundige aus Persien?“
[JJ.01_154,11] Und der Cyrenius sprach: „Mein lieber Freund, hier ist weder das
eine noch das andere!
[JJ.01_154,12] Sondern, wenn du schon wissen willst, wer diese Jünglinge sind,
da gehe hin und frage einen aus ihnen, und du wirst ohne mein Verschulden ins
klare kommen!“
[JJ.01_154,13] Der Hauptmann verneigte sich hier vor dem Cyrenius und wandte
sich sogleich an einen der anwesenden Jünglinge und fragte ihn:
[JJ.01_154,14] „Höre mich, mein allerliebenswürdigster, allerherrlichster,
allerschönster, mich ganz bezaubernder, du über alle meine Begriffe herrlicher,
du endlos zarter, du mit deiner unbegreiflichen Schönheit meine Zunge lähmender,
du a – a – al – ler – allerholdester – Jüngling!
[JJ.01_154,15] Ja – um – was habe – habe – habe – ich denn – so ganz eigentlich
fragen wollen?“
[JJ.01_154,16] Und der bis auf den Glanz in die volle himmlische Schönheit
übergehende Jüngling sagte darauf zum Hauptmann:
[JJ.01_154,17] „Das wirst du ja doch wissen? Frage nur zu, du Freund der Frage;
ich will dir ja alles gerne beantworten!“
[JJ.01_154,18] Der Hauptmann aber war ganz weg ob der zu großen Schönheit des
Jünglings und konnte kein Wort über seine Zunge bringen.
[JJ.01_154,19] Nach einer Weile, als er sich an der für ihn unbegreiflichen
Schönheit des Jünglings vollgegafft hatte, da erst bat er den Jüngling um einen
Kuß.
[JJ.01_154,20] Und der Jüngling küßte den Hauptmann und sprach: „Damit ein Band
zwischen uns auf ewig! – Suche du nur die nähere Bekanntschaft jenes weisen
Juden, und dir wird viel Lichtes werden!“
[JJ.01_154,21] Der Hauptmann aber ward darauf so entsetzlich verliebt in diesen
Jüngling, daß er sich aus lauter Liebe nicht zu helfen wußte, und vergaß ganz
seine Frage.
[JJ.01_154,22] Und diese Liebe quälte ihn bis zum Abende und war eine kleine
Strafe für des Hauptmanns Fragliebhaberei; am Abende aber ward er wieder geheilt
und hatte keine Lust mehr, sich einem solchen Jünglinge zu nahen.
[JJ.01_155] 155. Kapitel – Des Cyrenius Schiffssorge. Der Rat des Engels. Des
Cyrenius Dank an Joseph und das Kindlein. Josephs Voraussage über des Cyrenius
Reiseabenteuer.
1. März 1844
[JJ.01_155,01] Am Abende wurde noch ein Abendmahl bereitet und zu sich genommen
und sodann Vorkehrungen zur Abreise für den nächsten Tag getroffen.
[JJ.01_155,02] Es war aber nach dem Wissen des Cyrenius und seiner Suite das
neue Karthagerschiff noch mit nichts belastet und versorgt, und Cyrenius
kümmerte sich heimlich doch ein wenig darob.
[JJ.01_155,03] Aber es trat ein Jüngling zu ihm und sagte: „Quirinus! Du sollst
dich auch heimlich um nichts kümmern;
[JJ.01_155,04] denn siehe, um was du dich nun sorgst, das ist lange schon in der
besten Ordnung!
[JJ.01_155,05] Bestelle nur dieses dein Haus zur guten Ordnung in deiner
Abwesenheit; für alles andere wird schon von unserer Seite gesorgt werden im
Namen des Herrn Gott Zebaoth!“
[JJ.01_155,06] Cyrenius glaubte – und sorgte sich um gar nichts mehr, was da das
Wesen der Schiffe betraf.
[JJ.01_155,07] Darauf berief der Cyrenius den Hauptmann zu sich und übergab ihm
die Leitung und Besorgung der Burg.
[JJ.01_155,08] Und als der Hauptmann diesen seinen gewöhnlichen Dienst wieder
angetreten hatte,
[JJ.01_155,09] da berief der Cyrenius den Obersten zu sich, übergab ihm wieder
die Vollmacht über das in dieser Stadt stationierte Militär;
[JJ.01_155,10] denn bei den Römern durfte der Oberste in Gegenwart des
Statthalters das Militär nicht nach eigenem Gutdünken kommandieren, denn da war
der Statthalter sozusagen alles in allem.
[JJ.01_155,11] Als der Cyrenius mit der Anordnung fertig war, da ging er zu
Joseph hin und sprach:
[JJ.01_155,12] „Mein allererhabenster, ja ich möchte sagen, du mein heiliger
Freund und Bruder! Was alles habe ich nun doch dir und ganz besonders deinem
allerheiligsten Kindlein zu danken!
[JJ.01_155,13] Wie, wann, womit werde ich dir je diese große Schuld abzutragen
imstande sein!?
[JJ.01_155,14] Du hast mir die Tullia gegeben, hast mir das Leben wunderbar
gerettet!
[JJ.01_155,15] Ja, ich kann ja gar nicht aufzählen alle die außerordentlichen
Wunderwohltaten, die du mir erwiesen hast in der kurzen Zeit dieses meines
Hierseins!“
[JJ.01_155,16] Und der Joseph sprach: „Freund! Wie lange ist es denn, daß ich in
großer Bedrängnis stand?!
[JJ.01_155,17] Da wardst du mir zu einem rettenden Engel des Herrn zu Tyrus
entgegengesandt!
[JJ.01_155,18] Und siehe, also waschet fortwährend eine Hand die andere am
großen Körper der gesamten Menschheit!
[JJ.01_155,19] Doch nun nichts mehr weiter von dem! Siehe, es ist Abend
geworden! Die Villa liegt eine Stunde außer der Stadt; daher lasse mich nun
aufbrechen und nach Hause ziehen!
[JJ.01_155,20] Meinen und des Herrn Segen hast du und alle deine Gefährten
vielfach; daher magst du getrost ziehen von hier!
[JJ.01_155,21] Die drei Löwen aber nehme in dein Schiff, und sie werden dir gute
Dienste tun!
[JJ.01_155,22] Denn ihr werdet Sturm haben und werdet nach Kreta verschlagen
werden, und die räuberischen Kreter werden euch überfallen.
[JJ.01_155,23] Und hier wird es sein, wo dir die drei Löwen wieder einen guten
Dienst tun werden!“
[JJ.01_155,24] Hier ward der Cyrenius furchtsam; aber Joseph tröstete ihn und
versicherte ihm, daß da niemand auch nur den allergeringsten Schaden leiden
werde.
[JJ.01_156] 156. Kapitel – Der Dank des Maronius, der drei Priester und der
Tullia. Das Schweigegebot Josephs.
2. März 1844
[JJ.01_156,01] Darauf kam der Maronius Pilla mit den drei Priestern zum Joseph
und dankte ihm für alle die Wunderwohltaten.
[JJ.01_156,02] Und der Joseph ermahnte ihn, zu schweigen von allem dem, was er
hier gesehen hatte;
[JJ.01_156,03] Und der Maronius gelobte solches mit den drei Priestern auf das
feierlichste.
[JJ.01_156,04] Darauf kam die Tullia, fiel vor der Maria nieder und zerfloß in
Tränen des Dankes.
[JJ.01_156,05] Maria aber beugte sich samt dem Kindlein nieder, erhob die Tullia
und sprach zu ihr:
[JJ.01_156,06] „Sei mir gesegnet im Namen Dessen, der auf meinen Armen ruht! – Sei stets dankbar in deinem Herzen eingedenk dieses Kindes, so wirst du in Ihm
dein Heil finden!
[JJ.01_156,07] Deiner Zunge aber lege eine Fessel an und verrate uns gegen
niemanden!
[JJ.01_156,08] Denn wann es an der Zeit sein wird, da wird der Herr schon Selbst
Sich vor der Welt offenbaren!“
[JJ.01_156,09] Darauf entließ Maria die noch schluchzende Tullia.
[JJ.01_156,10] Joseph aber sprach zum Cyrenius: „Freund! Siehe, viele aus deinem
Gefolge waren Zeuge von so manchen Wundertaten; diesen gebiete du ihres Heiles
willen, daß auch sie schweigen möchten von allem dem!
[JJ.01_156,11] Denn jeden Verräter dieser rein göttlichen Sache wird der Tod
treffen, wenn er nicht schweigen will!“
[JJ.01_156,12] Der Cyrenius gelobte solches dem Joseph und versicherte ihm, daß
da nie jemand auch nur eine Silbe erfahren solle.
[JJ.01_156,13] Joseph aber belobte den Cyrenius und erinnerte ihn schließlich an
die verheißenen acht Kinder, die da in fünf Mädchen und drei Knaben bestünden.
[JJ.01_156,14] Und der Cyrenius sprach: „O Freund, das wird wohl mein erstes
Geschäft sein!
[JJ.01_156,15] Aber nun nur eine Frage noch: Siehe, ich werde in diesem Jahre
noch wegen der Tullia nach Rom müssen!
[JJ.01_156,16] Mein Bruder Augustus Caesar, da er schon einiges von mir, wie du
es weißt, erfahren hat, wird mich sicher um mehreres fragen.
[JJ.01_156,17] Was werde ich ihm sagen? Inwieweit darf ich diesen edlen Menschen
in dies Geheimnis einweihen?“
[JJ.01_156,18] Und der Joseph sprach: „Du kannst Ihm, aber nur unter vier Augen,
so manches mitteilen.
[JJ.01_156,19] Aber erinnere ihn, daß er, so er schweigt, in seiner Kaiserwürde
ungestört verbleiben wird, also auch seine Nachkommen!
[JJ.01_156,20] so er aber auch nur eine Silbe irgendwo wird fallenlassen, da
wird ihn Gott sogleich strafen!
[JJ.01_156,21] Und wird er sich aber auflehnen gegen den Allmächtigen, da wird
er mit ganz Rom im Augenblicke untergehen!“
[JJ.01_156,22] Der Cyrenius dankte inbrünstigst dem Joseph für diese Bescherung;
und Joseph segnete ihn und begab sich dann mit all den Seinen nach der Villa.
[JJ.01_157] 157. Kapitel – Des Jesuskindleins Liebesgespräch mit Jakobus. Die
Last und Schwere des Herrn für die, die Ihn in sich tragen. Das plötzliche
Verstummen des bisher redefähigen Jesuskindes.
4. März 1844
[JJ.01_157,01] Außer der Stadt übergab die Maria das Kindlein dem Jakob; denn
sie war müde geworden, da sie Es diesen ganzen Tag auf ihren Händen hielt.
[JJ.01_157,02] Und der Jakob war voll Freuden, daß er wieder einmal seinen
Liebling zu tragen bekam.
[JJ.01_157,03] Das Kindlein aber schlug die Augen auf und sprach: „Du Mein
lieber Jakob! – Du hast Mich wohl recht von ganzem Herzen lieb!
[JJ.01_157,04] Aber so Ich dir recht schwer würde, hättest du Mich dann auch
noch so lieb?“
[JJ.01_157,05] Und der Jakob sprach: „O du mein allerliebstes Brüderchen! – wenn
Du auch mein Gewicht hättest, so würde ich Dich aber dennoch mit dem
brennendsten Herzen auf meinen Armen tragen!“
[JJ.01_157,06] Das Kindlein aber sprach: „Mein Bruder, jetzt freilich werde Ich
dir nicht schwer werden,
[JJ.01_157,07] aber es wird einst die Zeit kommen, in der Ich dir zur großen
Last werde!
[JJ.01_157,08] Daher tust du wohl, daß du dich jetzt schon liebend an Mein
Gewicht gewöhnst;
[JJ.01_157,09] wenn demnach die schwere Zeit kommen wird, da wirst du Mich in
Meinem Vollgewichte ebenso leicht tragen, wie du Mich jetzt trägst als Kind!
[JJ.01_157,10] Ich sage dir aber: Jeder, der Mich nicht zuvor als ein Kind
ertragen wird, wird erliegen unter Meinem Vollgewichte dereinst!
[JJ.01_157,11] Wer Mich aber in seinem Herzen, wie du nun auf deinen Händen,
tragen wird als ein kleines schwaches Kindlein, dem werde Ich auch im
Mannesalter zu einer ebenso geringen Bürde werden!“
[JJ.01_157,12] Und der Jakob, nicht verstehend diese hohen Worte, fragte
liebkosend das Kindlein:
[JJ.01_157,13] „O Du mein allerliebstes Brüderchen, Du mein Jesus! – wirst Du
Dich denn auch als Mann herumtragen lassen?“
[JJ.01_157,14] Das Kindlein aber sprach: „Du liebst Mich aus allen deinen
Kräften, und das genügt Mir!
[JJ.01_157,15] Deine Einfalt aber ist Mir lieber als die Weisheit der Weisen,
die viel rechnen und voraussagen, ihre Herzen aber dabei kälter sind denn das
Eis.
[JJ.01_157,16] Was du jetzt noch nicht fassest, das wirst du mit den Händen
greifen in der rechten Zeit!
[JJ.01_157,17] Siehe, Ich aber bin nun nur noch ein Kind, das in einem
vollunmündigen Alter ist;
[JJ.01_157,18] und siehe, Meine Zunge ist dennoch gelöst, und Ich rede mit dir
wie ein gesetzter Mann!
[JJ.01_157,19] Möchte Ich nun also verbleiben, da wäre Ich gleich einem
Doppelwesen, ein Kind dem Auge – und ein Mann dem Ohre.
[JJ.01_157,20] Also aber kann es nun nicht verbleiben! Ich werde Mir noch auf
ein Jahr die Zunge binden vor allen bis auf dich;
[JJ.01_157,21] du aber wirst Meine Stimme nur in deinem Herzen vernehmen!
[JJ.01_157,22] Wann Ich aber wieder mit dem Munde reden werde, dann wird dein
Auge Mich wohl männlicher erschauen, aber dein Ohr wird nur Kindisches vernehmen
von Mir!
[JJ.01_157,23] Dir aber habe Ich nun solches kundgetan, auf daß du dich dann
nicht ärgern sollest an Mir – und also sei es!“
[JJ.01_157,24] Hier ward das Kindlein wieder ganz sprachlos und gebärdete sich
gleich jedem anderen. – Und während dieser Beredung ward auch schon die Villa
erreicht.
[JJ.01_158] 158. Kapitel – Die wunderbare Versorgung der Haustiere Josephs durch
die Engel. Der Sabbateifer Josephs. Gabriels Hinweis auf die Tätigkeit der Natur
am Sabbat. Das Verschwinden der Engel.
5. März 1844
[JJ.01_158,01] In der Villa angelangt, befahl Joseph sogleich den vier älteren
Söhnen, nachzusehen bei den Tieren und sie zu versorgen und sodann sich bald zur
Ruhe zu begeben.
[JJ.01_158,02] Und diese gingen eiligst und taten solches alles; aber sie kamen
bald zurück und sagten zum Joseph:
[JJ.01_158,03] „Vater, es ist wunderbar! Die Rinder wie die Esel sind gefüttert
und getränkt, und dennoch sind ihre Futterkörbe voll, und die Wassereimer sind
gestrichen voll; wie ist das?“
[JJ.01_158,04] Und der Joseph ging selbst nachzusehen und fand die Aussage der
vier Söhne bestätigt.
[JJ.01_158,05] Da kehrte er zurück und fragte die noch anwesenden Jünglinge, ob
sie solches getan hätten an einem Sabbate.
[JJ.01_158,06] Und die Jünglinge bejahten solches; der Joseph aber sprach ganz
bedenklich zu den Jünglingen:
[JJ.01_158,07] „Wie doch seid ihr Diener des Herrn und möget nicht heiligen den
Sabbat?!“
[JJ.01_158,08] Gabriel aber sprach darauf: „O du reiner Mann, wie kannst du denn
eine solche Frage an uns stellen?!
[JJ.01_158,09] Ist der heutige Tag nicht vergangen wie ein jeder andere, ist die
Sonne nicht auf- und untergegangen wie an einem jeden anderen Gemeintage? Ist
heute nicht auch der Morgen-, Mittags- und Abendwind gegangen?
[JJ.01_158,10] Als wir am Meere standen, hast du da nicht gesehen desselben
regsamsten Wellengang? Warum wollte es denn nicht feiern den Sabbat?
[JJ.01_158,11] Wie hast du denn heute gehen, essen und trinken mögen und holen
den Atem – und hast nicht untersagt deinem Herzen zu schlagen?!
[JJ.01_158,12] Siehe, du sabbatängstlicher Mann, alles, was da in der Welt ist
und geschieht, besteht ja allein durch die uns vom Herrn verliehene Tatkraft und
wird von uns geleitet und regiert!
[JJ.01_158,13] So wir nun ruhen möchten einen Tag hindurch, sage, ginge da nicht
sogleich die ganze Schöpfung zugrunde?
[JJ.01_158,14] Siehe, also müssen wir den Sabbat nur durch unsere Tätigkeit in
der Liebe zum Herrn feiern, aber nicht durch ein müßiges Nichtstun!
[JJ.01_158,15] Die wahre Ruhe im Herrn besteht sonach in der wahren Liebe im
Herzen zu Ihm und in der unablässigen Tätigkeit darnach zur Erhaltung der ewigen
Ordnung.
[JJ.01_158,16] Alles andere ist vor Gott ein Greuel voll menschlicher Torheit.
[JJ.01_158,17] Dieses bedenke du wohl, und scheue dich an keinem Sabbate Gutes
zu tun, so wirst du dem Herrn, deinem wie meinem Schöpfer, vollähnlich sein!“
[JJ.01_158,18] Auf diese Rede fielen alle Jünglinge auf ihre Angesichter vor dem
Kindlein nieder und verschwanden darauf.
[JJ.01_158,19] Joseph aber grub diese Worte tief in sein Herz und ward forthin
nicht mehr so sehr ängstlich an einem Sabbate.
[JJ.01_159] 159. Kapitel – Eudokias Verwunderung und Unruhe wegen des
plötzlichen Verschwindens der Jünglinge. Marias beruhigende Worte. Die
Nachtruhe. Eudokias Sehnsucht nach Gabriel, dessen plötzliches Erscheinen und
sein Rat.
6. März 1844
[JJ.01_159,01] Als die Jünglinge verschwunden waren, da fragte Eudokia die
Maria, wer denn so ganz eigentlich diese Jünglinge waren.
[JJ.01_159,02] Denn die Eudokia war noch eine Heidin und wußte nichts von den
außerordentlichen Geheimnissen des Himmels.
[JJ.01_159,03] Daß aber bei dieser Gelegenheit auch die Heiden die Engel sahen,
rührte daher, weil für die Zeit hindurch ihr inneres Auge erschlossen gehalten
ward;
[JJ.01_159,04] und das Verschwinden der Engel war sonach nichts anderes als das
Sich-wieder-Schließen der geistigen inneren Sehe, –
[JJ.01_159,05] aus dem Grunde es auch nach dem Verschwinden der Engel der
Eudokia vorkam, als wäre sie aus einem tiefen Traume erwacht.
[JJ.01_159,06] Sie empfand sich nun wieder ganz naturmäßig, und alles, was sie
den ganzen Tag hindurch gesehen, gehört und getan hatte, kam ihr wie ein sehr
lebhafter Traum vor.
[JJ.01_159,07] Darum denn auch ist die obige Frage von seiten der Eudokia an die
Maria verzeihlich;
[JJ.01_159,08] denn sie war nun wieder ganz im Außenzustande, und dieser war
heidnisch.
[JJ.01_159,09] Und die Maria aber antwortete und sprach: „Eudokia, wir werden
noch länger beisammenbleiben, und dir wird alles klar werden, was dir jetzt noch
dunkel ist!
[JJ.01_159,10] Für heute aber wollen wir uns zur Ruhe begeben; denn ich bin sehr
müde!“
[JJ.01_159,11] Die Eudokia begnügte sich wohl äußerlich mit dieser Vertröstung;
aber in ihrem Herzen stieg die Begierde.
[JJ.01_159,12] Joseph aber sagte: „Meine Kinder, es ist Nacht geworden;
schließet die Tore und begebet euch zur Ruhe!
[JJ.01_159,13] Denn morgen ist ja ohnehin noch der Sabbater (Nachsabbat), an dem
wir nicht arbeiten; da werden wir uns über so manches noch besprechen können!
[JJ.01_159,14] Für heute aber lobet den Herrn und tut, wie ich es euch
anbefohlen habe!
[JJ.01_159,15] Du, Jakob, aber bereite die Wiege und bringe das Kindlein zur
Ruhe, und stelle die Wiege ans Lager der Mutter!
[JJ.01_159,16] Und du, Eudokia, begebe dich auch in dein Schlafgemach und stärke
deine Glieder mit einem süßen Schlafe im Namen des Herrn!“
[JJ.01_159,17] Und die Eudokia ging sogleich in ihr bestimmtes Gemach, legte
sich auf ihr Lager, aber ferne blieb der Schlaf;
[JJ.01_159,18] denn zu erregt war ihr feurig Gemüt ob des Verschwindens der
Jünglinge.
[JJ.01_159,19] Denn sie hatte sich in den Gabriel verliebt und wußte sich nun
nicht zu raten und zu helfen, da der Gegenstand ihres Herzens so plötzlich vor
ihren Augen verschwand.
[JJ.01_159,20] Da aber alles ruhte und schlief, da erhob sich die Eudokia und
öffnete ein Fenster und blickte hinaus.
[JJ.01_159,21] Da stand plötzlich Gabriel vor ihr und sprach: „Du mußt dein Herz
zur Ruhe bringen!
[JJ.01_159,22] Denn siehe, ich bin nicht ein Mensch gleich dir, sondern ich bin
nur ein Geist und bin ein Bote Gottes!
[JJ.01_159,23] Das Kindlein aber bete an; denn dieses ist der Herr, der wird
beruhigen dein Herz!“ – Darauf verschwand der Engel wieder, und die Eudokia
bekam Ruhe.
[JJ.01_160] 160. Kapitel – Jakobs kindlich-fröhliches Spiel mit dem Kindlein.
Josephs Rüge und Jakobs treffliche Antwort. Eudokias Traum und herrliches
Zeugnis vom Herrn.
7. März 1844
[JJ.01_160,01] Am Morgen, eine Stunde vor dem Aufgange, war wie gewöhnlich im
Hause Josephs schon alles lebendig, und das Kindlein selbst strampelte ganz
munter in der Wiege und ließ freudige Kindleinstöne wie halb singend von Sich
hören.
[JJ.01_160,02] Jakob spielte mit dem Kindlein nach seiner Weise und machte dem
Herrn der Unendlichkeit mit seiner Hand allerlei Bewegungen vor und sang und
pfiff dabei.
[JJ.01_160,03] Es war aber die Maria noch auf ihrem Lager und schlummerte; darum
machte der in sein Morgengebet versunkene Joseph dem Jakob ein wenig Vorwürfe,
da er also lärme und nicht achte auf das Gebet und auf die noch schlummernde
Mutter.
[JJ.01_160,04] Der Jakob aber entschuldigte sich und sprach: „Lieber Vater,
siehe, es hat ja der Herr Himmels und der Erde ein Wohlgefallen an meiner
Beschäftigung mit Ihm!
[JJ.01_160,05] Wir aber sollen ja allzeit das nur tun, was dem Herrn
wohlgefällt!
[JJ.01_160,06] Und siehe, es gefällt dem Herrn, was ich tue! Wie mag es dir doch
zuwider sein?
[JJ.01_160,07] Die Mutter aber würde sicher nicht so gut schlummern, wenn wir
beide, ich und das Kindlein, nicht also lärmten!
[JJ.01_160,08] Ich bitte dich, lieber Vater, mich dadurch für entschuldigt zu
halten und mir fürder nicht Vorwürfe zu machen, so ich auch bei meiner
Bestimmung manchmal wie ausgelassen erscheine vor dir, aber dabei doch dem Herrn
wohlgefalle!“
[JJ.01_160,09] Joseph aber sprach: „Ja, ja, es ist schon alles recht, – ich sehe
es ja gerne, daß du also gut mit dem Kindlein umzugehen weißt;
[JJ.01_160,10] aber nur mußt du in Zukunft keinen solchen Lärm machen, wenn du
siehst, daß da noch jemand schläft und irgend ein anderer im Gebete zu Gott
versammelt ist!“
[JJ.01_160,11] Jakob dankte dem Joseph für diese Ermahnung, und fragte ihn aber
darauf, sagend nämlich:
[JJ.01_160,12] „Vater! Wenn du also betest zu Gott, wie du jetzt gebetet hast,
zu was für einem Gotte betest denn du da?
[JJ.01_160,13] Was ich von diesem Kinde nun weiß, so kann es unmöglich je irgend
einen größeren und wahrhaftigeren Gott geben, wie dieses Kindlein Es zufolge des
lautesten Zeugnisses aus dem Himmel ist!
[JJ.01_160,14] Wenn aber das laut den Propheten und laut den vielen
Wunderzeugnissen der Fall ist?
[JJ.01_160,15] Wenn es im Propheten heißt: ,Wer ist Der, so von Edom kommt, mit
rötlichten Kleidern von Bazra? Der so geschmückt ist in Seinen Kleidern und
einhertritt in Seiner großen Kraft? – Ich bin Es, der Gerechtigkeit lehrt und
ein Meister bin zu helfen!‘
[JJ.01_160,16] Vater! – diese Worte hat das Kindlein gestern vor dir auf Sich
bezogen! Wer ist Es denn? Denn solches kann doch kein Mensch von sich sagen! – Gott aber gibt es nur einen!
[JJ.01_160,17] Wer ist demnach das Kindlein, das da spricht: ,Ich bin Es, der
Gerechtigkeit lehrt und ein Meister bin zu helfen!‘?“
[JJ.01_160,18] Hier stutzte Joseph und sprach: „Fürwahr, mein Sohn Jakob, du
hast recht; du bist besser daran bei der Wiege – als ich hier in meinem
Betwinkel!“
[JJ.01_160,19] Bei diesen Worten trat, höchster Entzückung voll, die Eudokia aus
ihrem Gemache, schön wie eine Morgenröte, und fiel vor der Wiege nieder und
betete das Kindlein an.
[JJ.01_160,20] Und als sie eine halbe Stunde da also betete, erhob sie sich und
sprach: „Ja, – ja, Du allein bist es, und außer Dir ist keiner mehr!
[JJ.01_160,21] Ich habe heute nacht im Traume gesehen eine Sonne am Himmel, und
die war leer und hatte wenig Licht.
[JJ.01_160,22] Dann aber ersah ich auf der Erde dies Kindlein, und Es glänzte
wie tausend Sonnen, und von Ihm aus ging ein mächtiger Strahl hin zu jener
leeren Sonne und erleuchtete sie durch und durch!
[JJ.01_160,23] In diesem Strahle sah ich die Engel, die hier waren, auf- und
abschweben, ihre Zahl war endlos, aber ihre Angesichter waren unablässig auf das
Kindlein gerichtet! Ach, welch eine Herrlichkeit war das!“ –
[JJ.01_160,24] Diese Erzählung brachte den Joseph ganz aus seinem Betwinkel, und
er hielt nun auch alles auf das Kindlein und betete oft an der Wiege.
[JJ.01_161] 161. Kapitel – Marias und Josephs Sorge wegen der plötzlichen
Stummheit des Kindleins. Ihre Zweifel an der Echtheit des Kindes. Marias
vergeblicher Versuch, mit dem wunderheilsamen Badewasser des Kindleins einen
Blinden zu heilen. „Wisset ihr nicht, daß man Gott nicht versuchen solle?“
(Jakob). Die Heilung des Blinden auf inneres Geheiß des Jesuskindleins durch
Jakob.
8. März 1844
[JJ.01_161,01] Bei dieser Gelegenheit erwachte auch die Maria, rieb sich den
Schlaf aus den Augen, stand sogleich auf und wusch sich und wechselte im
Nebenkabinett das Schlafkleid mit dem Tageskleide.
[JJ.01_161,02] In kurzer Zeit kam sie ganz gereinigt wieder zurück, gleichend
einem Engel des Himmels, so schön, so gut, so fromm und so sorglich ergeben in
den Willen des Herrn!
[JJ.01_161,03] Sie begrüßte den Joseph und küßte ihn, umarmte dann die Eudokia
und küßte sie.
[JJ.01_161,04] Nach dieser gar freundlichen Begrüßung, die den alten Joseph
allzeit einige Tränen der Freude kostete, kniete – sich im Herzen überaus
demütigend – die Maria voll Liebe zur Wiege nieder und gab betend dem Kindlein
die Brust.
[JJ.01_161,05] Nachdem das Kindlein gesogen hatte, ließ die Maria sogleich ein
frisches Bad bereiten und badete das Kindlein wie gewöhnlich.
[JJ.01_161,06] Und das Kindlein strampelte munter im Badebecken herum und ließ
fleißig Seine unartikulierte Stimme hören.
[JJ.01_161,07] Als das Kindlein gebadet war und getrocknet und wieder in frische
Kleidchen und Fußwindeln gesteckt,
[JJ.01_161,08] da fragte die Maria das Kindlein, wie Es Sich befinde, ob Ihm
wohltäten die frischen Kleidchen.
[JJ.01_161,09] Denn sie wußte ja, daß das Kindlein reden kann, und das göttlich
weise; – aber sie wußte nicht, und niemand außer dem Jakob wußte, daß das
Kindlein Sich die Zunge wieder gebunden hatte.
[JJ.01_161,10] Daher befremdete sie alle, daß das Kindlein auf die Fragen der
Maria keine Antwort erteilte.
[JJ.01_161,11] Maria bat darauf das Kindlein inständigst, daß Es doch nur ein
wenig reden möchte; aber das Kindlein trieb Seine Kinderstimme, und von einem
Worte war keine Rede mehr!
[JJ.01_161,12] Das beunruhigte die Maria wie den Joseph, und sie gedachten, ob
etwa die Engel das Gottkind nicht bei der Nacht in den Himmel brachten und
ließen dafür ein ganz gewöhnliches Kind in der Wiege.
[JJ.01_161,13] Denn der Glaube an die Auswechslung der Kinder war bei den Juden
sehr gang und gäbe.
[JJ.01_161,14] Maria wie der Joseph betrachteten das Kindlein gar ängstlich, ob
Es wohl noch Dasselbe wäre,
[JJ.01_161,15] konnten aber nicht die allerleiseste Unähnlichkeit entdecken,
weder am Kopfe noch irgend woanders.
[JJ.01_161,16] Da sprach die Maria: „Hebet das Badewasser auf, und suchet einen
Kranken, und bringet ihn hierher;
[JJ.01_161,17] denn bis jetzt hat dies Wasser stets eine wunderheilsame Kraft
gehabt!
[JJ.01_161,18] Wird der Kranke gesund, so haben wir noch unser Kindlein, und
wird er nicht gesund, so hat es Gott dem Herrn wohlgefallen, uns ein anderes
Kind an die Stelle des Seinen zu geben!“
[JJ.01_161,19] Hier wollte Jakob reden; aber das Kindlein verbot es ihm
wohlvernehmlich in seinem Herzen, und er schwieg.
[JJ.01_161,20] Joseph aber sandte sogleich den ältesten Sohn in die Stadt, daß
er brächte einen Kranken.
[JJ.01_161,21] In anderthalb Stunden kam er mit einem Blinden, und Maria wusch
ihm die Augen mit dem Badewasser; aber der Blinde bekam nicht das Licht seiner
Augen.
[JJ.01_161,22] Diese Erscheinung machte die Maria, den Joseph, die vier Söhne
und die Eudokia traurig; nur Jakob blieb heiter und nahm das Kindlein und lockte
Es.
[JJ.01_161,23] Der Blinde aber murrte, weil er meinte, daß er nur gefoppt worden
sei.
[JJ.01_161,24] Joseph aber vertröstete ihn und versprach ihm die Verpflegung
lebenslänglich als Entschädigung für diese vermeintliche Fopperei. – Damit war
der Blinde wieder beruhigt.
[JJ.01_161,25] Joseph aber bemerkte des Jakobs Heiterkeit und stellte sie ihm
als eine Sünde gegen ihn als Vater dar.
[JJ.01_161,26] Jakob aber sprach: „Ich bin heiter, weil ich weiß, woran ich bin;
ihr aber trauert, weil ihr das nicht wisset! – Wisset ihr denn nicht, daß man
Gott nicht versuchen solle?“
[JJ.01_161,27] Hier hauchte Jakob den Blinden an, und dieser ward sehend im
Augenblick; alle aber staunten nun den Jakob an und wußten nicht, wie sie daran
waren.
[JJ.01_162] 162. Kapitel – Josephs Forschen nach dem Ursprung der Heilkraft
Jakobs. Jakobs Verhör durch Joseph. Josephs Zweifel. Jakobs weise Erwiderung aus
dem Herrn. Josephs Erstaunen über die Weisheit seines Sohnes.
9. März 1844
[JJ.01_162,01] Nach einer Weile trat Joseph näher hin zum Jakob und fragte ihn,
woher in seinem Hauche solche Kraft käme.
[JJ.01_162,02] Und der Jakob sprach: „Lieber Vater! – ich habe in mir eine
Stimme vernommen, die zu mir sprach:
[JJ.01_162,03] ,Hauche dem Blinden ins Angesicht, und er wird sein Gesicht
wohlleuchtend wieder erhalten!‘
[JJ.01_162,04] Und siehe, ich glaubte fest dieser Stimme in mir, tat nach ihrem
Worte, und der Blinde ist sehend!“
[JJ.01_162,05] Und der Joseph sprach: „Das wird also sein, wie du nun geredet
hast;
[JJ.01_162,06] aber von woher kam die mächtige Stimme in dich, wie vernahmst du
sie?“
[JJ.01_162,07] Und der examinierte Jakob sprach: „Lieber Vater! – siehst du denn
nicht Den, der nun auf meinen Armen spielt mit meinen Locken?
[JJ.01_162,08] Ich glaube, Dieser ist es, der in mir zu mir solches wunderbar
geredet hatte!“
[JJ.01_162,09] Und der Joseph fragte den Jakob weiter und sprach:
[JJ.01_162,10] „Hältst du das Kindlein wohl für das echte noch? Meinst du nicht,
daß Es uns ausgewechselt worden wäre?!“
[JJ.01_162,11] Und der Jakob sprach: „Wer oder welche Macht sollte wohl imstande
sein, den Allmächtigen auszutauschen?
[JJ.01_162,12] Fielen doch die Engel allzeit auf ihr Angesicht, wenn das
Kindlein wunderbarlichst redete, – wie sollten sie da an Ihm, dem Allmächtigen,
also handeln können? – !
[JJ.01_162,13] Ich halte sonach das Kindlein für das erste und echte so gewiß
und wahr, wie gewiß und wahr ich noch nie an eine Auswechslung der Kindlein
geglaubt habe!“
[JJ.01_162,14] Und der Joseph sprach: „Mein lieber Sohn, du hast hier mir einen
nicht sehr festen Beweis deines Glaubens gegeben;
[JJ.01_162,15] denn siehe, also spricht David selbst, indem er sagt: ,Warum
toben die Heiden, und die Leute reden so vergeblich?
[JJ.01_162,16] Die Könige im Lande lehnen sich auf, und die Herren ratschlagen
miteinander wider den Herrn und Seinen Gesalbten und sprechen:
[JJ.01_162,17] Lasset uns zerreißen des Bande und von uns werfen seinen Strick!‘
[JJ.01_162,18] Siehe, mein Sohn, diese Worte sind geistig, und die Könige sind
die Mächte, und das Land ist das große Reich der unsichtbaren Mächte! – Was aber
führen diese im Sinne, wovon reden sie?
[JJ.01_162,19] Ist darin nicht die Möglichkeit angezeigt, daß sie auch ihre
Hände an den Herrn legen können?!“
[JJ.01_162,20] Und der Jakob sprach: „Allerdings, wenn es der Herr zulassen
würde!
[JJ.01_162,21] Aber es heißt ja schon im Anfange dieses Gesanges fragend: ,Warum
toben die Heiden, und warum reden die Leute so vergeblich?‘
[JJ.01_162,22] Will David damit nicht etwa die Unzulänglichkeit solcher Mächte
wider den Herrn bezeichnen?!
[JJ.01_162,23] Weiter unten aber heißt es ja ausdrücklich: ,Aber Der im Himmel
wohnt, lachet ihrer und spottet ihrer!
[JJ.01_162,24] Er wird einst reden mit ihnen in Seinem Zorne, und mit Seinem
Grimme wird Er sie schrecken!‘
[JJ.01_162,25] Lieber Vater! Ich meine, diese zwei Strophen des großen
Gottessängers rechtfertigen zur Genüge meinen Glauben!
[JJ.01_162,26] Denn sie geben mir zur Genüge kund, daß der Herr allzeit ein Herr
bleibt und an Ihm keine Auswechslung ausgeübt werden kann!“
[JJ.01_162,27] Joseph erstaunte über die Weisheit seines Sohnes und ging mit dem
ganzen Hause wieder zur Annahme des echten Kindleins zurück und lobte und pries
Gott darum. – –
[JJ.01_163] 163. Kapitel – Die Arbeiten der Söhne Josephs. Marias
Kunstfertigkeit. Eudokias Fleiß. Die Ankunft der acht Kinder von Tyrus. Josephs
edle Botschaft an Cyrenius. Maria als Lehrerin der acht Kinder.
11. März 1844
[JJ.01_163,01] Auf diese Weise war nun alles wieder in der alten guten Ordnung
im Hause Josephs.
[JJ.01_163,02] Joseph und seine Söhne machten allerlei kleine Holzgerätschaften
und verkauften diese an die Bewohner der Stadt um billige Preise;
[JJ.01_163,03] und das taten sie natürlich neben ihrer sonstigen Hausarbeit.
[JJ.01_163,04] Maria und die Eudokia aber besorgten das Häusliche und machten
Kleider und manchmal auch zierliche Arbeiten für reiche Familien der Stadt.
[JJ.01_163,05] Denn Maria war sehr geschickt in aller Kunstspinnerei und
strickte ganze Kleider;
[JJ.01_163,06] die Eudokia aber war eine gute Näherin und wußte mit der Nadel
wohl umzugehen.
[JJ.01_163,07] Und so verdiente sich die Familie stets das Nötige und hatte so
viel, um im Notfalle auch andern Armen beizustehen. –
[JJ.01_163,08] In einem Vierteljahr erst kamen die acht Kinder von Tyrus an – natürlich geleitet von verläßlichen Freunden des Cyrenius –
[JJ.01_163,09] und brachten ein mächtiges Kostgeld mit, welches in achthundert
Pfunden Goldes bestand.
[JJ.01_163,10] Joseph aber sprach: „Die Kinder nehme ich wohl, aber das Gold
nehme ich nicht; denn darauf liegt des Herrn Fluch!
[JJ.01_163,11] Nehmet es daher nur wieder mit, und gebet es dem Cyrenius, er
wird schon wissen, warum ich es nicht annehmen kann und darf!
[JJ.01_163,12] Überbringet ihm aber meinen Segen und meinen Gruß,
[JJ.01_163,13] und saget ihm, daß ich ihn im Geiste begleitet habe auf seiner
Heimreise und war Zeuge von allem, was ihm begegnet ist,
[JJ.01_163,14] und habe ihn gesegnet allzeit, wo ihm eine Gefahr drohte!
[JJ.01_163,15] Wegen des Verlustes der drei Tiere auf der Insel Kreta solle er
sich nicht ängstigen; denn also hatte es der Herr, den er kennt, gewollt!“
[JJ.01_163,16] Darauf segnete Joseph die Freunde des Cyrenius und übernahm mit
großer Freude die acht Kinder, die sich sogleich überaus heimisch fühlten im
Hause Josephs.
[JJ.01_163,17] Darauf nahmen die Freunde des Cyrenius das Gold wieder und
begaben sich schnell wieder nach Tyrus zurück.
[JJ.01_163,18] Joseph aber pries Gott für die Zugabe dieser Kinder, segnete sie
und übergab sie der Leitung Mariens, die eine Hauptschulmeisterin war, indem sie
im Tempel in allem möglichen unterrichtet ward.
[JJ.01_163,19] Und die Kinder lernten griechisch, hebräisch und auch römisch
lesen und schreiben.
[JJ.01_163,20] Denn diese drei Sprachen mußte in der Zeit fast jeder Mensch
reden und im Notfalle auch schreiben können. (Anmerkung. Die römische Sprache
aber war damals ungefähr das, was heute die gallische ist, und durfte nicht
fehlen bei einer besseren Erziehung.)
[JJ.01_164] 164. Kapitel – Ein ruhiges Jahr im Hause Josephs. Die wunderbare
Heilung des besessenen Knaben der Mohrenfamilie durch Jakob auf Geheiß des
Jesuskindes.
12. März 1844
[JJ.01_164,01] Von dieser Periode an ging es im Hause Josephs ganz ruhig zu und
ereignete sich nichts Wunderbares.
[JJ.01_164,02] Und dieser ruhige Zustand dauerte ein volles Jahr, da das
Kindlein schon Selbst gehen konnte und auch reden und spielen mit den andern
acht Kindern.
[JJ.01_164,03] In dieser Zeit kam eine Mohrenfamilie, die ein sehr krankes Kind
hatte, ins Haus des Joseph.
[JJ.01_164,04] Denn diese Familie hatte in der Stadt gehört, daß sich in diesem
Hause ein Wunderarzt befinde, der alle Krankheiten heile.
[JJ.01_164,05] Das kranke Kind war ein Knabe von zehn Jahren und ward von einem
bösen Geiste gar jämmerlich gequält.
[JJ.01_164,06] Der Geist ließ dem Knaben Tag und Nacht keine Ruhe, warf ihn hin
und her, trieb ihm den Bauch auf und bereitete ihm dadurch unerträgliche
Schmerzen.
[JJ.01_164,07] Bald wieder trieb er ihn ins Wasser und bald ins Feuer.
[JJ.01_164,08] Als aber dieser Geist sich im Hause Josephs befand, da ward er
ruhig und rührte sich nicht.
[JJ.01_164,09] Joseph aber fragte den Vater des Knaben, der Griechisch verstand,
was es mit dem Knaben für eine Bewandtnis habe.
[JJ.01_164,10] Und der Vater erzählte dem Joseph alles getreuest, was sich nur
immer mit dem Knaben zugetragen hatte vom Anbeginne.
[JJ.01_164,11] Darauf berief Joseph den Jakob, der sich wie gewöhnlich als ein
sechzehnjähriger Jüngling mit dem Kindlein beschäftigte, und gab ihm die Not
dieser Mohrenfamilie kund.
[JJ.01_164,12] Jakob aber wandte sich an das Kindlein und herzete Es und redete
in seinem Herzen mit Ihm.
[JJ.01_164,13] Das Kindlein aber sprach ganz laut in hebräischer Sprache:
[JJ.01_164,14] „Mein Bruder! Meine Zeit ist noch lange nicht da; aber gehe du
hin zu dem kranken Knaben, des Geschlecht das Zeichen Kains trägt!
[JJ.01_164,15] Rühre ihn mit dem Zeigefinger der linken Hand an der Brustgrube
an, und sobald wird der böse Geist für immer entweichen aus dem Knaben!“
[JJ.01_164,16] Und der Jakob ging sobald hin und tat, wie ihm das Kindlein
befohlen hatte.
[JJ.01_164,17] Da riß der böse Geist den Knaben zum letzten Male und schrie:
[JJ.01_164,18] „Was willst du Schrecklicher denn mit mir? Wohin solle ich nun
ziehen, da du mich vor der Zeit aus meiner Wohnung treibst?!“
[JJ.01_164,19] Und der Jakob sprach: „Der Herr will es! – Nicht ferne ist das
Meer; wo es am tiefsten ist, da sollest du wohnen im Grunde, und der Schlamm
solle deine Wohnstätte sein fürder, Amen!“
[JJ.01_164,20] Hier verließ der Geist den Knaben, und der Knabe ward gesund im
Augenblicke.
[JJ.01_164,21] Darauf wollte die Familie den Joseph belohnen; Joseph aber nahm
nichts an und entließ die Familie wieder im Frieden und lobte Gott für diese
Wunderheilung an diesem Knaben.
[JJ.01_165] 165. Kapitel – Die einhalbjährige Wunderpause. Jesus als munteres
Knäblein. Ein Besuch Jakobs beim Fischer Jonatha. Christophorus oder des
Kindleins Weltenschwere. Die Heimkehr in Begleitung Jonathas.
13. März 1844
[JJ.01_165,01] Von dieser Geschichte an verging wieder ein halbes Jahr in voller
Ruhe und geschah nichts Wunderbares.
[JJ.01_165,02] Denn das Kindlein vermied durch Seine innere Kraft sorglichst
alles, was zu irgendeiner Wundertat hätte einen Anlaß geben können.
[JJ.01_165,03] Es war munter und spielte mit den andern Kindern, wenn diese Zeit
hatten;
[JJ.01_165,04] sonst aber ging Es am liebsten mit dem Jakob herum und plauderte
mit ihm, wenn sie allein waren, ganz gescheit.
[JJ.01_165,05] Aber mit den andern Kindern plauderte Es ganz wie andere Kinder
in dem Alter von zwei Jahren.
[JJ.01_165,06] Es lebte aber in der Gegend ein ausgewanderter Jude und betrieb
die Fischerei im nahen Meere und lebte von diesem Erwerbe.
[JJ.01_165,07] Dieser Jude aber war sehr groß von Gestalt und war riesenhaft
stark.
[JJ.01_165,08] An einem Vorsabbate morgens bald nach dem Frühstücke nahm Jakob
das Kindlein und ging mit der Erlaubnis Josephs zu diesem Juden, der geraden
Weges eine gute Stunde vom Hause Josephs entfernt war.
[JJ.01_165,09] Das aber tat Jakob, weil ihn dieser Jude schon öfter eingeladen
hatte, und weil es ihm das Kindlein geboten hatte heimlich.
[JJ.01_165,10] Als Jakob mit dem Kindlein nun ins Haus des Fischers kam, da war
dieser hocherfreut und setzte dem Jakob sogleich einen gut zubereiteten Fisch
vor.
[JJ.01_165,11] Und Jakob aß davon nach seiner Lust und gab ganz ausgesuchte
kleine Stückchen auch seinem kleinen Brüderchen zum Verkosten.
[JJ.01_165,12] Und das Kindlein verzehrte auch mit sichtlichem Appetite die
kleinen Portionen, die Ihm der Jakob in den Mund steckte.
[JJ.01_165,13] Das freute den Fischer so sehr, daß er darob unwillkürlich zu
Tränen gerührt wurde.
[JJ.01_165,14] Jakob aber wollte sich bald wieder nach Hause begeben;
[JJ.01_165,15] der Fischer aber bat ihn inständigst, daß er den Tag über bei ihm
verbleiben möchte.
[JJ.01_165,16] „Am Abende aber“, sprach er, „will ich dich samt dem
allerliebsten kleinen Bruder nach Hause tragen!
[JJ.01_165,17] Denn siehe, du hattest wohl bei anderthalb Stunden zu tun gehabt,
weil du diesen Meeresarm, der durchaus sehr seicht ist, umgehen mußtest!
[JJ.01_165,18] Ich aber messe fast zwei Klafter; das Wasser geht mir kaum bis
zum Leibe, da es am tiefsten ist!
[JJ.01_165,19] Ich nehme dich dann samt dem Kinde auf meinen Arm, wate mit euch
durch den Meeresarm und bringe euch dann leicht mit noch einer guten Portion von
frischen besten Fischen in einer kleinen Viertelstunde nach Hause!“
[JJ.01_165,20] Hier sprach das Kindlein: „Jonatha! Dein Wille ist gut; aber wenn
Ich dir mit Meinem Bruder nur etwa nicht zu schwer werde?“
[JJ.01_165,21] Und der Jonatha lächelte und sprach: „O du mein liebes Kindlein,
so ihr hundertmal so schwer wäret, als ihr seid, so könnte ich euch noch gar
leicht ertragen!“
[JJ.01_165,22] Und das Kindlein sprach: „Jonatha, da kommt es nur auf eine Probe
an; versuche Mich allein über den Arm, der kaum fünfzig Klafter breit ist, hin
und her zu tragen, und es wird sich zeigen, wie es mit deiner Stärke für uns
beide aussieht! – ?“
[JJ.01_165,23] Jonatha ging sogleich in diese Probe, nahm mit der Einwilligung
Jakobs das Kindlein auf seinen Arm und watete mit Ihm den Arm des Meeres durch.
[JJ.01_165,24] Hinüber ging es leidlich, obschon Jonatha sich über die Schwere
des Kindleins hoch verwunderte.
[JJ.01_165,25] Im Zurücktragen aber ward das Kindlein so schwer, daß Jonatha es
für nötig fand, einen starken Balken zu nehmen, um, sich auf denselben stützend,
das Kindlein mit der genauesten Not von der Welt ans Ufer zu bringen.
[JJ.01_165,26] Als er da ankam, setzte er sobald das Kindlein ans Ufer, da der
Jakob wartete, und sprach: „Um Jehovas willen, was ist das? Schwerer als dies
Kind kann die ganze Welt nicht sein! – ?“
[JJ.01_165,27] Und das Kindlein sprach lächelnd: „Das sicher; denn du hast jetzt
auch bei weitem mehr getragen, als was die ganze Welt ausmacht!“
[JJ.01_165,28] Jonatha aber, sich kaum erholend, fragte: „Wie solle ich das
nehmen?“
[JJ.01_165,29] Jakob aber sprach: „Lieber Jonatha, nehme du die Fische, und
begleite uns trocknen Weges nach unserer Heimat, und bleibe die Nacht bei uns;
morgen solle dir darin ein Licht werden!“
[JJ.01_165,30] Darauf nahm Jonatha drei Lägel der besten Fische und begleitete
die beiden noch vormittags nach Hause zum Joseph, der ihn mit viel Freuden
aufnahm, denn sie waren von Jugend auf Schulfreunde gewesen.
[JJ.01_166] 166. Kapitel – Jonatha bei seinem Jugendfreund Joseph. Jonathas
Erzählung und Frage nach dem sonderbaren Kinde Josephs. Josephs Bericht über das
Kind. Jonathas Demut und Liebe zum Kinde und sein Gebet.
14. März 1844
[JJ.01_166,01] Jonatha übergab dem Joseph die drei Lägel Fische, mit denen er
ihm eine große Freude machte; denn Joseph war ein großer Freund von Fischen.
[JJ.01_166,02] Darauf sagte er zum Joseph: „Mein geliebtester Jugendfreund, sage
mir doch, was du für ein Kind hast!
[JJ.01_166,03] Fürwahr, es kann höchstens zwei bis drei Jahre alt sein, und es
spricht so gescheit, als wäre es ein erwachsener Mann!
[JJ.01_166,04] Und – siehe, – ich, – der ich doch zwei Ochsen unter meinen
Armen, wie du zwei Lämmer, tragen kann, – wollte den Jakob mit dem Kindlein den
ganzen Tag über bei mir behalten und wollte sie abends, den Meeresarm
durchwatend, zu dir nach Hause bringen!
[JJ.01_166,05] Als ich solchen meinen Wunsch aber dem Jakob kundgab, da redete
mich das Kindlein an und sprach zu meinem nicht geringen Erstaunen:
[JJ.01_166,06] ,Jonatha, dein Wille ist gut; aber so wir dir nur etwa nicht zu
schwer werden?!‘
[JJ.01_166,07] Daß ich ob dieser kindlich besorglichen Frage beim Bewußtsein
meiner Kraft lächeln mußte, das versteht sich von selbst!
[JJ.01_166,08] Aber das Kindlein sprach darauf, es komme da nur auf eine Probe
an; ich solle versuchen, es allein durch den Meeresarm hin und her zu tragen, um
mich zu überzeugen, ob es mir nicht zu schwer werden möchte!
[JJ.01_166,09] Mit der Einwilligung Jakobs nahm ich das Kindlein auf meinen Arm
und trug es durchs Wasser.
[JJ.01_166,10] Hinüber war es noch erträglich; aber zurück mußte ich einen Stock
nehmen, auf den ich mich stützte, und gelangte nur mit der genauesten Not von
der Welt an das andere Ufer.
[JJ.01_166,11] Denn fürwahr, du, lieber Freund, kannst mir's glauben, das Kind
ward so entsetzlich schwer, daß ich gerade glaubte, eine Weltenlast liege auf
meinen Armen!
[JJ.01_166,12] Als ich das Ufer erreichte, das Kindlein schnell dem Jakob
übergab und mich ein wenig erholte,
[JJ.01_166,13] da fragte ich den Jakob, was denn das wäre – wie sei dies Kind
schwerer als eine Welt?
[JJ.01_166,14] Da sprach das Kindlein unaufgefordert wieder,
[JJ.01_166,15] ich hätte nun mehr getragen, als so ich getragen hätte eine ganze
Welt!
[JJ.01_166,16] Freund, von dem allen ist dein Jakob Zeuge gewesen! – Nun frage
ich dich darum und sage:
[JJ.01_166,17] Was um Jehovas willen hast du denn für ein Kind? Fürwahr, da kann
es nicht natürlicher Dinge sein!“
[JJ.01_166,18] Und der Joseph sprach zu Jonatha: „Wenn du schweigen könntest wie
eine Mauer – ansonsten dein Leben in große Gefahr käme –, da möchte ich dir,
meinem alten allerbiedersten Freunde, wohl etwas erzählen!“
[JJ.01_166,19] Und der Jonatha schwor und sprach: „Bei Gott und allen Himmeln! – ich will tausendmal sterben im Feuer, so ich dich je mit einer Silbe verrate!“
[JJ.01_166,20] Da nahm ihn Joseph mit sich auf seinen Lieblingshügel und
erzählte ihm den ganzen Hergang der Sache des Kindleins, von der Jonatha vorher
noch keine Silbe wußte.
[JJ.01_166,21] Jonatha aber, als er solches in kurz gefaßter Darstellung
vernommen hatte, fiel auf seine Knie nieder und betete vom Hügel aus das
Kindlein an, das soeben inmitten der acht andern Kinder Sich herumtummelte,
[JJ.01_166,22] und sprach am Ende seines langen Gebetes: „O du Seligkeit der
Seligkeiten! Mein Gott, mein Schöpfer hat mich besucht! Ich habe Ihn, der alle
Welt und alle Himmel trägt, auf meinen Armen getragen!? – O du endlose Gnade der
Gnade! O du Erde, bist du wohl wert solcher Gnade!? – Ja, jetzt verstehe ich die
Worte des Gottkindes: ,Mehr als eine Welt – hast du getragen!‘“ – Darauf
verstummte Jonatha und konnte vor Entzückung eine Stunde kein Wort aus seinem
Munde bringen.
[JJ.01_167] 167. Kapitel – Josephs gastliche Einladung an Jonatha. Jonathas
Bedenken und Sündenbekenntnis. Josephs Rat. Des Kindleins Lieblingsspeise: das
Herz Jonathas. Jesu Zeugnis über Jonatha.
15. März 1844
[JJ.01_167,01] Als der Jonatha seine Andacht auf solche lebendige Weise
verrichtet hatte, da sprach Joseph zu ihm:
[JJ.01_167,02] „Mein geliebter Freund, du wohnst allein mit deinen drei Gehilfen
in deiner Hütte.
[JJ.01_167,03] Heute am Vorsabbate wirst du ohnehin keine Fische mehr fangen;
darum bleibe heute bei mir, desgleichen auch über den morgigen Sabbat!“
[JJ.01_167,04] Und der Jonatha sprach: „Ja, mein Freund und Bruder, wenn das
Gottkind nicht wäre, da möchte ich wohl bei dir verbleiben;
[JJ.01_167,05] aber siehe, ich bin ein sündiger Mensch und bin unrein in allen
meinen Teilen und Gliedern!
[JJ.01_167,06] Denn ich habe, seit ich unter den Heiden lebe, kaum mehr an die
Satzungen Mosis gedacht und lebte mehr heidnisch als jüdisch.
[JJ.01_167,07] Und so kann ich da wohl nicht verbleiben, da selbst der
Allerheiligste wohnet!“
[JJ.01_167,08] Und der Joseph sprach: „Bruder, dein Grund ist gut; aber bei mir
wird er nicht angenommen!
[JJ.01_167,09] Denn siehe, der Herr, der sogar gegen alle Heiden Sich so gnädig
bezeigt, wird Sich zu dir sicher noch gnädiger bezeigen, indem du ein reuiger
Jude bist!
[JJ.01_167,10] Du brauchst Ihn nur zu lieben und kannst rechnen, daß dich auch
der Herr lieben wird über die Maßen!
[JJ.01_167,11] Denn siehe, die acht Kinder und die Eudokia sind Heiden, und
dennoch geht das Kindlein mit ihnen herum und hat sie lieb über die Maßen!
[JJ.01_167,12] Also wird Es auch dich gar liebreichst aufnehmen und wird Sich
mit dir wie mit Seinem besten Freunde abgeben!“
[JJ.01_167,13] Auf diese Rede faßte Jonatha Mut und begab sich mit Joseph wieder
vom Hügel hinab in die Wohnung, allwo schon lange das Mittagsmahl bereitet war.
[JJ.01_167,14] Joseph berief nun alles zum Tische. Die Maria nahm das Kindlein
und setzte sich auch neben dem Joseph, wie gewöhnlich, zum Tische.
[JJ.01_167,15] Das Kindlein aber wollte nicht die für Ihn bereitete Milchspeise
genießen.
[JJ.01_167,16] Und Maria ward ängstlich darob, denn sie meinte, es müsse dem
Kindlein etwas fehlen.
[JJ.01_167,17] Das Kindlein aber sprach: „Warum ängstigest du dich denn
Meinetwegen?
[JJ.01_167,18] Siehe, der Jonatha hat Mir eine bessere Speise gebracht; diese
werde Ich essen, und diese wird Mich wahrhaft sättigen!“
[JJ.01_167,19] Maria aber verstand hier sogleich die Fische, die zuletzt auf den
Tisch gesetzt wurden.
[JJ.01_167,20] Das Kindlein aber sprach: „Maria, du hast Mich nicht verstanden!
[JJ.01_167,21] Denn die Fische meine Ich nicht, obschon sie natürlich besser
schmecken als diese gestrige Milch, die da schon topfig ist, und die Joel nahm
statt einer frischen, um ein Mus zu kochen für Mich.
[JJ.01_167,22] Aber die große Demut und die große Liebe seines Herzens (des
Jonatha nämlich), die er Mir schon öfter bezeigte, ohne Mich zu kennen – diese
meine Ich!
[JJ.01_167,23] Ich sage dir, du Maria, Jonatha ist ein starker Mensch in seinen
Gliedern, aber die Liebe seines Herzens ist noch viel stärker!
[JJ.01_167,24] Und diese seine Liebe zu Mir ist die gar kräftige Kost, die Mich
nun sättiget! – Doch aber werde Ich auch von seinen Fischen essen; aber das
saure Mus mag Ich nicht!“ – Darob ward aber Jonatha so erfreut, daß er laut zu
weinen anfing.
[JJ.01_168] 168. Kapitel – Das von Joel schlecht bereitete Mus. Marias und
Josephs Rüge. Des Kindleins Nachsicht mit Joel. Erziehungswinke.
16. März 1844
[JJ.01_168,01] Nun kostete erst die Maria das Mus, das der Joel fürs Kindlein
bereitet hatte, und fand es im Ernste etwas sauer und kleingrießartig topfig.
[JJ.01_168,02] Da berief sie sobald den Joel, der sich noch ganz geschäftig in
der Küche mit dem Braten der Fische abgab.
[JJ.01_168,03] Als dieser kam, sagte die Mutter voll Ernstes: „Joel! da verkoste
einmal das Mus!
[JJ.01_168,04] Hast du denn gar so wenig Achtung vor dem Kinde, vor dem Vater
Joseph und vor mir, dem getreuen Weibe deines Vaters, daß du mir solches antun
magst?!
[JJ.01_168,05] Haben denn unsere Kühe und Ziegen keine frische Milch mehr im
Euter?
[JJ.01_168,06] Warum nahmst du eine gestrige, schon sauer gewordene, die man
wohl kalt genießen kann, so man durstig ist, aber nicht gekocht, da sie
schädlich ist ganz besonders den Kindern?!“
[JJ.01_168,07] Hier kostete auch der Joseph das Mus und wollte schon ein kleines
Donnerwetter über den Joel senden.
[JJ.01_168,08] Aber das Kindlein richtete Sich auf und sprach: „O ihr Menschen
ihr! – Warum wollt ihr denn Mich überall überbieten?!
[JJ.01_168,09] Ist denn nicht genug, was Ich über den Joel bemerkte? Warum wollt
ihr ihn denn nach Mir völlig richten?
[JJ.01_168,10] Meinet ihr, Ich habe ein Wohlgefallen an solcher eurer Strenge? – O nein!
– Mir gefällt allein nur die Liebe, Sanftmut und die Geduld!
[JJ.01_168,11] Joel hat sich durch seine Unachtsamkeit allerdings strafbar
gemacht,
[JJ.01_168,12] darum Ich ihn aber auch durch Meine tadelnde Bemerkung sogleich
gestraft habe! Diese Strafe ist aber hinreichend; wozu da noch eine weitere Rüge
und ein Donnerwetter obendrauf?
[JJ.01_168,13] Es tut wohl jeder Vater recht, so er die kleinen unartigen Kinder
mit der Rute bestraft, aber den erwachsenen Söhnen solle er stets ein weiser und
sanfter Lehrer sein!
[JJ.01_168,14] Nur so ein Sohn sich auflehnete gegen den Vater, dem solle
gedroht werden!
[JJ.01_168,15] Bekehrt er sich da, so solle er wieder in den alten Frieden
gesetzt werden;
[JJ.01_168,16] bekehrt er sich aber nicht, da solle er verstoßen und vom Hause
des Vaters und aus seinem Vaterlande getrieben werden!
[JJ.01_168,17] Joel aber hat ja nichts verbrochen; nur die Lust zu den Fischen
gestattete ihm nicht so viel Zeit, daß er eine Ziege gemolken hätte!
[JJ.01_168,18] Von nun an aber wird er das auch sicher nimmer tun; darum sei ihm
auch alles vergeben!“
[JJ.01_168,19] Darauf berief das Kindlein den Joel zu Sich und sprach: „Joel! – wenn du Mich liebst, wie Ich dich liebe, so bereite in Zukunft deinem Vater und
deiner Mutter keinen solchen Kummer mehr!“
[JJ.01_168,20] Joel aber fing vor Rührung an zu weinen und fiel auf seine Knie
nieder und bat das Kindlein, die Maria und den Joseph um Vergebung.
[JJ.01_168,21] Und der Joseph sprach: „Stehe nur auf, mein Sohn, was dir der
Herr vergibt, das sei dir auch von mir und der Mutter vergeben!
[JJ.01_168,22] Gehe aber nun und sehe nach, was die Fische machen!“
[JJ.01_168,23] Und das Kindlein sagte ebenfalls hurtig dazu: „Ja, ja, gehe nur,
sonst werden die Fische überbraten, da sie dann nicht gut wären; denn Ich will
ja Selbst davon essen!“
[JJ.01_168,24] Diese Besorglichkeit gefiel den andern acht Kindern so gut, daß
sie aus Freude laut lachten.
[JJ.01_168,25] Das Kindlein aber lachte Selbst recht herzlich mit und brachte in
die ganze Tischgesellschaft eine recht heitere Stimmung, und Jonathas Augen
waren voll entzückter Freudentränen.
[JJ.01_169] 169. Kapitel – Das Fischessen. Die Mahnung des unbedienten
Jesuskindleins an Joseph und dessen abschlägige Antwort. Des Jesuskindleins
gewichtige Erwiderung und Voraussage über die Vergöttlichung der Maria. Die
Segensworte des demütigen Kindleins.
18. März 1844
[JJ.01_169,01] In kurzer Zeit brachte Joel auf einem Roste die gebratenen Fische
herein und setzte sie auf den Tisch.
[JJ.01_169,02] Joseph legte sogleich einem jeden eine gute Portion vor und
vergaß auch sich nicht;
[JJ.01_169,03] aber dem Kindlein legte er natürlich keine Portion vor, denn das
ward ja ohnehin von der Mutter beteiligt.
[JJ.01_169,04] Das Kindlein aber war diesmal damit nicht zufrieden, sondern
begehrte auch eine ganze Portion.
[JJ.01_169,05] Da sprach der Joseph: „Aber Du mein allerliebstes Söhnchen, Du
mein Jesus, das wäre wohl viel zuviel für Dich!
[JJ.01_169,06] Fürs erste könntest Du es ja unmöglich alles essen, und fürs
zweite, wenn Du es verzehretest, würde es Dich krank machen!
[JJ.01_169,07] Siehst Du aber nicht, daß ich darum der Mutter ja ohnehin eine
größere Portion vorgelegt habe, weil sie Dich zu versorgen hat?!
[JJ.01_169,08] Daher sei nur ganz ruhig, mein Söhnchen; denn Du wirst nicht zu
kurz kommen!“
[JJ.01_169,09] Und das Kindlein sprach: „Das weiß Ich wohl – und noch so
manches, was du nicht weißt!
[JJ.01_169,10] Aber schicklich wäre es doch gewesen, wenn du auch dem Herrn eine
ganze Portion gegeben hättest!
[JJ.01_169,11] Weißt du wohl, wer Melchisedek, der König von Salem war? – Du
weißt es nicht!
[JJ.01_169,12] Ich aber weiß es und sage es dir: Der König von Salem war der
Herr Selbst; aber außer Abraham durfte es niemand ahnen!
[JJ.01_169,13] Darum verneigte sich Abraham bis zum Erdboden vor Ihm und gab Ihm
freiwillig von allem den zehnten Teil.
[JJ.01_169,14] Joseph! – Ich bin derselbe Melchisedek, und du bist gleich dem
Abraham!
[JJ.01_169,15] Warum willst denn du Mir nicht den Zehnten geben von diesen guten
Fischen?
[JJ.01_169,16] Warum bescheidest du Mich auf die Mutter? – Wer wohl hat den
Fisch wie das Meer gemacht? War es Maria – oder Ich, ein König von Salem von
Ewigkeit?!
[JJ.01_169,17] Siehe, Ich bin hier in Meinem Eigentume von Ewigkeit, und du
willst Mir nicht einmal eine ganze Portion Fisches vorsetzen? – Das sieht doch
rar aus!
[JJ.01_169,18] Darum aber wird es auch kommen, daß einst die Menschen Meiner
Leibesmutter bei weitem größere Portionen vorsetzen werden denn Mir.
[JJ.01_169,19] Und Ich werde auf das passen müssen, was der Mutter vorgesetzt
wird, und da wird ferne sein die Ordnung Melchisedeks!“
[JJ.01_169,20] Joseph aber wußte nicht, was er darauf sagen solle. Er teilte
aber sobald seinen Teil und setzte die größere Hälfte dem Kindlein vor.
[JJ.01_169,21] Das Kindlein aber sprach: „Wer Mir etwas gibt und behält einen
Teil für sich, der kennt Mich nicht!
[JJ.01_169,22] Wer Mir geben will, der gebe Mir alles, sonst nehme Ich es nicht
an!“
[JJ.01_169,23] Hier schob Joseph auch noch freudigst seinen Teil vor das
Kindlein.
[JJ.01_169,24] Das Kindlein aber hob Seine Rechte und segnete die zwei Teile und
sprach:
[JJ.01_169,25] „Wer das Ganze Mir gibt, der gewinnt hundertfach! Nehme den Fisch
wieder vor dich, Joseph, und esse! Was dir überbleiben wird, das erst gebe Mir!“
[JJ.01_169,26] Hier nahm Joseph den Fisch wieder und aß viel davon. Als er aber
nimmer essen konnte, da blieb noch so viel übrig, daß es für zwölf Personen
genug gewesen wäre. Und das Kindlein aß dann von dem Übriggebliebenen.
[JJ.01_170] 170. Kapitel – Jonathas Frage nach Josephs innerer Stellung zum
Kindlein und Josephs Erwiderung.
20. März 1844
[JJ.01_170,01] Nach dieser Tischszene, die den Jonatha viele Freuden- und auch
Reuetränen gekostet hatte, sagte eben der Jonatha zum Joseph:
[JJ.01_170,02] „Joseph, du mein alter Jugendfreund, sage mir doch so ganz
aufrichtig – wie unendlich glücklich fühlst du dich denn, wenn du die Größe
deiner Berufung überdenkst?!
[JJ.01_170,03] Was empfindest du, wenn du das Kindlein ansiehst und dein
lebendig glaubend Herz sagt es dir: ,Siehe, das Kindlein ist Gott Jehova
Zebaoth!
[JJ.01_170,04] Der mit Adam redete, mit Henoch, mit Noah, mit Abraham, Isaak und
Jakob;
[JJ.01_170,05] Der unsere Väter aus dieses Landes harter Not erlöste durch Moses
und gab Selbst das Gesetz in der Wüste;
[JJ.01_170,06] und ernährte durch vierzig Jahre das große Volk in der Wüste, in
der nichts als nur hie und da ein Dornstrauch und eine Distel erwächst;
[JJ.01_170,07] Der durch den Mund der Heiligen und Propheten geredet hat!‘?
[JJ.01_170,08] O Joseph, sage, sage es mir! – was empfindest du da, was in
solcher Gegenwart Dessen, der Himmel und Erde gegründet hat?!
[JJ.01_170,09] Ja, der die Engel erschuf und machte das erste Menschenpaar und
belebte es mit Seinem ewig lebendigen Odem!
[JJ.01_170,10] Oder – sage! – ist es dir, wenn du das überdenkst, wohl möglich
zu reden?
[JJ.01_170,11] Bindet die Anschauung des Kindes dir nicht schon also deine
Zunge, daß du aus zu großer Ehrfurcht vor Dem, der ewig war, schweigen mußt?“
[JJ.01_170,12] Und der Joseph erwiderte dem Jonatha: „Du hast recht, daß du mich
also fragst;
[JJ.01_170,13] aber denke selbst nach, – was solle ich machen?! Es ist nun
einmal also, und ich muß das Allerhöchste also ertragen, als wäre es etwas
Niederes; sonst könnte ich ja unmöglich bestehen!
[JJ.01_170,14] Siehe, Gott ist einmal Gott, und wir sind Seine Geschöpfe! – Er
ist Alles, und wir alle sind nichts!
[JJ.01_170,15] Dieses Verhältnis ist gerechnet richtig. Kannst du aber selbst
durch deinen allerhöchsten Gedankenflug an diesem Verhältnisse etwas ändern?
[JJ.01_170,16] Siehe, daher ist dein Gefrage eitel! Möchte ich auch ein Herz
haben, so groß die Erde ist, und einen Kopf so groß wie der Himmel, und möchte
da Gefühle und Gedanken ziehen, vor denen alle Engel erbeben möchten, –
[JJ.01_170,17] sage, welchen Dienst würde ich dadurch Dem erweisen, der die
ganze Unendlichkeit, wie ich ein Sandkörnchen, in Seiner Rechten trägt?!
[JJ.01_170,18] Werde ich dadurch mehr Mensch und Gott weniger Gott sein?!
[JJ.01_170,19] Siehe, darum ist deine Frage eitel! – Alles, was ich tun kann,
ist, daß ich das Kindlein liebe aus allen meinen Kräften und erweise Ihm den
nötigen Dienst, den Es von mir verlangt!
[JJ.01_170,20] Alles andere Großgedankenwerk aber lasse ich aus dem Grunde
beiseite, weil ich wohl weiß, daß mein erhabenster und größter Gedanke gegen die
Größe Gottes ein barstes prahlerisches Nichts ist!“
[JJ.01_170,21] Diese Antwort brachte den Jonatha auf ganz andere Gedanken, und
er setzte hernach dem Joseph keine solchen Fragen mehr.
[JJ.01_171] 171. Kapitel – Der Abend auf dem Lieblingshügel Josephs. Jakob beim
Füttern des kleinen Jesus mit Butterbrot und Honig. Die Fliegen in dem
Honigtöpfchen. Jesu tiefweise Worte über Isaias Kap. 7,15.
21. März 1844
[JJ.01_171,01] Gegen den Abend dieses Tages, der – wie schon bekanntgegeben – ein Vorsabbat war, aber nahm Jakob das Kindlein und ging auf den Lieblingshügel
Josephs.
[JJ.01_171,02] Und Joseph und der Jonatha folgten bald dem Beispiele Jakobs und
begaben sich auch auf den Hügel.
[JJ.01_171,03] Jakob aber nahm, wie gewöhnlich, fürs Kindlein etwas Butter und
Honig in einem kleinen Töpfchen mit sich und ein Stückchen Weizenbrotes,
[JJ.01_171,04] davon er dem Kindlein öfter eine kleine Portion in den Mund
steckte; denn das Kindlein aß am liebsten ein Stückchen Honig-und-Butterbrotes.
[JJ.01_171,05] Als aber Jakob sein Töpfchen auf ein Bänkchen hinsetzte und sich
mit dem Kindlein munter im Grase des sanften Hügels herumtrieb,
[JJ.01_171,06] da besuchten sobald einige Bienen und Fliegen das Töpfchen und
schmausten nach Lust an dem süßen Inhalte.
[JJ.01_171,07] Da aber Joseph solches merkte, so sagte er zum Jakob: „Gehe und
decke doch das Töpfchen mit etwas zu, sonst wird sein Inhalt bald von Fliegen
und Bienen verzehret sein!“
[JJ.01_171,08] Und der Jakob kam schnell mit dem Kindlein herzu und wollte diese
Gäste aus dem Töpfchen verscheuchen; aber sie gehorchten ihm nicht.
[JJ.01_171,09] Da sprach das Kindlein: „Jakob, gib Mir das Töpfchen, und Ich
werde sehen, ob sich die Fliege und die Biene auch vor Mir ungehorsam bezeigen
wird!“
[JJ.01_171,10] Hier gab Jakob dem Kindlein das Töpfchen in die Hände, und das
Kindlein zischte mit einem dreimaligen Kscht – Kscht – Kscht – in das Töpfchen,
und im Augenblicke verloren sich die Fliegen und die Bienen.
[JJ.01_171,11] Darauf gab Jakob dem Kindlein ein Stückchen
Butter-und-Honigbrotes, und das Kindlein nahm es und verzehrte es zufrieden.
[JJ.01_171,12] Jonatha aber, der zuvor mit dem Joseph allerlei aus der
Zeichenweisheit Ägyptens sprach, bemerkte diese Handlung, die sehr geringfügig
zu sein schien, und fragte den Joseph, ob darin auch irgendeine tiefweise
Bedeutung läge?
[JJ.01_171,13] Und der Joseph erwiderte ihm: „Das meine ich eben nicht; denn
nicht in gar jeder kleinlichen Handlung liegt eine verborgene Weisheit.
[JJ.01_171,14] Sooft jemand Butter und Honig frei stellt, da werden sich immer
Fliegen und Bienen einfinden und davon zehren!
[JJ.01_171,15] Man könnte diese Erscheinung, wie tausend andere, wohl bei guten
Gelegenheiten gleichnisweise gebrauchen, – aber an und für sich ist diese
Handlung leer!“
[JJ.01_171,16] Das Kindlein aber lief hier zum Joseph und sprach ganz munter:
[JJ.01_171,17] „Mein liebster Joseph, diesmal hast du einen Hieb ins Blaue
gemacht!
[JJ.01_171,18] Wie liesest du im Isaias? Steht es nicht also von Mir
geschrieben: ,Butter und Honig wird Er essen, daß Er wisse, Böses zu verwerfen
und Gutes zu erwählen.
[JJ.01_171,19] Ehe aber der Knabe lernt, das Böse zu verwerfen und das Gute zu
erwählen, wird das Land, davor dir graut, verlassen sein von seinen zwei
Königen.
[JJ.01_171,20] Der Herr aber wird über dich, über dein Volk und über deines
Vaters Haus Tage kommen lassen, die nicht da waren seit der Zeit, da Ephraim von
Juda ist durch den König von Assyrien getrennt worden!
[JJ.01_171,21] Denn zur Zeit wird der Herr zischen der Fliege am Ende der Wasser
in Ägypten und der Biene im Lande Assur!‘
[JJ.01_171,22] Siehe Joseph! – was in den Worten des Propheten liegt, das liegt
auch in dieser Handlung;
[JJ.01_171,23] aber die Zeit der Enthüllung ist noch nicht da, obschon nimmer
ferne!
[JJ.01_171,24] Kennst du aber den Sohn der Prophetin, der da hieß ,Raubebald,
Eilebeute‘?
[JJ.01_171,25] Kennst du den Sohn, den eine Jungfrau gebären wird und wird Ihn
heißen ,Immanuel‘!?
[JJ.01_171,26] Siehe, das alles bin Ich! – Aber eher wirst du das nicht völlig
fassen, bis Ich als der ,Raubebald‘, ,Eilebeute‘ und als ,Immanuel‘ von der Höhe
Vater und Mutter rufen werde!“
[JJ.01_171,27] Hier lief das Kindlein wieder dem Jakob zu. Joseph und Jonatha
aber sahen einander groß an und konnten sich nicht genug verwundern über die
Worte des Kindleins und über das merkwürdige bildliche Zusammentreffen der
vorigen Aktion mit den Worten des Propheten. – –
[JJ.01_172] 172. Kapitel – Jonathas übertriebene Ehrfurcht und Demut vor dem
Jesusknäblein. Josephs guter Rat und des Kindleins liebevoller Zuspruch.
Jonathas Bleiben.
22. März 1844
[JJ.01_172,01] Jonatha aber, nachdem er sich vom Staunen über diese Rede des
Kindleins ein wenig erholt hatte, sprach zum Joseph:
[JJ.01_172,02] „Bruder! Fürwahr, so fest ich es mir auch vorgenommen habe, heute
und morgen bei dir zu bleiben, so aber werde ich doch kaum diesem Vorhaben
getreu verbleiben!
[JJ.01_172,03] Denn sieh, mir kommt nun hier alles zu heilig vor! Wie in einer
Einöde scheine ich hier zu sein, in der einem Wanderer alles, was er ansieht,
zuruft: ,Hier ist kein Platz für dich, sondern nur für Geister!‘
[JJ.01_172,04] Auch kommt es mir vor wie auf einem überhohen Berge, an dessen
Spitze wohl der Zauber der weiten Aussicht anfangs die Sinne besticht;
[JJ.01_172,05] aber gar bald spricht zu ihm die kalte reinste Luft:
[JJ.01_172,06] ,Du träges und unreines Menschenlasttier, ziehe bald zurück in
deine stinkende Heimat!
[JJ.01_172,07] Denn hier, wo sich des reinsten Äthers reinste Geister wiegen,
ist keines Bleibens für eine unreine Seele!‘
[JJ.01_172,08] Wie rein war der große Prophet Moses; und dennoch sprach der Herr
zu ihm, als er Ihn zu sehen verlangte:
[JJ.01_172,09] ,Mich, deinen Gott, kannst du nicht sehen und leben zugleich!‘
[JJ.01_172,10] Hier ist derselbe Herr in der Fülle Seiner Heiligkeit, – Er ist
hier, der Verkündigte durch aller Propheten Mund!
[JJ.01_172,11] Wie sollte es mir möglich sein, noch länger Seine sichtbare
Gegenwart zu ertragen hier, der ich doch ein alter Sünder bin am ganzen Gesetze
Mosis?!“
[JJ.01_172,12] Joseph aber sprach: „Lieber Freund und Bruder, du weißt ja, was
das Hauptgesetz ist; warum willst du denn lieber nach Hause ziehen, als dieses
Gesetz lebendig beobachten?
[JJ.01_172,13] Liebe den Herrn aus allen deinen Kräften, und gedenke nicht
beständig deiner Sünden, so wirst du dem Herrn sicher angenehmer sein als durch
deine beständigen Ausrufungen!
[JJ.01_172,14] Warte, bis dich das Kindlein verabschieden wird! – Wenn das
geschehen wird, da glaube, daß du Seiner unwürdig bist;
[JJ.01_172,15] solange aber das nicht der Fall sein wird, da bleibe, – denn mehr
zu Hause als hier wirst du wohl ewig nirgends sein!“
[JJ.01_172,16] Hier kam das Kindlein hinzu und sprach: „Joseph! du hast schon
recht, daß du den Jonatha ein wenig geputzt hast; warum ist er also eigensinnig
und will nicht hierbleiben, da Ich ihn doch so lieb habe?!“
[JJ.01_172,17] Darauf wandte Sich das Kindlein an den Jonatha und sprach:
[JJ.01_172,18] „Jonatha! – willst du denn im Ernste nicht hier verbleiben? Was
Übles wohl geschieht dir hier, daß du nicht bleiben willst?“
[JJ.01_172,19] Und Jonatha sprach: „Mein Gott und mein Herr! Siehe, ich bin ja
ein grober Sünder am Gesetze!“
[JJ.01_172,20] Das Kindlein aber sprach: „Was sprichst du von Sünden? Ich
erkenne keine an dir!
[JJ.01_172,21] Weißt du, wer ein Sünder ist? – Ich sage dir: Der ist ein Sünder,
der keine Liebe hat!
[JJ.01_172,22] Du aber hast Liebe, und so bist du kein Sünder vor Mir; denn Ich
habe sie, die Sünde, dir vergeben, darum Ich über Moses bin ein Herr von
Ewigkeit!“ –
[JJ.01_172,23] Hier weinte Jonatha und faßte neuen Entschluß zu bleiben und
nahte sich dem Kindlein und herzte und kosete Es.
[JJ.01_173] 173. Kapitel – Das federleichte Jesuskind. Jonathas Verwunderung.
Des Kindleins tiefweise Worte über die Last des Gesetzes Mosis. Moses hat das
ganze Gesetz in die Liebe zu Gott gesetzt. Das Gesetz ist geblieben, aber die
Liebe erstorben. „... den Buchstabenfressern des Gesetzes aber werde Ich das Tor
zum Leben so eng wie ein Nadelöhr machen.“
23. März 1844
[JJ.01_173,01] Als aber Jonatha das Kindlein also herzte und kosete, da sprach
dasselbe zu ihm:
[JJ.01_173,02] „Jonatha, versuche Mich jetzt einmal zu tragen; jetzt werde Ich
dir sicher nicht so schwer vorkommen als über den Meeresarm!“
[JJ.01_173,03] Und der Jonatha nahm voll Freude und Liebe das Kindlein auf seine
Arme und fand Es so leicht wie eine Flaume.
[JJ.01_173,04] Da sprach er zum Kindlein: „Mein Gott und mein Herr! – wie wohl
solle ich das fassen?!
[JJ.01_173,05] Dort beim Meere wardst Du mir zu einer Weltenlast; hier aber bist
Du mir eine Federflaume!“
[JJ.01_173,06] Und das Kindlein sprach: „Jonatha, also wie dir wird es jedem
ergehen!
[JJ.01_173,07] Denn Meine große Last liegt nicht in Mir, sondern im Gesetze
Mosis!
[JJ.01_173,08] Da du Mich nicht kanntest, sondern nur das Gesetz, und hattest
Mich auf deiner Achsel, da drückte nicht Meine, sondern des Gesetzes Last nur
deine Schultern weltenschwer.
[JJ.01_173,09] Nun aber hast du Mich, den Herrn über Moses und über das Gesetz,
erkannt in deinem Herzen, und siehe, des Gesetzes Last ist nicht mehr mit Mir,
dem Herrn des Gesetzes!
[JJ.01_173,10] Also aber wird es geistig in der Zukunft allen Gesetzesträgern
ergehen!
[JJ.01_173,11] Wahrlich sage Ich dir: Die Gerechten aus dem Gesetze werden
heulen und mit den Zähnen knirschen;
[JJ.01_173,12] aber der Herr wird in den Häusern der Sünder zu Tische sitzen und
wird sie heilen und annehmen zu Seinen Kindern!
[JJ.01_173,13] Die Verlornen werde Ich suchen, die Kranken, die hart Gefangenen
und Bedrängten werde Ich heilen, erlösen und befreien;
[JJ.01_173,14] aber die Gerechten am Gesetze sollen ungerechtfertigt aus Meinem
Hause ziehen!
[JJ.01_173,15] Wahrlich sage Ich dir: Den Zöllner und Sünder werde Ich preisen
in Meinem Hause;
[JJ.01_173,16] aber den Gerechten werde Ich mit einer starken Bürde belasten vor
Mir in Meinem Hause!
[JJ.01_173,17] Ja, – eine Hure solle Mich salben, und einer Ehebrecherin Schuld
will Ich in den Sand zeichnen, und die Sünder sollen Mich anrühren;
[JJ.01_173,18] aber verflucht solle sein ein Gesetzesritter und ein
Schriftgelehrter, so er Mich anrühren wird!
[JJ.01_173,19] Die des Gesetzes Last getötet hat, die werde Ich aus den Gräbern
ziehen;
[JJ.01_173,20] aber vor den Buchstabenfressern des Gesetzes werde Ich das Tor
zum Leben so eng wie ein Nadelöhr machen!“
[JJ.01_173,21] Ob dieser Worte entsetzte sich Joseph und sprach: „Aber Kindlein,
was sprichst Du für schreckliche Dinge!?
[JJ.01_173,22] Das Gesetz hat ja auch Gott gegeben, wie solle da ein Sünder
besser sein denn ein Gerechter!?“
[JJ.01_173,23] Das Kindlein aber sagte: „Wohl hat Gott das Gesetz gegeben; aber
nicht für den Weltverstand, sondern für das Herz! Und Moses selbst hat das ganze
Gesetz in die Liebe zu Gott gesetzt!
[JJ.01_173,24] Das Gesetz wohl ist geblieben, – aber die Liebe ist lange schon
erstorben!
[JJ.01_173,25] Ein Gesetz aber, in dem keine Liebe mehr ist, ist kein nütze, und
der es hält ohne Liebe, ist ein toter Sklave desselben!
[JJ.01_173,26] Darum ist Mir nun ein Heide und ein freier Sünder lieber als ein
toter gefesselter Sklave des Gesetzes!“
[JJ.01_173,27] Hier schwieg Joseph und dachte über diese Worte nach; das
Kindlein aber fing wieder von kindlichen Dingen zu plaudern an mit Jonatha und
mit Seinem Jakob.
[JJ.01_174] 174. Kapitel – Der Abend auf dem Hügel. Josephs und Jonathas
Vollmondbetrachtungen. Des Kindleins Winke über das Viel-Wissen im Gegensatz zum
Viel-Lieben. Das ,Angesicht‘ Gottes. Das Wesen des Mondes.
26. März 1844
[JJ.01_174,01] Da es aber schon Abend geworden war und der Mond gerade im
Vollichte über Ostracine aufging,
[JJ.01_174,02] da bewunderte Jonatha von diesem Hügel dessen schöne Gestalt und
ergötzte sich an seinem Lichte und ward ganz still.
[JJ.01_174,03] Joseph aber bemerkte solches und fragte den Jonatha: „Bruder, was
ersiehst du wohl in der leuchtenden Mondesscheibe, darum du sie gar so
aufmerksam betrachtest?“
[JJ.01_174,04] Und der Jonatha antwortete und sprach: „Ich ersehe eigentlich gar
nichts – außer die alten stets gleichen Flecke!
[JJ.01_174,05] Doch aber denke ich allzeit, sooft ich also den Mond sehe, was
etwa doch die Flecken sind, und was überhaupt der Mond ist, warum wir ihn bald
gar nicht, bald wie eine Sichel, bald wieder so und so sehen?
[JJ.01_174,06] Wenn du etwa davon etwas Näheres kennst, so gebe es mir kund, – denn von derlei Dingen höre ich sehr gerne reden!“
[JJ.01_174,07] Und der Joseph sprach: „Lieber Freund! In dieser Hinsicht
gleichen wir einander ganz vollkommen;
[JJ.01_174,08] und so bin ich über die sonderbare Beschaffenheit dieses Gestirns
ebenso bewandert wie du.
[JJ.01_174,09] Und so werde ich dir in dieser Hinsicht spottwenig zu sagen
imstande sein! – Das Kindlein wird da sicher mehr wissen als ich; darum frage du
Dasselbe!“
[JJ.01_174,10] Und der Jonatha fragte mit einiger Beklommenheit das Kindlein
über des Mondes Beschaffenheit.
[JJ.01_174,11] Und das Kindlein sprach: „Jonatha! So Ich dir den Mond zeige, da
wirst du auch die Sonne sehen wollen und darnach die zahllosen Sterne!
[JJ.01_174,12] Sage, wann wird dann deine Schaulust und Wißbegierde ein Ende
nehmen?
[JJ.01_174,13] Siehe, viel Wissen macht den Kopf schwer und das Erdenleben
unbehaglich!
[JJ.01_174,14] Aber viel Liebe im Herzen zu Gott und deinen Brüdern macht das
Erdenleben angenehm und benimmt alle Furcht vor dem Tode!
[JJ.01_174,15] Denn diese Liebe ist ja in sich selbst das ewige Leben; wer aber
das hat, der wird dereinst auch zu schauen bekommen alle Schöpfung!
[JJ.01_174,16] Denn die wahren Liebhaber Gottes werden anschauen Sein Angesicht!
– Das aber ist das Angesicht Gottes, was Er erschaffen hat durch Seine Weisheit
und durch Seine ewige Allmacht!
[JJ.01_174,17] Denn die Weisheit und die Allmacht ist das Angesicht Gottes, also
wie die Liebe Sein Grundwesen ist von Ewigkeit!
[JJ.01_174,18] Da du Mich aber schon gefragt hast über den Mond, so sage Ich
dir: er ist eine Nebenerde und hat Berge, Täler, Früchte, Tiere und Wesen deiner
Art.
[JJ.01_174,19] Aber der Teil, den du siehst, ist frei und nackt und leer und hat
weder Wasser noch Feuer.
[JJ.01_174,20] Der Teil nur, den du nicht siehst, ist der Erde gleich;
[JJ.01_174,21] sein Licht ist von der Sonne, und sein Lichtwechsel kommt von
seiner Stellung und verändert sich in jeder Minute nach dem Umschwunge um die
Erde. – Und die Flecken sind tiefere und dunklere Orte der Prüfung.
[JJ.01_174,22] Nun weißt du, was der Mond ist; bist du damit zufrieden?“ – Und
der Jonatha bejahte diese Frage und versenkte sich in tiefe Gedanken.
[JJ.01_175] 175. Kapitel – Maria und das Jesusknäblein in herzlich-scherzender
Unterhaltung auf dem Hügel. Joseph und Jonatha bei ihrer ,Mondmahlzeit‘. Die
plötzliche Mondfinsternis.
27. März 1844
[JJ.01_175,01] Da aber Maria mit der Eudokia ihre häuslichen Geschäfte beendet
hatte, da begab sie sich ebenfalls auf den Hügel, geleitet von der Eudokia.
[JJ.01_175,02] Und das Kindlein lief ihr entgegen und hüpfte freudig um die
herrliche Mutter.
[JJ.01_175,03] Maria aber nahm das schon ziemlich schwere Kindlein auf ihre
etwas müden Arme und kosete Es und sagte scherzweise:
[JJ.01_175,04] „Aber heute bist Du schwer! Du warst gewiß recht genäschig und
hast zuviel Honig, Butter und Brot gegessen?“
[JJ.01_175,05] Und das Kindlein sprach: „Zahlt sich's wohl aus! So ein Töpfchen,
das der Jakob leicht in seiner Faust verbergen kann!
[JJ.01_175,06] Dann ein Stückchen Brotes, das man auch nicht dem Winde
preisgeben darf, auf daß er es nicht sobald in die Luft erhebe wie ein dürres
Baumblatt!
[JJ.01_175,07] Davon wird man doch sicher nicht sehr gewichtig werden!
[JJ.01_175,08] Ich muß dir sagen, daß Ich im Ernste recht hungrig bin und freue
Mich schon aufs Nachtmahl.
[JJ.01_175,09] Siehe, Joseph und Jonatha haben eher den ganzen Mond gespeist und
sind doch noch hungrig, da sie doch nicht mehr wachsen;
[JJ.01_175,10] wie solle Ich da von der Fliegenjause satt geworden sein, der Ich
doch wachsen muß?!“
[JJ.01_175,11] Und die Maria sprach zum Kinde: „Mein Söhnchen, aber heute bist
Du wieder recht schlimm!
[JJ.01_175,12] Siehe, wenn Joseph und Jonatha den Mond gespeist hätten, da würde
er wohl nimmer so schön vom Himmel herableuchten!“
[JJ.01_175,13] Und das Kindlein aber sprach: „Weib und Mutter! Ich bin nicht
schlimm; sondern du hast Mich nur nicht verstanden!
[JJ.01_175,14] Gehe aber nur hin zu den zweien, und sie werden dir sogleich auch
etwas vom Monde zum Verkosten geben!“
[JJ.01_175,15] Hier lächelte Maria und ging hin zum Joseph, und grüßte ihn, und
fragte ihn, was er da gar so vertieft nachdenke,
[JJ.01_175,16] und warum er mit Jonatha gar so emsig nach dem Vollmonde blicke.
[JJ.01_175,17] Und der Joseph sah sich kaum nach der Maria um und sprach: „So
störe mich nicht in meiner Betrachtung;
[JJ.01_175,18] denn ich möchte nun etwas entziffern mit dem Jonatha! Jesus hatte
uns Winke gegeben, die müssen ausgearbeitet werden; daher sei ruhig nun, und
störe uns nicht!“
[JJ.01_175,19] Hier sah die Maria das Kindlein an, das da heimlich lächelte, und
das Kindlein sprach:
[JJ.01_175,20] „Siehst du nun, wie Joseph und Jonatha noch am Monde zehren?
Warte aber nur hier ganz geduldig, und lasse Mir durch den Jakob ein Stückchen
Brotes holen und eine Pomeranze!
[JJ.01_175,21] Denn das Zehren am Monde von Joseph und Jonatha macht Mich noch
hungriger, als Ich ohnehin schon bin.“
[JJ.01_175,22] Und die Maria sandte sogleich den Jakob und ließ bringen, was das
Kindlein verlangte.
[JJ.01_175,23] Darauf aber fragte sie das Kindlein, bis wann die beiden mit
ihrer Mondesentzifferung fertig würden.
[JJ.01_175,24] Und das Kindlein sprach: „Habe nur acht; heute und jetzt sogleich
wird eine Verfinsterung des Mondes kommen, die wird bei drei Stunden währen!
[JJ.01_175,25] Die zwei aber wissen nicht, woher diese rührt; darum werden sie
meinen, sie hätten im Ernste den Mond verzehrt, besonders Jonatha!
[JJ.01_175,26] Und diese Erscheinung wird dieser Betrachtung ein Ende machen.
[JJ.01_175,27] Darnach werde Ich sie schon wieder belehren, wie Ich es sonst zu
tun pflege, wenn es not tut.
[JJ.01_175,28] Aber zuvor müssen beide recht tüchtig anrennen und müssen ihre
Berechnungen zu Staube werden sehen!“
[JJ.01_175,29] Als das Kindlein kaum diese Worte ausgeredet hatte, da bekam der
Mond schon einen dunkelbraunen Einbug.
[JJ.01_175,30] Jonatha bemerkte das zuerst und zeigte es dem Joseph an.
[JJ.01_175,31] Joseph bemerkte natürlich ganz überrascht dasselbe und noch mehr,
da die Verfinsterung in jedem Augenblicke wuchs.
[JJ.01_175,32] Da wurde bald beiden bange, und Joseph fragte sogleich das Kind:
„Was ist das, was mit dem Monde vorgeht?“
[JJ.01_175,33] Und das Kindlein sprach: „Du siehst ja, daß Ich esse, was willst
du da Mich stören? – Warte, bis Ich mit der Pomeranze also fertig werde wie ihr
mit dem Monde, dann werde Ich schon weiter reden!“
[JJ.01_175,34] Joseph schwieg darauf, und als der Mond sich ganz verfinsterte,
da erschraken beide, und alles mußte sich nun ins Haus begeben, und Jonatha
meinte im Ernste, daß er den Mond verzehrt habe.
[JJ.01_176] 176. Kapitel – Fortsetzung der Mondbetrachtung Josephs und Jonathas.
Ein Licht über den beschatteten Mond.
28. März 1844
[JJ.01_176,01] Im Hause angelangt, sprach der Jonatha zum Joseph: „Bruder! was
wird aus dieser höchst fatalen Geschichte werden?
[JJ.01_176,02] Bei meinem armen Leben, da sieh einmal zum Fenster hinaus! Der
ganze Mond ist bereits bei Botz und Stengel weggezehrt!
[JJ.01_176,03] Und finster ist's nun draußen ganz entsetzlich!
[JJ.01_176,04] Ja, ja, ich habe es aber auch schon öfter von gelehrtesten Heiden
gehört, daß der Mensch die Gestirne des Himmels nicht zählen und auch sonst
nicht zu aufmerksam betrachten solle, –
[JJ.01_176,05] denn da könne es leicht geschehen, daß sie herunterfielen auf die
Erde!
[JJ.01_176,06] Und träfe der Mensch etwa seinen eigenen Leitstern, und fiele
dieser herab, so wäre der Mensch hin und verloren!
[JJ.01_176,07] Der Mond aber ist ja auch ein Gestirn am Himmel und kann
demselben sonderbaren Gesetze unterworfen sein!
[JJ.01_176,08] Und da kann es sein, daß wir ihn getroffen haben, und er fiel
irgendwo teilweise zu Boden auf die Erde; denn ich sah eine Menge Partikel
davonfliegen (Sternschnuppen).
[JJ.01_176,09] Oder wir sind nun vom Monde besessen und werden zu Mondsüchtigen
werden, was für uns eine große Plage wird!
[JJ.01_176,10] Eines davon ist sicher der Fall! Denn daß der Mond nicht mehr
besteht, das kann man mit den Händen greifen; aber wer ihn aufgezehrt hat, oder
wohin er kam, das ist nun eine ganz andere Frage!“
[JJ.01_176,11] Und der Joseph sprach: „Weißt du was, das habe ich wohl schon
öfter gehört, daß zuweilen der Mond wie auch die Sonne verfinstert wird.
[JJ.01_176,12] Und das könnte jetzt wohl auch gar leicht der Fall sein, obschon
ich mich selbst nicht erinnern kann, je etwas dergleichen gesehen zu haben!
[JJ.01_176,13] Das aber habe ich gehört von alten Leuten, daß da zuweilen die
Engel Gottes diese zwei Himmelslichter also putzen wie wir eine Lampe, so der
Docht einen Butzen bekommt,
[JJ.01_176,14] während welcher Arbeit es dann natürlich etwas finster wird auf
der Erde. Und das könnte jetzt wohl auch der Fall sein!
[JJ.01_176,15] Denn die Fabel, daß da ein Drache die beiden Gestirne zu
verschlingen anfängt, ist zu dumm und gehört dem finstersten Heidentume an.“
[JJ.01_176,16] Während sich aber Joseph und Jonatha über den Mond also
besprachen, fing der Mond auf der andern Seite an wieder sichtbar zu werden.
[JJ.01_176,17] Und die Kinder und die Söhne Josephs bemerkten das und sprachen:
„Sehet, sehet, der Mond kommt schon wieder zum Vorscheine!“
[JJ.01_176,18] Die beiden blickten hinaus, und dem Jonatha fiel ein Stein vom
Herzen, weil er nur den Mond wieder zu sehen bekam.
[JJ.01_176,19] Hier fragte wieder der Joseph das Kindlein, wie denn doch solches
zuging.
[JJ.01_176,20] Das Kindlein aber sprach: „Lasset doch den armseligen Mond zuvor
aus dem Schatten, den die Erde wirft, heraustreten, dann erst wollen wir sehen,
ob er sich verändert hat!
[JJ.01_176,21] Die Erde ist ja kein endloser Körper, sondern ist so rund wie die
Pomeranze, die Ich ehedem verzehrte,
[JJ.01_176,22] und schwebet frei und ist um sie ein endloser freier Raum; darum
können der Sonne Strahlen sie allzeit überleuchten auf allen Seiten.
[JJ.01_176,23] Also muß die große Erde ja auch einen Schatten werfen, und kommt
der Mond in diesen, so wird er finster, da sonst auch er von der Sonne
beleuchtet wird. Mehr sage Ich euch aber nicht!“ – Hier sahen Joseph und Jonatha
einander an und wußten nichts darauf zu erwidern.
[JJ.01_177] 177. Kapitel – Jonathas Staunen über die Kugelgestalt der Erde.
Jesus als ,Professor der Naturwissenschaften‘. Vorbereitungen zum Nachtmahl.
29. März 1844
[JJ.01_177,01] Nach einer Weile erst sagte der Jonatha zum Joseph: „Bruder! Wer
aber hätte sich das je auch nur im Traume können einfallen lassen, daß die Erde
eine ungeheuer große Kugel sei?!
[JJ.01_177,02] Wir bewohnen also nur die Oberfläche dieser Kugel?
[JJ.01_177,03] Aber was solle ich aus dem Meere machen? Ist das auch zur Kugel
gehörig – oder schwimmt die eigentlich feste Erdkugel auf demselben?“
[JJ.01_177,04] Hier machte sich das Kindlein auf und sprach: „Auf daß ihr heute
vor lauter Grübeln nicht um den wohltätigen Schlaf kommen möget, so muß Ich euch
schon aus eurem Traume helfen!
[JJ.01_177,05] Tretet näher, und du, Jakob, bringe geschwind eine recht schön
runde Pomeranze!“
[JJ.01_177,06] Als die Pomeranze herbeigeschafft war, da nahm das Kindlein
dieselbe zur Hand und sprach:
[JJ.01_177,07] „Sehet, das ist die Erde! – Ich will aber nun, daß diese
Pomeranze vollends der Erde gleichen solle im kleinsten Maßstabe und solle haben
Berge, Täler, Flüsse, Seen, Meere und auch Ortschaften, wo sie von den Menschen
erbaut sind. – Es werde!“
[JJ.01_177,08] In dem Augenblick befand sich in der Hand des Kindleins eine ganz
vollkommene Erdkugel in kleinem Maßstabe.
[JJ.01_177,09] Man sah das Meer, die Flüsse, die Seen, die Berge und auch die
Städte so ganz natürlich auf dieser Kugel, – die aber freilich durch das „Es
werde!“ hundertmal so groß wie eine Pomeranze ward.
[JJ.01_177,10] Alles drängte sich nun herzu, um diese wunderbare
Kleinerschaffung der Erde zu betrachten.
[JJ.01_177,11] Joseph fand darauf bald Nazareth und Jerusalem und erstaunte über
die außerordentliche Richtigkeit.
[JJ.01_177,12] Die Eudokia fand bald Theben in ihrem Vaterlande und erstaunte
über die Richtigkeit.
[JJ.01_177,13] Also ward auch Rom gefunden und noch eine Menge anderer bekannter
Orte.
[JJ.01_177,14] Über eine Stunde dauerte die Betrachtung dieser Erdkugel und
wollte kein Ende nehmen.
[JJ.01_177,15] Selbst der Maria gefiel diese kleine Erde so gut, daß sie sich
höchlichst erquickte ob deren Betrachtung.
[JJ.01_177,16] Und die acht Kinder, die waren ganz wie versteinert mit ihren
Augen in diese Erdkugel verpicht.
[JJ.01_177,17] Das Kindlein aber erklärte nun umständlich das Wesen der Erde wie
ein Professor der Geographie, und alle verstanden Seine Rede.
[JJ.01_177,18] Als aber das Kindlein mit dieser Erklärung fertig war, da sprach
Es zum Jakob:
[JJ.01_177,19] „Jakob! – nun nehme einen Faden und hänge diese Kugel irgendwo
frei auf, auf daß die Wißbegierigen morgen auch noch eine Arbeit finden sollen!
[JJ.01_177,20] Für heute aber lassen wir diese Erde im Frieden und begeben uns
selbst zur Ruhe, d.h. nach dem Nachtmahle;
[JJ.01_177,21] denn Ich bin hungrig und durstig geworden, während ihr am Monde
und an der Erde gezehret habt!“
[JJ.01_177,22] Und der Joseph befahl sogleich dem Küchenmeister Joel, ein
Nachtmahl zu bereiten und es auf den Tisch zu setzen. Und der Joel ging mit den
andern drei Brüdern und bereitete ein gutes Abendmahl.
[JJ.01_178] 178. Kapitel – Das Abendmahl. Jonathas Verlangen, nach Hause
zurückzukehren, und sein geheimes Vorhaben. Des Kindleins erfolgreiche
Gegenvorstellungen. Jonathas Gehorsam und Heimkehr.
30. März 1844
[JJ.01_178,01] Als das Abendmahl aber bereitet und verzehrt war, da sprach
Jonatha zum Joseph:
[JJ.01_178,02] „Bruder, du wirst wenig Platz haben; darum lasse mich jetzt in
dieser schönen Nacht nach Hause ziehen, allwo für meine große Person auch ein
gehörig großes Lager bereitet ist!
[JJ.01_178,03] Morgen aber will ich schon eine Stunde vor dem Aufgange bei dir
sein!“
[JJ.01_178,04] Joseph aber sprach: „Bruder, wenn du keine andere Sorge hast als
allein die um ein für dich gehörig geräumiges Nachtlager, da magst du keck hier
verbleiben;
[JJ.01_178,05] denn daran solle es in diesem nun meinem Hause keinen Mangel
haben!
[JJ.01_178,06] Siehe da im Vorhause links eine Türe, da ist ein sehr geräumiges
Kabinett!
[JJ.01_178,07] In diesem habe ich für dich schon ein gutes Lager richten lassen!
[JJ.01_178,08] Ich meine, es wird für dich groß genug sein; daher magst du darob
wohl hier verbleiben!“
[JJ.01_178,09] Und der Jonatha sprach: „Bruder, du bist sehr gütig gegen mich,
und ich erkenne es nun nur zu genau, daß ich nirgends mehr daheim bin als hier,
[JJ.01_178,10] und bin auch überzeugt, daß dein Lager für mich groß und übergut
genug sein wird!
[JJ.01_178,11] Aber siehe, es zieht mich etwas ganz gewaltig nach Hause, und das
jetzt auf einmal ganz mächtig also, daß ich lieber fliegen möchte dahin, als
sonst mich zu Fuße bewegen!“
[JJ.01_178,12] Da aber Joseph solches vernahm, da sprach er: „Der Wille ist
dein, und du kannst tun, was du willst; daher kannst du ziehen oder bleiben!“
[JJ.01_178,13] Darauf begab sich Jonatha zum Kindlein und beurlaubte sich
allerdemütigst beim selben.
[JJ.01_178,14] Das Kindlein aber sprach: „Jonatha, wenn du schon durchaus fort
willst, so magst du ja gehen; aber vergesse nicht die Rückkehr!
[JJ.01_178,15] Ich aber sage dir, daß dein diesnächtlicher Zug mit dem großen
Netze dir nichts tragen wird!
[JJ.01_178,16] Ich werde dir aber einen Hai ins Netz treiben, und der wird dich
plagen bis zum Aufgange und wird am Morgen zerreißen dein bestes Fischzeug!
[JJ.01_178,17] Und dennoch wirst du seiner nicht habhaft werden; denn er wird
alle deine Mühe mit einem Schweifschlage ins Wasser zunichte machen!“
[JJ.01_178,18] Als der Jonatha aber solches vom Kindlein vernommen hatte, da
sattelte er plötzlich in seinem Wollen um und sagte zum Joseph:
[JJ.01_178,19] „Bruder, wenn also, da bleibe ich! – Denn siehe, ich wollte dir
morgen ein großes Lägel voll der auserlesensten Fische bringen;
[JJ.01_178,20] und dieser Gedanke zog mich so mächtig nach Hause!
[JJ.01_178,21] Da ich aber nun vernommen habe, wie es mit diesem Zuge ausfallen
solle, so bleibe ich bei dir!
[JJ.01_178,22] Lasse mich daher auf mein bestimmtes Lager bringen, und ich werde
da ganz ruhig schlafen, und geschehe daheim, was da wolle!“
[JJ.01_178,23] Das Kindlein aber sprach: „Jonatha, also gefällst du Mir besser,
als so du dein Herz verbergen willst!
[JJ.01_178,24] Nun aber sage Ich dir: Ziehe nach Hause; denn heute in der
Mitternacht wirst du Mir einen wichtigen Dienst tun!“
[JJ.01_178,25] Darauf erhob sich Jonatha und ging, vom ganzen Hause Josephs
gesegnet, eilends nach Hause. – –
[JJ.01_179] 179. Kapitel – Jonathas guter Empfang bei den Seinen. Jonathas
Ausfahrt auf die hohe See. Die Rettung des schiffbrüchigen Cyrenius und der
Seinen.
1. April 1844
[JJ.01_179,01] Es war aber nach der heutigen Rechnung die zehnte Stunde abends,
als Jonatha nach Hause kam.
[JJ.01_179,02] Da Jonatha aber in dieser Zeit nach Hause kam, da fand er seine
drei Gehilfen mit ihren Weibern und Kindern recht tätig noch und hörte sie
jubeln und also untereinander sprechen:
[JJ.01_179,03] „Das war gut und recht, daß unser Herr verreiste und hat uns
Gelegenheit gegeben, in der wir ihm zeigen können, welch treue Diener seines
Hauses wir sind!
[JJ.01_179,04] Tausend Pfunde Thunfische, tausend Pfunde Störe, drei junge Haie,
zehn Schwertfische, einen Delphin und bei zweihundert Pfunde kleiner edler
Fische haben wir heute gefangen!
[JJ.01_179,05] Welche Freude wird er haben, wenn er solchen Reichtum an Fischen
finden wird!“
[JJ.01_179,06] Hier meldete sich Jonatha, und alles lief ihm wie einem Vater
entgegen und zeigte ihm den glücklichen Fang an.
[JJ.01_179,07] Jonatha belobte sie und küßte sie und sprach darauf: „Da ihr
heute schon so fleißig waret, so gehet nun und bringet die großen Fische, als:
die Haie, die Schwerte, den Delphin und die Störe, gevierteilt in die große
Selchkammer!
[JJ.01_179,08] Und machet aber ja sogleich einen starken Rauch von allerlei
wohlduftendem Gesträuche, auf daß diese Fische wegen der Hitze nicht in Fäulnis
übergehen! Und salzet besonders die Haie und den Delphin gut ein, und sparet
nicht die Meerzwiebeln dabei und den Thymian!
[JJ.01_179,09] Die Thune und die andern kleineren Fische aber gebet in die
großen Lägel!“
[JJ.01_179,10] Und sein erster Gehilfe aber sprach: „O Herr! Was du nun
anbefohlen hast, das ist schon am Tage geschehen, und ist alles schon in der
größten Ordnung!“
[JJ.01_179,11] Da ging der Jonatha hin und überzeugte sich von allem und sprach:
„Kinder und Brüder, das ist kein gewöhnlicher Fang!
[JJ.01_179,12] Da hat eine höhere Kraft mitgewirkt; darum aber wollen wir auch
harren heute bis nach Mitternacht und wollen sehen, ob solche höhere Macht
unsere Kraft darum nicht in Anspruch nehmen wird!
[JJ.01_179,13] Ihr habt die starke Mondesverfinsterung gesehen; das ist ein
sicheres Zeichen, daß heute noch ein Unglück irgend jemandes harret! Darum
wollen auch wir harren bis Mitternacht, ob nicht jemand unserer Hilfe bedürftig
wird!
[JJ.01_179,14] Gehet daher, und machet das große Boot, das ein Segel hat und
zehn starke Ruder, fertig zur Abfahrt!“
[JJ.01_179,15] Und die drei Gehilfen gingen sogleich und taten das.
[JJ.01_179,16] Sie aber waren kaum noch mit der Herstellung des großen Bootes
fertig, da begann schon ein mächtiger Wind das Wasser des Meeres aufzuwühlen.
[JJ.01_179,17] Da sprach Jonatha zu den dreien: „Nun haben wir keine Zeit mehr
zu versäumen! – Rufet eure zehn Söhne und stellet sie an die Ruder! – Du,
Fischmeister, ergreife das Steuerruder, und ich selbst werde die vorderen zwei
großen Ruder bearbeiten!
[JJ.01_179,18] Das Segel aber ziehet ein, da wir einen Gegenwind haben; und also
gehe es sogleich im Namen des Allmächtigen hinaus auf die hohe See!“
[JJ.01_179,19] Als sie also eine gute Stunde hinausgesteuert und viel zu tun
hatten mit den starken Wellen, da vernahmen sie ein starkes Angstgeschrei von
der hohen, mächtig wogenden See.
[JJ.01_179,20] Jonatha ruderte mutigst darauf los und erreichte in einer
Viertelstunde ein großes römisches Schiff, das auf einer Sandbank festsaß und
vom Wogendrange schon sehr geneigt war.
[JJ.01_179,21] Sogleich wurden Strickleitern geworfen, und alle Menschen – bei
hundert an der Zahl – wurden gerettet, an deren Spitze eben unser Cyrenius sich
befand mit der Tullia und mit dem Maronius Pilla.
[JJ.01_180] 180. Kapitel – Die glückliche Landung. Jonathas Freude. Des Cyrenius
Dank. Die Schiffbrüchigen in Ruhe. Die Bergung des festgelaufenen Schiffes. Das
gemeinschaftliche Frühstück. Jonathas Demut. Die Ankunft Josephs und der Seinen.
2. April 1844
[JJ.01_180,01] Cyrenius aber fragte den riesenhaften Retter, wie wohl die Gegend
hieße, in der er sich jetzt befände, und wie er – als der Retter.
[JJ.01_180,02] Und Jonatha erwiderte: „Herr! Du mußt ein Fremder sein, da dir
die Gegend unbekannt ist, die doch so viel Charakteristisches in sich hat?“
[JJ.01_180,03] Und der Cyrenius sprach: „Freund! Eine Gegend hat nicht selten
eine Ähnlichkeit mit der andern, und im Zwielichte des Mondes erkennt man nicht
selten die eigne Heimat nicht!
[JJ.01_180,04] Ganz besonders aber geht es mit dem Erkennen der Gegenden dann
schlecht, wenn zuvor das Gemüt mit der Todesangst zu tun hatte!
[JJ.01_180,05] Daher magst du mir wohl kundgeben, wie diese Gegend heißt, in die
mich der entsetzliche Sturm verschlagen hat!“
[JJ.01_180,06] Und der Jonatha sprach: „Lieber Herr! Du weißt ja, daß da eine
Regel ist, nach der man einem Geretteten nicht sogleich sagen darf, wo er ist.
[JJ.01_180,07] Denn – ist er vom Orte seiner Bestimmung weit weg, da wird er zu
traurig, so er solches gleich nach überstandener Gefahr erfährt;
[JJ.01_180,08] ist er aber durch eine zufällige Wendung des Sturmes dennoch nahe
an den Ort seiner Bestimmung verschlagen worden, da könnte auf eine frühere
Todesangst solch eine Freude das Leben kosten!
[JJ.01_180,09] Darum solle der Retter im Anfange verschwiegen sein und erst nach
einer Zeit den Geretteten kundtun, was sie zu wissen verlangen!“
[JJ.01_180,10] Da der Cyrenius aber solche Antwort von dem ihm noch unbekannten
Retter erhalten hatte, da sprach er:
[JJ.01_180,11] „Wahrhaftig, du bist ein edler Retter und hast die rechte
Weisheit dazu; darum steure nur hurtig zu, auf daß wir bald Land bekommen!“
[JJ.01_180,12] Und der Jonatha sprach: „Siehe, die Bucht ist schon da, sie läuft
am Ende in einen schmalen Arm aus.
[JJ.01_180,13] Wären wir auf einem festen ruhigen Punkte, da sähen wir lange
schon meine Fischerhütte!
[JJ.01_180,14] In einer kleinen Viertelstunde sind wir lange schon auf trocknem
Lande; denn der Wind ist uns nun sehr günstig.“
[JJ.01_180,15] Cyrenius war mit dieser Antwort zufrieden, und Jonatha fuhr
pfeilschnell die Bucht hindurch und erreichte in wenigen Minuten das erwünschte
Ufer.
[JJ.01_180,16] Als das Boot am Ufer befestigt war, da stiegen sogleich alle ans
Land, und der Cyrenius dankte laut dem Gott Israels, daß Er ihn gerettet hatte
mit allen seinen Teuren.
[JJ.01_180,17] Als der Jonatha aber solches vernommen hatte, daß Cyrenius, den
er nicht kannte in dieser Zeit, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs preise, da
sprach er:
[JJ.01_180,18] „Mein Freund! Nun bin ich doppelt froh, darum ich in dir einen
Israeliten gerettet habe; denn auch ich bin ein Sohn Abrahams!“
[JJ.01_180,19] Und der Cyrenius sprach: „Das gerade bin ich nicht, sondern ich
bin wohl ein Römer; aber dennoch kenne ich die Heiligkeit deines Gottes und
bekenne Ihn darum ganz allein!“
[JJ.01_180,20] Und der Jonatha sprach: „Das ist noch besser! Morgen wollen wir
mehr davon reden; für heute aber begebet euch zur Ruhe!
[JJ.01_180,21] Siehe, meine Hütten sind geräumig und reinlich! Stroh habe ich
auch in großer Menge, daher machet euch ein Lager; ich aber werde sogleich
wieder umkehren und sehen, ob euer Schiff nimmer flott zu machen ist!“
[JJ.01_180,22] Der Cyrenius sprach zwar: „Freund, da ist ja morgen auch noch
Zeit!“
[JJ.01_180,23] Jonatha aber sagte: „Morgen ist Sabbat; da heißt es von aller
knechtlichen Arbeit ruhen! Darum muß vor dem Aufgange noch alles in Ordnung
gebracht werden!“
[JJ.01_180,24] Darauf bestieg Jonatha mit seinen Gehilfen wieder das Boot und
fuhr, da sich der Wind etwas gelegt hatte, um so beschleunigter hinaus zum
Schiffe des Cyrenius und hatte mit der Flottmachung desselben um so weniger zu
tun, da ihm die Flut des Meeres bei Gelegenheit des Vollmondes gut zustatten
kam.
[JJ.01_180,25] Er ergriff sogleich das Schlepptau, befestigte es ans Boot und
ruderte voll Freude in die ziemlich tiefe Bucht und brachte so das ganze große
Schiff in seinen sicheren Hafen und ließ es befestigen am Ufer mittels eines
sehr langen Taues, da er nicht zum Anker kommen konnte.
[JJ.01_180,26] Nach dieser gut zweistündigen Arbeit begab sich Jonatha schon
ziemlich am hellen Morgen nach Hause, legte sich auf sein Lager und ruhte drei
Stunden lang mit seinen Gehilfen.
[JJ.01_180,27] Auch der Cyrenius und sein Gefolge ruhten und schliefen ziemlich
lang in den Morgen hinein.
[JJ.01_180,28] Als der Jonatha wohlgestärkt erwachte, da lobte und pries er Gott
in dem Kinde Josephs und gedachte, was Dasselbe zu ihm geredet hatte.
[JJ.01_180,29] Darauf befahl er den Weibern, sogleich die besten Thunfische – bei dreißig an der Zahl
– zu schlachten und zu rösten für die vielen Gäste, zu
welcher Arbeit er selbst mit allen seinen Gehilfen den Weibern behilflich war.
[JJ.01_180,30] Als nach einer Stunde das Frühstück bereitet war, ging Jonatha
selbst in die Hütten und weckte seine geretteten Gäste.
[JJ.01_180,31] Cyrenius war wohl zuerst wach und fand sich ganz gestärkt und
heiter und fragte den Jonatha auch sogleich, ob er das Schiff wohl noch
getroffen habe?
[JJ.01_180,32] Und Jonatha sprach: „Erhebe dich und sehe zu diesem Fenster
hinaus!“
[JJ.01_180,33] Und der Cyrenius erhob sich sogleich, sah hinaus und sah sein
großes Schiff ganz wohl erhalten im Hafen.
[JJ.01_180,34] Da ward er überfroh, ja dankbarst gegen den riesigen Retter
Jonatha gerührt, und sprach:
[JJ.01_180,35] „O Freund! Solche Tat kann nicht gemein belohnt werden; wahrlich
diese Tat will ich auf eine Art belohnen, wie sie nur ein Kaiser zu lohnen
vermag!“
[JJ.01_180,36] Jonatha aber sprach: „Freund, lasse das jetzt gut sein; komme
aber mit deinem Gefolge zum Frühstücke!“
[JJ.01_180,37] Und der Cyrenius sprach, sich hoch verwundernd: „Was, du willst
uns auch noch bewirten? – O du edler Mann! – Werde ich erst erfahren von dir, wo
ich bin, und wer du bist, dann sollst du auch erfahren, wer ich bin, und ein
großer Lohn solle dir dann werden!“
[JJ.01_180,38] Darauf erhob sich alles vom Lager und folgte dem Jonatha in die
große Hütte, allwo schon das Frühstück der Gesellschaft harrte; und alle aßen
die wohlbereiteten Fische mit großer Lust und rühmten den Jonatha über die
Maßen.
[JJ.01_180,39] Jonatha aber sagte: „O rühmet nicht mich; denn an allem dem hat
jemand anderer – und nicht ich – das große Verdienst!
[JJ.01_180,40] Ich war nur ein plumpes Werkzeug Dessen, der mich also beschickt
hatte und hat mir vorangezeigt, daß ich in dieser Nacht einen wichtigen Dienst
werde zu versehen bekommen.
[JJ.01_180,41] Und also war es denn auch; ich fand dich in großer Not und ward
dir zum Retter, und das war der Wille des Allerhöchsten!
[JJ.01_180,42] Diesen heiligen Willen habe ich erfüllt, und das Bewußtsein, den
Willen Gottes aus Liebe zu Ihm Selbst erfüllt zu haben, ist mein hoher Lohn, – und wärest du ein Kaiser selbst, so könntest du mir keinen höhern geben!
[JJ.01_180,43] Daher bitte ich dich auch, an keine andere Belohnung bei dir
selbst zu denken.
[JJ.01_180,44] Bringe nur dein schönes und großes Schiff wieder in Ordnung; und
so ich erfahren werde von dir den Ort deiner Bestimmung, da werde ich dir noch
obendrauf mit Rat und Tat an die Hand gehen!“
[JJ.01_180,45] Hier sprach der Cyrenius: „Freund! das sollst du gleich erfahren!
[JJ.01_180,46] Siehe, der Ort meiner Bestimmung für diesmal ist Ostracine in
Ägypten; denn ich bin der Statthalter und ein Bruder des Kaisers – mein Name ist
Cyrenius Quirinus!“
[JJ.01_180,47] Bei diesen Worten fiel Jonatha auf die Knie nieder und bat um
Gnade, wenn er sich etwa in etwas vermessen hätte.
[JJ.01_180,48] Als aber der Cyrenius den Jonatha aufrichten wollte, da kam
Joseph mit seiner ganzen Genossenschaft, den Jonatha zu besuchen, weil dieser
sich versprochenermaßen so lange nicht einfinden wollte beim Joseph.
[JJ.01_181] 181. Kapitel – Jonatha und Cyrenius im Gespräch. Josephs
Verwunderung über das fremde Schiff und Jonathas Erklärung. Des Lebensretters
abergläubische Vorsicht und seine Belehrung. Das ergreifende Wiedersehen
zwischen dem Kindlein und Cyrenius.
3. April 1844
[JJ.01_181,01] Joseph aber ging nicht alsogleich in die Hütte, sondern er sandte
einen Boten hinein und ließ es dem Jonatha melden, daß er hier sei.
[JJ.01_181,02] Jonatha erhob sich bald und sprach zum Cyrenius:
[JJ.01_181,03] „Kaiserlich-Königliche Consulische Hoheit! Ich bitte noch einmal
um Vergebung, so ich etwa irgend mich an dir vergangen habe durch eine
gutgemeinte Grobheit!
[JJ.01_181,04] Denn wie bei mir sonst alles massiv ist, so ist auch bei manchen
Gelegenheiten meine Zunge!
[JJ.01_181,05] Jetzt aber muß ich wieder hinaus; denn mein Nachbar und mein
allerwürdigster Freund hat mich heute heimgesucht!“
[JJ.01_181,06] Und der Cyrenius sprach zum Jonatha: „O Freund! du mein teuerster
Lebensretter! Tue nach deinem Wohlgefallen, und sehe nicht auf mich, deinen
Schuldner!
[JJ.01_181,07] Ich werde mich jetzt hier nur etwas besser ankleiden und dann
sobald selbst dir nachkommen.“
[JJ.01_181,08] Nun verließ Jonatha den Cyrenius und begab sich schnell hinaus,
um den Joseph zu empfangen.
[JJ.01_181,09] Joseph aber ging unterdessen etwas uferabwärts, wo das Schiff
war, um es näher zu betrachten.
[JJ.01_181,10] Und der Jonatha eilte dem Joseph und seiner Genossenschaft nach
und holte sie auch bald ein.
[JJ.01_181,11] Als sich die beiden begrüßt hatten und Jonatha das ihm zulaufende
Kindlein auf seine Arme nahm und Es liebkosete,
[JJ.01_181,12] da fragte Joseph ganz verwundert den großen Freund:
[JJ.01_181,13] „Aber Bruder, sage mir doch – woher hast du das Schiff?
[JJ.01_181,14] Oder sind im selben Gäste, Reisende angekommen?
[JJ.01_181,15] Fürwahr, das ist ein Prachtschiff, wie man solcher Art Schiffe
nur aus Rom kommen sieht!“
[JJ.01_181,16] Und der Jonatha sprach: „O Freund, siehe, darum mußte ich gestern
noch deine Villa verlassen!
[JJ.01_181,17] Ein Sturmwind hatte gestern ein römisches Schiff auf eine
Sandbank außer der Bucht gesetzt.
[JJ.01_181,18] Meiner Mühe – durch die Gnade dieses meines Kindchens – ist es
gelungen, das Schiff vor dem sicheren Untergange zu retten.
[JJ.01_181,19] Die Geretteten, bei hundert an der Zahl, befinden sich noch in
meiner Wohnung, die glücklicherweise für sie hinreichend geräumig ist;
[JJ.01_181,20] Und ich denke, sie werden heute noch abfahren, da der Ort ihrer
Bestimmung glücklicherweise ohnehin unsere Stadt selbst ist, wie sie mir sagten.
[JJ.01_181,21] Sie wissen zwar noch nicht, wo sie sich befinden; denn das muß
man den Geretteten ja nicht sogleich kundtun.
[JJ.01_181,22] Wann sie aber fortreisen werden, dann werde ich ihnen schon
ohnehin den Wegweiser machen!“
[JJ.01_181,23] Und der Joseph fragte den Jonatha, ob die Geretteten nicht
kundgaben, wer und woher sie wären.
[JJ.01_181,24] Der Jonatha aber antwortete: „Du weißt ja, daß man nicht aus der
Schule schwätzen darf;
[JJ.01_181,25] denn solange die Geretteten nicht fort sind, dürfen ihre Namen
nicht verraten werden, weil ihnen das bei der künftigen Reise schädlich sein
könnte!“
[JJ.01_181,26] Hier sagte das Kindlein zum Jonatha: „O Mann! du hast wohl ein
edles Herz, in dem keine Falschheit wohnt;
[JJ.01_181,27] aber was da so manchen alten Aberglauben betrifft, da bist du
noch sehr reich!
[JJ.01_181,28] Hier aber ist dennoch besser zu schweigen, als zu reden; denn in
wenig Augenblicken wird sich die Sache ohnehin aufklären!“
[JJ.01_181,29] Als das Kindlein aber solches geredet hatte, da auch trat der
Cyrenius mit seinem Gefolge aus der Hütte und begab sich gegen das Schiff, also
genau an die Stelle, da sich Joseph befand.
[JJ.01_181,30] Als er nun dahin kam, da sprach er zur Tullia: „Weib! Da sieh
einmal hin! – Ist die Gesellschaft dort bei unserem Retter nicht ganz der
gleich, derentwegen wir nach Ostracine reisten?!
[JJ.01_181,31] Bei Gott dem Lebendigen! Ich habe noch nie etwas Ähnlicheres
gesehen! – Und siehe, unser Wirt hat auch soeben ein Kindlein auf den Armen, das
dem heiligen völlig gleicht, das unser himmlischer Freund in Ostracine hat!“
[JJ.01_181,32] Hier verlangte das Kindlein auf die Erde gesetzt zu werden und
lief, als Es frei war, sogleich dem schon sehr nahe kommenden Cyrenius entgegen.
[JJ.01_181,33] Und der Cyrenius blieb stehen und betrachtete mit großer
Aufmerksamkeit das ihm zulaufende Kindlein.
[JJ.01_181,34] Das Kindlein aber sprach, als Es etwa drei Schritte noch vom
Cyrenius abstand:
[JJ.01_181,35] „Cyrenius, Cyrenius, Mein lieber Cyrenius! – Siehe, wie Ich dir
entgegeneile; warum eilest denn du nicht auch also Mir entgegen?!“
[JJ.01_181,36] Hier erkannte Cyrenius das Kindlein, fiel sogleich auf die Knie
samt der Tullia nieder und schrie förmlich:
[JJ.01_181,37] „O mein Gott, o mein Herr! – – Wer – wo – bin ich denn, daß Du – o mein Gott!
– Du – mein Schöpfer, mein Leben, der Du allein mir alles, alles
bist, in diesem mir noch fremden Orte mir entgegenkommst?!“
[JJ.01_181,38] Das Kindlein aber sprach: „Mein lieber Cyrenius, du bist schon am
rechten Orte; denn wo Ich bin, da ist schon der rechte Ort für dich! – Siehe,
dort kommt ja schon der Joseph, die Maria, die Eudokia, Meine Brüder und deine
acht Kinder!“
[JJ.01_181,39] Hier sprach der Cyrenius: „O Du mein Leben, da ist zuviel
Seligkeit auf einmal für mich!“ – Darauf fing er an zu weinen vor Seligkeit und
konnte nicht reden vor zu heiliger Empfindung.
[JJ.01_182] 182. Kapitel – Vom Beugen des Herzens statt der Knie. Die Begrüßung
Josephs durch Cyrenius. Vom Kreuzessegen und Triumph des Gottvertrauens. Des
Cyrenius Freude über die Nähe Ostracines.
12. April 1844
[JJ.01_182,01] Nun kam auch der Joseph herbei und weinte samt der Maria vor
Freuden, daß er nach zwei Jahren wieder einmal seinen Freund Cyrenius zu sehen
bekam.
[JJ.01_182,02] Das Kindlein aber sagte zum Cyrenius: „Cyrenius! es ist genug, so
du in aller Liebe dein Herz vor Mir beugest;
[JJ.01_182,03] deine Knie aber magst du gerade halten! Denn siehe, du hast viel
Gefolge bei dir, das Mich noch nicht kennt, und du sollst Mich nicht verraten
durch solche Stellung!
[JJ.01_182,04] Daher erhebe dich vom Boden und mache, wie es da macht der
Joseph, der Jonatha, die Maria und alle die andern; auch dein Weib solle sich
aufrichten!“
[JJ.01_182,05] Darauf erhob sich Cyrenius mit der Tullia, nahm sogleich das
Kindlein auf seine Arme und kosete Es.
[JJ.01_182,06] Mit dem Kindlein auf dem Arme trat er erst dem Joseph näher und
sprach:
[JJ.01_182,07] „Sei mir vom Grunde meines Herzens aus gegrüßet! – Wie überaus
oft hat sich mein Herz nach dir gesehnt!
[JJ.01_182,08] Allein die fatalen Staatsgeschäfte haben sich im Verlaufe dieser
zwei Jahre so sehr gehäuft, daß ich nimmer Zeit zu gewinnen wußte, um dieser
hohen heiligen Forderung meines Herzens nachzukommen.
[JJ.01_182,09] Nun erst hatte ich alles so weit in Ordnung gebracht, daß ich auf
eine kurze Zeit dich, meinen heiligen Freund, besuchen konnte.
[JJ.01_182,10] Aber selbst jetzt, da ich dem Drange meines Herzens nachkam, wäre
ich beinahe zugrunde gegangen, so nicht ganz sicher dieses heiligste Kindlein
mir einen Retter entgegengesandt hätte!
[JJ.01_182,11] O mein Freund und Bruder! Ich habe in diesen zwei Jahren gar viel
ausgestanden!
[JJ.01_182,12] Verfolgung, Verrat, Verschwärzung beim Kaiser und viele andere
höchst unangenehme Dinge hatte ich zu bestehen.
[JJ.01_182,13] Aber ich dachte dabei allzeit an das, was mir einmal vor zwei
Jahren das heiligste Kindlein gesagt hatte, nämlich: daß Es diejenigen zupfe und
kneipe, die Es liebhat.
[JJ.01_182,14] Und fürwahr, alle die Stürme um mein Gemüt herum waren im Ernste
nichts als lauter Liebkosungen dieses meines Herrn aller Herren!
[JJ.01_182,15] Denn wo immer sich eine Woge wider mich erhob und mich mit Haut
und Haaren zu verschlingen drohte,
[JJ.01_182,16] da auch zerschellte sie an einer noch mächtigeren Gegenwoge, und
es blieb nichts als nur ein eitel leerer Schaum zurück.
[JJ.01_182,17] Und so bin ich nun auch hier nach einer ausgestandenen großen
Gefahr, die alles zu verschlingen drohte, ganz wohlbehalten angelangt und
befinde mich nun in deiner mir so überheiligen Gesellschaft; und aller Sturm,
der mich ängstigte, hat sich wie zu einer ewigen Ruhe gelegt!“
[JJ.01_182,18] Hier umarmte der Joseph den Cyrenius und sprach: „Ja, Bruder im
Herrn, wie du nun geredet hast, also ist es auch!
[JJ.01_182,19] Ich wußte im geheimen ja allzeit darum, was mit dir vorging; aber
ich lobte darum allzeit den Herrn, daß Er dich also liebhatte.
[JJ.01_182,20] Nun aber siehe dorthin gegen Mittag und Morgen, und du wirst
leicht die Stadt und noch leichter deine Villa erkennen!
[JJ.01_182,21] Lasse daher dein Schiff versorgen und ziehe mit mir; daheim erst
wollen wir uns so recht herzlich ausplaudern!“
[JJ.01_182,22] Als der Cyrenius hinblickte und gar bald die Villa erkannte, da
ward es völlig aus bei ihm, und er konnte sich nicht genug verwundern über alles
das.
[JJ.01_183] 183. Kapitel – Des Cyrenius Reisebegebnisse und seine Bitte um
Aufschluß an Joseph. Josephs ausweichende Antwort. Des unbefriedigten Cyrenius
Aufklärung durch das Kindlein. Der allgemeine Aufbruch zur Villa Josephs.
13. April 1844
[JJ.01_183,01] Als sich der Cyrenius so recht durchgewundert hatte, da er sich
nach allen Seiten hin von der Richtigkeit überzeugt hatte, da erst fing er ganz
verblüfft wieder ordentlicher zu reden an und sprach zum Joseph:
[JJ.01_183,02] „Ja, du mein erhabenster Freund und Bruder, es geschehe sogleich
nach deinem Verlangen;
[JJ.01_183,03] aber zwei Dinge müssen eher noch berichtiget sein!
[JJ.01_183,04] Fürs erste muß mein großer Retter belohnt sein – und das auf eine
kaiserliche Art!
[JJ.01_183,05] Und fürs zweite muß ich von dir eher noch erfahren, wie es so
ganz eigentlich möglich war, daß ich gerade hierher verschlagen ward, dahin ich
es am allerwenigsten vermeinte!
[JJ.01_183,06] Denn siehe, schon von Tyrus angefangen, hatte ich stets einen
starken Ostwind, der sich nach und nach in einen förmlichen Orkan umwandelte!
[JJ.01_183,07] Ich ward von diesem widrigen Winde bereits zehn volle Tage auf
der hohen See – Gott weiß es, wo überall – herumgetrieben.
[JJ.01_183,08] Als ich aber mit der Hilfe dieses großen Retters gestern in der
Mitternacht endlich einmal wieder Land unter meine Füße bekam, da dachte ich
mich in Spanien zu befinden, und zwar nahe an den Säulen des Herkules!
[JJ.01_183,09] Und – nun bin ich anstatt im vermeinten Spanien genau da, wohin
ich so ganz eigentlich habe kommen wollen!
[JJ.01_183,10] O Bruder, o Freund! – nur einen kleinen Aufschluß gebe mir
darüber!“
[JJ.01_183,11] Und der Joseph sagte: „Freund, lasse aber doch dein Schiff eher
von deinen Leuten untersuchen, ob alles in Ordnung ist;
[JJ.01_183,12] dann erst will ich dir mit der Gnade des Herrn über deine
Seefahrt etwas kundtun!“
[JJ.01_183,13] Und der Cyrenius erwiderte dem weisen Joseph: „O Freund! – du
kommst mir heute sehr sonderlich vor!
[JJ.01_183,14] Prüfest du mich? Oder was ist es, das du mit mir vorhast?
[JJ.01_183,15] Ist heute doch der Sabbat deines und meines Herrn, auf den du
sonst überaus viel gehalten hast!
[JJ.01_183,16] Und wahrlich, ich verstehe dich nicht und weiß es auch nicht,
warum du heute mich zu einer Arbeit zwingen willst?!
[JJ.01_183,17] Siehe, Dieser hier, der da heilig, überheilig auf meinen Armen
ruht, hat sicher lange schon mein Schiff geordnet, darum ich Ihn liebe über
alles!
[JJ.01_183,18] Wozu wohl wäre da meine Sorge? – Ich war in großer Gefahr und
sorgte mich viel;
[JJ.01_183,19] aber alle meine Sorge war zu nichts nütze; denn nur Er ganz
allein hat mir Rettung gebracht!
[JJ.01_183,20] Darum will ich mich aber fürder auch um nichts mehr sorgen und
werde das Schiff heute schon ganz gewiß ruhen lassen! – Ist das nicht recht
also?“
[JJ.01_183,21] Und das Kindlein küßte den Cyrenius und sagte: „Joseph hat dich
in Meinem Namen nur versucht, weil du den Jonatha eher belohnen wolltest, als
mit ihm nach der Villa ziehen.
[JJ.01_183,22] Ich aber sage dir, du sollst den Jonatha gar nicht belohnen; denn
Ich Selbst bin ja sein Lohn!
[JJ.01_183,23] Darum mache dich nur auf, und ziehe mit dem Joseph; daheim solle
dir alles klar werden!“ – Und der Cyrenius tat sogleich, was das Kindlein ihm
geraten hatte, und alles zog nach der Villa.
[JJ.01_184] 184. Kapitel – Das erquickende Zusammensein in der schattigen Laube
des Hügels. Josephs weise Auslegung der Meerfahrt des Cyrenius. Wie der Herr die
Seinen führt.
15. April 1844
[JJ.01_184,01] Als mit Ausnahme der Dienerschaft des Jonatha die ganze
Gesellschaft sich in und bei der Villa Josephs befand, da befahl der Joseph
sogleich seinen Söhnen, für ein gutes Mittagsmahl zu sorgen.
[JJ.01_184,02] Und der Jonatha übergab ihnen zu dem Behufe die gute Ladung der
edelsten Thunfische, die er mitgenommen hatte.
[JJ.01_184,03] Nach dieser Beheißung begab sich Joseph mit des Cyrenius
Hauptgefolge und natürlich mit dem Cyrenius selbst, mit Maria, mit Jonatha und
mit dem Kindlein, das der Cyrenius noch auf seinen Armen trug, auf den
Lieblingshügel.
[JJ.01_184,04] Und die Eudokia und die Tullia wie die acht Kinder blieben nicht
im Hause, sondern folgten ebenfalls der Gesellschaft auf den sehr geräumigen
Hügel.
[JJ.01_184,05] Hier angelangt, setzten sich alle auf die von Joseph gemachten
Bänke nieder und erquickten sich unter dem duftenden Schatten von Rosen-,
Myrthen- und Papyrusbäumen.
[JJ.01_184,06] Denn der Hügel hatte zwei Abteilungen: die eine war dicht
umwachsen, diese galt für den Tag;
[JJ.01_184,07] die andere aber war frei und galt nur für die Abend- und
Nachtzeit, um daselbst die frische Luft und eine freie Aussicht über die Gegend
wie über den Himmel zu genießen.
[JJ.01_184,08] Also in der herrlichen Laube des Hügels angelangt und allda Platz
genommen, fragte der Cyrenius den Joseph, ob er ihm jetzt nicht die versprochene
Aufklärung über seine Meeresfahrt geben möchte.
[JJ.01_184,09] Und der Joseph antwortete und sprach: „Ja, Bruder, hier ist der
Ort und die Zeit dazu, und so wolle mich denn anhören!
[JJ.01_184,10] Siehe, der Ostwind stellt dar die Gnade Gottes; diese trieb dich
stürmisch zu Dem, den du nun auf deinen Armen hältst! –
[JJ.01_184,11] Es kennen und erkennen aber noch gar viele des Herrn Gnade nicht,
wann und wie sie wirket.
[JJ.01_184,12] Also erkanntest auch du nicht, was des Herrn allmächtige Gnade
mit dir vorhatte!
[JJ.01_184,13] Du dachtest dich für verloren und meintest, der Herr habe deiner
völlig vergessen;
[JJ.01_184,14] und siehe, als du strandetest auf der Sandbank durch die
mächtigste Gnade des Herrn und glaubtest dich für verloren, da erst hat dich der
Herr mit aller Gewalt ergriffen und hat dich gerettet von jeglichem Untergange!
[JJ.01_184,15] Also aber ist allzeit gewesen und wird ewig sein die Art des
Herrn, diejenigen zu führen, die da waren und sein werden auf dem Wege zu Ihm!
[JJ.01_184,16] Warum aber führte dich der Herr also? – Siehe, als um Tyrus herum
bekannt ward, daß du zu Schiffe hierher gehen wirst, da sammelten sich bezahlte
Meuterer,
[JJ.01_184,17] nahmen Fahrzeuge und wollten dich auf der hohen See mörderisch
überfallen!
[JJ.01_184,18] Da sandte der Herr plötzlich einen starken Ostwind;
[JJ.01_184,19] dieser schob dein Schiff gar schnell vor deinen Feinden hinfort,
daß sie es nimmer zu erreichen vermochten.
[JJ.01_184,20] Da aber deine Feinde dich dennoch nicht aus den Augen ließen,
sondern dich stets nur um so grimmiger verfolgten, da ward des Herrn Gnade über
dich zu einem Orkane.
[JJ.01_184,21] Dieser Orkan ersäufte deine Feinde im Meere und setzte dein
Schiff an rechter Stelle in die Ruhe, allwo dir dann die volle Rettung ward. – Cyrenius!
– verstehst du nun diese deine Meeresfahrt?“ –
[JJ.01_185] 185. Kapitel – Des Cyrenius Dank an das Kindlein für die gnädige
Führung. Wie man gottwohlgefällig beten soll. Der Hauptgrund der Menschwerdung
des Herrn. Des Cyrenius Erstaunen über die Fortschritte der acht Kinder.
16. April 1844
[JJ.01_185,01] Als der Cyrenius aber solches vom Joseph vernommen hatte, da
wandte er sich sogleich an das auf seinen Armen ruhende Kindlein und sprach zu
Ihm:
[JJ.01_185,02] „O Du, dessen Namen meine Zunge nimmer würdig ist auszusprechen!
– Das war sonach lauter Gnade von Dir, Du mein Herr und mein Gott?!
[JJ.01_185,03] Wie, auf welche Weise aber solle ich Dir nun danken, wie Dich
loben und preisen für solche übergroße wunderbarste Gnade?!
[JJ.01_185,04] Was kann ich, ein armer blöder Mensch, Dir, o Herr, wohl
entgegentun, da Du mir so endlos gnädig bist und schützest mich mehr denn Dein
eigen Herz?“
[JJ.01_185,05] Und das Kindlein sprach: „Mein geliebter Cyrenius! Ich hätte dich
noch um vieles lieber, wenn du nur nicht immer vor Mir also aufseufzen möchtest!
[JJ.01_185,06] Was habe denn Ich und du davon, wenn du also seufzest vor Mir?
[JJ.01_185,07] Ich sage dir, sei du lieber heiteren Mutes, und liebe Mich wie
alle andern Menschen in deinem Herzen; da wirst du Mir lieber sein, als so du
immer seufzest für nichts und nichts!“
[JJ.01_185,08] Und der Cyrenius sagte allerzärtlichst zum Kindlein:
[JJ.01_185,09] „O Du mein Leben, Du mein Alles! – Darf ich denn nicht beten zu
Dir, meinem Gott und meinem Herrn?“
[JJ.01_185,10] Das Kindlein aber erwiderte: „O ja, das darfst du wohl; aber
nicht durch allerlei unendliche Exklamationen,
[JJ.01_185,11] sondern allein in deinem Geiste, der die Liebe in dir ist zu Mir,
und in deren Wahrheit, die da ist ein rechtes Licht, das da entströmt der Flamme
der Liebe. – –
[JJ.01_185,12] Meinst du denn, Ich werde durch der Menschen Gebete fetter und
mächtiger und größer, als Ich also ohne solcher Gebete ohnehin es bin!?
[JJ.01_185,13] O sieh, darum habe Ich Mich ja aus Meiner ewigen Unendlichkeit
gestellt in diesen Leib, auf daß Mich die Menschen mehr mit ihrer Liebe anbeten
sollen –
[JJ.01_185,14] und sollen dabei sparen ihren Mund, ihre Zunge und ihre Lippen;
denn ein solches Beten entwürdigt den Anbeter wie den Angebeteten, weil es ist
ein totes Zeug, ein Eigentum der Heiden!
[JJ.01_185,15] Was tust du denn mit deinen guten Freunden und Brüdern, so du mit
ihnen zusammenkommst?
[JJ.01_185,16] Siehe, du erfreust dich über sie und grüßest sie und bietest
ihnen Hände, Brust und Kopf!
[JJ.01_185,17] Desgleichen tue auch mit Mir, und Ich werde von dir ewig nichts
anderes verlangen! –
[JJ.01_185,18] Und nun sei völlig heiter, und sehe dich auch ein wenig nach
deinen Kindern um, und frage sie ein wenig aus, was alles sie schon gelernt
haben,
[JJ.01_185,19] und du wirst selbst eine größere Freude haben daran und wirst
auch Mir eine größere Freude machen, als wenn du hundert Jahre nacheinander
fortseufzen und exklamieren möchtest!“
[JJ.01_185,20] Darauf ward der Cyrenius recht heiter und berief sogleich die
acht Kinder zu sich und fragte sie über so manches aus.
[JJ.01_185,21] Die Kinder aber gaben ihm auf jede Frage so gründlich
kenntnisreiche Antworten, daß er sich darob nicht genug verwundern konnte.
[JJ.01_185,22] Da war es aber auch völlig aus beim Cyrenius vor lauter Freude;
die Kinder aber freuten sich auch, daß sie so gescheit waren, und der Cyrenius
beschenkte sie alle reichlich und lobte den Meister.
[JJ.01_186] 186. Kapitel – Des Knaben Sixtus ,Gegengeschenk‘ an den Vater
Cyrenius: ein Vortrag über das Wesen und die Gestalt der Erde. Die Bestätigung
durch das Jesuskind.
17. April 1844
[JJ.01_186,01] Es trat aber darauf der älteste von den drei Knaben hin zum
Cyrenius und sagte zu ihm:
[JJ.01_186,02] „Vater Quirinus Cyrenius! Da du uns nun ausgefragt hast über so
manches und wir dir keine Antwort schuldig geblieben sind und hattest Freude
darob an uns allen gefunden, –
[JJ.01_186,03] möchtest du für deine Liebe und Sorge für uns nicht auch ein
kleines Gegengeschenk annehmen von mir?“
[JJ.01_186,04] Der Cyrenius lächelte über diese Frage und sprach zum Knaben:
[JJ.01_186,05] „Dein Antrag, mein lieber Sixtus, ist mir sehr erfreulich und
lieb; aber nur mußt du mir die Sache näher beschreiben, mit der ihr mich
beschenken wollt,
[JJ.01_186,06] und ich werde es euch allen dann gleich sagen, ob ich sie
annehmen kann oder nicht!“
[JJ.01_186,07] Darauf erwiderte der Knabe und sprach: „O Vater Quirinus
Cyrenius! Es ist keine Sache, die wir dir zum Geschenke bringen wollen und
können,
[JJ.01_186,08] sondern eine neue Wissenschaft, von der du bis jetzt sicher noch
keine Ahnung hast!“
[JJ.01_186,09] Als der Cyrenius solches von seinem Sixtus vernommen hatte, da
sagte er zu ihm:
[JJ.01_186,10] „Höre, du mein lieber Sixtus, wenn sich die Sache also verhält,
da kannst du mir schenken, soviel du nur immer willst, und ich werde alles
bereitwilligst annehmen!“
[JJ.01_186,11] Nach dieser Äußerung von Seite des Cyrenius sagte der Knabe:
[JJ.01_186,12] „Nun denn, so dir, o Vater Quirinus Cyrenius, das angenehm ist,
so wolle mich denn anhören!
[JJ.01_186,13] Du hast bis jetzt sicher noch nie in der Wahrheit gehört, wie da
unsere Erde aussieht, und was sie für eine Gestalt hat!
[JJ.01_186,14] Was meinst du wohl, welche Gestalt sie hat, die große Erde, die
uns alle trägt und ernährt durch die Gnade Gottes in ihr?“
[JJ.01_186,15] Und der Cyrenius stutzte über diese Frage und wußte nicht, was er
sagen sollte darauf.
[JJ.01_186,16] Nach einer Weile sagte er erst zum Knaben: „Höre, Knabe, deine
Frage setzt mich in eine große Verlegenheit; denn ich kann dir darauf keine
bestimmte Antwort geben!
[JJ.01_186,17] Wir haben wohl allerlei Mutmaßungen über das Wesen der Erde; aber
wo es sich um eine bestimmte Wahrheit handelt, da kann man nicht mit Mutmaßungen
zum Vorscheine kommen!
[JJ.01_186,18] Daher rede nur du jetzt ganz allein, und ich werde dich hören und
dann beurteilen deine Darstellung.“
[JJ.01_186,19] Hier lief der Knabe auf einen Wink des Joseph ins Haus und
brachte ganz behutsam denjenigen Erdglobus, den das Kindlein in der Nacht vorher
wegen der Mondesfinsternis geschaffen hatte aus einer Pomeranze.
[JJ.01_186,20] Als der Cyrenius dieses Produkt erschaute, da verwunderte er sich
und sprach: „Ja, – was ist denn das? Ist das etwa gar das vermeintliche
Geschenk?
[JJ.01_186,21] Du sagtest ja ehedem, das Geschenk bestünde in keiner Sache,
sondern nur in einer wissenschaftlichen Erörterung!?
[JJ.01_186,22] Das aber ist ja eben nur eine Sache und keine wissenschaftliche
Erörterung!“
[JJ.01_186,23] Der Knabe aber sprach: „Lieber Vater Quirinus Cyrenius, das ist
wohl wahr, aber diese Sache kann ich dir nicht zum Geschenke machen, weil sie
nicht mein ist;
[JJ.01_186,24] aber sie ist hier vonnöten, wenn du mich verstehen sollst!“
[JJ.01_186,25] Hier fing der Knabe wie ein Professor mit Hilfe der Erdkugel an,
das Wesen der Erde zu erörtern, und das mit einer solchen Gründlichkeit, die den
Cyrenius ins tiefste Erstaunen versetzte.
[JJ.01_186,26] Und als der Knabe fertig war, sagte das Kindlein zum Cyrenius:
„Also ist es! – Damit dir aber davon ein Andenken bleibe, so solle auch diese
kleine Erde dein sein, bis du einst in Meinem Reiche eine größere überkommen
wirst!“
[JJ.01_187] 187. Kapitel – Des Cyrenius Freude über den zum Geschenk erhaltenen
Erdglobus und seine Bitte hinsichtlich des Augustus. Des Kindleins tiefweise
Entgegnung mit Hinweis auf die göttliche Ordnung.
18. April 1844
[JJ.01_187,01] Der Cyrenius war über dieses Geschenk so außerordentlich erfreut,
daß er sich gar nicht zu helfen wußte vor lauter Seligkeit.
[JJ.01_187,02] Nach einer Weile, als er den herrlichen Globus recht nach allen
Seiten hin und her und auf und ab beschaut und sich überzeugt hatte von der
höchst wichtigen Darstellung aller ihm bekannten Punkte, fing er erst wieder zu
reden an und sprach:
[JJ.01_187,03] „Joseph, das ist denn doch ein überlautes Zeugnis für uns alle
über Den, der einst die Erde erschaffen hat!
[JJ.01_187,04] Denn was wohl ist dem Allmächtigen schwerer, zu erschaffen eine
große Erde – oder zu erschaffen eine so kleine zu unserer Belehrung über die
große, die uns trägt?!
[JJ.01_187,05] Ich meine, das wird wohl ein und dasselbe sein!
[JJ.01_187,06] O Gott, o großer Gott! – welche endlose Fülle der
Vollkommenheiten aller Art muß in Dir wohnen, daß Dir solche Wunderdinge so
höchst leicht möglich sind!?
[JJ.01_187,07] Wer sich in Dich mit seinem Gemüte vertieft, der ist schon selig
auf der Welt!
[JJ.01_187,08] Wer Dich hat und liebend trägt in seinem Herzen, wie endlos
glücklich ist wohl der zu preisen!
[JJ.01_187,09] O wie ekelhaft erscheint mir nun das eitle Getriebe der
Weltmenschen!
[JJ.01_187,10] O du mein armseliger Bruder Augustus, wüßtest du und kennetest,
was ich nun weiß und kenne, wie sehr würde dich dein wankender Thron anekeln!
[JJ.01_187,11] O Du mein kleiner Jesus, Du mein Leben, Du mein Alles! Möchtest
Du denn nicht meinem Bruder durch Deine Allmacht zeigen, wie nichtig und wie gar
entsetzlich schmutzig sein Thron ist?“
[JJ.01_187,12] Das Kindlein aber sprach: „Cyrenius, sehe an alle die Kreaturen
der Erde,
[JJ.01_187,13] und du wirst darunter gute und schlechte finden dir gegenüber!
[JJ.01_187,14] Meinst du wohl, daß sie darum auch Mir gegenüber also sind?
[JJ.01_187,15] Siehe, der Löwe ist ein grausames Tier und schont kein Leben in
seiner Wut!
[JJ.01_187,16] Hast du dieses Tier auch Mir gegenüber also gefunden?
[JJ.01_187,17] Mitnichten – sagst du in deinem Gemüte, denn dieser König der
Wüste rettete mir zwei Male das Leben!
[JJ.01_187,18] Siehe, also steht es auch mit deinem Bruder; er kann nicht sein
wie du, und du nicht wie er.
[JJ.01_187,19] Denn Ich habe darum allerlei Kreatur werden lassen, weil sie
Meiner ewigen Ordnung zufolge also vonnöten ist!
[JJ.01_187,20] Und so mußte es auch geschehen, daß dein Bruder ward, was er ist,
und du auch wurdest, was du bist!
[JJ.01_187,21] So aber dein Bruder spricht: ,Herr! Ich weiß nicht, was ich bin,
und was ich tue, sondern Deine Kraft ist mit mir, und ich handle nach ihrer
Bestimmung!‘ –
[JJ.01_187,22] dann ist dein Bruder gerecht wie du, und du sollst dich um ihn
nicht kümmern; denn dereinst werden eines jeden Werke offenbar werden!“ – Diese
Rede brachte den Cyrenius wieder auf bessere Gedanken über Augustus, und er
betrachtete wieder seine kleine Erde.
[JJ.01_188] 188. Kapitel – Cyrenius beteuert seine Liebe zum Herrn. Die Prüfung:
Tullias Tod. Des Cyrenius tiefe Trauer. Der gerechte Tadel des enttäuschten
Kindleins und seine Wirkung auf Cyrenius.
19. April 1844
[JJ.01_188,01] Als der Cyrenius aber diese Erdkugel abermals mit großer
Aufmerksamkeit betrachtete, da verlangte das Kindlein freigestellt zu werden, um
auf dem Hügel ein wenig hin und her zu hüpfen.
[JJ.01_188,02] Und Cyrenius setzte Es gar sanft auf die Erde und sprach:
[JJ.01_188,03] „O Du mein Leben, Du mein Heil, Du mein Alles! Nur von meinen
Händen gebe ich Dich leiblich frei;
[JJ.01_188,04] aber nimmer, nimmer aus meinem Herzen; denn da lebst Du nunmehr
ganz allein, – ja Du ganz allein bist meine Liebe!
[JJ.01_188,05] Wahrlich, so ich nur Dich, o Du mein Heiland, habe, dann ist mir
die ganze Welt mit allen ihren Schätzen nichtiger als das Nichts selbst!“
[JJ.01_188,06] Hier stand das Kindlein auf, wandte sich wieder zum Cyrenius und
sprach zu ihm:
[JJ.01_188,07] „Ich muß denn doch wieder bei dir verbleiben, obschon Ich recht
gerne ein wenig herumhüpfen möchte, weil du Mich gar so lieb hast!
[JJ.01_188,08] Hättest du fortwährend deine kleine Erde beschaut, siehe, da wäre
Mir bei dir zu sein wohl ein wenig langweilig geworden;
[JJ.01_188,09] aber da du dein Herz wie alle deine Aufmerksamkeit wieder völlig
Mir zugewandt hast, da muß Ich bei dir verbleiben und kann Mich nicht trennen
von dir!
[JJ.01_188,10] Aber höre du, Mein lieber Cyrenius! Was wird denn dein Weib dazu
sagen, wenn sie sicher vernommen hat, daß du Mich ganz allein nur liebst?“
[JJ.01_188,11] Und der Cyrenius sprach: „Herr, wenn ich nur Dich habe, was frage
ich da um mein Weib und um die ganze Welt! – Siehe, das alles ist mir um die
leichteste Münze feil!
[JJ.01_188,12] O Du mein Jesus, welche Seligkeit kann größer wohl sein als
allein die nur: Dich über alles zu lieben und von Dir wiedergeliebt zu werden!
[JJ.01_188,13] Darum möchte ich eher die Tullia verachten wie einen
Heuschreckenzug, bevor ich nur um ein Haarbreit von der Liebe zu Dir weichen
möchte!“
[JJ.01_188,14] Das Kindlein aber sprach: „Cyrenius, so Ich dich aber darob ein
wenig prüfete, denkst du wohl, daß du da beständig verbleiben möchtest?“
[JJ.01_188,15] Und der Cyrenius sprach: „Nach meinem gegenwärtigen Gefühle
dürftest Du wohl die Erde unter meinen Füßen zerstäuben und mir die Tullia
tausendfach nehmen, so es möglich wäre, so würde ich aber dennoch in meiner
gleichen Liebe zu Dir verbleiben!“
[JJ.01_188,16] Hier sank plötzlich die Tullia wie vom Schlage gerührt zu Boden
und ward völlig tot.
[JJ.01_188,17] Alle Anwesenden erschraken heftig. Man brachte sogleich
wohlgegorenen Zitronensaft und frisches Wasser und labte sie;
[JJ.01_188,18] aber es war alle Mühe vergeblich, denn die Tullia war völlig tot.
[JJ.01_188,19] Als der Cyrenius aber sah, daß die Tullia ernstlich tot war, da
verhüllte er sein Angesicht und fing an, sehr traurig zu werden.
[JJ.01_188,20] Nun aber fragte das Kindlein den traurigen Cyrenius: „Cyrenius!
Wie kommst du Mir nun vor? Siehe, noch ist die Erde ganz, und dein Weib ist noch
lange nicht tausend Male getötet, wie du's verlangtest, – und du trauerst, als
hättest du alles in der Welt verloren!
[JJ.01_188,21] Hast du Mich nun nicht gleich wie ehedem, der Ich dir doch alles
war?! – Wie magst du nun trauern gar so sehr?“
[JJ.01_188,22] Hier seufzte der Cyrenius tief auf und sprach gar kläglich: „O
Herr! Ich wußte es ja nicht, wie teuer mir die Tullia war, solange ich sie
hatte; ihr Verlust erst zeigte mir nun ihren Wert!
[JJ.01_188,23] Darum trauere ich – und werde trauern wohl mein Leben lang um
sie, die mir eine so edle und treue Gehilfin war!“
[JJ.01_188,24] Da seufzte das Kindlein tief auf und sprach: „O ihr
wetterwendischen Menschen! Wie wenig Beständigkeit wohnet in eurem Herzen!
[JJ.01_188,25] Wenn ihr schon also seid in Meiner Gegenwart, was werdet ihr dann
erst sein, so Ich nicht unter euch sein werde?!
[JJ.01_188,26] Cyrenius! Was war Ich dir vor einigen Minuten, – und was bin Ich
dir jetzt?
[JJ.01_188,27] Dein Angesicht verhüllest du vor Mir wie vor der Welt, und dein
Herz ist so voll Traurigkeit, daß du kaum vernehmen magst Meine Stimme!
[JJ.01_188,28] Ich aber sage dir: Wahrlich, also bist du Meiner noch nicht wert!
[JJ.01_188,29] Denn wer noch sein Weib mehr liebt denn Mich, der ist Meiner
nicht wert, da Ich doch mehr bin als ein Weib, geschaffen durch Meine Macht!
[JJ.01_188,30] Ich sage dir, berate dich in der Zukunft besser, sonst wirst du
auf dieser Welt Mein Angesicht nimmer erschauen!“
[JJ.01_188,31] Darauf ging das Kindlein zum Joseph hin und sagte zu ihm:
„Joseph! Lasse die Tote ins Kämmerlein bringen und sie legen auf ein
Totengerüst!“
[JJ.01_188,32] Joseph aber sagte: „Mein Söhnchen, wird sie nimmer lebend?“
[JJ.01_188,33] Und das Kindlein sprach: „Frage Mich nicht darum; denn nun ist
noch lange nicht Meine Zeit, sondern tue, wie Ich dir sagte!
[JJ.01_188,34] Siehe, das Weib ward eifersüchtig auf Mich, als Mir Cyrenius
seine Liebe gestand; diese Eifersucht und dieser Liebeneid hat sie so schnell
getötet! Darum frage Mich nicht weiter, sondern lasse sie ins Kämmerlein aufs
Gerüst bringen; denn sie ist wirklich tot!“
[JJ.01_188,35] Joseph ließ darauf sogleich die Leiche ins Haus tragen und
bereiten in einem Seitenkämmerlein ein Gerüst und dann die Leiche legen darauf.
[JJ.01_188,36] Alles ging nun zu Cyrenius hin und tröstete ihn ob diesem
plötzlichen Verluste seines Weibes.
[JJ.01_188,37] Cyrenius aber enthüllte bald wieder sein Gesicht, richtete sich
auf wie ein rechter Held und sprach:
[JJ.01_188,38] „O liebe Freunde, tröstet mich nicht vergeblich; denn ich habe
meinen Trost schon gefunden in meinem eigenen Herzen,
[JJ.01_188,39] und einen besseren könnet ihr mir wohl nicht geben!
[JJ.01_188,40] Sehet, hier hat der Herr mir ja wunderbar dies edle Weib gegeben,
und hier hat Er sie mir wieder genommen; denn Er allein ist ja der Herr über
alles Leben!
[JJ.01_188,41] Ihm sei darum auch alles aufgeopfert, und Sein heiliger Name sei
darum ewig gelobt und gepriesen!
[JJ.01_188,42] Es ist zwar ein harter Schlag auf mein fleischig Herz; aber ich
empfinde ihn nun auch um so belebender für meinen Geist!
[JJ.01_188,43] Denn dadurch hat der Herr mich frei gemacht, und ich gehöre nun
ganz, aller irdischen Bande ledig, Ihm allein zu, und Er allein ist nun der
heilige Einwohner meines Herzens! Darum tröstet mich nicht; Er ist allein ja
mein Trost für ewig!“
[JJ.01_188,44] Hier kam das Kindlein wieder zum Cyrenius und sagte zu ihm:
„Amen! – Also sei es für ewig!
[JJ.01_188,45] Wie ein Hauch werden diese Erdenjahre vergehen, in denen wir noch
hier wirken werden; dann aber wirst du dort sein, wo Ich sein werde ewig unter
denen, die Mich lieben werden dir gleich! – Also sei es ewig, ewig, ewig!“ – – –
[JJ.01_189] 189. Kapitel – Joseph lädt den Cyrenius zum Mahle. Des Cyrenius
Absage unter Hinweis auf seine Sättigung durch den Herrn. Des Kindleins Lob über
Cyrenius.
20. April 1844
[JJ.01_189,01] Es kamen aber nun auch die Söhne Josephs und zeigten an, daß das
Mahl bereitet sei.
[JJ.01_189,02] Und der Joseph ging hin zum Cyrenius und zeigte ihm, der sich
eben mit dem Kindlein wieder vollauf beschäftigte, solches an und fragte ihn, ob
er vor Traurigkeit wohl eine Speise werde zu sich nehmen können.
[JJ.01_189,03] Und der Cyrenius sprach: „O mein erhabener Bruder, meinst du
denn, daß ich irgend einen Hunger habe?
[JJ.01_189,04] Da sieh einmal her! Wie kann man hungrig wohl werden in der
Gesellschaft Dessen, durch den in jedem Augenblicke Myriaden und Myriaden
gesättiget werden!?
[JJ.01_189,05] Was aber meine von dir vermeinte Traurigkeit betrifft, da sage
ich aus der Fülle meiner Liebe zu Dem, der dich und mich erschuf:
[JJ.01_189,06] Wie sollte ich trauern wohl in der Gesellschaft meines und deines
Herrn?!
[JJ.01_189,07] Siehe, da du ein Weizenkorn in die Erde streuest, das da in ihr
verfault, da läßt Er hundert an die Stelle des einen treten!
[JJ.01_189,08] Also ist es ja auch hier der Fall: wo der Herr eines nimmt, da
gibt Er bald tausend dafür!
[JJ.01_189,09] Mir hat Er wohl die eifersüchtige Tullia genommen, dafür aber hat
Er Sich mir Selbst gegeben!
[JJ.01_189,10] O Bruder, welch ein unendlicher Ersatz ist das für meinen so
geringen Verlust!
[JJ.01_189,11] Anstatt meines Weibes darf ich nun Ihn in meinem Herzen ewig mein
nennen! – O Bruder, wie sollte ich da wohl noch um die Tullia trauern können?!“
[JJ.01_189,12] Hier sprach Joseph: „O Bruder! Du bist groß geworden vor dem
Herrn; wahrlich, du bist ein Heide gewesen – und bist nun besser denn viele
Israeliten!
[JJ.01_189,13] Ja, ich selbst muß es vor dir bekennen: Dein Herz und dein Mund
beschämet hoch mich selbst;
[JJ.01_189,14] denn eine solche Ergebung in den Willen des Herrn habe ich an mir
selbst noch nicht erlebt!“
[JJ.01_189,15] Hier richtete Sich das Kindlein auf und sprach: „Joseph! Ich
weiß, warum Ich dich erwählte; doch größer warst du noch nie vor Mir als eben
jetzt, da du deine Schwäche vor einem Heiden bekennest!
[JJ.01_189,16] Ich aber sage dir, da du dem Cyrenius schon das Zeugnis gabst,
daß er besser ist als viele Israeliten:
[JJ.01_189,17] Cyrenius ist hier mehr als Abraham, Isaak und Jakob, und mehr als
Moses und die Propheten, und mehr als David und Salomo!
[JJ.01_189,18] Denn deren Taten waren gerecht durch den Glauben und durch große
Gottesfurcht in ihren Herzen;
[JJ.01_189,19] Cyrenius aber ist ein Erstling, den Meine Liebe geweckt hat; und
das ist mehr als der gesamte alte Bund, der tot war, während Cyrenius nun ganz
lebendig ist!
[JJ.01_189,20] Du kennst des Tempels Herrlichkeit in Jerusalem; er ist ein Werk
Salomonischer Weisheit.
[JJ.01_189,21] Aber dieser Tempel ist tot wie sein Werkmeister, der Mich den
Weibern opferte!
[JJ.01_189,22] Cyrenius aber hat in seinem Herzen mit großer Selbstverleugnung
Mir nun einen neuen, lebendigen Tempel erbaut, in dem Ich wohnen werde ewiglich;
und das ist mehr denn alle Weisheit Salomons!“
[JJ.01_189,23] Hier fing Cyrenius an zu weinen vor Seligkeit, und Joseph wie die
Maria zeichneten sich diese Worte tief in ihre Herzen; denn sie waren voll Kraft
und voll Leben. – –
[JJ.01_190] 190. Kapitel – Des Kindleins Aufforderung an Cyrenius zum Mitessen
und Mitspielen. Des Maronius und der Maria Einwurf. Des Kindleins entkräftigende
Entgegnung. Die Erweckung der Tullia.
22. April 1844
[JJ.01_190,01] Das Kindlein aber sprach darauf wieder zum Cyrenius:
[JJ.01_190,02] „Cyrenius, du bist nun wohl gesättiget in deinem Herzen, und
diese Sättigung wird dir bleiben ewig!
[JJ.01_190,03] Aber dein Leib ist hungrig, und du bedarfst einer Stärkung für
denselben Zweck, zu welchem Zwecke Ich Selbst für Meinen Leib einer natürlichen
Stärkung bedarf.
[JJ.01_190,04] Daher gehe du nur mit Mir hinab ins Haus, allda wollen wir einen
guten Fisch, den heute der Jonatha mitgenommen hatte und den Meine Brüder recht
wohl zubereitet haben, verzehren.
[JJ.01_190,05] Denn Ich muß dir sagen, daß Ich die Fische viel lieber esse als
das öde jüdische Kindskoch; und Ich freue Mich schon recht auf ein gutes
Stückchen!
[JJ.01_190,06] O Ich sage dir, du Mein liebster Cyrenius, die Fische esse Ich
sehr gerne und habe darum auch den Jonatha sehr lieb, weil er ein reiner Fischer
ist und bringt uns öfter die besten Fische!
[JJ.01_190,07] Und weißt du, Mein liebster Cyrenius, nach dem Essen mußt du dann
mit Mir ein wenig spielen, und deine Kinder sollen das auch!
[JJ.01_190,08] Du bist noch nicht alt und kannst darum schon mit Mir ein wenig
herumhüpfen und springen!“
[JJ.01_190,09] Diese rein kindliche Sprache des Kindleins freute den Cyrenius so
sehr, daß er ganz der toten Tullia vergaß, obschon darob seine Gesellschafter
trauerten;
[JJ.01_190,10] und einige aus der Gesellschaft sich aber auch um den Cyrenius zu
sorgen anfingen ob seiner Heiterkeit, die ihnen ein Wahnsinn zu sein schien.
[JJ.01_190,11] Der Maronius selbst ging hin zum Cyrenius und fragte ihn um sein
Befinden.
[JJ.01_190,12] Das Kindlein aber antwortete sogleich anstatt des Cyrenius und
sprach:
[JJ.01_190,13] „O Maronius! Sorge dich nicht um diesen Meinen Freund; denn der
war in seinem ganzen Leben noch nie wahnsinnsfreier als jetzt!
[JJ.01_190,14] Ich wollte, du wärest also gesund wie Cyrenius, da würdest du
sicher keine solche Fragen stellen in Meiner Gegenwart!
[JJ.01_190,15] Gehe aber auch du mit uns hinab zur Tafel; vielleicht heilt dich
ein gutes Stückchen Fisch!“
[JJ.01_190,16] Darauf begab sich Cyrenius mit dem Kindlein, mit Joseph, Maria,
Jonatha, Eudokia und mit den acht Kindern ins Haus, und der Maronius folgte
ihnen, obschon ein wenig wie auf Nadeln gehend;
[JJ.01_190,17] aber die andere große Gesellschaft trauerte und ging nicht zum
Mittagsmahle.
[JJ.01_190,18] Nach dem Essen aber, das allen sehr wohl geschmeckt hatte,
begehrte das Kindlein sogleich wieder hinaus ins Freie, um mit dem Cyrenius und
mit den acht Kindern zu spielen.
[JJ.01_190,19] Maria aber sagte: „Höre Du, mein Jesus! Nun darfst Du wohl nicht
spielen, und die acht Kinder auch nicht; denn fürs erste ist ja Sabbat, und fürs
zweite haben wir eine Leiche im Hause, und da darf man nicht spielen, sondern
schön ruhig und bescheiden sein!“
[JJ.01_190,20] Das Kindlein aber sagte: „Weib, was für ein Geist heißet dich
also zu Mir reden?
[JJ.01_190,21] Ist der Sabbat denn mehr als Ich – und das tote Weib mehr als
Mein Wille?!
[JJ.01_190,22] Damit du aber siehst, daß Ich über dem Sabbat und über dem toten
Weibe stehe und selbiges Mich nicht hindere in Meiner Freude, so erwache es!“
[JJ.01_190,23] Bei diesem Worte erhob sich die Leiche vom Gerüste und kam bald
ins Zimmer.
[JJ.01_190,24] Das Kindlein aber befahl, ihr etwas zu essen zu geben, und ging
dann sogleich mit dem Cyrenius ins Freie, während sich alles über diese
Erweckung höchst zu verwundern anfing.
[JJ.01_191] 191. Kapitel – Jesu Wettlauf mit Cyrenius. Wie Cyrenius es auch zur
Meisterschaft bringt. Wink zur Lebensmeisterschaft.
23. April 1844
[JJ.01_191,01] Als das Kindlein mit dem Cyrenius und den andern acht Kindern
draußen im Freien war, da sagte das Kindlein zum Cyrenius:
[JJ.01_191,02] „Sieh dort einen Baum; wie weit wohl kann er von hier sein?“
[JJ.01_191,03] „Ich meine“, sprach Cyrenius, „bei zweihundert Schritte dürfte er
von hier, gut genommen, entfernt sein!“
[JJ.01_191,04] Und das Kindlein sprach: „So machen wir einen Wettlauf und
überzeugen uns, wer von uns die schnellsten Füße hat!“
[JJ.01_191,05] Und der Cyrenius lächelte und sprach: „O Herr, mit der
natürlichen Kraft wirst Du wohl als der Letzte zum Baume gelangen!“
[JJ.01_191,06] Und das Kindlein sagte: „Das wird erst der Erfolg zeigen – und so
machen wir den Versuch!“
[JJ.01_191,07] Hier liefen diese Renner aus allen Kräften, und das Kindlein war
zuerst am Baume.
[JJ.01_191,08] Beim Baume angelangt, sagte der Cyrenius, fast ganz außer Atem:
[JJ.01_191,09] „O Herr! Ich wußte es ja, daß Du nicht natürlich laufen wirst und
wirst somit das Ziel am ersten erreicht haben!
[JJ.01_191,10] Denn Dich tragen unsichtbare Kräfte; mich aber tragen nur meine
trägen Füße!“
[JJ.01_191,11] Das Kindlein aber sprach: „Cyrenius, hier hast du dich einmal
wieder geirrt; denn deine Füße werden so wie die Meinen von unsichtbaren Kräften
belebt.
[JJ.01_191,12] Aber der Unterschied besteht nur darin, daß Ich ein Meister, du
aber nur ein Schüler der Kräfte bist.
[JJ.01_191,13] So du aber deine Kräfte recht üben wirst, dann wirst auch du sie
wie der Meister gebrauchen können!
[JJ.01_191,14] Nun aber laufen wir zurück, und wir wollen sehen, wer da zuerst
den Platz vor dem Hause erreichen wird!“
[JJ.01_191,15] Hier bog sich der Cyrenius schnell zur Erde, hob das Kindlein auf
und lief mit Ihm auf den Platz – und war bei weitem der Erste am Platze.
[JJ.01_191,16] Allda angelangt, lächelte das Kindlein und sprach: „Das war recht
lustig!
[JJ.01_191,17] Siehe, du hast es gleich zur Meisterschaft gebracht; du sahst den
Meister, nahmst Ihn auf, und wardst somit selbst zum Meister!
[JJ.01_191,18] Siehe aber auch die Lehre daraus: Also wird in der Zukunft
niemand mehr ein Meister aus sich;
[JJ.01_191,19] wenn er aber den Meister aufnehmen wird, da wird er ein Meister
durch den Meister, den er aufgenommen hat.
[JJ.01_191,20] Es liegt wenig daran, wer da schneller laufen kann;
dessenungeachtet aber solle sich ein jeder bestreben, das von Mir gezeigte Ziel
am ersten und als Erster zu erreichen!
[JJ.01_191,21] Wer aber mit der eigenen Kraft den Lebenslauf beginnen wird, der
wird der Letzte sein;
[JJ.01_191,22] wer aber tun wird, wie du eben jetzt beim zweiten Laufe getan
hast, der wird auch dir gleich als der Erste am Ziele sich befinden!
[JJ.01_191,23] Nun aber lasse uns zu einer andern Spielerei übergehen und uns
dabei recht kindlich erheitern!“
[JJ.01_192] 192. Kapitel – Das lehrreiche Grübchenspiel. Die Lebensgrübchen und
ihre Ordnung.
24. April 1844
[JJ.01_192,01] Darauf wandte sich das Kindlein zum Sixtus als dem ältesten der
Knaben von den Cyrenischen Kindern und sagte zu ihm:
[JJ.01_192,02] „Sixtus, gehe und mache da vorne am abgetretenen Wege zehn
Grübchen, ein jedes eine Spanne vom andern entfernt! Was dann damit zu geschehen
hat, das weißt du schon.
[JJ.01_192,03] Dann bringe du die zehn Kügelchen, die der Jakob aus Lehm für uns
zum Spielen gemacht hat, und wir werden dann ein wenig Kügelchen werfen; – du
weißt schon wie, denn du hast es Mich ja gelehrt!“
[JJ.01_192,04] Darauf tat Sixtus sogleich, was das Kindlein verlangte.
[JJ.01_192,05] Als die zehn Grübchen gemacht und die Lehmkügelchen
herbeigeschafft waren, da sagte das Kindlein zum Cyrenius:
[JJ.01_192,06] „Nun lasse Mich nur wieder frei, damit Ich dir erklären kann und
zeigen, wie dieses Spiel geht; aber ihr andern Kinder dürft Mir nun nichts
einreden, weil Ich dem Cyrenius selbst die Sache erklären will!“
[JJ.01_192,07] Hier wandte sich das Kindlein ganz pathetisch an den Cyrenius und
sprach:
[JJ.01_192,08] „Siehe, das Spiel geht also: Drei Schritte vor diesen Grübchen
mußt du stehen, dann ein Kügelchen schieben.
[JJ.01_192,09] Bringst du es durch einen gelungenen Wurf ins zehnte und somit
letzte und entfernteste Grübchen, so bist du des Spieles König; bringst du es
ins neunte, dann bist du ein Minister; im achten bist du ein Feldherr!
[JJ.01_192,10] Im siebenten ein Landpfleger, im sechsten ein Richter, im fünften
ein Priester, im vierten ein Landmann, im dritten ein Vater, im zweiten eine
Mutter und im ersten ein Kind!
[JJ.01_192,11] Wie dann das Spiel weitergeht, das werde Ich dir schon wieder
erklären, wenn die Grübchen besetzt sein werden.“
[JJ.01_192,12] Hier nahm lächelnd der Cyrenius ein Kügelchen und schob es nach
dem Wege, und das Kügelchen rollte sogleich ins erste Grübchen!
[JJ.01_192,13] Und das Kindlein fragte: „Bist du mit deinem Stande zufrieden?
Ansonst kannst du als Anfänger noch zwei Male schieben!“
[JJ.01_192,14] Und der Cyrenius sagte: „Mein herrlichstes Leben, Mein Jesus! Ich
bleibe schon, wo ich nun bin!“
[JJ.01_192,15] Und das Kindlein sprach: „Gut, so schiebet ihr nun darauf, einer
nach dem andern. Ich werde dann zuletzt schieben!“
[JJ.01_192,16] Und die Kinder schoben ihre Kügelchen, besetzten aber nicht alle
Grübchen, sondern sie kamen oft zu zwei und zu drei in ein Grübchen.
[JJ.01_192,17] Am Ende schob das Kindlein und kam wie sonst allzeit ins zehnte
Grübchen! –
[JJ.01_192,18] Da hielt sich ein Mädchen auf und sprach: „Aber so muß denn der
kleine Jesus allzeit ein König sein!“
[JJ.01_192,19] Das Kindlein aber sagte zum Mädchen: „Warum grämst du dich darob?
– hast du doch vor Mir geschoben, warum bist du denn so ungeschickt in deiner
Hand?!
[JJ.01_192,20] Grolle Mir aber nicht darob, sonst werde Ich gleich wieder eine
Maus über dich kommen lassen, vor der du dich so sehr fürchtest!“
[JJ.01_192,21] Darauf sagte das Mädchen nichts mehr und begnügte sich allein in
ihrem zweiten Grübchen!
[JJ.01_192,22] Es war aber das neunte, achte, siebente und sechste Grübchen
unbesetzt; da sagte der Cyrenius zum Kindlein:
[JJ.01_192,23] „Siehe, Du mein Leben! – Nun gibt es noch keinen Minister, keinen
Feldherrn, keinen Landpfleger und keinen Richter!
[JJ.01_192,24] Wer wird nun diese Hauptstellungen übernehmen?“
[JJ.01_192,25] „Diese Stellen“, sprach das Kindlein, „muß nun Ich Selbst
versehen, weil sie niemand besetzt hatte; denn alle die unbesetzten Posten
müssen von einem, vom Königsgrübchen gerechnet, besetzten übernommen werden!
[JJ.01_192,26] Wäre der Minister besetzt, da fielen die drei nachfolgenden
leeren Posten ihm zu; da er aber unbesetzt ist, so fallen die vier Grübchen nun
dem Könige zu! – Da nun aber die Grübchen besetzt sind, so gehen wir nun aufs
eigentliche Spiel über!“
[JJ.01_193] 193. Kapitel – Das Grübchenspiel – ein Spiel des Menschentreibens.
Die vom Kindlein als König des Spiels gegebenen Gesetze.
25. April 1844
[JJ.01_193,01] Und weiter sprach das Kindlein zum Cyrenius: „Nun, da Ich der
König bin, so muß Mir aus euch auch ein jeder wie einem Könige gehorchen!
[JJ.01_193,02] Und so höret nun Meine Gesetze! – Das Grübchen der Priester sei
weise und ernst-gut!
[JJ.01_193,03] Wenn du lachst, wenn jemand anderer lacht, dann fehlest du und
wirst deines Amtes enthoben und fällst in die Strafe dadurch.
[JJ.01_193,04] Du Grübchen des Landmanns sei tätig; wenn du lau bist, wirst du
hungern müssen!
[JJ.01_193,05] Du Vatergrübchen sei voll Liebe gegen deine Kinder, und erziehe
sie recht und gerecht, sonst wirst du ihnen zum Gespötte werden!
[JJ.01_193,06] Du Muttergrübchen sei häuslich und voll Gottesfurcht, auf daß
deine Säuglinge weise werden!
[JJ.01_193,07] Und du mein gutes, liebes Kindergrübchen, bleibe wie du bist: ein
steter Lehrer der Weisen zur Weisheit in Gott!
[JJ.01_193,08] Nun, das sind die Gesetze; diese müssen genau befolgt werden!
[JJ.01_193,09] Will aber jemand eine Gnade von Mir, der muß knieend zu Mir darum
kommen!
[JJ.01_193,10] Nun gehet und handelt, und laßt Mich allein! Du Cyrenius aber
mußt mit Vater und Mutter gehen, weil du ein Kind bist!“
[JJ.01_193,11] Nun gingen ein Mädchen und ein Knabe als Priester ganz ernst und
gravitätisch davon und stellten sich auf einen etwas erhabeneren Platz.
[JJ.01_193,12] Dann gingen zwei Mädchen und ein Knabe als Landleute davon und
tummelten sich dann recht geschäftig am Boden, als hätten sie die wichtigste
Arbeit.
[JJ.01_193,13] Darauf gingen wieder ein Knabe und ein Mädchen, gar ernstlich
sich haltend, davon und stellten den Vater dar, weil der Vater auch in seinem
Herzen eine Mutter sein solle, um ein rechter Vater zu sein.
[JJ.01_193,14] Darauf ging die alleinige Mutter und nach ihr das Kind, nämlich
der Cyrenius; und die Mutter aber scheute sich vor ihrem Kinde und getraute sich
nicht, mit ihm zu reden und ihm weise Lehren zu geben.
[JJ.01_193,15] Sie kehrte sich darum zum Könige und bat Ihn um die Gnade, daß Er
ihr einen andern Posten geben möchte.
[JJ.01_193,16] Der König aber beschied sie zu den Priestern, und diese fingen an
zu lachen, als sie die Mutter auf sich zulaufen sahen.
[JJ.01_193,17] Da berief der König sogleich die Priester und setzte sie ab, weil
sie gelacht haben, da sie ernstweise hätten sein sollen, und steckte sie unter
die Landleute.
[JJ.01_193,18] Die Landleute aber fingen bald untereinander zu hadern und zu
zanken an, und der König berief sie und machte sie recht aus und stiftete Ruhe
unter ihnen.
[JJ.01_193,19] Nun kam wieder die Mutter und begehrte einen andern Posten.
[JJ.01_193,20] Der König aber sprach: „Da du die Liebe darstellst in ihrer
Weisheit, so sei du der Priester!“
[JJ.01_193,21] Nun aber kam der Vater und beklagte sich, daß er kein Weib habe,
weil die Mutter ein Priester ist.
[JJ.01_193,22] Und der König sprach: „So nehme das Kind und gehe hin und werde,
was die Mutter ist!“
[JJ.01_193,23] Und also geschah es; aber der Priester fing an, starke
Achtungsforderungen an die Landleute zu machen.
[JJ.01_193,24] Da fing es bald an darunter und darüber zu gehen, und der König
berief daher alles wieder zurück und sprach: „Ich sehe, daß ihr uneins seid;
daher wollen wir zu einem neuen Schube schreiten!“ –
[JJ.01_194] 194. Kapitel – Cyrenius im Ministergrübchen. Des Mädchens
Unzufriedenheit. Des ,Königs‘ wirksames Einschüchterungsmittel. Das Mäusewunder.
26. April 1844
[JJ.01_194,01] Cyrenius mußte wieder zuerst schieben, und sein Kügelchen kam nun
ins neunte Grübchen, und die Kinder des Cyrenius sagten:
[JJ.01_194,02] „Vater Cyrenius, aber das heißt doch gestiegen: vom Kinde zum
Minister, und das beim ersten Schube!
[JJ.01_194,03] Wenn du noch einmal schieben möchtest, da möchtest du sicher ins
Königsgrübchen kommen!“
[JJ.01_194,04] Und der Cyrenius sprach: „Meine Kinder, ich bin schon zufrieden
mit dieser Würde; nehmt daher nur ihr die Kügelchen, und schiebet!
[JJ.01_194,05] Sehet, daß ihr recht häufig ins Kindergrübchen kommet; denn da
werdet ihr am eigentlichsten und besten Platze sein!“
[JJ.01_194,06] Darauf schob sogleich der Sixtus und kam ins Kindergrübchen und
hatte eine rechte Freude daran.
[JJ.01_194,07] Darauf schob das älteste Mädchen und kam wieder ins zweite
Muttergrübchen.
[JJ.01_194,08] Das Mädchen aber murrte wieder und sprach: „Ach, so muß ich denn
schon wieder die Mutter sein!“
[JJ.01_194,09] Das Kindlein aber ging hin, nahm das Kügelchen aus der Grube, gab
es dem Mädchen wieder in die Hand und sprach:
[JJ.01_194,10] „Da – schiebe noch einmal, du Unzufriedene; sehe aber zu, daß du
nicht wieder Mutter wirst!“
[JJ.01_194,11] Und das Mädchen schob wieder und kam wieder ins nämliche Grübchen
und fing an förmlich zu weinen aus Ärger.
[JJ.01_194,12] Da trat das Kindlein wieder hin zum Mädchen und sprach: „O du
herrschsüchtiges Wesen! Wahrlich, in dir verleugnet sich des Urweibes Natur
nicht!
[JJ.01_194,13] Was solle Ich mit dir tun, du Schlangennatur, du Löwentatze?
[JJ.01_194,14] Nur geschwind eine Maus her, die soll dich recht plagen, dann
wirst du Mir schon anders werden!“
[JJ.01_194,15] Hier fiel das Mädchen sogleich auf die Knie vor dem Kindlein
nieder und sprach weinend:
[JJ.01_194,16] „Mein liebster Jesus, ich bitte dich, nur keine Maus oder Ratte;
denn da fürchte ich mich ganz entsetzlich!
[JJ.01_194,17] Ich will ja tausend Male lieber Mutter sein, als nur eine einzige
Maus sehen!“
[JJ.01_194,18] Das Kindlein aber sprach: „Diesmal will Ich dich mit der Maus
noch verschonen;
[JJ.01_194,19] aber wenn du Mir noch einmal murrest, dann sollen zehn Mäuse auf
einmal über dich kommen und beschnüffeln deine Füße!“
[JJ.01_194,20] Da ward das Mädchen mäuschenstill und sah ganz geduldig zu, wie
die andern Kinder alle andern Grübchen besetzten,
[JJ.01_194,21] und hielt sich nicht auf, als sogar ein zweites Mädchen das
Vatergrübchen besetzte, was ihr sonst allzeit am ärgsten war, so dahin nicht ein
Knabe kam.
[JJ.01_194,22] Am Ende schob das Kindlein wieder und kam schon wieder ins
Königsgrübchen.
[JJ.01_194,23] Da biß sich das Mädchen vor geheimem Ärger in die Lippen.
[JJ.01_194,24] Und das Kindlein lächelte, nahm einen kleinen Zweig und tupfte
mit demselben alle die Kügelchen an und blies dann über die Grübchen, und im
Augenblicke saß statt des Kügelchens eine muntere Maus darinnen.
[JJ.01_194,25] Als das Mädchen dieser Tierchen ansichtig ward, da fing es an
ganz entsetzlich zu schreien und zu kirren und lief davon.
[JJ.01_194,26] Da kam Joseph heraus und fragte: „Was hast Du, mein lieber Jesus,
schon wieder mit dem Mädchen, daß sie gar so schreit?“
[JJ.01_194,27] Und das Kindlein sprach: „Sie ist wie immer neidig; darum habe
Ich wieder einige Mäuse über sie kommen lassen!“
[JJ.01_194,28] Hier lächelte Joseph und ging, das Mädchen wieder zu beguten; die
übrigen Kinder aber setzten nun ruhig ihr Spiel fort, denn sie ersahen nichts
von den schrecklichen Mäusen.
[JJ.01_195] 195. Kapitel – Des Jesusknäbleins Zwiegespräch mit dem eigensinnigen
Mädchen.
27. April 1844
[JJ.01_195,01] Nach einer Weile kam auch das Mädchen wieder, und das Kindlein
fragte sie sogleich, ob sie wieder mitspielen wolle.
[JJ.01_195,02] Das Mädchen aber sagte: „Zusehen will ich wohl, aber mitspielen
will ich nicht; denn mich ärgert geschwind etwas, und dann bist du sogleich
schlimm!
[JJ.01_195,03] Und so mag ich nicht mitspielen; denn ich habe zu große Furcht
vor dir, weil du sogleich mit den Mäusen und Ratten da bist!“
[JJ.01_195,04] Das Kindlein aber sprach: „Ja, warum bist denn du aber auch so
dumm und ärgerst dich über Dinge, bei denen du nichts verlierst, ob sie so oder
so ausfallen?
[JJ.01_195,05] Sei mit dem zufrieden, was dir durchs Los zukommt, und es werden
hinfort keine Mäuse und Ratten über dich kommen!
[JJ.01_195,06] Sieh Mich an! Ich schiebe allzeit zuletzt, und Ich murre nicht,
da Mir doch der Vorrang gebührte!
[JJ.01_195,07] Warum murrest dann du, da du doch als Mädchen die Geduld selbst
sein solltest?“
[JJ.01_195,08] Und das Mädchen sprach: „Was kann denn ich dafür? Warum habe ich
denn ein solches Gemüt? Ich selbst habe es mir nicht gegeben; und so bin ich,
wie ich bin, und kann nicht anders sein!
[JJ.01_195,09] Da ich aber weiß, daß ich also bin, darum spiele ich nun lieber
nicht mit, als daß ich mich wieder ärgern solle, um von dir dann wieder mit den
Mäusen bestraft zu werden!“
[JJ.01_195,10] Das Kindlein aber wandte Sich hinweg und sprach wie zu Sich:
„Siehe, die Kinder der Welt begehren auf mit Dir und tadeln an ihnen Dein Werk,
weil sie Dich nicht kennen!
[JJ.01_195,11] Doch – ein Wurf und noch ein Wurf, und die Kinder der Welt sollen
anders von Dir denken!“ – –
[JJ.01_195,12] Darauf wandte Sich das Kindlein wieder um und sprach zum Mädchen:
„Wem aber gibst du dann die Schuld, daß du also ärgerlich bist und bist nicht
zufrieden mit deinem Lose?“
[JJ.01_195,13] Das Mädchen aber sprach: „Wahrhaftig! – wenn du, mein lieber
Jesus, einen einmal zu fragen anfängst, dann nimmt es kein Ende,
[JJ.01_195,14] und du wirst dadurch dann ein ganz entsetzlich lästiges Kind!
[JJ.01_195,15] Was weiß ich, wer daran schuld ist, daß ich also bin? – Du bist
ja selbst so ein kleiner Prophet und bist ein Wunderkind, das mit Gott reden
kann!
[JJ.01_195,16] Frage Diesen, wenn solches möglich ist, der wird es dir am besten
zu sagen wissen, warum ich also bin!“
[JJ.01_195,17] Hier trat das Kindlein näher zum Mädchen und sprach: „Du Mädchen!
So du Mich kennetest, da würdest du anders reden;
[JJ.01_195,18] da du Mich aber nicht kennest, da redest du, wie dir die Zunge
gewachsen ist!
[JJ.01_195,19] Da siehe einmal hinauf zur Sonne! – was meinst du, was diese ist
und von wem sie ihren Glanz hat?“
[JJ.01_195,20] Das Mädchen aber sprach schon ganz ungeduldig: „Aber daß du
gerade auf mich eine solche Passion hast, mich förmlich zu martern mit deinen
Fragen!
[JJ.01_195,21] Da siehe, dort sind noch sieben, diese haben Ruhe vor dir; gehe
auch einmal zu ihnen, und belästige sie mit deinem ewigen Gefrage!“
[JJ.01_195,22] Und das Kindlein sprach: „O Mädchen! Siehe, diese sind gesund und
bedürfen keiner Arznei; du aber bist krank in deiner Seele, darum möchte Ich dir
wohl helfen, wenn du nicht so stützig wärest!
[JJ.01_195,23] Da du aber so sehr stützig bist, so wird dir schwer zu helfen
sein!
[JJ.01_195,24] Das aber merke du dir: So ein Engel der Himmel Gottes die Gnade
hätte, von Mir dir gleich befragt zu werden, so würde er vor zu großer Seligkeit
also erbrennen, daß er durch sein Liebefeuer die ganze Erde im Augenblicke
zerstören würde!
[JJ.01_195,25] Gehe aber nun von Mir; Ich mag dich nicht mehr, darum du so
stützig und eigensinnig bist!“ – Hier ging das Mädchen davon und weinte
heimlich; Jesus aber dirigierte als König fort Seine Spielgenossen.
[JJ.01_196] 196. Kapitel – Neue Zwistigkeiten im zweiten Spiel. Der dritte
Schub. Das ehrgeizige Mädchen im Ministergrübchen. Die Hetze gegen das Kind. Der
neue, letzte Schub. Alle kommen ins Kindergrübchen, das Kind allein ins
Königsgrübchen. Sein Kügelchen beginnt zu strahlen wie die Sonne, und das Kind
legt das strahlende Kügelchen ins Vatergrübchen. Die Grund-Lebensordnung ist
wiederhergestellt.
29. April 1844
[JJ.01_196,01] Im Verlauf dieses zweiten Spieles aber brachen wieder einige
Zwistigkeiten unter den Spielenden aus.
[JJ.01_196,02] Der Minister ward zu gefürchtet, weil das der Cyrenius selbst
war; der Feldherr wie der Landpfleger und der Richter getrauten sich kaum zu
rühren gegen den Minister und schmollten heimlich bei sich über solche Ordnung.
[JJ.01_196,03] Besonders waren ein paar Mädchen, die da den Landpfleger und den
Richter machten, nicht zufrieden, weil sie ohne des Ministers Einwilligung
nichts tun dürften.
[JJ.01_196,04] Nur Sixtus in seinem Kindergrübchen war vollkommen zufrieden.
[JJ.01_196,05] Das Kindlein aber sah diese Uneinigkeit und berief daher alle
wieder zusammen, teilte die Kügelchen wieder aus und ließ zum dritten Male
schieben.
[JJ.01_196,06] Bei diesem Schube aber kam der Cyrenius ins Königsgrübchen und
das Kindlein ins Kindergrübchen;
[JJ.01_196,07] und alle Kinder hatten eine recht große Freude, daß auch einmal
der zwei Jahre und vier Monate alte Jesus ins Kindergrübchen kam.
[JJ.01_196,08] Hier kam sogar das gewisse Mädchen wieder und sagte zum Kindlein:
„Siehe, da ist der rechte Platz für dich; das freut mich, daß du auch einmal in
dieses langweilige Grübchen kamst!“
[JJ.01_196,09] Das Kindlein aber sprach: „Siehe, das Ministergrübchen ist noch
frei! Nehme ein Kügelchen und schiebe, vielleicht kommst du hinein?“
[JJ.01_196,10] Darauf nahm das Mädchen doch wieder das Kügelchen und schob und
kam richtig ins Ministergrübchen.
[JJ.01_196,11] Als sie sich aber im Ministergrübchen erschaute, da wurde sie
ganz brennend rot vor Freude, daß endlich einmal ihr Ehrgeiz befriedigt worden
ist, und sprach scherzend:
[JJ.01_196,12] „Nun, mein Jesus, freue dich; jetzt werde ich dich schon strafen,
wenn du ungehorsam sein wirst!“
[JJ.01_196,13] Und das Kindlein sagte: „Weißt du, die Kinder sind frei vom
Gesetze; was willst du Mir dann tun, und was machen mit Mir?“
[JJ.01_196,14] Das Mädchen aber sprach: „Laß nur einmal das Spiel anfangen, und
du sollst sogleich sehen, ob der Minister keine Gewalt über die Kinder hat!“
[JJ.01_196,15] Darauf teilte Cyrenius als der König das Spiel aus, und alles
ging auf seine Plätze und übte dort sein Amt aus.
[JJ.01_196,16] Der Minister aber hetzte besonders den Priester gegen das Kind
auf, auf daß er es ja nicht zu sich kommen lassen solle.
[JJ.01_196,17] Also hatten auch die andern Stände kein Gehör für das Kind.
[JJ.01_196,18] Und das Kind lief darum zum Könige und beklagte sich nach der
Regel des Spieles bei ihm ob seiner Verfolgung.
[JJ.01_196,19] Und der König sprach: „O Herr, ich bin in diese Regeln noch zu
wenig eingeweiht!
[JJ.01_196,20] Da nun aber sich schon wieder dieser Regeln ungeachtet eine
Unordnung ins Spiel eingeschlichen hat, da will ich die kleine Gesellschaft
wieder einberufen, und so Du willst, können wir sogleich einen neuen Schub
machen!“
[JJ.01_196,21] Und das Kindlein sprach: „Ja – Cyrenius, einen neuen, und für
ewig den letzten!
[JJ.01_196,22] Und so rufe die Kinder zusammen, auf daß wir die letzte Probe
machen!“
[JJ.01_196,23] Und der Cyrenius berief die Kinder zusammen und verteilte die
Kügelchen, und es ward geschoben.
[JJ.01_196,24] Diesmal aber schoben alle Kinder samt dem Cyrenius ins
Kindergrübchen; nur allein Jesus schob ins Königsgrübchen.
[JJ.01_196,25] Da fing aber Sein Grübchen an sobald glühend zu werden und Sein
Kügelchen zu strahlen wie die Sonne!
[JJ.01_196,26] Und das Kindlein nahm das strahlende Kügelchen und legte es ins
Vatergrübchen und fragte dann den Cyrenius:
[JJ.01_196,27] „Cyrenius! Verstehst du nun schon ein wenig dieses
bedeutungsvollste Spiel?“
[JJ.01_196,28] Und der Cyrenius sprach: „O Herr, Du mein Leben! – wie solle ich
das verstehen?“
[JJ.01_196,29] Und das Kindlein sprach: „So höre Mich denn an; Ich werde es euch
allen gar klar und gründlich deuten!“
[JJ.01_197] 197. Kapitel – Des Spieles Sinn. Die drei Schübe entsprechend der
geschichtlichen Dauer von Adam bis zur Menschwerdung. Der neue und für ewig
letzte Schub: Alle werden im Kinderstande den Vater erkennen. Der Vater wird
dann ewig der Vater sein.
30. April 1844
[JJ.01_197,01] Und das Kind fing sogleich an, wie ein weiser Lehrer einer
Synagoge zu reden und sprach:
[JJ.01_197,02] „Das aber ist die Bedeutung dieses Spiels: Von der Schöpfung, wie
vor ihr war Gott von Ewigkeit der Herr!
[JJ.01_197,03] Der erste Wurf: Die alten Geister erwachen und wollen sich die
Herrlichkeit Gottes nicht gefallen lassen, und das Spiel hat keine Ordnung.
[JJ.01_197,04] Von Adam bis Noah und von Noah bis Moses dauert dieses Spiel.
[JJ.01_197,05] Das stützige Mädchen ist die Liebe – und die Welt, der aber die
Liebe zuwider ist.
[JJ.01_197,06] Zu Noahs Zeiten wird sie durch Drohung gestraft, wie dies Mädchen
mit den Mäusen.
[JJ.01_197,07] Aber die Welt bessert sich nicht, sondern verfällt allmählich
wieder in die Abgötterei und will Altäre, sichtbare Gottheit und viel Zeremonie.
[JJ.01_197,08] Da beruft der Herr das Spiel unter Moses zusammen, und es
geschieht ein zweiter Wurf!
[JJ.01_197,09] Anfangs scheint es: diesmal wird es sich halten; aber nur einmal
dem Moses den Rücken zugewandt, und das goldne Kalb ist fertig!
[JJ.01_197,10] Also fängt das Mädchen erst an recht zu zanken, auf daß es dann
im Ernste gestraft wird mit der Drohung in der Wirklichkeit.
[JJ.01_197,11] Und so war die Sündflut viel mehr eine gar starke Drohung als
gewisserart eine Strafe.
[JJ.01_197,12] Aber die Strafe des Volkes in der Wüste war eine wahre Strafe, da
sie durchs Feuer geschah wie einst zu Sodom.
[JJ.01_197,13] Auf den Wurf geht das Spiel an; aufrichtig gesagt, anfangs geht
es gut, aber aus purer Furcht, denn diesem Spiele fehlt die Mutter, die Liebe,
die davonging, weil sie nicht herrschen durfte.
[JJ.01_197,14] Bis auf diese Zeit dauerte dies mosaische Spiel und rieb sich auf
durch lauter Empörungen und durch die stete Furcht.
[JJ.01_197,15] Wieder ruft der Herr die kleine Schar zusammen; der Wurf
geschieht, und der Herr wird zum Kinde!
[JJ.01_197,16] Da kommt die Liebe und äußert eine gewisse Freude über den
ohnmächtigen Stand des Herrn.
[JJ.01_197,17] Die Liebe wirft nun auch, und es gelingt ihr zu erreichen die
erste Stufe des Thrones.
[JJ.01_197,18] Und da verfolgt sie den Herrn bis zum Tode und läßt Ihm über
tausend und nahe neunhundert Jahre keine Ruhe und hetzt alles wider Ihn auf!
[JJ.01_197,19] Dann aber ersieht die gestellte Weltherrschaft selbst, daß es
sich also nicht mehr tue.
[JJ.01_197,20] Und ein letzter Wurf geschieht: Der Herr wird wieder der alte
Herr; voll glühendsten Eifers wird Sein Stand und voll Gnade Sein Wurf!
[JJ.01_197,21] Und alles Volk wird vom Kinderstande den Vater erkennen, so Er
dem Volke als Solcher in aller Seiner Liebemacht näher und näher rücken wird!
[JJ.01_197,22] Und das wird der letzte Wurf sein, und wird fürder keiner mehr
geschehen! – denn der Vater wird dann ewig der Vater sein!
[JJ.01_197,23] Siehe, das ist dieses Spieles Sinn! – Nun aber gehen wir wieder
ins Haus, um zu sehen, was die erwachte Tullia macht; und so folget Mir alle!“
[JJ.01_198] 198. Kapitel – Marias und Eudokias Bemühungen um die erweckte
Tullia. Ein prophetisches Bild der späteren Marienverehrung. Die wahren
Liebhaber des Herrn.
2. Mai 1844
[JJ.01_198,01] Als unsere Spielgesellschaft in das Haus kam, wurde sie kaum
bemerkt; denn alles war noch vollauf mit der wiedererwachten Tullia beschäftigt.
[JJ.01_198,02] Einige trösteten sie, andere wieder machten sich so um sie her
und beobachteten sie und besorgten einen abermaligen Rückfall in ihren Tod.
[JJ.01_198,03] Selbst Maria und die Eudokia waren mit ihr beschäftigt und
brachten ihr allerlei Stärkungen und Erfrischungen.
[JJ.01_198,04] Und die Söhne Josephs samt dem Jakob waren mit der Bereitung des
Abendmahles beschäftigt.
[JJ.01_198,05] Nur Joseph und der Jonatha saßen im Nebenzimmer auf einer
Strohbank und besprachen sich über so manches aus der Vorzeit;
[JJ.01_198,06] und sie auch waren die einzigen, die die Eintretenden bemerkten,
standen darum auf und gingen dem Cyrenius und dem Kindlein entgegen und
empfingen sie natürlich auf das allerfreundlichste.
[JJ.01_198,07] Das Kindlein lief aber sogleich zum Joseph und sagte zu ihm:
[JJ.01_198,08] „Wie lange werden die Toren die wiedererwachte Tullia noch
trösten, laben und stärken?
[JJ.01_198,09] Sie lebt ja schon lange gut genug und wird nicht wieder sterben
vor ihrer rechten Zeit; was wollen dann die Toren?!“ –
[JJ.01_198,10] Und der Joseph sprach: „Was kümmert uns das? Lassen wir ihnen
ihre Freude; denn wir verlieren ja nichts dadurch!“
[JJ.01_198,11] Und das Kindlein sagte darauf: „Das ist wohl offenbar wahr, und
Ich will Mich darob auch wenig kümmern;
[JJ.01_198,12] aber das, meine Ich, sollte doch auch richtig sein: Wenn schon
die Erweckte eine so große Bewunderung verdient, da sollte doch der Erwecker
nicht gar zu sehr im Hintergrunde stehenbleiben! – ?“
[JJ.01_198,13] Und der Joseph sprach: „Da hast Du, mein Söhnchen, wohl ganz
recht; aber was läßt sich hier machen?
[JJ.01_198,14] Solle ich Dich als den unfehlbaren Erwecker aufführen, so hieße
das, Dich vor der Zeit an die, die Dich noch lange nicht kennen, verraten – und
das wäre unklug!
[JJ.01_198,15] Hauchtest Du ihnen aber eine solche Erkenntnis wunderbar in ihr
Gemüt, da wären sie gerichtet!
[JJ.01_198,16] Daher lassen wir sie, wie sie sind; wir aber bleiben hier im
geheimen beisammen im Geiste und in der Wahrheit!
[JJ.01_198,17] Wann sie sich bis zum Überdrusse aber an der Römerin werden satt
getröstet und angegaffet haben, dann werden sie etwa wohl kommen und werden mit
uns Gemeinschaft machen!“
[JJ.01_198,18] Und das Kindlein sprach: „Sehet auch hier wieder ein Bild der
Zukunft!
[JJ.01_198,19] Also werden sich auch dereinst die, welche unter unserem Dache
sein werden, mit der toten Römerin abgeben der weltlichen Dinge wegen,
[JJ.01_198,20] und Maria wird unter den Römern und mit der Römerin viel zu tun
haben!
[JJ.01_198,21] Aber dennoch werden die in unserem Hause nicht unsere Genossen,
sondern vielmehr sein, was sie nun sind, nämlich Heiden, und werden Meiner nicht
achten, sondern allein der Maria!
[JJ.01_198,22] Und Meine eigentliche Gesellschaft wird verborgen und klein
bleiben zu allen Zeiten in der Welt!
[JJ.01_198,23] Tullia war eine blinde Bettlerin und ward sehend durch Mein
lebendiges Wasser
[JJ.01_198,24] und ward dann ein erstes Weib des großen Reiches der Heiden.
[JJ.01_198,25] Da sie aber eifersüchtig ward, da auch fand sie den Tod.
[JJ.01_198,26] Wieder ward sie erweckt, daß sie lebe; sie lebt, aber noch mag
sie Meiner nicht gewahr werden.
[JJ.01_198,27] Werde Ich sie wohl durch ein Gericht auf Mich müssen aufmerksam
machen?
[JJ.01_198,28] Ich aber will noch warten einige Zeit und sehen, ob sich die
Römerin nicht erheben wird und kommen zu Mir, ihrem Erwecker! – Joseph,
verstehst du dies Bild?“ – –
[JJ.01_199] 199. Kapitel – Josephs echt menschlich-kurzsichtige Fragen. Des
Kindleins Antwort. Die universale Bedeutung der Menschwerdung des Herrn.
3. Mai 1844
[JJ.01_199,01] Da aber Joseph solches vom Kindlein vernommen hatte, da sprach
er:
[JJ.01_199,02] „O mein Gottsöhnchen! – ich habe Dich in meiner Tiefe wohl
verstanden.
[JJ.01_199,03] Aber ich muß dazu bekennen, daß Du mir da eben keine angenehme
Vorsage gemacht hast!
[JJ.01_199,04] Denn so nach Dir, wie vor Dir, der größte Teil der Menschen
Heiden und Götzendiener verbleiben werden, wozu ist dann diese Deine
Darniederkunft?
[JJ.01_199,05] Wozu solche Erniedrigung Deiner endlosen ewigen Heiligkeit?
Willst Du nur wenigen helfen? – Warum nicht allen?!“ –
[JJ.01_199,06] Das Kindlein aber sprach: „O Joseph, du hast ja eine Menge eitler
Fragen!
[JJ.01_199,07] Hast du noch nie den gestirnten Himmel betrachtet? – Siehe, ein
jeder Stern, den du erschaust, ist eine Welt, ist eine Erde, auf der, wie hier,
freie Menschen wohnen!
[JJ.01_199,08] Und zahllose gibt es, die noch keines Sterblichen Auge erspähet
hat; und siehe, diesen allen gilt diese Meine Darniederkunft!
[JJ.01_199,09] Wie und warum aber, das wirst du einst in Meinem Reiche in
größter Klarheit erschauen!
[JJ.01_199,10] Darum wundere dich nicht, so Ich über dieser Erde Menschen dir
eine solche Vorsage gemacht habe;
[JJ.01_199,11] denn Ich habe deren ohne Zahl und Ende; und alle diese Zahl- und
Endlosen bedürfen dieser Meiner Darniederkunft –
[JJ.01_199,12] und bedürfen deren darum, weil solcher Meine eigene ewige Ordnung
bedarf, aus der diese Erde wie alle andern ohne Zahl und Ende hervorgegangen
sind.
[JJ.01_199,13] Also wird es auf der Erde wohl also zugehen, wie Ich es dir
vorausgesagt habe!
[JJ.01_199,14] Aber darum wird der ewig heilige Zweck dieser Meiner
Darniederkunft dennoch nicht ein vergeblicher sein! –
[JJ.01_199,15] Denn sieh: Alle die zahllosen Welten, Sonnen und Erden haben ihre
Bahnen, und diese haben eben auch zahl- und endlos verschiedene Richtungen.
[JJ.01_199,16] Überall sind andere Gesetze und überall eine andere Ordnung;
[JJ.01_199,17] aber am Ende kommen sie doch alle in der einen – Meiner
Grundordnung zurecht und entsprechen dem einen großen Hauptzwecke wie die
Glieder des Leibes und deren Verrichtungen.
[JJ.01_199,18] Und siehe, also wird es auch mit den Menschen der Erde am Ende
sein, und sie werden dereinst im Geiste dennoch alle erkennen, daß es nur einen
Gott, einen Herrn, einen Vater und nur ein vollkommenes Leben in Ihm gibt!
[JJ.01_199,19] Wie und wann aber? – Das bleibt bei Dem, der es dir nun gesagt
hat!
[JJ.01_199,20] Aber es werden zuvor noch viele Winde über den Boden der Erde
wehen müssen
[JJ.01_199,21] und viel Wasser dem Himmel entstürzen und viel Holz verbrannt
werden, bis man sagen wird:
[JJ.01_199,22] Siehe, nun ist eine Herde und ein Hirt, ein Gott und nur ein
Mensch aus Zahllosen, ein Vater und ein Sohn in und aus den Zahl- und Endlosen!“
[JJ.01_199,23] Ob dieser Rede des Kindleins stiegen dem Cyrenius, dem Jonatha
wie dem Joseph die Haare zu Berge, und der Joseph sprach:
[JJ.01_199,24] „O Kindlein! – Deine Worte werden immer unbegreiflicher,
wunderbarer – und wahrhaft entsetzlicher!
[JJ.01_199,25] Wer mag deren endlose Tiefe erfassen?! – Darum rede mit uns nach
unserem Verständnisse, sonst gehen wir zugrunde unter solcher Tiefe Deiner
Rede!“
[JJ.01_199,26] Das Kindlein aber lächelte und sprach: „Joseph! Siehe, gerade
heute bin Ich recht aufgelegt, euch Enthüllungen zu machen, daß ihr alle darob
erschaudern sollet!
[JJ.01_199,27] Und ihr sollet daraus in der Fülle ersehen, daß in Mir im Ernste
der vollkommene Herr der Ewigkeit zu Hause ist und nun wohnet unter euch! – Und
so höret Mich weiter an!“
[JJ.01_200] 200. Kapitel – Prophetische Enthüllungen des Jesusknäbleins: Jesu
Tod, Seine Versöhnungslehre, Auferstehung und Eröffnung der Lebenspforte für
alle.
4. Mai 1844
[JJ.01_200,01] Und das Kindlein redete also: „Joseph! – Was wirst denn du sagen,
so die Kinder der Welt den Herrn dereinst ergreifen und töten werden mit Hilfe
des Satans?
[JJ.01_200,02] Wenn sie Ihn wie einen Raubmörder ergreifen werden und werden Ihn
schleppen vors Weltgericht, da der Geist der Hölle sein Walten hat?
[JJ.01_200,03] Und dieses wird den Herrn aller Herrlichkeit ans Kreuz heften
lassen! – Was sagst denn du dazu? – ! –
[JJ.01_200,04] Wenn mit Ihm geschehen wird, wie die Propheten von Ihm ausgesagt
haben, deren Worte dir wohlbekannt sind! – Was sagst du wohl dazu?“
[JJ.01_200,05] Als die drei solches vom Kindlein vernommen hatten, da erschraken
sie sehr, und Joseph sprach sehr heftig:
[JJ.01_200,06] „Mein Jesus, mein Gottsöhnchen, wahrlich, solches geschehe nur
Dir nicht!
[JJ.01_200,07] Die Hand, die sich je an Dir vergreifen würde, solle verflucht
sein ewig, und ihres Trägers Seele solle ewig in der möglichst größten Qual
ihren Frevel büßen!“
[JJ.01_200,08] Und der Cyrenius schlug sich auch samt Jonatha zu der Partei
Josephs und sprach:
[JJ.01_200,09] „Ja, wenn solches je möglich geschehen könnte, für ewig wahr, da
will ich von heute an der grausamste Tyrann werden!
[JJ.01_200,10] Zweimalhunderttausend der geübtesten Krieger stehen unter meinem
Befehle; nur einen Wink kostet es mich, und Tod und Verderben sei aller Welt
gebracht!
[JJ.01_200,11] Ehe ein frecher Teufel von einem Menschen seine Satanshände an
dieses Kind legen solle, eher will ich alle Menschen umbringen lassen auf der
ganzen Erde!“
[JJ.01_200,12] Das Kindlein aber lächelte und sprach: „Dann werden ja aber
dennoch deine Krieger bleiben; wer wird denn dann diese aus der Welt schaffen?
[JJ.01_200,13] Siehe, Mein lieber Cyrenius, wer da weiß, was er tut, und tut
Ungerechtes, so tut er die Sünde und ist ein Täter des Übels!
[JJ.01_200,14] Wer aber nicht weiß, was er tut, und tut also Ungerechtes, dem
solle es vergeben sein; denn er wußte es ja nicht, was er tat!
[JJ.01_200,15] Nur – so jemand wohl wüßte, was er täte, und möchte nicht tun aus
sich Ungerechtes, wenn er aber gezwungen wird, da sträubt er sich nicht und tut
Ungerechtes, der ist ein Sklave der Hölle und zieht sich selbst das Gericht auf
den Hals!
[JJ.01_200,16] Die Hölle aber weiß wohl, daß da mit den blinden Werkzeugen
besser zu handeln ist als mit den sehenden;
[JJ.01_200,17] daher hält sie auch fortwährend die Blinden in ihrem Solde, – und
eben diese Blinden werden den Herrn der Herrlichkeit ans Kreuz heften!
[JJ.01_200,18] Wie willst du aber einen Blinden strafen darob, so er am Wege mit
dem Fuße anstieß und fiel und zerbrach sich Arme und Beine?!
[JJ.01_200,19] Daher bleibe du mit deiner Macht nur so hübsch fein zu Hause, die
viel mehr Unheil als Heil auf der Erde stiften möchte!
[JJ.01_200,20] Und sei versichert, daß Der, den die Menschen dem Fleische nach
töten werden in ihrer Blindheit, im Geiste und in Seiner Kraft und Macht nicht
getötet wird, sondern alsobald wieder erstehen wird aus eigener Kraft und Macht
–
[JJ.01_200,21] und wird erst dadurch eröffnen aller Kreatur den Weg zum ewigen
Leben!“
[JJ.01_200,22] Der heftige Ton des Cyrenius aber brachte auch die
Tullia-Gesellschaft zur Aufmerksamkeit auf die kleine Gesellschaft.
[JJ.01_200,23] Das Kindlein aber verwies die Gesellschaft zurück und sprach:
„Gehet an eure Sache; denn was hier vorgeht, ist nicht für euch, ihr Blinden!“ – Und die Gesellschaft zog sich wieder zurück.
[JJ.01_201] 201. Kapitel – Jesu ernste Worte an Maria. Voraussage über das
Verachtetsein des Herrn und Seiner Nachfolger in der Welt.
6. Mai 1844
[JJ.01_201,01] Es waren aber auch Maria, die Eudokia und der Jakob unter denen,
die da zurückgewiesen wurden.
[JJ.01_201,02] Maria aber ging dennoch hinein, und die Eudokia und der Jakob
folgten ihr.
[JJ.01_201,03] Und die Maria aber bog sich nieder zum Kindlein und sprach:
[JJ.01_201,04] „Höre Du mein Söhnchen! Du bist ja ganz entsetzlich schlimm!
[JJ.01_201,05] Wenn Du mich schon jetzt von der Türe weisest, was wirst Du erst
dann tun mit mir, wenn Du ein Mann wirst?!
[JJ.01_201,06] Siehe, so schlimm darfst Du nicht sein gegen die, die Dich unter
ihrem Herzen mit großer Angst und mannigfacher Qual getragen hat!“
[JJ.01_201,07] Das Kindlein aber sah die Maria gar liebernst an und sprach:
[JJ.01_201,08] „Was heißest du Mich dein Söhnchen?! – Weißt du denn nicht mehr,
was der Engel zu dir geredet hat?
[JJ.01_201,09] Wie sollst du Das heißen, was aus dir geboren ward?
[JJ.01_201,10] Siehe, der Engel sprach: ,Und was aus dir geboren wird, wird
Gottes Sohn, – Sohn des Allerhöchsten heißen!‘
[JJ.01_201,11] Wenn sicher also und nicht anders, wie nennest du Mich denn
hernach dein Söhnchen?!
[JJ.01_201,12] Wenn Ich dein Sohn wäre, da würdest du dich mehr mit Mir abgeben
denn mit der Tullia!
[JJ.01_201,13] Da Ich aber nicht dein Sohn bin, so ist dir auch die Tullia mehr
am Herzen denn Ich!
[JJ.01_201,14] Wenn Ich irgend draußen herumspringe und dann wieder zur Türe
hereinkomme, da kommt Mir kein Mensch mit flammendem Herzen entgegen,
[JJ.01_201,15] und Ich bin da schon wie ein alltägliches Brot für Knechte und
Mägde, und niemand breitet gegen Mich die Arme aus!
[JJ.01_201,16] Aber wenn so eine Stadtklatscherin hierherkommt, da wird sie
sogleich mit allen Ehren empfangen.
[JJ.01_201,17] Und also ist es auch jetzt mit der dummen Tullia, die von Mir das
Leben erhielt; der kriechet ihr aus lauter Aufmerksamkeit beinahe in den Steiß.
[JJ.01_201,18] Mich, den Geber des Lebens, aber beachtet ihr kaum!
[JJ.01_201,19] Sage selbst, ob das wohl in der Ordnung ist?!
[JJ.01_201,20] Bin Ich nicht mehr als irgendeine dumme Stadtklatscherin und
nicht mehr als diese Tullia?
[JJ.01_201,21] O freuet euch, ihr alle Meine einstigen Nachfolger-Knechte; wie
es nun Mir ergehet, so wird es auch euch ergehen!
[JJ.01_201,22] Eure Gönner werden euch in einen Mistwinkel stellen, so sie
Besuche erhalten werden von ihren Klatschbrüdern und Klatschschwestern!“ – Diese
Worte drangen tief ins Herz Mariens, und sie kehrte sich darauf sehr daran.
[JJ.01_202] 202. Kapitel – Jakob im Gespräch mit dem kleinen Jesus. Des
Kindleins Klage über die geringe Beachtung, die ihm von den Eltern und
Hausgenossen geschenkt wird.
7. Mai 1844
[JJ.01_202,01] Auf diese Worte bog sich auch Jakob zum Kindlein nieder und
sprach zu Ihm:
[JJ.01_202,02] „Höre! Du mein geliebter Jesus, Du mein zartes Brüderchen, wenn
Du einmal schlimm wirst, dann ist es mit Dir ja beinahe nicht mehr auszuhalten!
[JJ.01_202,03] Möchtest Du mir nicht auch einen solchen Verweis geben, wie Du
ihn gegeben hast der Mutter Maria?
[JJ.01_202,04] Du kannst es wohl tun; aber dann werde auch ich greinen mit Dir,
warum Du mich nicht zum Spiele geladen hast, da ich doch von ganzem Herzen gerne
dabeigewesen wäre!“
[JJ.01_202,05] Das Kindlein aber sprach: „O sorge dich nicht, Jakob, daß Ich dir
etwas sagen werde;
[JJ.01_202,06] denn deine beständige Aufmerksamkeit für Mich ist Mir schon
bekannt!
[JJ.01_202,07] Zudem teilen wir ja gar oft das Los, und da geht es dir wie Mir!
[JJ.01_202,08] Siehe, wenn du öfter mit Mir ausgehest und trägst Mich dann
wieder nach Hause von irgendwoher, manchmal sogar aus der Stadt, wenn du in
selber etwas zu tun hast und Mich dann mitnimmst,
[JJ.01_202,09] da kommt uns niemand entgegen! Wir gehen ohne weitere Begleitung
fort, und so wir nach Hause wieder zurückkehren, da kommt uns keine Seele
entgegen!
[JJ.01_202,10] Wie wir allein ausgegangen sind, so kommen wir auch allein wieder
zurück!
[JJ.01_202,11] Und wenn wir dann und wann um eine Viertelstunde zu spät kommen,
da werden wir noch obendrauf recht tüchtig ausgemacht.
[JJ.01_202,12] Und sind wir zu Hause, da dürfen wir uns eben auch nicht viel
rühren, wollen wir nicht einen Putzer bekommen.
[JJ.01_202,13] Und soviel da manchmal geplaudert wird von allerlei Dingen, sage,
ob wir auch zu den interessanten Dingen gehören, denen einige Worte im Tage
gelten möchten?
[JJ.01_202,14] Aber wenn sich so ein Bekannter aus der Stadt melden läßt und
sagt: ,Ich werde dich am Montag besuchen‘,
[JJ.01_202,15] da freut sich unser Haus schon drei Tage darauf und redet nachher
noch drei Tage davon!
[JJ.01_202,16] Und wenn der Freund kommt, da läuft ihm alles entgegen, und wenn
er wieder geht, so wird er bis zu seiner Haustüre begleitet.
[JJ.01_202,17] Wenn aber wir gehen und kommen, da rührt sich keine Katze im
Hause!
[JJ.01_202,18] Wohl aber heißt es, wenn so ein beredter Stadtklatscher
hierherkommt: ,Jakob, gehe jetzt mit dem Kleinen nur hübsch hinaus!‘
[JJ.01_202,19] Und wir ziehen dann sogleich ohne Begleitung hinaus und dürfen
nicht eher wiederkommen, als bis es dem Klatscher beliebt hatte, wieder unter
der gesamten Begleitung des Hauses abzuziehen!
[JJ.01_202,20] Nur wenn der Cyrenius oder der Jonatha kommt, dann gelten auch
wir etwas, wenn nicht wichtige Betrachtungen hinderlich sind!
[JJ.01_202,21] Darum sorge dich nicht, daß Ich dir etwas sagen werde, das dich
schmerzen könnte; denn wir sind ja beide gleichgestellt, was das Ansehen und die
Liebe betrifft!
[JJ.01_202,22] Wenn wir uns den ganzen Tag nicht rühren und mucksen, dann sind
wir ,brav‘! – und dieses ,brav‘ aber ist dann auch unser ganzer Lohn! – Bist du
damit zufrieden? – Ich bin es nicht!“
[JJ.01_202,23] Als Joseph und Maria solches vernahmen, da ward es beiden bange.
– Das Kindlein aber beruhigte sie und sprach: „Nur in der Zukunft ein wenig
anders; das Vergangene ist vorüber!“ – Und der Jakob weinte vor großer Freude in
seinem Herzen.
[JJ.01_203] 203. Kapitel – Josephs Bekenntnis vor dem Kindlein. Der Unterschied
zwischen Maske und Klugheit. Der Herr hält sich verborgen, damit die Welt nicht
gerichtet werde. Eine Mahnung des Kindleins an Maria.
8. Mai 1844
[JJ.01_203,01] Darauf berief der Joseph das Kindlein zu sich und sprach zu
selbem:
[JJ.01_203,02] „Höre Du mich nun an; was ich nun sagen werde, das sage ich nicht
Deinetwegen, sondern derer wegen, die hier sind!
[JJ.01_203,03] Denn ich weiß, daß Du allzeit durchschauest meine geheimsten
Gedanken, und ich brauche darum nichts zu sagen zu Dir; aber die hier sind,
sollen auch wissen, was ich zu Dir habe!
[JJ.01_203,04] Siehe, es ist wahr, daß wir oft dem Außen nach wie lau gegen Dich
waren;
[JJ.01_203,05] aber diese Lauheit war nur eine Maske unserer inneren Achtung und
Liebe zu Dir, auf daß Du nicht ruchbar würdest vor der grausamen Welt!
[JJ.01_203,06] Wer kennet wohl besser als Du die Welt? – Und so wirst eben Du es
auch am besten einsehen, daß unser bisheriges öffentliches Benehmen gegen Dich
also sein mußte, damit wir mit Dir sicher sind.
[JJ.01_203,07] Und so bitte ich Dich, vergebe uns so manche Scheinkälte unserer
Herzen, die in sich aber dennoch allzeit bei Deinem Anblicke erglühten wie eine
Morgenröte!
[JJ.01_203,08] In der Zukunft aber wollen wir uns gegen Dich schon so auch offen
verhalten, wie es uns unser innerer Drang gebieten wird!“
[JJ.01_203,09] Nach dieser Anrede sprach das Kindlein: „Joseph! – Du hast wahr
geredet; aber dessenungeachtet gibt es dennoch einen großen Unterschied zwischen
Maske und Klugheit.
[JJ.01_203,10] Die Maske macht das Gemüt kalt; aber die Klugheit erwärmt es!
[JJ.01_203,11] Wozu aber Maske, wo die Klugheit ausreicht? Wozu Verstellung, wo
die natürliche Weisheit tausend Sicherungsmittel bietet?
[JJ.01_203,12] Bin Ich nicht der Herr, dem die ganze Unendlichkeit auf einen
Wink gehorchen muß, weil sie nichts als nur ein festgehaltener Gedanke aus Mir
ist und ist da als ein ausgesprochenes Wort aus Meinem Munde?!
[JJ.01_203,13] Bin Ich aber der alleinige, wahrhaftige Herr, wie sollte da zu
Meiner Sicherung vor der Welt deine Gemütsmaskierung wirksamer sein als eine
ganze Welt voll von Meiner ewigen Macht?!
[JJ.01_203,14] Siehe, ein Hauch aus Meinem Munde – und die ganze sichtbare
Schöpfung ist nicht mehr!
[JJ.01_203,15] Meinst du da wohl, Ich habe deiner Gemütsmaske vonnöten, um Mich
und dich vor den Nachstellungen der Welt zu verwahren?
[JJ.01_203,16] O nein, dessen bedarf Ich nicht! Denn Ich halte Mich nicht etwa
aus Furcht vor der Welt verborgen,
[JJ.01_203,17] sondern allein nur des Gerichtes wegen, damit die Welt nicht
gerichtet werde, so sie Mich erkennete in ihrem Argen.
[JJ.01_203,18] Daher seid ihr alle in der Zukunft wohl klug des Heiles der Welt
wegen;
[JJ.01_203,19] aber mit der Maske bleibet Mir ferne, denn diese ist in ihrer
besten Stellung eine Geburt der Hölle!
[JJ.01_203,20] Und du, Maria, kehre zu deiner ersten Liebe zurück, sonst wirst
du dereinst viel Trauer zu bestehen haben darum, daß du Mich jetzt der Welt
wegen durch die Maske deines Herzens kalt behandelst!“
[JJ.01_203,21] Dieses Wort brach der Maria das Herz, und sie ergriff mit aller
Macht ihrer Liebe das Kindlein und drückte Es an ihr Herz und kosete Es mit der
größten Glut ihrer mütterlichen Liebe.
[JJ.01_204] 204. Kapitel – Marias Liebesfrage an das Kindlein. Der Unterschied
zwischen der Liebe des Menschen und der Liebe Gottes. „Mein Zorn selbst ist mehr
Liebe als deine größte Liebe!“ Das Gleichnis vom König als Freier, angewandt auf
Tullia und das Jesuskindlein.
9. Mai 1844
[JJ.01_204,01] Als Maria das Kindlein eine Zeitlang geherzet hatte, da fragte
sie Es ganz furchtsam:
[JJ.01_204,02] „Mein Jesus, wirst Du mich, Deine Magd, wohl wieder lieben, wie
die Magd Dich ewig lieben wird?“
[JJ.01_204,03] Und das Kindlein lächelte die Maria gar freundlichst an und
sprach:
[JJ.01_204,04] „Aber was hast du da wieder für eine schwache Frage gestellt!
[JJ.01_204,05] Wenn Ich dich nicht mehr liebte als du Mich, was – wahrlich,
wahrlich! – wärest du da wohl?
[JJ.01_204,06] Siehe, so du Mich liebtest mit der Glut aller Sonnen, so aber
wäre dennoch solche deine Liebe nichts gegen jene Meine Liebe, mit der Ich den
ärgsten Menschen selbst noch in Meinem Zorne liebe!
[JJ.01_204,07] Und Mein Zorn selbst ist mehr Liebe als deine größte Liebe!
[JJ.01_204,08] Was ist dann erst Meine eigentliche Liebe, die Ich zu dir habe?!
[JJ.01_204,09] Wie hätte Ich dich wohl je zu Meiner Gebärerin gewählt, wenn Ich
dich nicht geliebt hätte – mehr, als es je die Ewigkeit fassen wird?!
[JJ.01_204,10] Siehe, wie schwach da deine Frage ist! Ich aber sage dir: Nun
gehe und bringe die Tullia;
[JJ.01_204,11] denn Ich habe gar wichtige Dinge mit ihr zu reden!“
[JJ.01_204,12] Hier gehorchte die Maria plötzlich und ging und holte des
Cyrenius Weib.
[JJ.01_204,13] Als die Tullia ganz furchtsam in das Kabinett trat, da sich das
Kindlein befand, da richtete Sich das Kindlein auf und sprach zur Tullia:
[JJ.01_204,14] „Tullia, du Erweckte, höre! – Es war einst ein großer König und
war ledig und voll männlicher Schönheit und voll echter göttlicher Weisheit.
[JJ.01_204,15] Dieser König sprach zu sich: ,Ich will gehen und mir ein Weib
suchen in einem fremden Orte, da mich niemand kennt;
[JJ.01_204,16] denn ich will ein Weib nehmen meiner selbst willen, und das Weib
solle mich lieben, darum ich ein weiser Mann bin – aber nicht, da ich ein großer
König bin!‘
[JJ.01_204,17] Und so zog er aus seinem Reiche in die ferne Fremde und kam da in
eine Stadt und machte da bald Bekanntschaft mit einem Hause.
[JJ.01_204,18] Die Tochter des Hauses ward erwählt, und diese hatte eine große
Freude; denn sie erkannte bald in dem Bewerber eine große Weisheit.
[JJ.01_204,19] Der König aber dachte: ,Du liebst mich nun wohl, da du mich
siehst und meine Gestalt und meine Weisheit dich fesselt;
[JJ.01_204,20] ich aber will sehen, ob du mich wahrhaft liebst! Darum werde ich
mich als Bettler verkleiden und werde dich so öfter belästigen.
[JJ.01_204,21] Du aber sollst nicht wissen und irgend im geringsten erfahren,
daß ich im Bettler stecke.
[JJ.01_204,22] Wohl aber solle der Bettler ein Zeugnis von mir tragen, als sei
er mein inniger Freund, aber sonst arm in dieser Fremde wie sein Freund.
[JJ.01_204,23] Und es solle sich da zeigen, ob diese Tochter mich wahrhaft
liebt!‘
[JJ.01_204,24] Und wie sich der große König die Sache ausgedacht hatte, also
wurde sie auch sogleich ausgeführt.
[JJ.01_204,25] Es kam nach einiger Zeit, da der König zum Scheine verreisete,
der Bettler zur Tochter und sprach zu ihr:
[JJ.01_204,26] ,Liebe Tochter dieses reichen Hauses, siehe, ich bin sehr arm und
weiß, daß du große Reichtümer besitzest!
[JJ.01_204,27] Ich saß am Tore, als dein herrlicher Bräutigam von dir sich
verreisete, und bat ihn um ein Almosen.
[JJ.01_204,28] Da blieb er stehen und sprach: ,Freund! Ich habe hier nichts, das
ich dir reichen könnte außer dies Angedenken von meiner Braut, die sehr reich
ist!
[JJ.01_204,29] Gehe in jüngster Zeit zu ihr, und zeige ihr das in meinem Namen,
und sie wird dir so sicher geben, als sie mir geben würde, dessen du vonnöten
hast!
[JJ.01_204,30] Wann ich aber ehestens zurückkehren werde, da werde ich ihr
tausendfach alles ersetzen!‘
[JJ.01_204,31] Als die Tochter solches vernommen, war sie voll Freuden und
beteilte den Bettler.
[JJ.01_204,32] Da ging der Bettler und kam in wenigen Tagen wieder und ließ sich
melden bei der Tochter.
[JJ.01_204,33] Die Tochter ließ ihn auf ein anderes Mal bescheiden, da sie nun
Besuche hatte.
[JJ.01_204,34] Der Bettler kam zum andern Male und ließ sich melden.
[JJ.01_204,35] Da hieß es: ,Die Tochter ist mit einigen Freunden ausgegangen!‘ – Und der Bettler kehrte traurig zurück.
[JJ.01_204,36] Als er an das Haustor kam, da begegnete ihm die Tochter in der
Mitte ihrer Freunde und achtete des Bettlers kaum.
[JJ.01_204,37] Wohl sagte dieser: ,Liebe Braut meines Freundes, wie liebst du
ihn denn, so du seinen Freund nicht hörest?‘
[JJ.01_204,38] Die Tochter aber sprach: ,Ich will Zerstreuung; wenn der Freund
kommen wird, den werde ich schon wieder lieben!‘
[JJ.01_204,39] Darauf begab sich am nächsten Tage der Bettler wieder zur Tochter
und fand sie voll Heiterkeit; denn sie hatte ja eine recht muntere Gesellschaft.
[JJ.01_204,40] Und der Bettler fragte sie: ,Liebst du wohl deinen Bräutigam – und bist so heiter, da er verreisete in Geschäften um dich?‘
[JJ.01_204,41] Da schaffte die Tochter den Bettler hinaus und sprach: ,Das wäre
ein Verlangen! – Ist's nicht genug, so ich ihn liebe, wenn er da ist? Was solle
ich ihn in seiner Abwesenheit auch lieben? – Wer weiß, ob er mich liebt!?‘
[JJ.01_204,42] Hier warf der Bettler sein zerrissenes Oberkleid weg und sprach
zur erstaunten Tochter:
[JJ.01_204,43] ,Siehe, der verreiset ist, war stets hier, zu merken deine Liebe!
[JJ.01_204,44] Du aber dachtest kaum an ihn, und der, der dir das Zeichen deines
Schwures zeigte, ward verstoßen und verhöhnt, da dir die Weltgesellschaft besser
zusagte.
[JJ.01_204,45] Aber siehe, eben dieser ist jener, der nun vor dir stehet, und
ist jener große König, dem alle Welt zugehöret!
[JJ.01_204,46] Und dieser gibt dir nun alles zurück, was du ihm gabst,
tausendfach; aber dir kehret er für ewig den Rücken, und du sollest nimmer sein
Angesicht sehen!‘
[JJ.01_204,47] Tullia! – Kennst du diesen König und diesen Bettler? – Siehe, Ich
bin es, und du bist die Tochter! – Auf der Welt sollst du glücklich sein;
[JJ.01_204,48] was aber nachher, das sagt dir dies Gleichnis!
[JJ.01_204,49] Ich gab dir Leben und großes Glück, und du magst Meiner nicht
gedenken!
[JJ.01_204,50] O du blindgeborne Römerin! – Ich habe dir Licht gegeben, und du
hast Mich nicht erkannt!
[JJ.01_204,51] Ich gab dir einen Mann aus den Himmeln, und du wolltest an ihm
Meinen Liebeteil für dich nehmen.
[JJ.01_204,52] Da warst du tot; Ich habe dich wieder erweckt, und du nahmst
dafür der Welt Huldigungen an und achtetest Meiner nicht!
[JJ.01_204,53] Und jetzt, da Ich dich rufen ließ, bebest du vor Mir wie eine
Ehebrecherin.
[JJ.01_204,54] Sage! was wohl solle Ich mit dir anfangen?
[JJ.01_204,55] Solle Ich ferner noch betteln vor deiner Türe?
[JJ.01_204,56] Nein! – das werde Ich nicht; aber Ich werde dir geben deinen
Teil, und dann werden wir quitt sein!“ –
[JJ.01_204,57] Diese Worte erfüllten das ganze Haus Josephs mit Entsetzen.
[JJ.01_204,58] Das Kindlein aber begehrte mit Seinem Jakob allein hinaus in die
Freie zu gehen und kehrte bis zum späten Abende nicht wieder zurück.
[JJ.01_205] 205. Kapitel – Der Tullia Klage. Marias tröstende Worte. Der Tullia
Selbstschau, Reue und Buße. Jesu Lieblingsspeise. Die alte und die neue Tullia.
11. Mai 1844
[JJ.01_205,01] Nach einer Weile erst erholte sich die Tullia wieder und fing an
gar bitterlich zu weinen und sagte:
[JJ.01_205,02] „O Herr, warum ward ich sehend einst in diesem Hause, warum das
Weib des Cyrenius, daß ich nun in meinem vermeintlichen Glücke so viel zu leiden
habe?!
[JJ.01_205,03] Warum erwecktest Du die Tote, warum mußte denn wieder Leben in
meine Brust kehren?!
[JJ.01_205,04] Bin ich denn zur Qual geboren worden? – warum gerade ich, während
doch Tausende und Tausende ruhig und glücklich leben und wissen kaum von einer
Träne, die der Schmerz dem Auge erpreßt! – ?“
[JJ.01_205,05] Maria aber, von Mitleid gerührt, tröstete die Tullia mit
folgenden Worten:
[JJ.01_205,06] „Tullia, du mußt nicht hadern mit dem Herrn, deinem und meinem
Gotte!
[JJ.01_205,07] Denn siehe, das ist schon so Seine Art und Weise, daß Er gerade
diejenigen, die Er liebt, recht starken Prüfungen aussetzt!
[JJ.01_205,08] Solches erkenne du in deinem Herzen, und erwecke deine Liebe von
neuem zu Ihm, und Er wird sobald vergessen Seiner Drohung und wird dich
aufnehmen von neuem in Seine Gnade!
[JJ.01_205,09] Denn Er hatte schon gar oft gedroht den Übeltätern und hat ihnen
den Untergang auf den nächsten Tag durch die Propheten verkünden lassen und
bezeichnen die Stelle, auf der die Hunde ihr Blut auflecken sollen.
[JJ.01_205,10] So aber die Übeltäter zur Buße griffen, da sprach Er sobald zum
Propheten: ,Siehst du nicht, daß er Buße tut? Darum will Ich ihn auch nicht
strafen!‘
[JJ.01_205,11] Als Jonas berufen ward von Gott, den Niniviten, die in alle
Sünden versunken waren, den Untergang zu verkünden,
[JJ.01_205,12] da wollte dieser nicht hingehen, denn er sprach: ,Herr! Ich weiß,
daß Du nur höchst selten das folgen lässest, was der Prophet androhen muß;
[JJ.01_205,13] darum will ich nicht hinziehen, auf daß ich als ein Prophet vor
den Niniveern nicht zuschanden würde, wann Du Dich ihrer sicher wieder erbarmen
wirst!‘
[JJ.01_205,14] Siehe, sogar dieser Prophet setzte einen gegründeten Zweifel in
den Zorn Gottes!
[JJ.01_205,15] Ich aber rate dir: Tue du, was die Niniveer taten, und du wirst
wieder zu Gnaden aufgenommen werden!“
[JJ.01_205,16] Diese Worte flößten der Tullia wieder Mut ein, und sie fing an,
über sich nachzudenken, und fand bald eine Menge Fehler in sich und sprach:
[JJ.01_205,17] „O Maria! Jetzt erst ersehe ich, und es wird mir klar, warum mich
der Herr also züchtiget!
[JJ.01_205,18] Siehe, mein Herz ist voll Sünden und voll Unlauterkeit! – Oh – wie werde ich es je zu reinigen vermögen?!
[JJ.01_205,19] Wie kann ich es also wagen – mit einem so höchst unreinen Herzen
den Heiligen aller Heiligkeit zu lieben?!“
[JJ.01_205,20] Und die Maria sprach: „Eben darum mußt du Ihn lieben in deiner
reuigen Schulderkenntnis; denn solche Liebe allein nur wird dein Herz reinigen
vor Ihm – dem Heiligen aller Heiligkeit!“
[JJ.01_205,21] Als spät am Abende das Kindlein mit Seinem Jakob wieder ins Haus
kam, da ging Es sobald zur Maria und verlangte etwas zu essen. Und Maria gab Ihm
sogleich etwas Butter, Brot und Honig.
[JJ.01_205,22] Darauf sagte Es: „Ich sehe noch eine andere Speise, gib Mir auch
davon zu essen! – Siehe, es ist das Herz der Tullia; gebe es Mir, weil du es
schon für Mich zubereitet hast!“ – Hier fiel die Tullia vor dem Herrn nieder und
weinte.
[JJ.01_205,23] Maria aber sprach: „O Herr! Erbarme Dich der Armen, die da viel
leidet!“
[JJ.01_205,24] Und das Kindlein sprach: „Ich habe Mich ihrer schon gar lange
erbarmt, sonst hätte Ich sie nimmer erweckt!
[JJ.01_205,25] Nur sie war es, die von Meiner Erbarmung keine Notiz nehmen
wollte und wollte lieber hadern mit Mir in ihrem Herzen, als Mich aufnehmen in
selbem.
[JJ.01_205,26] Da sie aber nun ihr Herz zu Mir gewendet hat, so habe Ich ihr
getan wie den Niniveern.“
[JJ.01_205,27] Nach diesen Worten ging das Kindlein hin zur Tullia und sprach zu
ihr:
[JJ.01_205,28] „Tullia, siehe, Ich bin nun recht müde geworden. Du hast Mich
einst auf deinen Armen schon getragen, und es tat Mir wohl; denn du hattest
recht weiche Arme!
[JJ.01_205,29] Also erhebe dich auch jetzt, und nehme Mich auf deine Arme und
fühle, wie süß es ist, den Herrn des Lebens in den Armen zu haben!“
[JJ.01_205,30] Dies Begehren des Kindleins brach der Tullia völlig das Herz.
[JJ.01_205,31] Mit der ihrem Herzen möglich höchsten Liebe nahm sie das Kindlein
auf ihre weichen Arme und sprach weinend:
[JJ.01_205,32] „O Herr! – Wie möglich wohl ist das, daß Du mir nun gegen Deine
schreckliche Drohung so gnädig bist?!“
[JJ.01_205,33] Und das Kindlein sprach: „Weil du die alte Tullia, die Mir
zuwider war, ausgezogen und eine neue, Mir werte, angezogen hast! – Doch jetzt
sei ruhig; denn nun habe Ich dich schon wieder lieb!“ – Durch diese Szene wurden
alle zu Tränen gerührt.
[JJ.01_206] 206. Kapitel – Die weinende Tullia. Ein Evangelium der Tränen. Drei
Tränen hat der Herr ins Auge des Menschen gelegt: die Freudenträne, die
Mitleidsträne und die Träne, die der Schmerz erpreßt.
13. Mai 1844
[JJ.01_206,01] Je länger aber nun die Tullia das Kleine auf den Armen hatte,
desto mehr erkannte sie ihre Lebensfehler in sich und weinte darob sehr von Zeit
zu Zeit.
[JJ.01_206,02] Da richtete Sich das Kindlein auf und sprach zur Tullia: „Du
Meine liebe Tullia! Das gefällt Mir schon wieder nicht von dir, daß du nun in
einem fort weinest, da du Mich doch auf deinen Armen hast!
[JJ.01_206,03] Sei nun heiter und fröhlich; denn Ich habe kein Wohlgefallen an
den Tränen der Menschen, wenn sie da fallen, wo sie nicht vonnöten sind!
[JJ.01_206,04] Meinst du etwa, deine Tränen werden reinigen dein Herz von aller
Sünde vor Mir?
[JJ.01_206,05] O siehe, das ist töricht! Die Tränen gleiten wohl über deine
Wangen und trüben deine Augen, was dir schädlich ist sogar, –
[JJ.01_206,06] aber übers Herz gleiten die Tränen nicht und reinigen es auch
nicht; wohl aber machen sie es oft verschlossen, daß dann weder etwas Gutes noch
etwas Böses in selbes eingehen kann!
[JJ.01_206,07] Und siehe, das bringt dann auch den Tod dem Geiste, der im Herzen
wohnet!
[JJ.01_206,08] Denn ein trauriger Mensch ist stets ein beleidigtes Wesen, und
dieses Wesen ist für nichts aufnahmefähig.
[JJ.01_206,09] Nur drei Tränen habe Ich in das Auge des Menschen gelegt, und
diese sind: die Freudenträne, die Mitleidsträne und die Träne, die der Schmerz
erpreßt.
[JJ.01_206,10] Diese allein mag Ich sehen; aber die Trauerträne, die Reueträne
und Zornträne, die aus dem Mitleid mit sich selbst entsteht, sind Früchte des
eigenen Grund und Bodens und haben bei Mir einen geringen Wert.
[JJ.01_206,11] Denn die Trauerträne entstammt einem beleidigten Gemüte und
verlangt Ersatz; kommt dieser nicht, so umwandelt sich ein solch Gemüt leicht in
einen geheimen Zorn und endlich in ein Rachegefühl.
[JJ.01_206,12] Die Reueträne ist ähnlichen Ursprungs und kommt erst dann nach
der Sünde zum Vorscheine, so eben die Sünde eine wohltätige Züchtigung nach sich
gezogen hat.
[JJ.01_206,13] Dann aber ist sie keine Träne über die Sünde, sondern nur eine
Träne ob der Züchtigung und darum auch über die Sünde, weil diese die Züchtigung
zur Folge hatte.
[JJ.01_206,14] Auch diese Träne bessert das Herz nicht; denn der Mensch flieht
dann die Sünde nicht aus Liebe zu Mir, sondern nur aus Furcht vor der Strafe;
und siehe, das ist ärger denn die Sünde selbst!
[JJ.01_206,15] Was aber die Zornträne betrifft, so ist sie nicht wert, daß Ich
von ihr ein Wort spräche; denn diese ist ein Quellwasser aus dem Fundamente der
Hölle!
[JJ.01_206,16] Diese Träne aber befeuchtet wohl dein Auge nicht, sondern nur die
Reueträne.
[JJ.01_206,17] Ich aber sage dir: Trockne dir auch diese von deinen Augen; denn
du siehst ja, daß Ich an ihr keine Freude habe!“
[JJ.01_206,18] Hier wischte sich die Tullia die Tränen aus ihren Augen aus und
sprach: „O Herr! – Wie endlos weise und gut bist Du doch!
[JJ.01_206,19] O wie heiter und fröhlich könnte ich sein, wenn ich keine
Sünderin wäre!
[JJ.01_206,20] Aber ich habe in Rom auf Geheiß des Kaisers einem Götzen des
Volkes wegen geopfert, und diese Tat nagt wie ein böser Wurm an meinem Herzen!“
[JJ.01_206,21] Und das Kindlein sagte: „Diese Sünde habe Ich dir schon eher
vergeben, als du sie begangen hast.
[JJ.01_206,22] Aber du warst Mir um die Liebe des Cyrenius neidisch; – siehe,
das war eine grobe Sünde! – Ich aber habe dir nun alles vergeben, und du hast
keine Sünde mehr, weil du Mich wieder liebst; daher aber sei fröhlich und
heiter!“
[JJ.01_206,23] Darauf ward die Tullia, wie alles im Hause Josephs, wieder voll
Heiterkeit, und alle begaben sich darauf zum Nachtmahle.
[JJ.01_207] 207. Kapitel – Des Kindleins beruhigende Worte vor der Sturmnacht.
Eudokias große Furcht. Und wärest du am Ende aller Welten, so würde Ich dich
doch schützen können!
14. Mai 1844
[JJ.01_207,01] Nach dem Nachtmahle segnete Joseph alle die Gäste, und das
Kindlein segnete sie auch und sagte:
[JJ.01_207,02] „Nun begebet euch alle zur Ruhe; fürchtet euch aber nicht, wenn
zur Nachtzeit ein kleiner Sturm an unser Haus stoßen wird;
[JJ.01_207,03] denn es wird da niemandem ein Haar gekrümmt werden!
[JJ.01_207,04] Denket, Der hier unter euch wohnet, ist auch ein Herr der
Stürme!“
[JJ.01_207,05] Nach diesen Worten, die unter den Schiffsleuten des Cyrenius eine
Besorgnis um das Schiff erregten, sagte ein Schiffsknecht:
[JJ.01_207,06] „Dieses Kind ist ein rechter Prophet, denn es prophezeiet
Schlimmes!
[JJ.01_207,07] Daher – sollen wir wohl sogleich dahin ziehen, wo das Schiff des
Cyrenius schwach befestigt sich befindet, und sollen es soviel als möglich ans
Ufer ziehen und da festmachen!?“
[JJ.01_207,08] Da erhob sich Jonatha und sprach: „Laßt diese Sorge gut sein!
[JJ.01_207,09] Denn fürs erste wird der Herr schon auch das Schiff zu schützen
wissen;
[JJ.01_207,10] fürs zweite aber habe auch ich Leute daheim, die mit dem
Schiffsicherungswesen besser umzugehen wissen als ihr, und werden das Schiff des
Statthalters schon zu sichern wissen. Daher möget ihr samt mir schon ganz ruhig
sein!“
[JJ.01_207,11] Damit war alles beruhigt, und alles begab sich zur Ruhe.
[JJ.01_207,12] Maria aber bereitete dem Kindlein auch sogleich ein recht weiches
und frisches Bett, legte Es dann nieder und stellte das kleine Bettchen neben
ihr Lager.
[JJ.01_207,13] Es schliefen aber gewöhnlich die Maria und die Eudokia in einem
Bette beisammen, und also auch jetzt.
[JJ.01_207,14] Die Eudokia aber, eine tüchtige Furcht vor dem vorgesagten Sturme
habend, sagte zur Maria:
[JJ.01_207,15] „Maria, siehe, ich habe eine starke Furcht vor dem sicher
kommenden Sturme!
[JJ.01_207,16] Wie wäre es denn, so wir das Kindlein heute zwischen uns in die
Mitte nähmen?
[JJ.01_207,17] Da wären wir doch gewissest sicher vor jeglicher Gefahr!“
[JJ.01_207,18] Da aber das Kindlein solche Besorgnis von der Eudokia vernommen
hatte, da lächelte Es und sagte darauf:
[JJ.01_207,19] „O Eudokia! Manchmal bist du recht gescheit, aber manchmal wieder
dümmer als der Blitz!
[JJ.01_207,20] Meinst du wohl, daß Ich dich nur dann schützen kann, so Ich Mich
in deinem Schoße befinde?!
[JJ.01_207,21] O da bist du in großer Irre! – Siehe, Mein Arm ist länger, als du
meinst!
[JJ.01_207,22] Und wärest du am Ende aller Welten, so würde Ich dich noch so gut
wie hier schützen können!
[JJ.01_207,23] Daher sei ruhig, und gehe wie sonst zur Ruhe, und du wirst morgen
schon wieder gesund aufstehen!“ – Das beruhigte die Eudokia, und sie legte sich
mit Maria sogleich zur Ruhe.
[JJ.01_208] 208. Kapitel – Die Schrecknisse des nächtlichen Orkans. Die wilden
Tiere. Josephs Fluch über den Sturm. Des Kindleins Rüge. Das Ende des Sturmes.
15. Mai 1844
[JJ.01_208,01] Nach zwei Stunden, als sich alles schon in der Ruhe befand, kam
ein gar mächtiger Orkan und stieß so gewaltig an das Haus, daß das ganze Haus
erbebte.
[JJ.01_208,02] Alle Schlafenden wurden durch diesen dröhnenden Stoß aufgeweckt.
[JJ.01_208,03] Und da der Orkan fortwütete und von tausend Blitzen und dem
gewaltigsten Donner begleitet war,
[JJ.01_208,04] so fing bald alles an zu beben und zu zagen, was sich nur im
Hause Josephs befand.
[JJ.01_208,05] Zu dem Wüten und Toben des Orkans gesellte sich auch noch das
Geheul von einer Menge wilder reißender Tiere und vermehrte die Angst der Gäste
im Hause Josephs.
[JJ.01_208,06] Alles fing an, sich in das Gemach zu drängen, in dem sich Joseph,
Cyrenius und Jonatha befanden, und suchte da Schutz.
[JJ.01_208,07] Joseph aber stand auf und machte Licht und tröstete die Zagenden,
so gut es ihm nur immer möglich war.
[JJ.01_208,08] Desgleichen tat auch der Riese Jonatha und der Cyrenius.
[JJ.01_208,09] Aber da der Sturm stets heftiger wurde, so gab das Trösten der
drei nicht viel aus; und ganz besonders wurden dadurch die meisten in die größte
Todesangst versetzt, als einige Tiger bei den freilich wohl mit Gittern
versehenen Fenstern anfingen, ihre Tatzen hineinzustrecken unter einem gar
unheimlichen Geheule.
[JJ.01_208,10] Als dem Joseph selbst das Ding ein wenig zu arg ward, da erregte
er sich und sprach zum Sturme:
[JJ.01_208,11] „Verstumme, du Ungetüm, im Namen Dessen, der hier wohnt, ein Herr
der Unendlichkeit,
[JJ.01_208,12] und beunruhige fürder nimmer, die da der Ruhe bedürfen zur
Nachtzeit! – Es geschehe!“
[JJ.01_208,13] Solche Worte rief Joseph mit großer Kraft aus, daß sich darob
alle entsetzten, mehr noch als vor dem Wüten des Orkans.
[JJ.01_208,14] Aber sie wollten dennoch nichts bewirken, worüber dann Joseph
noch mehr erregt wurde und noch heftiger seine Drohung an den Sturm richtete.
[JJ.01_208,15] Aber auch diese blieb fruchtlos, und der Orkan spottete des
Josephs.
[JJ.01_208,16] Da ward Joseph zornig über den ungehorsamen Orkan und verfluchte
ihn.
[JJ.01_208,17] In diesem Momente ward das Kindlein wach und sagte zum Jakob, der
sich neben dem kleinen Bettchen befand:
[JJ.01_208,18] „Jakob, gehe hinein zum Joseph und sage ihm, er solle seinen
Fluch wieder zurücknehmen; denn er fluchte, das er nicht kennt!
[JJ.01_208,19] Morgen aber wird er erst den Grund dieses Sturmes einsehen und
erkennen dessen guten Grund; in wenigen Minuten aber wird er ohnehin zu Ende
sein.“
[JJ.01_208,20] Darauf ging Jakob sogleich zum Joseph und sagte zu ihm, was ihm
das Kindlein aufgegeben hatte.
[JJ.01_208,21] Da ermannte sich Joseph, tat, was ihm Jakob kundgab, und bald
darauf legte sich der Sturm; die Bestien verloren sich, und alles im Hause
Josephs begab sich wieder zur Ruhe. –
[JJ.01_209] 209. Kapitel – Die Wohltat und der Zweck des nächtlichen Sturmes:
die Vernichtung der Räuber.
17. Mai 1844
[JJ.01_209,01] Am nächsten Morgen stand Joseph wie gewöhnlich schon sehr früh
auf und teilte an seine vier Söhne die Tagesarbeiten aus.
[JJ.01_209,02] Die erste war, daß sie zu sorgen haben für ein gutes Frühstück,
und was dann der Tag geben wird.
[JJ.01_209,03] Nach solcher Beorderung ging er hinaus und sah nach, was da etwa
der nächtliche Sturm alles für Schaden angerichtet hatte.
[JJ.01_209,04] Als er aber so hin und her ging, da fand er bald eine Menge
abgenagter Menschengebeine
[JJ.01_209,05] und traf eine Menge Stellen an, die mit Menschenblut besudelt
waren.
[JJ.01_209,06] Er entsetzte sich ob solchen Anblickes ganz gewaltig und konnte
sich dieses Rätsel nicht lösen.
[JJ.01_209,07] Als er aber etwas fürbaß ging, da fand er auch eine Menge Dolche
und kleiner Lanzen, die häufig mit Blut besudelt waren.
[JJ.01_209,08] Bei diesem Anblicke fing ihm an ein ganz sonderbares Licht
aufzugehen, und er fing an, so ganz leise des Orkans und der durch denselben
herbeigeführten Tiere wohltätigen Grund einzusehen.
[JJ.01_209,09] Schnell begab sich darauf Joseph zu seinen vier Söhnen und zeigte
ihnen solches an und behieß drei, zu sammeln die Knochen und die Waffen.
[JJ.01_209,10] In der Zeit von anderthalb Stunden lag ein ganz großer Haufen
Gebeine unter einem Baume aufgeschichtet und daneben ein zweiter Haufen von
blutigen Waffen.
[JJ.01_209,11] Nach dem Frühstücke erst führte Joseph den Cyrenius und den
Jonatha hinaus und zeigte ihnen diesen sonderbaren Morgenfund.
[JJ.01_209,12] Als der Cyrenius dessen ansichtig ward, da schlug er die Hände
über dem Kopfe zusammen und sprach:
[JJ.01_209,13] „Aber um des allmächtigen Herrn willen, – was ist denn das?!
[JJ.01_209,14] Woher diese Totengebeine, woher diese noch von frischem Blute
triefenden Waffen?
[JJ.01_209,15] Joseph, Bruder, Freund! Hast du keine Ahnung, die dir leise
einflüsterte den Grund dieses Greuels?“
[JJ.01_209,16] Und der Joseph sprach: „Freund und Bruder, das sind entweder
Seeräuber oder jene Meuterer, die dein Schiff verfolgten!
[JJ.01_209,17] Doch lasse uns zuvor alles das vernichten durchs Feuer;
[JJ.01_209,18] sodann erst wollen wir der Sache näher auf den Grund zu kommen
trachten!“
[JJ.01_209,19] Der Cyrenius begnügte sich damit, und alle seine Leute mußten von
allen Seiten Holz herbeischleppen.
[JJ.01_209,20] Und als gegen Mittag ein gehörig großer Haufen Holzes auf einem
freien Platz aufgerichtet war, da wurden die Gebeine samt den Waffen auf den
großen Holzstoß gelegt und also verbrannt.
[JJ.01_210] 210. Kapitel – Der dreimalige Umlauf des Kindes um die Brandfläche
und seine prophetischen Worte an Cyrenius: „Der Herr aber wird dreimal um die
Brandstätte der Welt ziehen, und es wird Ihn niemand fragen und sagen: ,Herr!
was tust Du?‘ Und beim dritten Umgange erst solle der letzte Strahl des Zornes
von der Erde genommen werden!“
18. Mai 1844
[JJ.01_210,01] Nachdem im Verlaufe von etlichen Stunden alles verbrannt war und
von dieser Szene von allen den übrigen Gästen niemand etwas bemerkt hatte – indem es der Herr also haben wollte
– außer der Dienerschaft des Cyrenius,
[JJ.01_210,02] da erst kamen die Tullia, der Maronius Pilla und die Obersten und
die Hauptleute samt Maria und dem Jakob, der das Kindlein führte, an diesem Tage
zum ersten Male aus dem Hause ins Freie.
[JJ.01_210,03] Und der Maronius Pilla, da er eine sehr feine Nase hatte, nahm
sogleich einen Brandgeruch wahr,
[JJ.01_210,04] ging sogleich zum Joseph und sagte: „Edelster Freund, merkst du
nichts von dem Geruche nach einem wilden Brande in deinen Nüstern?“
[JJ.01_210,05] Und der Joseph führte ihn etwas hinter das Haus und zeigte ihm
mit dem Finger die Brandstätte.
[JJ.01_210,06] Und Maronius fragte, was denn da dem Feuer preisgegeben ward.
[JJ.01_210,07] Und der Joseph sprach: „Freund! Darum eben ward die Sache dem
Feuer übergeben, auf daß sie nicht aller Welt in die Augen fallen solle!
[JJ.01_210,08] Cyrenius aber weiß alles; darum wende dich an ihn, er wird es dir
sagen, was da war; denn er war Zeuge von allem!“
[JJ.01_210,09] Damit war der Maronius abgefertigt und mit ihm noch einige
neugierige Forscher.
[JJ.01_210,10] Es verlangte aber darauf das Kindlein, mit Joseph, Cyrenius,
Jonatha und mit Seinem Jakob zur Brandstätte zu gehen, die noch hier und da ein
wenig dampfte.
[JJ.01_210,11] Als diese dort anlangten, da lief das Kindlein dreimal um die
bedeutend große Brandfläche, nahm einen zur Hälfte verbrannten Dolch und gab ihn
dem Cyrenius und sprach:
[JJ.01_210,12] „Cyrenius, siehe, nun sind deine Feinde besiegt, und zu Asche
ward ihre Festigkeit!
[JJ.01_210,13] Hier ist der letzte feindliche Rest in Meiner Hand, und dieser
ist untauglich geworden!
[JJ.01_210,14] Ich übergebe ihn dir zum Zeichen, daß du keine Rache üben sollst
fürder an denen, die wider dich waren – und einige wenige es noch sind!
[JJ.01_210,15] Denn also unbrauchbar und verschlackt, wie dieser Dolch hier,
solle auch aller Zorn in dir und in deinen wenigen Feinden sein!
[JJ.01_210,16] Diese deine Feinde aber gingen von Tyrus aus und wollten dich
hier verderben.
[JJ.01_210,17] Ich aber wußte den Tag und die Stunde und den Augenblick, da du
in Gefahr schwebtest.
[JJ.01_210,18] Darum ließ Ich in dieser Nacht zur rechten Zeit einen Sturm
kommen, der die reißenden Tiere aus dem Gebirge trieb
[JJ.01_210,19] und mußte die Meuterer in große Furcht und Angst versetzen, auf
daß sie unbehilflich wurden, als sie von den Bestien angefallen worden sind.
[JJ.01_210,20] Und siehe, also wird es in der Zukunft sein: Ein mächtig Feuer
aus der Höhe wird kommen über die Gebeine der Frevler und wird sie verzehren bis
zu Staub und Asche!
[JJ.01_210,21] Der Herr aber wird dreimal um die Brandstätte der Welt ziehen,
und es wird Ihn niemand fragen und sagen: ,Herr! was tust Du?‘
[JJ.01_210,22] Und beim dritten Umgange erst solle der letzte Strahl des Zornes
von der Erde genommen werden!“ – – –
[JJ.01_210,23] Alle aber machten ob dieser Rede große Augen; denn niemand
verstand ihren Sinn. – –
[JJ.01_211] 211. Kapitel – Josephs Frage und des Kindleins tröstliche Antwort.
Der große Hunger des Kindleins. Das Fischmahl. Des Cyrenius Frage wegen des
Mittelmeeres.
20. Mai 1844
[JJ.01_211,01] Nach einer Weile aber ging Joseph zum Kindlein hin und fragte Es,
wie solches zu verstehen wäre.
[JJ.01_211,02] Und das Kindlein sprach: „Joseph, da forschest du vergeblich!
[JJ.01_211,03] Denn gar viele Dinge gibt es, die euch nicht offenbar werden,
dieweil ihr lebet auf der Erde.
[JJ.01_211,04] Wer aber kommen wird nach diesem Leben in Mein Reich geistig, dem
wird alles im Lichte gezeiget werden!
[JJ.01_211,05] Darum frage hier nicht nach Dingen, die dich nun nichts angehen!
[JJ.01_211,06] Lasse aber nun Erde bringen und mit ihr bedecken diese
Brandfläche!“
[JJ.01_211,07] Und der Joseph wandte sich hier an den Cyrenius, und dieser ließ
sogleich durch seine Leute Erde herbeischaffen und mit selber bedecken die
Stelle.
[JJ.01_211,08] Nach dieser Arbeit war es Mittag geworden, und die Söhne Josephs
waren auch mit ihrem Mittagsmahle fertig und hielten es in der Bereitschaft für
die vielen Gäste.
[JJ.01_211,09] Und das Kindlein sprach Selbst zum Joseph: „Lieber Joseph! Ich
bin schon recht hungrig geworden; drei große Fische sind gebraten, daher gehen
wir zum Essen!“
[JJ.01_211,10] Joseph aber sprach: „Das ist recht löblich; aber – werden die
Fische wohl für mehr als hundert Personen ausreichen?!“
[JJ.01_211,11] Und das Kindlein erwiderte: „Nun – und ob! Hast du doch die
großen Tiere gesehen; wie magst du danach fragen?
[JJ.01_211,12] Ein jeder Fisch hat gut hundert Pfunde; da braucht es wahrlich
nicht mehr, und es ist genug für zweihundert Menschen!
[JJ.01_211,13] Daher gehen wir nun nur nach Hause; denn Ich bin schon sehr
hungrig – und besonders auf die guten Fische des Mittelmeeres!“
[JJ.01_211,14] Und der Joseph berief sogleich alle zum Mittagsmahl und begab
sich in die Villa.
[JJ.01_211,15] Unterwegs aber fragte der Cyrenius das holde Kindlein, ob denn
dieses Meer wohl richtig ein Mittelmeer (mare mediterraneum) sei.
[JJ.01_211,16] Und das Kindlein sprach: „Ob richtig oder nicht – Ich muß ja nach
eurer Art mit euch reden, so Ich von euch verstanden werden will!
[JJ.01_211,17] Nach dem Essen aber kannst du auf der kleinen Erdkugel nachsehen,
und du wirst da es wohl finden, ob dieser Ausdruck paßt!“
[JJ.01_211,18] Darauf lief das Kindlein voraus mit Seinem Jakob, um ja bald am
Tische zu sein.
[JJ.01_211,19] Und als der Joseph kam, da lächelte ihm das Kindlein schon vom
Tische entgegen, indem Es schon ein Stückchen Fisch in der Hand hielt.
[JJ.01_211,20] Joseph aber freute sich dessen sehr geheim; nur sagte er des
Anstandes wegen:
[JJ.01_211,21] „Aber – Du mein liebstes Kindlein, so ein großes Stück! – Wirst
Du es wohl aufessen können?“
[JJ.01_211,22] Und das Kindlein lächelte noch mehr und sprach: „Sorge dich um
etwas anderes; denn dafür haben schon deine Väter gesorgt, daß Meinem Magen
nicht leichtlich etwas schadet, – denn die haben Mir gar oft die schlechtesten
und größten Brocken aufgetischt.“ – Hier verstand Joseph wohl, was das Kindlein
sagen wollte.
[JJ.01_212] 212. Kapitel – Jakobs und des Kindleins Fastenstrafe wegen des
unterlassenen Tischgebetes. Des Kindleins Frage an Joseph, warum und zu wem Es
beten soll. Das Jesuskind eilt mit Seinem Jakob hinaus und läßt Sich nicht
zurückhalten.
21. Mai 1844
[JJ.01_212,01] Darauf aber begann Joseph sein gewöhnliches Tischgebet und
segnete die Speise –
[JJ.01_212,02] und fragte darauf das Kindlein, ob Es wohl auch schon gebetet
hätte.
[JJ.01_212,03] Das Kindlein aber lächelte wieder und sagte zum Jakob:
[JJ.01_212,04] „Du, jetzt wird's uns gut gehen! Wir haben ja beide das Bitt- und
Dankgebet vergessen und haben aber dennoch schon gegessen vom Fische!
[JJ.01_212,05] Rede du jetzt, so gut es geht, sonst sind wir offenbar wieder in
einer Strafe und werden etwas fasten müssen!“
[JJ.01_212,06] Und der Jakob, etwas verlegen, sagte: „Lieber Vater Joseph, ich
bitte dich um Vergebung; denn ich habe diesmal wirklich samt meinem Jesus zu
beten vergessen!“
[JJ.01_212,07] Als der Joseph solches vom Jakob vernommen hatte, da machte er
ein etwas finsteres Gesicht und sprach:
[JJ.01_212,08] „Habt ihr das Beten vergessen, so vergesset auch das Essen bis
auf den Abend, und gehet nun unterdessen ein wenig lustwandeln ins Freie!“
[JJ.01_212,09] Und das Kindlein lächelte hier den Jakob an und sprach: „Nun, da
haben wir's ja! Habe Ich nicht geredet ehedem, daß es da aufs Fasten ankommen
wird?!
[JJ.01_212,10] Aber warte doch noch ein wenig; Ich will mit dem Joseph auch doch
noch zuvor ein paar Wörtlein sprechen!
[JJ.01_212,11] Vielleicht läßt er dann etwas handeln mit sich wegen des Fastens
bis zum Abende.“
[JJ.01_212,12] Und der Jakob sprach im geheimen: „Herr! tue Du, was Dir als
Bestes dünkt, und ich werde dann Deinem Beispiele folgen.“
[JJ.01_212,13] Und das Kindlein fragte den Joseph, sagend nämlich: „Joseph! Ist
das wohl dein vollkommener Ernst?!“
[JJ.01_212,14] Und der Joseph sprach: „Ja – ganz natürlich; denn wer nicht
betet, der solle auch nicht essen!“
[JJ.01_212,15] Und das Kindlein lächelte abermals und sprach: „Aber das heiße
Ich scharf sein!
[JJ.01_212,16] Siehe, so Ich so scharf wäre, wie du nun bist, da hätten gar
viele eine Fastenstrafe, die heute doch essen, obschon sie nicht gebetet haben!
[JJ.01_212,17] Ich möchte aber doch von dir einmal vernehmen, warum und zu wem
Ich so ganz eigentlich beten solle?!
[JJ.01_212,18] Und dann möchte Ich auch von dir erfahren, zu wem du so ganz
eigentlich betest in deinem Gebete, und zu wem der arme Jakob hätte beten
sollen? – !“
[JJ.01_212,19] Und Joseph sprach: „Zu Gott dem Herrn, Deinem heiligen Vater mußt
Du beten, darum Er heilig ist, überheilig!“
[JJ.01_212,20] Und das Kindlein sprach: „Da hast du freilich wohl recht;
[JJ.01_212,21] aber das Fatale an der Sache ist nur das, daß du eben den Vater
aller Heiligkeit nicht kennest, zu dem du betest!
[JJ.01_212,22] Und diesen Vater wirst du noch lange nicht erkennen, weil dich
deine alte Gewohnheitsblende daran hindert!“
[JJ.01_212,23] Darauf sprach das Kindlein zum Jakob: „Gehen wir nur hinaus, und
du sollst sehen, daß man draußen im Freien auch ohne Gebet etwas zu essen
bekommen kann!“
[JJ.01_212,24] Darauf lief das Kindlein mit Seinem Jakob hinaus und ließ Sich
nicht zurückhalten.
[JJ.01_213] 213. Kapitel – Marias und des Cyrenius Tadel gehen Joseph sehr zu
Herzen. Er geht hinaus und ruft nach dem Kindlein.
22. Mai 1844
[JJ.01_213,01] Als das Kindlein und der Jakob aber draußen waren, da sagte die
Maria zum Joseph:
[JJ.01_213,02] „Höre, du mein lieber Gemahl und Vater Joseph! Manchmal bist du
gegen das göttliche Kind denn doch etwas zu scharf!
[JJ.01_213,03] Was könnte man denn sonst wohl bei einem natürlichen
Menschenkinde von zwei und eindrittel Jahren erwarten?
[JJ.01_213,04] Wer wohl würde es schon einer so strengen Zucht unterziehen?
[JJ.01_213,05] Du aber bist gegen dies Kind aller Kinder also zuchtstrenge, als
wäre Es in Gott weiß was für einem reifen Alter!
[JJ.01_213,06] Siehe, das kommt mir sehr unbillig vor! – Hast du Es dann und
wann auch über die Maßen lieb, so bist du aber dennoch manchmal wieder so
strenge gegen Dasselbe, als hättest du keine Liebe zu Ihm!“
[JJ.01_213,07] In diesen Ton der Maria stimmten auch sogleich Cyrenius, der
Jonatha, die Tullia, die Eudokia und der Maronius Pilla.
[JJ.01_213,08] Und der Cyrenius sagte extra noch zum Joseph: „Freund! Ich weiß
wirklich nicht, wie du mir manchmal vorkommst!
[JJ.01_213,09] Einmal lehrst du mich im Kindlein Selbst das allerhöchste Wesen
Gottes erkennen, –
[JJ.01_213,10] gleich darauf verlangst du wieder vom Kindlein, daß Es einen Gott
anbeten solle!
[JJ.01_213,11] Sage mir, wie sich das zusammenreimt? – Ist das Kindlein das
Gottwesen Selbst, wie solle Es dann zu einem Gotte beten? – Kommt dir nicht
solche deine Forderung ein wenig unsinnig vor?
[JJ.01_213,12] Und ich setze den Fall, das Kindlein wäre nicht Das, als was ich
Es nun ganz ungezweifelt erkenne und allzeit anbete,
[JJ.01_213,13] da, meine ich als ein wahrer Kinderfreund, dürfte dein Begehren
von einem Wiegenkinde denn doch etwas töricht sein;
[JJ.01_213,14] denn wer wird da von einem neun Vierteljahre alten Kinde ein
strenges Gebet verlangen?
[JJ.01_213,15] Darum mußt du mir nun das schon zugute halten, so ich als ein
Heide dir sage:
[JJ.01_213,16] Freund, du mußt mit dreifacher Blindheit geschlagen sein, wenn du
das Kindlein nicht allzeit gleich zu würdigen imstande bist! –
[JJ.01_213,17] Fürwahr, diesmal esse auch ich keinen Bissen, so das Kindlein mit
Seinem Jakob nicht hier an meiner Seite Sich befinden wird!
[JJ.01_213,18] Ist es nicht lächerlich sogar, so du um die Segnung der Speise
Gott den Herrn anflehest und schaffst dann eben denselben einen Gott und Herrn
vom Tische weg, darum Er nicht gebetet hat nach deiner angewohnten Art?!
[JJ.01_213,19] Darum fragte dich auch sicher das Kindlein, zu wem Es so ganz
eigentlich beten solle, und zu wem du betest, und zu wem auch der Jakob hätte
beten sollen.
[JJ.01_213,20] Du aber hast nach meinem Dafürhalten nicht gemerkt, was das
Kindlein dir dadurch hat sagen wollen!“
[JJ.01_213,21] Diese recht triftigen Bemerkungen gingen dem Joseph sehr zu
Herzen, und er ging hinaus, das Kindlein samt dem Jakob zu holen.
[JJ.01_213,22] Aber er rief da den Jakob und das Kindlein vergebens, denn die
beiden hatten sich schnell entfernt; wohin aber – das wußte niemand.
[JJ.01_214] 214. Kapitel – Josephs Söhne auf der Suche nach dem Kindlein. Die
geheime Stimme und ihre tröstenden Worte an Joseph. Joseph folgt dem ihm
entgegenkommenden Kindlein auf die Höhe des Berges. Ein Querbalken aus
Zedernholz als Tisch des Herrn, besetzt mit Lamm, Wein und Brot. Das Mahl am
Tische des Herrn. – „Das wahre Gebet ist die Liebe zu Mir!“
23. Mai 1844
[JJ.01_214,01] Da aber dem Joseph darauf bange ward, so berief er sobald die
vier älteren Söhne und sagte zu ihnen:
[JJ.01_214,02] „Gehet und helfet mir suchen das Kindlein und den Jakob; denn ich
habe mich versündigt am Kinde, und es ist mir gewaltig bange ums Herz!“
[JJ.01_214,03] Und die vier Söhne gingen eilends aus nach allen Seiten und
suchten das Kindlein bei einer Stunde lang, fanden Es aber nirgends und kamen
unverrichteterdinge nach Hause.
[JJ.01_214,04] Als der Joseph aber sah, daß die vier Söhne allein nach Hause
kamen, da ward es ihm gar sehr bange ums Herz, daß er darob hinausging recht
weit von der Villa und weinte dort recht bitterlich über sein vermeintes
Vergehen gegen das Kind.
[JJ.01_214,05] Als er aber also weinte, da vernahm er eine Stimme, die zu ihm
sprach:
[JJ.01_214,06] „Joseph! du Gerechter, weine nicht, und lasse dich nicht
beunruhigen von den Menschen in deinem Gemüte!
[JJ.01_214,07] Denn Ich, den du nun ängstlich und voll bangen Gemütes suchest,
bin dir näher, als du glaubst.
[JJ.01_214,08] Gehe aber in der Richtung deines Angesichts vorwärts, und deine
Augen werden Den erschauen, der nun zu dir redet und den du suchest!“
[JJ.01_214,09] Auf diese wunderbaren Worte erhob sich Joseph getröstet und ging
eiligst vorwärts nach der Richtung seines Angesichts, bei einer halben Stunde
Feldweges.
[JJ.01_214,10] Und da er also ging, kam er an einen bedeutenden Hügel, der eine
Höhe von hundertundsiebenzig Klaftern hatte.
[JJ.01_214,11] Da dachte er und sprach bei sich: „Solle ich auch auf diesen
Hügel steigen bei dieser starken Hitze?“
[JJ.01_214,12] Und die Stimme sprach wieder: „Ja, auch auf diesen Hügel mußt du
gehen; denn auf der Höhe erst sollen deine Augen den Herrn schauen, den du nicht
gesehen hast, da Er bei dir zu Tische saß!“
[JJ.01_214,13] Da der Joseph solches vernommen hatte, da achtete er der großen
Hitze nicht und ging eilig den Hügel hinauf.
[JJ.01_214,14] Und als er nahe an den Scheitel kam, da fand er diesen in dichte
Nebel verhüllt und wunderte sich sehr, daß ein so kleiner Berg in dieser
Jahreszeit Nebel hatte; denn es war die Zeit um die Ostern.
[JJ.01_214,15] Als er sich aber da also wunderte, siehe, da kamen bald der Jakob
und das Kindlein aus den Nebeln zum Vorscheine, und das Kindlein sprach:
[JJ.01_214,16] „Joseph! scheue dich nicht, und komme mit heiterem Gemüte mit Mir
auf den Scheitel dieses Hügels,
[JJ.01_214,17] und überzeuge dich daselbst, daß nun die Zeit noch nicht da ist,
in der der Herr fasten solle darum, da Er nicht gebetet hatte!
[JJ.01_214,18] Es wird wohl eine Zeit kommen, in der der Herr fasten wird, aber
jetzt ist sie noch nicht da. – Und so folge Mir!“
[JJ.01_214,19] Und der Joseph folgte dem Kindlein und kam bald auf die Höhe.
[JJ.01_214,20] Als er auf der Höhe sich befand, da wichen die Nebel, und auf
einem fein polierten Querbalken aus Zedernholz befand sich ein gebratenes Lamm,
ein Pokal voll köstlichen Weines und ein Laib feinsten Weizenbrotes.
[JJ.01_214,21] Hier staunte Joseph über die Maßen und sprach: „Aber woher habt
ihr denn das alles genommen? – Haben das euch die Engel gebracht, oder hast Du,
o Herr, es geschaffen?“
[JJ.01_214,22] Und das Kindlein schaute zur Sonne und sprach: „Joseph, siehe,
auch diese Leuchte der Erde speiset an Meinem Tische!
[JJ.01_214,23] Und Ich sage dir: sie braucht in einer Stunde mehr, als wie groß
diese Erde ist, die dich trägt, und siehe, sie hat noch nie Hunger und Durst
gelitten! – Und solche Kostgänger habe Ich zahllos viele und noch endlos
größere!
[JJ.01_214,24] Meinst du wohl, daß Ich dann fasten werde, wenn du Mich vom
Tische schaffst, so Ich Mich Selbst nicht anbeten will zur Unzeit?
[JJ.01_214,25] O siehe, des hat der Herr nicht vonnöten! – Komme aber nun du an
Meinen Tisch und speise mit Mir; aber diesmal ohne dein angewohntes Gebet!
[JJ.01_214,26] Denn das wahre Gebet ist die Liebe zu Mir; hast du diese, dann
kannst du deinen Lippen allzeit die Mühe ersparen!“ – Und der Joseph ging hinzu
und aß und trank am wahren Tische des Herrn und fand die Speise gar himmlisch
wohlschmeckend.
[JJ.01_215] 215. Kapitel – Der kreuztragende Joseph. Des Kindleins Evangelium
vom Kreuz.
24. Mai 1844
[JJ.01_215,01] Nach dieser himmlischen Mahlzeit auf dem kleinen Berge sagte der
Joseph zum Kindlein:
[JJ.01_215,02] „Mein Herr und mein Gott! Ich armer alter Greis bitte Dich,
vergebe mir, so ich Dich doch sicher beleidiget habe, und kehre wieder mit mir
in das Haus zurück!
[JJ.01_215,03] Denn ohne Dich kann ich nun nimmer zurückkehren; kehre ich aber
ohne Dich zurück, so werden dann alle gar bitter wider mich ziehen und werden
mich strafen mit harten Worten!“
[JJ.01_215,04] Und das Kindlein sprach: „Ja, ja, Ich gehe ja wohl mit dir; denn
hier werde Ich nicht eine Wohnstätte aufrichten und bleiben allda!
[JJ.01_215,05] Aber eines verlange Ich von dir, und das bestehet darin, daß du
diesen Meinen Tisch auf deine Achseln nimmst und ihn tragest vor Mir nach Hause!
[JJ.01_215,06] Scheue aber nicht dessen Last; denn die wird dich wohl ein wenig
drücken, aber nicht beugen und noch weniger schwächen!“
[JJ.01_215,07] Auf diese Worte nahm Joseph das schöne Kreuz und Jakob die
Überbleibsel von der Mahlzeit und traten also mit dem Kindlein in der Mitte den
Rückweg an.
[JJ.01_215,08] Nach einer Weile sprach Joseph zum Kindlein: „Höre, Du mein
geliebtester Jesus! Das Kreuz ist denn doch recht schwer, – könnten wir denn
nicht ein wenig rasten?“
[JJ.01_215,09] Und das Kindlein sprach: „Joseph, du hast schon größere Lasten
als Zimmermann getragen, die dir nicht Ich auferlegt habe;
[JJ.01_215,10] und siehe, da mochtest du dir keine Rast eher gönnen, als bis du
die Last an ihren Ort befördert hattest!
[JJ.01_215,11] Nun trägst du zum ersten Male nur eine kleine Last für Mich und
willst dir schon nach tausend Schritten eine Rast nehmen!?
[JJ.01_215,12] O Joseph! – trage, trage Meine leichte Last ohne Rast, so wirst
du einst in Meinem Reiche den rechten Lohn finden!
[JJ.01_215,13] Siehe, an diesem Kreuze wirst du Meiner Bürde gewahr, und es wird
dir durch seinen kleinen Druck sagen, was Ich auf der Welt dir bin!
[JJ.01_215,14] Aber wenn du diese Welt in Meinen Armen verlassen wirst, dann
wird dir dieses Kreuz zu einem feurigen Eliaswagen werden, in dem du seligst vor
Mir aufwärts fahren wirst!“
[JJ.01_215,15] Nach diesen Worten küßte der alte Joseph das ziemlich schwere
Kreuz und trug es ohne Rast weiter;
[JJ.01_215,16] und es kam ihm nimmer so schwer vor, daß er es dann leicht ganz
bis zur Villa brachte.
[JJ.01_215,17] Es war aber bei der Villa alles in der gespanntesten Erwartung,
und das voll großer Ängstlichkeit, von welcher Seite etwa der Joseph mit dem
Kindlein und mit dem Jakob zurückkommen möchte.
[JJ.01_215,18] Als aber nun die Maria, der Cyrenius und die andern endlich
einmal der drei Kommenden ansichtig wurden, da war es aus!
[JJ.01_215,19] Alles lief ihnen mit offenen Armen entgegen, und die Maria
erfaßte sogleich das Kindlein und herzete Es mit krampfhafter Liebe.
[JJ.01_215,20] Cyrenius aber verwunderte sich über Joseph, wie dieser einen
Galgen als ein Symbol der höchsten Schande und Schmach da auf seinen Achseln
nach Hause schleppen mochte.
[JJ.01_215,21] Und das Kindlein auf den Armen der Mutter richtete Sich auf und
sagte zum Cyrenius:
[JJ.01_215,22] „Wahrlich, wahrlich! – dieses Zeichen der größten Schmach wird
zum Zeichen der höchsten Ehre werden!
[JJ.01_215,23] Wenn du es nicht also tragen wirst nach Mir, wie es nun der
Joseph trägt, da wirst du nicht kommen in Mein Reich dereinst!“ – Diese Worte
brachten den Cyrenius zum Schweigen, und er fragte darauf nicht weiter über die
Bürde Josephs.
[JJ.01_216] 216. Kapitel – Kalter Fisch mit Öl und Zitronensaft. Der Grund für
die Mosaische Speisevorschrift. „Nun aber heißt es und wird allzeit heißen
fürder: Der Herr ist der beste Koch!“
25. Mai 1844
[JJ.01_216,01] Darauf begab sich alles wieder ins Haus und allda nach dem Willen
des Kindleins zum Tische.
[JJ.01_216,02] Denn es hatte noch keiner von den Hauptgästen irgendeinen Bissen
in den Mund gesteckt; die drei großen Fische lagen noch fast ganz unangetastet
da.
[JJ.01_216,03] Da aber während des Suchens des Kindleins mehrere Stunden
vergingen und der Tag dem Abende nahe war,
[JJ.01_216,04] da wurden natürlich die Fische auch kalt, in welchem Zustande sie
von den Juden zumeist nicht genossen werden durften.
[JJ.01_216,05] Da aber die Sonne dennoch nicht untergegangen war, so durften die
Fische wohl noch genossen werden; nur mußten sie frisch wieder übers Feuer
gebracht und wohl erwärmt werden.
[JJ.01_216,06] Darum berief Joseph sogleich seine vier Köche und befahl ihnen,
die Fische wieder zu überbraten.
[JJ.01_216,07] Das Kindlein aber sprach: „Joseph, lasse diese Arbeit gut sein;
denn von nun an sollen auch die Fische kalt genossen werden, wenn sie nur
gebraten sind zuvor!
[JJ.01_216,08] Lasse aber anstatt des Wiederbratens Zitronen und gutes Öl
bringen,
[JJ.01_216,09] und diese Fische werden also besser schmecken, als so sie wieder
gebraten würden!“
[JJ.01_216,10] Joseph befolgte sogleich den Rat des Kindleins und ließ bringen
einen ganzen Korb Zitronen und ein tüchtiges Gefäß voll frischen Öles.
[JJ.01_216,11] Und alle Gäste waren auf diese neue Kost lüstern, wie sie etwa
doch schmecken werde.
[JJ.01_216,12] Cyrenius war der erste, der sich ein recht tüchtiges Stück vom
Fische nahm und gab darauf Öl und den Saft einer Zitrone.
[JJ.01_216,13] Und als er zu essen begann, da konnte er nicht genug rühmen den
Wohlgeschmack des also zubereiteten Fisches.
[JJ.01_216,14] Auf solche Erfahrung des Statthalters griffen dann auch die
andern Gäste zu, und allen schmeckte diese Kost so wohl, daß sie sich nicht
genug darüber verwundern konnten.
[JJ.01_216,15] Als Joseph selbst eine recht ansehnliche Probe davon gemacht
hatte, da sprach er:
[JJ.01_216,16] „Fürwahr! Wenn Moses je einen also zubereiteten Fisch genossen
hätte, da hätte er diese Kost sicher auch in seine Diät aufgenommen!
[JJ.01_216,17] Aber er mußte eben in der Küche nicht so wohl bewandert gewesen
sein wie Du, mein allerliebster Jesus!“
[JJ.01_216,18] Hier lächelte das Kindlein recht herzlich und sprach gar
freundlich:
[JJ.01_216,19] „Mein lieber Vater Joseph, der Grund liegt darin:
[JJ.01_216,20] Unter Moses in der Wüste hieß es: Der Hunger ist der beste Koch!
– und das Volk hätte zu seinem Verderben oft rohes Fleisch gegessen aus Hunger;
[JJ.01_216,21] darum mußte Moses eine solche Diät vorschreiben, und die Speisen
mußten frisch und warm genossen werden.
[JJ.01_216,22] Nun aber heißt es und wird allzeit heißen fürder: Der Herr ist
der beste Koch! – und da kann man dann schon auch einen kalten Fisch mit
Zitronen und Öl genießen.
[JJ.01_216,23] Und das darum, weil der kalte, aber doch gut gebratene Fisch
gleich ist dem Zustande der Heiden, der Zitronensaft gleich der sie einenden und
zusammenziehenden Kraft aus Mir, und das Öl gleich Meinem Worte an sie. – Verstehst du nun, warum der Fisch also besser schmeckt?“
– Alles ward darob bis
zu Tränen gerührt und wunderte sich hoch über des Kindes Weisheit.
[JJ.01_217] 217. Kapitel – Warum das Mittelländische Meer mit Recht als
,Mittelmeer‘ bezeichnet werden kann. „... denn die wahre Mitte ist da, wo der
Herr ist!“
28. Mai 1844
[JJ.01_217,01] Als sich aber alle an den kalten Fischen gesättigt hatten, da
erhoben sie sich, dankten dem Joseph für dieses gute Mahl und begaben sich dann
ins Freie; denn die Sonne war noch nicht völlig untergegangen.
[JJ.01_217,02] Als die meisten Gäste aus dem Gefolge des Cyrenius draußen waren,
da sprach das Kindlein zu ihm:
[JJ.01_217,03] „Cyrenius! – erinnerst du dich nicht mehr, was du Mich draußen an
der Brandstätte gefragt hast, da Ich die Fische des Mittelmeeres angelobt habe,
wie sie gut und köstlich sind?“
[JJ.01_217,04] Der Cyrenius dachte hier ein wenig nach, fand aber seine Frage
nicht wieder in seiner Erinnerung.
[JJ.01_217,05] Er sprach darum zum Kindlein: „O Du mein Herr, Du mein Leben! – vergebe mir, ich muß es vor Dir gestehen, daß ich dieselbe ganz rein vergessen
habe!“
[JJ.01_217,06] Hier lächelte das Kindlein wieder und sagte voll Sanftmut zum
etwas verlegenen Cyrenius:
[JJ.01_217,07] „Hast du Mich nicht gefragt, ob das Mittelmeer wohl wirklich in
der Mitte der Erde sei?
[JJ.01_217,08] Ich aber beschied dich auf die kleine Erdkugel, auf der du
nachsehen sollest und dich überzeugen, ob dieses Meer wohl wirklich in der Mitte
der Erde sich befinde.
[JJ.01_217,09] Nun siehe, jetzt hätten wir ja die schönste Zeit dazu, diese
Sache abzumachen!
[JJ.01_217,10] Darum nehme die kleine Erde zur Hand und hole dir die Antwort auf
deine Frage!“
[JJ.01_217,11] Und der Cyrenius sprach: „Ja – bei meiner armen Seele, dies hätte
ich sicher ganz vollkommen vergessen, so Du, o Herr, mich nun nicht daran
gemahnt hättest!“
[JJ.01_217,12] Hier sprang sogleich der Jakob ins Nebengemach und brachte die
kleine Erde dem Cyrenius.
[JJ.01_217,13] Dieser aber suchte dann sogleich das Mittelmeer und fand es auch
bald.
[JJ.01_217,14] Als er aber nun mit seinem Finger auf das Mittelmeer wies, da
fragte ihn das Kindlein:
[JJ.01_217,15] „Cyrenius, ist das wohl der Erde Mitte? – oder wie findest du die
Sache?“
[JJ.01_217,16] Und der Cyrenius sprach: „Ich bin wohl ein tüchtiger Rechner nach
Euklides und Ptolemäus (Lagos König in Ägypten)
[JJ.01_217,17] und weiß daher aus der Planimetrie, daß auf einer Kugeloberfläche
darum ein jeder beliebig angegebene Punkt in der Mitte der Oberfläche ist, weil
er fürs erste mit dem Mittelpunkte der Kugel in der genauesten Korrespondenz
steht,
[JJ.01_217,18] und weil von ihm aus bis zu seinem Gegensatze alle ausgehenden
Linien von gleicher Beugung und Dimension sind.
[JJ.01_217,19] Nach diesem Grundsatze kann dies Meer gleichwohl das ,Mittelmeer‘
heißen.
[JJ.01_217,20] Aber ich finde dann freilich auch, daß da ein jedes Meer unter
demselben Verhältnisse steht und ebensogut ein Mittelmeer sein kann.“
[JJ.01_217,21] Und das Kindlein sprach: „Da hast du wohl recht; aber dennoch
passen die Euklidischen Verhältnisse nicht hin,
[JJ.01_217,22] und dieses Meer kann dennoch ausschließlich ein Mittelmeer
heißen,
[JJ.01_217,23] denn die wahre Mitte ist da, wo der Herr ist!
[JJ.01_217,24] Siehe, der Herr aber ist nun da an diesem Meere, und so ist auch
da des Meeres Mitte!
[JJ.01_217,25] Siehe, das ist eine andere Berechnung, von der dem Euklid nichts
geträumt hatte, und sie ist richtiger als die seine!“
[JJ.01_217,26] Diese Erklärung weckte den Cyrenius gewaltig, und er forschte
dann weiter.
[JJ.01_218] 218. Kapitel – Alles hat seine gottgewollte Zeit und Ordnung. Zeit
und Ewigkeit. Vom eitlen Forschen in göttlichen Tiefen und von der kindlichen
Einfalt als Weg zur wahren Weisheit.
29. Mai 1844
[JJ.01_218,01] Es bemerkte aber das Kindlein dem Cyrenius, da dieser anfing sich
in weitere Forschungen einzulassen:
[JJ.01_218,02] „Cyrenius, du forschest umsonst weiter und möchtest sogleich die
ganze Hand haben, wo Ich dir einen Finger gezeigt habe!
[JJ.01_218,03] Siehe, das geht nicht an; denn alles braucht seine Zeit und seine
feste unwandelbare Ordnung!
[JJ.01_218,04] Wenn du einen Baum blühen siehst, da möchtest du freilich auch
schon die reife Frucht haben.
[JJ.01_218,05] Aber siehe, das geht nicht; denn ein jeglicher Baum hat seine
Zeit und seine Ordnung!
[JJ.01_218,06] Die Zeit und die Ordnung aber ist aus Mir von Ewigkeit, und so
kann Ich nicht wider Mich ziehen;
[JJ.01_218,07] daher kann auch von der Zeit und von der Ordnung nichts vergeben
werden!
[JJ.01_218,08] Ich liebe dich wohl mit aller Fülle Meiner göttlichen Kraft; aber
darum kann Ich dir doch keine Minute von der flüchtigen Zeit schenken;
[JJ.01_218,09] denn diese muß fortfließen wie ein Strom und ist unaufhaltsam und
hat keine Ruhe eher, als bis sie die großen Ufer der unwandelbaren Ewigkeit
erreicht hat!
[JJ.01_218,10] Daher ist dein weiteres Forschen in Meine Tiefen etwas eitel.
[JJ.01_218,11] Denn du wirst auf solchem Wege Meinen Tiefen dennoch nicht eher
um ein Haar näherkommen, als bis es an der Zeit sein wird!
[JJ.01_218,12] Darum lasse ab von derlei Forschungen, und mühe deinen Geist
nicht vergeblich ab; denn zur rechten Zeit solle dir alles frei aus Mir werden!
[JJ.01_218,13] Du möchtest nun in der Tiefe begreifen, warum da die Mitte ist,
da Ich bin?!
[JJ.01_218,14] Ich sage dir aber: Solches kannst du nun noch nicht begreifen;
darum sollst du vorerst glauben und im Glauben die wahre Demut deines Geistes
erweisen.
[JJ.01_218,15] Wird dein Geist erst durch die wahre Demut die rechte Tiefe in
sich erreicht haben, dann wirst du auch aus dieser Tiefe in Meine Tiefen helle
Blicke tun können.
[JJ.01_218,16] Wenn du aber forschend deinen Geist erheben wirst, dann wird
dieser seine lebendige Tiefe stets mehr und mehr verlassen, und du wirst dich
dadurch von Meinen Tiefen entfernen und dich ihnen nicht nahen!
[JJ.01_218,17] Ja – Ich sage dir noch hinzu: Von nun an solle alle tiefe
Weisheit vor den Weisen der Welt verborgen bleiben;
[JJ.01_218,18] aber den Einfältigen, den schwachen Kindern und Waisen solle sie
ins Herz gelegt werden!
[JJ.01_218,19] Darum werde du ein Kind in deinem Gemüte, und es wird dann die
rechte Zeit für dich sein, die rechte Weisheit zu überkommen!“
[JJ.01_218,20] Der Cyrenius staunte ganz gewaltig über diese Lehre und fragte
dann das Kindlein, sagend nämlich:
[JJ.01_218,21] „Ja – wenn also, da darf dann ja kein Mensch mehr die Schrift
lesen lernen und eine Schrift selbst schreiben!?
[JJ.01_218,22] Denn so Du das alles dem Würdigen frei gibst, wozu dann das
mühsame Lernen?“
[JJ.01_218,23] Und das Kindlein sprach: „Durch ein rechtes und demütiges Lernen
wird der Acker für die Weisheit gedüngt, und das ist auch in Meiner Ordnung.
[JJ.01_218,24] Aber du mußt das Lernen nicht als den Zweck oder für die Weisheit
selbst ansehen, sondern nur als ein Mittel!
[JJ.01_218,25] Wann aber der Acker gedüngt sein wird, dann werde schon Ich den
Samen streuen, woraus dann erst die rechte Weisheit hervorsprossen wird!
Verstehest du solches?“ – Hier schwieg Cyrenius und forschte nicht mehr weiter.
– –
[JJ.01_219] 219. Kapitel – Das auferlegte Kreuz als Ausdruck der Liebe Gottes zu
den Menschen.
30. Mai 1844
[JJ.01_219,01] Nach dieser höchst lehrreichen Unterredung des Kindleins mit dem
Cyrenius aber wandte sich auch der Joseph an das Kindlein und fragte Es, was da
nun mit dem nach Hause gebrachten Kreuze geschehen solle.
[JJ.01_219,02] Und das Kindlein sprach: „Joseph! – Ich sage dir, das hat schon
seinen Mann und seinen Platz gefunden!
[JJ.01_219,03] Saget doch auch ihr zu einem Kaufmann: ,Du hast eine gute Ware,
diese wirst du nicht lange besitzen;
[JJ.01_219,04] denn für die wird sich wohl bald irgendwo ein kauflustiger Käufer
finden!‘
[JJ.01_219,05] Und siehe, so ein Kaufmann bin Ich auch! – Ich habe eine gute
Ware gebracht zum freien Verkaufe.
[JJ.01_219,06] Und es hat sich auch schon ein Käufer eingefunden und hat es
durch seine Liebe zu Mir an sich gekauft;
[JJ.01_219,07] und der Käufer ist Jonatha, der starke Fischer!
[JJ.01_219,08] Solle er für seine vielen Fische denn nichts haben, mit denen er
uns so oft schon reichlich versehen hat?!
[JJ.01_219,09] Eine Hand wäscht die andere. Wer Wasser reicht, dem solle wieder
Wasser gereicht werden.
[JJ.01_219,10] Wer da Öl reicht, dem solle auch wieder reichlich Öl werden.
[JJ.01_219,11] Wer da tröstet, dem solle auch ein Trost werden für ewig.
[JJ.01_219,12] Wer aber Liebe reicht, dem solle auch wieder Liebe werden.
[JJ.01_219,13] Jonatha aber hat Mir alle seine Liebe gegeben; also gab Ich ihm
denn in dem Kreuze auch Meine Liebe!
[JJ.01_219,14] Ihr habt Mir zwar wohl auch Liebe im Wasser und Öle gegeben;
[JJ.01_219,15] aber Ich sage dir: pure Liebe ist Mir denn doch lieber, als die
mit Wasser und Öle!
[JJ.01_219,16] Das Kreuz aber ist nun zu Meiner puren Liebe geworden!
[JJ.01_219,17] Darum gab Ich es dem Jonatha, weil dieser eine pure Liebe zu Mir
hat;
[JJ.01_219,18] denn er allein liebt Mich Meiner Selbst willen, und das ist pure
Liebe!
[JJ.01_219,19] Er liebte Mich, ohne zu wissen, Wer Ich bin; ihr aber liebtet
Mich weniger, da ihr doch wußtet, Wer Ich so ganz eigentlich bin.
[JJ.01_219,20] Und siehe, das war eine Liebe mit recht viel Wasser! – Darum
sollet ihr auch nie einen Wassermangel leiden – in euren Augen nämlich auf
dieser Welt.
[JJ.01_219,21] Cyrenius liebte Mich mit Öl; darum solle er auch dereinst mit dem
Öle des Lebens gesalbet werden, wie ihr getränket mit dem Wasser des Lebens.
[JJ.01_219,22] Aber vollends in Meinem Gemache sollen nur die dereinst wohnen,
die Mich pur lieben!“
[JJ.01_219,23] Diese Rede des Kindleins brachte den Joseph in eine tüchtige
Angst, und der Cyrenius selbst machte große Augen.
[JJ.01_219,24] Das Kindlein aber sprach: „Ihr sollet aber darum doch nicht
meinen, daß Ich euch das Kreuz vorenthalten werde, – denn wer da haben wird ein
freies Herz, der solle auch das freie Kreuz überkommen!“ – Dieser Bescheid
beruhigte wieder das Gemüt des Joseph und des Cyrenius.
[JJ.01_220] 220. Kapitel – Jonathas Tränen und heilige Liebe zum Herrn. Ein
jeder Mensch wird geheiligt und ganz neu geboren durch die Liebe zu Gott in
seinem Herzen. Denn: „Ist die Liebe zu Mir nicht heilig in sich, wie Ich Selbst
in Meinem Göttlichen es bin?“
31. Mai 1844
[JJ.01_220,01] Bei dieser Rede des Kindleins aber fiel Jonatha, von seinem
heißen Liebegefühle gedrungen, vor dem Kindlein nieder und weinte aus zu großer
Freude und Dankbarkeit.
[JJ.01_220,02] Das Kindlein aber sprach zu den andern: „Sehet ihr, wie mächtig
da ist des Jonatha Liebe zu Mir? –
[JJ.01_220,03] Wahrlich sage Ich euch, aus einer jeden Träne, die nun seinen
Augen entstürzt, solle einst eine Welt für ihn in Meinem Reiche werden!
[JJ.01_220,04] Ich habe euch zwar schon den Wert und den Unterschied der Tränen
gezeigt; aber hier sage Ich euch noch einmal hinzu:
[JJ.01_220,05] Keine Träne ist größer vor Mir als die allein, die der Träne des
Jonatha gleicht!“
[JJ.01_220,06] Bei diesen Worten des Kindleins ermannte sich der große Jonatha
und sprach:
[JJ.01_220,07] „O Du allmächtiger Herr meines Lebens! Wie bin ich – ein großer
Sünder – wohl solcher endlosen Gnade und Erbarmung von Dir würdig?!“
[JJ.01_220,08] Das Kindlein aber sagte: „Jonatha, frage dich, wie du Mich denn
wohl also mächtig lieben kannst in deinem Herzen, so du ein so großer Sünder
bist?
[JJ.01_220,09] Ist die Liebe zu Mir nicht heilig in sich, wie Ich Selbst in
Meinem Göttlichen es bin?
[JJ.01_220,10] Wie wohl magst du als ein so großer Sünder solche heilige Liebe
ertragen in deinem Herzen?
[JJ.01_220,11] Wird denn nicht ein jeder Mensch geheiligt und ganz neu geboren
durch die Liebe zu Gott in seinem Herzen?
[JJ.01_220,12] So du aber voll von dieser Liebe bist, sage, was ist demnach in
dir, das du Sünde nennest?
[JJ.01_220,13] Siehe, eines jeden Menschen Fleisch ist wohl eine Sünde in sich;
darum muß auch eines jeden Menschen Fleisch sterben!
[JJ.01_220,14] Ja, Ich sage dir, sogar dieses Fleisch Meines Leibes ist unter
der Sünde Sold und wird darum auch gleich dem deinigen absterben müssen!
[JJ.01_220,15] Aber diese Sünde ist ja keine freiwillige, sondern nur eine
gerichtete und steht für deinen freien Geist in keiner Rechnung.
[JJ.01_220,16] Darum wird dein Wert nicht nach deinem Fleische, sondern
lediglich nur nach deiner freien Liebe bestimmt.
[JJ.01_220,17] Und es wird dereinst nicht heißen: Wie war dein Leib, sondern – wie war deine Liebe?!
[JJ.01_220,18] Siehe, so du einen Stein wirfst in die Höhe, da bleibt er aber
dennoch nicht in der Höhe, sondern er fällt bald wieder herab zur Erde.
[JJ.01_220,19] Warum denn? – Weil die Materie der Erde ihn als eine gerichtete
Liebe, von der er selbst voll ist, anzieht.
[JJ.01_220,20] Warum aber fallen die Wolken und die Sterne nicht vom Himmel? – Siehe, darum, weil sie des Himmels Liebe anzieht!
[JJ.01_220,21] Nun, so dein Herz aber voll Liebe ist zu Gott, dem ewig
Lebendigen, wohin wohl wird dich diese allein freie, selbst lebendige Liebe
ziehen?“
[JJ.01_220,22] Diese letzte Frage erfüllte alle Anwesenden mit der größten
Wonne, und sie wußten nun alle, wie sie daran waren. – –
[JJ.01_221] 221. Kapitel – Ein Mittel gegen die Insektenplage. Ein Komet.
1. Juni 1844
[JJ.01_221,01] Nach dieser Berichtigung des Jonatha, wie auch der andern, die
hier zugegen waren, sagte der Joseph:
[JJ.01_221,02] „Freunde, der Abend ist schön; wie wäre es denn, so wir vor der
Nachtruhe noch auf eine Stunde hinaus ins Freie uns begeben möchten?
[JJ.01_221,03] Denn hier in den Zimmern ist es nun ganz gewaltig schwül;
[JJ.01_221,04] und geht man in solcher Schwüle zu Bette, da kann man weder
schlafen noch ruhen!“
[JJ.01_221,05] Und das Kindlein sprach: „Joseph, dieser Meinung bin Ich auch;
aber nur sollten draußen nicht so viele lästige Insekten herumsumsen, da wäre es
an den Abenden draußen noch angenehmer zu sein!“
[JJ.01_221,06] Und der Joseph sprach: „Ja, Du mein Leben, da hast Du wohl sehr
recht!
[JJ.01_221,07] Wenn es nur da ein Mittel gäbe, um durch selbes nicht wider Deine
Ordnung diesen lästigen Kleingästen einen Abschied geben zu können, so wäre das
nicht selten äußerst wünschenswert!“
[JJ.01_221,08] Und das Kindlein sprach: „Oh, ein solches Mittel wird sich wohl
bald finden lassen!
[JJ.01_221,09] Gehe und nehme eine Schüssel voll warmer Kuhmilch und stelle sie
hinaus, und du wirst es sehen, wie alle diese tausend und tausend lästigen
Kleingäste die Schüssel umlagern werden – und werden uns Ruhe gönnen!“
[JJ.01_221,10] Joseph befahl sogleich seinen Söhnen, eine Schüssel warmer Milch
hinauszustellen.
[JJ.01_221,11] Und die Söhne Josephs taten sogleich, was ihnen der Joseph
geboten hatte.
[JJ.01_221,12] Und wie die Schüssel mit warmer Milch sich im Freien befand, da
entdeckte man in dem matten Abenddämmerungslichte bald einen immensen Schwarm
von allerlei Stechinsekten über der Milchschüssel.
[JJ.01_221,13] Und alles wunderte sich über diese Erfindung, durch welche
Millionen von Gelsen und Schnaken auf einen Punkt sich zusammenzogen und dort
einen förmlichen Milchkrieg miteinander führten.
[JJ.01_221,14] Und der Cyrenius sagte: „Siehe, wie einfach und zweckmäßig doch
ist die Vorrichtung!
[JJ.01_221,15] Eine kaum zu beachtende Schüssel voll warmer Milch befreit uns
von der lästigen Insektenplage!
[JJ.01_221,16] Fürwahr, das soll auch sogleich in Tyrus ins Werk gesetzt werden!
[JJ.01_221,17] Denn auch dort belästigen zur Abendzeit Millionen solcher Tiere
die Menschen.“
[JJ.01_221,18] Und das Kindlein sprach: „Das Mittel ist wohl recht gut, aber
überall wird es nicht mit Erfolg angewendet werden können;
[JJ.01_221,19] denn es sind nicht überall dieselben Verhältnisse, –
[JJ.01_221,20] und solche Verhältnisse, wie sie nun hier stattfinden, möchten
wohl sonst nirgends vorhanden sein!
[JJ.01_221,21] Daher wirkt auch nur hier dieses Mittel also ausgezeichnet. Wo
aber diese Verhältnisse nicht stattfinden, da wird auch das Mittel nicht also
wirken.
[JJ.01_221,22] Doch nun sehe zum Himmel empor, und du wirst einen Kometen
entdecken!“ – Hier sah der Cyrenius aufwärts und ersah sobald einen starken
Kometen.
[JJ.01_222] 222. Kapitel – Ein Gespräch über die Kometen als Unglücks- und
Kriegsboten.
3. Juni 1844
[JJ.01_222,01] Als der Cyrenius aber den starken Kometen so recht beschauet
hatte, da sprach er:
[JJ.01_222,02] „Fürwahr, ein sonderbarer Stern! – Es ist der erste, den ich
sehe;
[JJ.01_222,03] gehört habe ich wohl schon öfter von diesen mythischen
Unglücksboten am Himmel.“
[JJ.01_222,04] Auf diese Bemerkung des Cyrenius kam auch der Maronius Pilla
herbei und sagte:
[JJ.01_222,05] „Da sieh einmal hin! Der Tempel des Janus ist kaum sieben Jahre
geschlossen, und alles sagte:
[JJ.01_222,06] ,Nun wird Rom einen ewigen Frieden bekommen!‘, denn so lange sei
dieser Tempel noch nicht geschlossen gewesen!
[JJ.01_222,07] Da haben wir aber nun schon das entsetzliche Zeichen vor unseren
Augen, daß der Janustempel gar bald wieder erschlossen wird,
[JJ.01_222,08] und daß es auf den großen Marsfeldern gar lebendig wird zuzugehen
beginnen!“
[JJ.01_222,09] Joseph aber fragte den Maronius Pilla, ob er denn wohl im Ernste
so einen Schweifstern für einen Kriegsboten halte.
[JJ.01_222,10] Und der Maronius sprach ganz ernstlich: „O Freund, das ist eine
eherne Wahrheit! – Ich sage dir: Krieg über Krieg!“
[JJ.01_222,11] Und der Cyrenius sprach dazu: „Nun sind die zwei Rechten einmal
beisammen!
[JJ.01_222,12] Joseph hängt noch immer mächtig an seinem Moses, und Maronius
Pilla kann seines altheidnischen Aberglaubens nicht ledig werden!“
[JJ.01_222,13] Joseph aber sprach: „Hochschätzbarster Bruder und Freund
Cyrenius! Ich aber meine, Moses ist doch immerhin besser als der Janustempel in
Rom!“
[JJ.01_222,14] Und der Cyrenius sprach: „Allerdings! – Aber so man den Herrn
Selbst, den Jehova Selbst in Seiner Fülle hat, da meine ich, sollen Moses wie
der dumme Janus so hübsch in den Hintergrund treten, und das ein für alle Male!
[JJ.01_222,15] Der Komet scheint laut alten, ungegründeten Sagen wohl ein
Unglücksbote zu sein;
[JJ.01_222,16] aber ich glaube, unser Herr und allerliebster Jesus in Seiner
Gottheit Fülle wird auch ein Herr über diesen mutmaßlichen Herrn des Unglücks
sein! Bist du nicht meiner Meinung?“
[JJ.01_222,17] Und der Joseph sprach: „Das sicher; aber darum ist Moses doch
nicht mit dem Janus Roms zu vergleichen, auch nicht in dieser Gegenwart des
Herrn!“
[JJ.01_222,18] Und der Cyrenius sprach: „Das will ich auch nicht; aber so ich
den Herrn habe, dann sind wenigstens mir Moses und Janus gleich!“
[JJ.01_222,19] Hier sprach das Kindlein zum Cyrenius: „Bei dem bleibe du!
[JJ.01_222,20] Denn wahrlich, wo es sich um die Unendlichkeit handelt, da
schwinden alle Größen, und die Null zählt soviel wie eine Million!“
[JJ.01_222,21] Diese Antwort des Kindleins gab dem Joseph einen kleinen Stoß,
und er hielt darauf dem Moses kein Vorwort mehr vor dem Cyrenius.
[JJ.01_223] 223. Kapitel – Ein Anschauungsunterricht über das Wesen der Kometen
am Beispiel einer Milchschüssel.
4. Juni 1844
[JJ.01_223,01] Darauf aber kam der bei solchen Gelegenheiten allzeit stark nach
dem Grunde forschende Jonatha zum Joseph und sprach:
[JJ.01_223,02] „Bruder, da wäre schon wieder so etwas, wo uns der Herr, wie
letzthin bei der Mondesfinsternis, aus dem Traume helfen könnte!
[JJ.01_223,03] Was meinst du, so wir Ihn darum frageten, würde Er uns darüber
wohl einen Aufschluß geben?“
[JJ.01_223,04] Und der Joseph sprach: „Mein lieber Bruder Jonatha, da kommt es
nur auf eine Probe an!
[JJ.01_223,05] Wer fest dem Herrn traut, der hat auf guten Grund gebaut.
[JJ.01_223,06] Gehe hin zum Kindlein, das Sich nun im Schoße Mariens befindet,
und frage Es,
[JJ.01_223,07] und es wird sich wohl zeigen, was du für eine Antwort auf deine
Frage bekommen wirst!“
[JJ.01_223,08] Auf diese Worte Josephs begab sich der Jonatha sogleich in aller
Liebe und Demut zum Kindlein und wollte fragen.
[JJ.01_223,09] Aber das Kindlein kam dem Jonatha zuvor und sprach:
[JJ.01_223,10] „Jonatha, Ich weiß schon, was du willst; aber das ist nicht für
dich!
[JJ.01_223,11] Gehe aber ins Haus, und nehme eine kleine Fackel,
[JJ.01_223,12] zünde sie an, und gehe dann mit der brennenden Fackel hin zur
Milchschüssel, die da den Gelsen und Schnaken ist gestellt worden,
[JJ.01_223,13] und Ich sage dir, du wirst da auch einen Kometen samt seiner
Grundnatur erschauen!“
[JJ.01_223,14] Jonatha tat hier sogleich, was ihm das Kindlein geraten hatte.
[JJ.01_223,15] Und siehe, als er mit der brennenden Fackel der Milchschüssel in
die Nähe kam, über der Millionen von Mücklein, Gelsen und Schnaken kreisend
herumschwirrten,
[JJ.01_223,16] da entdeckte er auch im Ernste einen mehrere Klafter langen
schimmernden Schweif, der natürlich aus den fliegenden Insekten bestand,
[JJ.01_223,17] zu welchem Schweife die Milchschüssel den Kopf bildete.
[JJ.01_223,18] Dieses Phänomen wurde auch von vielen anderen Personen entdeckt,
[JJ.01_223,19] und alle staunten über die Ähnlichkeit dieser gemachten
Erscheinung mit dem Kometen am Himmel.
[JJ.01_223,20] Und der Jonatha ging hin zum Kindlein und fragte Es, wie er nun
das nehmen solle.
[JJ.01_223,21] Und das Kindlein sprach: „Vorderhand also, wie du es gesehen
hast! Das Geheimnis aber dürfen nicht alle erfahren;
[JJ.01_223,22] daher begnüge dich einstweilen mit dem! Morgen wird auch ein Tag
sein.“
[JJ.01_224] 224. Kapitel – Entsprechungs- und Erklärungswinke vom Wesen der
Kometen.
5. Juni 1844
[JJ.01_224,01] Hier fing der Jonatha an sehr stark nachzudenken und konnte
durchaus keinen gescheiten Gedanken fassen.
[JJ.01_224,02] Das Kindlein aber merkte natürlich alsogleich, daß da der Jonatha
den Milchschüsselkometen mit dem Himmelskometen nicht zusammenreimen konnte.
[JJ.01_224,03] Daher richtete Es Sich auf und sprach zum Jonatha:
[JJ.01_224,04] „Mein lieber Jonatha! Siehe, in dir geht es jetzt gerade also zu,
wie dir es das Bild des Milchschüsselkometen gezeigt hat!
[JJ.01_224,05] Eine große Schüssel voll Milch stellt dein Herz dar, worin deine
Liebe die Milch ist.
[JJ.01_224,06] Aber über der Milch befindet sich nun auch ein ungeheurer
Mücken-, Gelsen- und Schnakenschwarm gleich dem über jener Milchschüssel.
[JJ.01_224,07] Und diesen Schwarm bilden deine etwas stark ins Lächerliche
gehenden Gedanken über die ähnliche Natur der beiden Kometen.
[JJ.01_224,08] Aber – Freund Jonatha! – wer wird denn den Kern des
Himmelskometen im Ernste für eine Milchschüssel halten und seinen Schweif für
einen Gelsenschwarm?!
[JJ.01_224,09] Das sind ja nur Entsprechungen, aber keine vollkommenen
naturmäßigen Ähnlichkeiten!
[JJ.01_224,10] Weißt du aber wohl, was da eine Entsprechung ist? – Was ist eine
Schüssel, was die Milch darin und was der Gelsen- und Schnakenschwarm?
[JJ.01_224,11] Siehe, du verstehst das nicht; so höre denn, Ich will dir davon
etwas sagen!
[JJ.01_224,12] Die Schüssel stellt dar ein Gefäß zur Aufnahme von Substanzen, an
die die nährende Lebenskraft aus Mir gebunden ist.
[JJ.01_224,13] Die Milch aber ist eine solche Substanz, die aus Mir die nährende
Lebenskraft in sich trägt im reichlichsten Maße.
[JJ.01_224,14] In den Mücken, Gelsen und Schnaken ist die Lebenskraft schon frei
tätig;
[JJ.01_224,15] aber so sie nicht genährt wird mit einer gerechten nährenden
Lebenskraft, da wird sie bald schwach und kann sich nicht ausbilden für eine
höhere und vollkommenere Stufe.
[JJ.01_224,16] Nun siehe, der Himmelskomet ist nichts als eine neu geschaffne
werdende Welt!
[JJ.01_224,17] Der Kern ist das Gefäß zur Aufnahme der nährenden Lebenskraft aus
Mir.
[JJ.01_224,18] Diese Lebenskraft wird durch ein eben dieser Lebenskraft von Mir
aus gegebenes eigenes Feuer gar mächtig durchwärmt und löst sich dadurch in
nährende Dämpfe auf.
[JJ.01_224,19] Damit aber diese schon eine mehr ausgebildete Lebenskraft
tragenden Dämpfe sich nicht verflüchtigen und dem neuen Weltkörper entzogen
werden,
[JJ.01_224,20] da werden sie von einer Unzahl Monaden (Äthertierchen)
aufgenommen und durch sie wieder dem neu werdenden Weltkörper zu seiner
vollkommeneren Ausbildung zugetragen.
[JJ.01_224,21] Siehe, das ist die entsprechende Ähnlichkeit zwischen dem
Himmels- und unserem Milchschüsselkometen!
[JJ.01_224,22] Forsche aber nun nicht weiter nach, auf daß deine Liebe nicht
schwach wird ob des Forschens!“
[JJ.01_224,23] Diese Erklärung haben wohl recht viele mit angehört, aber keiner
verstand sie; aber viele glaubten es, daß es also sein werde.
[JJ.01_225] 225. Kapitel – Warum das zu viele Forschen in den Tiefen der Werke
Gottes für Gotteskinder nachteilig ist.
7. Juni 1844
[JJ.01_225,01] Es fragte aber der Cyrenius das Kindlein und sprach: „O Du mein
Leben! – Warum darf oder warum solle man denn in Deinen Werken nicht tiefer
nachforschen?
[JJ.01_225,02] Warum wohl ist solch ein Forschen nach Deinem Ausspruche der
Liebe zu Dir nachteilig?
[JJ.01_225,03] Ich meine aber da gerade im Gegenteile: Wenn man Deine Werke erst
stets tiefer und tiefer und klarer und klarer erkennt, so muß man ja offenbar
zunehmen in der Liebe zu Dir und nicht schwächer werden darinnen!
[JJ.01_225,04] Denn es ist also ja selbst unter uns Menschen schon der Fall, daß
auch ein Mensch uns immer um so teurer wird, je mehr Vollkommenheiten wir an ihm
entdecken.
[JJ.01_225,05] Um wieviel mehr wird das erst gegen Dich, dem Herrn und Schöpfer
aller Größe und Vollkommenheit und Herrlichkeit der Fall sein, so wir Dich immer
tiefer und tiefer erkennen!
[JJ.01_225,06] Darum möchte wohl ich selbst Dich, Du mein Leben, bitten, daß Du
mir über diesen sonderbaren Stern einige nähere Aufschlüsse geben möchtest!
[JJ.01_225,07] Denn mein Herz sagt es mir, daß ich Dich dann erst ganz
vollkommen werde lieben können, so ich Dich tiefer und tiefer in Deinem
allmächtigen höchstweisen Wunderwirken erkennen werde.
[JJ.01_225,08] Es kann ja doch niemand Dich als den einigen Gott und Herrn
lieben, so er Dich nicht zuvor erkennt, –
[JJ.01_225,09] also ist unser Dich-Erkennen von unserer Seele ja der Hauptgrund
zur Liebe zu Dir!
[JJ.01_225,10] Gleichwie auch ich mein Weib eher erkennen mußte, bevor ich sie
in mein Herz aufnehmen konnte! So ich sie nie erkannt hätte, da wäre sie auch
sicher nie mein Weib geworden!“
[JJ.01_225,11] Hier lächelte das Kindlein und sprach: „O du Mein lieber
Cyrenius! Wenn du Mir also öfter so weise Lehren gäbest, da müßte Ich am Ende ja
doch wohl auch so recht ein grundgescheiter Mensch werden!
[JJ.01_225,12] Siehe, da hast du Mir ja lauter neue Sachen gesagt;
[JJ.01_225,13] aber nun denke dir's: Du warst Mir nun ein Lehrer, indem du Mir
beweisen wolltest, daß entgegen Meiner Warnung vor dem zu vielen Forschen in
Meinen Werken solches der Seele des Menschen für die Sphäre ihrer Liebe zu Mir
nicht etwa nicht zuträglich, sondern vielmehr gerade zuträglich ist.
[JJ.01_225,14] Wie solle demnach nun Ich, ein Schüler zu dir, dich über dir
unbekannte Dinge unterrichten?!
[JJ.01_225,15] Wenn dir für die Liebe bessere Gründe bekannt sind, als sie dir
dein Gott und dein Schöpfer gibt, wie kannst du von Ihm dann eine tiefere
Unterweisung erflehen?
[JJ.01_225,16] Oder meinst du wohl, Gott wird Sich durch von den Menschen
gefaßte und aufgestellte Vernunftgründe zu etwas bewegen lassen, als wäre Er ein
Richter nach den Weltgesetzen?
[JJ.01_225,17] O Cyrenius! da bist du wohl noch in einer sehr starken Irre!
[JJ.01_225,18] Siehe, Ich allein kenne ja Meine ewige Ordnung, welche da die
Mutter aller Dinge ist!
[JJ.01_225,19] Aus dieser Ordnung bist auch du hervorgegangen! – Die Liebe
deines Geistes zu Mir ist dein eigenstes Leben.
[JJ.01_225,20] Wenn du nun diese Liebe zu Mir von Mir abwenden willst auf Meine
Geschöpfe, um Mich dann stärker zu lieben, da du Mich doch sichtbar lebendig vor
dir hast,
[JJ.01_225,21] sage, wird solch eine törichte Liebestärkung wohl ihren Grund
haben?
[JJ.01_225,22] Ja – wer Mich noch nicht kennt und nicht hat, der mag wohl auf
deinen Wegen zu Mir sich erheben;
[JJ.01_225,23] aber so Mich Selbst schon jemand auf seinem Schoße hat, wozu
sollen dann dem deine Staffeln dienen?“
[JJ.01_225,24] Hier stutzte der Cyrenius gewaltig, fühlte sich sehr getroffen,
und niemand fragte mehr nach dem Kometen.
[JJ.01_226] 226. Kapitel – Das Zurücktreten des Göttlichen im Kinde. Des
Kindleins letzte Anordnungen für Joseph und Cyrenius. Die Nachtruhe. Jakobs
besondere Gnade beim Jesuskinde.
8. Juni 1844
[JJ.01_226,01] Als die Sache mit dem Kometen aber geschlichtet war, da sagte
sogleich wieder das Kindlein zum Joseph:
[JJ.01_226,02] „Joseph, durch die zwei Tage machte Ich einen förmlichen
Hausherrn, und ihr alle gehorchtet Mir;
[JJ.01_226,03] aber von nun an übergebe Ich wieder dir diese hausherrliche
Stelle, und wie du alles ordnen wirst, also solle es auch geschehen!
[JJ.01_226,04] Von jetzt an bin Ich wieder wie ein jeglich Menschenkind – und
muß es sein; denn auch Mein Fleisch muß wachsen zu euer aller Heile.
[JJ.01_226,05] Daher erwartet für jetzt wie für die künftige Zeit in diesem
Lande keine offenen Wundertaten mehr von Mir!
[JJ.01_226,06] Laßt euch aber dennoch in eurem Glauben und Vertrauen an Meine
Macht und Gewalt nicht irremachen;
[JJ.01_226,07] denn was Ich war von Ewigkeit, das bin Ich allzeit und werde es
sein in Ewigkeit!
[JJ.01_226,08] Fürchtet daher nie die Welt, die nichts ist vor Mir; aber
fürchtet euch, an Mir irre zu werden, – denn das wäre der Tod eurer Seele!
[JJ.01_226,09] Mit dem übernehme du, Joseph, wieder das Hausruder, und führe es
recht und gerecht im Namen Meines Vaters, Amen.
[JJ.01_226,10] Also reise auch du, Cyrenius, am morgigen Tage wieder glücklich
nach Tyrus, allwo schon wichtige Geschäfte deiner harren!
[JJ.01_226,11] Meine Liebe und Gnade ist mit dir, und so magst du ruhig sein.
Alles andere aber mache mit dem Joseph ab; denn er ist nun der Hausherr!“
[JJ.01_226,12] Darauf berief das Kindlein den Jakob zu Sich und sprach zu ihm:
[JJ.01_226,13] „Jakob! – zwischen uns aber walte das erste Verhältnis, das dir
schon bekannt ist!
[JJ.01_226,14] Und bei allem dem hat es zu verbleiben in diesem Lande, Amen!“
[JJ.01_226,15] Joseph aber ward darob ganz traurig und bat das Kindlein
inständigst, daß Es ja fortwährend also in Seiner Göttlichkeit verbleiben
möchte.
[JJ.01_226,16] Das Kindlein aber redete nun ganz kindisch, und in Seiner Rede
war nun keine Spur mehr von irgend etwas Göttlichem.
[JJ.01_226,17] Es ward auch bald schläfrig, und der Jakob mußte Es zu Bette
bringen.
[JJ.01_226,18] Noch lange in die Nacht saß die Gesellschaft beisammen und
besprach sich so und so über den Grund solcher Veränderung am Kindlein;
[JJ.01_226,19] aber keiner sagte etwas Rechtes, sondern es fragte vielmehr einer
den andern, –
[JJ.01_226,20] aber von keiner Seite kam irgend eine gültige Antwort.
[JJ.01_226,21] Und der Joseph sprach endlich: „Wir wissen, was uns not tut, und
was wir zu tun haben, und damit können wir auch zufrieden sein!
[JJ.01_226,22] Es ist aber schon spät in der Nacht; daher meine ich, es wird nun
am besten sein, wir begeben uns zur Ruhe.“
[JJ.01_226,23] Damit waren alle mit dem Joseph einverstanden und begaben sich
auch sobald zur guten Ruhe ins Haus.
[JJ.01_227] 227. Kapitel – Josephs Sorge wegen der Morgenmahlzeit. Die leere
Speisekammer. Jonathas Hilfe mit einer wertvollen Ladung Fische.
10. Juni 1844
[JJ.01_227,01] Am nächsten Tage war Joseph wie gewöhnlich schon viel eher auf
den Beinen als jemand anderer und ging hinaus zu sehen, was es für einen Tag
geben werde.
[JJ.01_227,02] Er fand alle Zeichen zu einem schönen Tage und ging dann wieder
ins Haus und weckte seine Söhne, auf daß sie für die Gäste ein gutes Frühstück
bereiten möchten.
[JJ.01_227,03] Und die Söhne erhoben sich bald und gingen nachzusehen, welchen
Vorrat wohl noch die Speisekammer bieten möchte.
[JJ.01_227,04] Und als sie die Speisekammer durchsucht hatten, da kamen sie
alsobald zum Joseph und sprachen:
[JJ.01_227,05] „Höre, du lieber Vater, dein Auftrag wäre wohl ganz recht und
gut;
[JJ.01_227,06] aber unsere Speisekammer ist durch die etlichen Tage so sehr
gelüftet worden, daß es uns geradewegs unmöglich wird, auch nur für zehn
Personen eine Mahlzeit zu gewinnen.
[JJ.01_227,07] Rate uns daher, wo wir die Eßwaren hernehmen sollen, und die
Mahlzeit solle in einer Stunde fertig sein!“
[JJ.01_227,08] Hier kratzte sich der Joseph ein wenig hinter den Ohren und ging
selbst in die Speisekammer und fand allda die Aussagen seiner Söhne bestätigt,
was ihn dann in noch größere Verlegenheit versetzte.
[JJ.01_227,09] Er sann hin und her und konnte nichts finden, was ihn aus seiner
Verlegenheit reißen könnte.
[JJ.01_227,10] Als aber Joseph also nachsinnend dastand im Vorhause, da kam
Jonatha aus seinem Schlafgemache, grüßte und küßte seinen alten Freund und
fragte ihn, was er denn also traurig und nachdenklich dastünde.
[JJ.01_227,11] Und Joseph zeigte dem Jonatha sobald den Grund seiner
Verlegenheit, nämlich die leere Speisekammer.
[JJ.01_227,12] Als der Jonatha das erschaute, da sagte er zum Joseph:
[JJ.01_227,13] „O du mein allergeliebtester Freund, darum darf es dir wohl nicht
bange werden!
[JJ.01_227,14] Siehe, meine Speisekammern sind noch sehr voll; ich besitze noch
bei zweitausend Zentner geräucherter Fische!
[JJ.01_227,15] Daher lasse nun sogleich deine Söhne mit mir gehen, und in
anderthalb Stunden solle es in deiner Speisekammer sogleich anders aussehen!“
[JJ.01_227,16] Dieser Antrag war ein wahrer Balsam auf das Herz Josephs, und er
nahm ihn auch alsogleich an.
[JJ.01_227,17] Es vergingen aber noch keine anderthalb Stunden, da kamen schon
Jonatha und die vier Söhne mit einer starken Ladung von Fischen.
[JJ.01_227,18] Die Söhne brachten bei vier Zentner geräucherter Fische, und
Jonatha brachte drei große Lägel voll frischer Fische und zehn große Laibe
Weizenbrotes.
[JJ.01_227,19] Als der Joseph die Ankommenden also bepackt erschaute, da ward er
voll Freude und dankte und pries Gott für solche Bescherung und umarmte und
küßte dann den Jonatha.
[JJ.01_227,20] Darauf ward es in der Küche bald sehr lebendig.
[JJ.01_227,21] Die Söhne tummelten sich munter herum; Maria und die Eudokia
kamen selbst bald aus dem Schlafgemache und gingen und melkten die Kühe.
[JJ.01_227,22] Und so ward in einer halben Stunde schon ein reichliches
Morgenmahl bereitet für mehr als hundert Gäste.
[JJ.01_228] 228. Kapitel – Ein Liebeseiferwettstreit zwischen Joseph und
Cyrenius. Josephs Uneigennützigkeit. Woran die echten und die falschen Diener
Gottes zu erkennen sind.
11. Juni 1844
[JJ.01_228,01] Als auf diese Art das Morgenmahl bereitet war und alle Gäste sich
auf den Beinen befanden, da ging Joseph sogleich zum Cyrenius und fragte ihn, ob
er schon bereitet sei, das Morgenmahl zu nehmen.
[JJ.01_228,02] Und der Cyrenius sagte zum Joseph: „O mein allererhabenster
Freund und Bruder! Ich bin freilich wohl bereitet mit meiner ganzen Suite;
[JJ.01_228,03] aber ich weiß auch, daß du in deiner Speisekammer nicht einen
solchen Vorrat hast, um mehrere Tage hindurch über hundert Menschen zu bewirten.
[JJ.01_228,04] Daher werde ich für heute früh in die Stadt meine Dienerschaft
senden, allda sie Eßwaren kaufen sollen für mich und dich!“
[JJ.01_228,05] Als der Joseph solches vernommen hatte, da sprach er:
[JJ.01_228,06] „O lieber Freund und Bruder, das kannst du immerhin tun für dein
Schiff;
[JJ.01_228,07] aber für mich wäre eine solche Mühe wohl ganz rein vergeblich.
[JJ.01_228,08] Denn siehe, fürs erste ist das Morgenmahl schon bereitet, und
fürs zweite befindet sich in meiner Speisekammer noch so viel, daß ihr alle es
in acht Tagen kaum aufzehren möchtet.
[JJ.01_228,09] Darum sorge dich nur um mich nicht; denn wahrlich, ich bin
bestens versorgt!“
[JJ.01_228,10] Und der Cyrenius sprach: „Wahrlich, wahrlich, wenn mir nichts
anderes von deinem allerhöchsten Berufe Zeugnis gäbe, so gäbe es mir im vollsten
Maße deine ganz unbegreifliche Uneigennützigkeit!
[JJ.01_228,11] Ja, daran wird man allzeit die rechten und die falschen Diener
Gottes genau voneinander unterscheiden:
[JJ.01_228,12] Die rechten werden uneigennützig sein im hohen Grade, und die
falschen werden sein gerade das Gegenteil;
[JJ.01_228,13] denn die rechten dienen Gott im Herzen und haben auch da den
allerhöchsten ewigen Lohn, –
[JJ.01_228,14] die falschen aber dienen einem nach ihrer bösen Art gemodelten
Gotte in der Welt – der Welt wegen;
[JJ.01_228,15] daher suchen sie auch den Lohn der Welt und lassen sich für jeden
Schritt und Tritt gar unmäßig bezahlen.
[JJ.01_228,16] Denn das weiß ich als ein geborner Heide am besten, wie sich die
römischen Priester bis ins Indefinitum für jeden Schritt und Tritt bezahlen
lassen.
[JJ.01_228,17] Wahrlich, ich selbst habe für einen Rat einmal an den
Oberpriester müssen hundert Pfunde Goldes bezahlen!
[JJ.01_228,18] Frage: War das ein rechter Diener eines wahren Gottes?
[JJ.01_228,19] Du aber hast mich nun schon bei drei Tage bewirtet, und welche
Lehren habe ich in deinem Hause empfangen, – und du nimmst noch nichts an!
[JJ.01_228,20] Nicht einmal für meine acht Kinder nimmst du etwas an! – Es wird
daraus doch etwa einleuchtend sein, wie die echten und rechten Diener Gottes
aussehen?!“
[JJ.01_228,21] Joseph aber sprach: „Bruder, rede nun nicht weiter davon, denn
auch solche Rede ist zu viel für mich,
[JJ.01_228,22] sondern setze dich zum Tische, und sogleich wird das Morgenmahl
da sein!“ – Und der Cyrenius befolgte sogleich den Wunsch Josephs und setzte
sich zum Tische.
[JJ.01_229] 229. Kapitel – Das fröhliche Morgenmahl. Joseph redet über die Güte
des Herrn. Das Kindlein bei Tisch. Liebliche Szenen zwischen dem kleinen Jesus
und Cyrenius.
12. Juni 1844
[JJ.01_229,01] Als sich nun alles am Speisetische befand, da wurden auch sobald
gar schmackhaft zubereitete Fische auf den Tisch gesetzt,
[JJ.01_229,02] und der Cyrenius verwunderte sich hoch, wie denn Joseph schon
also in aller Frühe eine solche Menge ganz frischer Fische hat bekommen können!
[JJ.01_229,03] Und der Joseph zeigte hier auf den großen Jonatha und sprach
etwas scherzhaft:
[JJ.01_229,04] „Siehe, wenn man einen so großen Fischmeister zum Freunde hat, da
braucht man gar nicht weit zu greifen – und die Fische sind da!“
[JJ.01_229,05] Hier lächelte der Cyrenius und sprach: „Ja, da hast du wohl
recht!
[JJ.01_229,06] Wahrlich, bei solchen Umständen kann man allzeit frische Fische
haben, und ganz besonders, wenn man noch Wen in seinem Hause hat!“
[JJ.01_229,07] Und der Joseph hob hier seine Hände auf und sprach mit dem
gerührtesten Herzen:
[JJ.01_229,08] „Ja, Bruder Cyrenius, – und noch Wen, dessen wir alle ewig nicht
würdig sein werden!
[JJ.01_229,09] Dieser segne uns allen dieses gute Morgenmahl, daß es uns
wahrhaft stärken möchte in unseren Gliedern und in unserer Liebe zu Ihm – dem
Allerheiligsten!“
[JJ.01_229,10] Dieser Ausruf Josephs brachte alle Gäste zum Weinen, und alle
lobten den großen Gott in dem noch schlafenden Kindlein.
[JJ.01_229,11] Als sich aber die Gäste nach der beendigten Lobpreisung an die
Fische machten, da ward auch das Kindlein wach;
[JJ.01_229,12] und der gute Geruch von den Fischen sagte Ihm gleich, was sich
auf dem Tische befinde.
[JJ.01_229,13] Daher war Es auch flugs aus Seinem niederen Bettchen, lief
sogleich ganz nackt zum Tische, da sich die Maria befand, und verlangte zu
essen.
[JJ.01_229,14] Maria aber nahm Es sogleich auf ihren Schoß und sagte zum Jakob:
[JJ.01_229,15] „Gehe, und bringe mir geschwind ein frisches Hemdchen aus der
Kammer!“
[JJ.01_229,16] Und der Jakob tat sogleich nach dem Wunsche Mariens und brachte
ein frisches Hemdchen.
[JJ.01_229,17] Das Kindlein aber wollte Sich diesmal das Hemdchen nicht anziehen
lassen.
[JJ.01_229,18] Da ward die Maria ein wenig unwillig und sprach: „Siehe, Du mein
Kindlein, es schickt sich ja nicht, nackt beim Tische zu sein;
[JJ.01_229,19] daher werde ich recht schlimm sein, wenn Du Dich nicht anziehen
läßt!“
[JJ.01_229,20] Der Cyrenius aber, ganz zu Tränen gerührt über den Anblick des
zarten Knäbleins, sagte zur Maria:
[JJ.01_229,21] „O liebe, holdeste Mutter, gebe mir also das Kindlein, auf daß
ich Es noch einmal also ganz nackt locke und kose!
[JJ.01_229,22] Wer weiß es, ob mir auf dieser Welt noch einmal dieses endlose
Glück zuteil wird!?“
[JJ.01_229,23] Und das Kindlein lächelte den Cyrenius an und verlangte sogleich
zu ihm.
[JJ.01_229,24] Und die Maria übergab Es auch sogleich dem Cyrenius, und er
weinte vor Freude und Seligkeit, als das gesunde Kindlein gar munter auf seinem
Schoße herumstrampelte.
[JJ.01_229,25] Und der Cyrenius fragte Es sogleich, welches Stück vom Fische Es
essen möchte.
[JJ.01_229,26] Und das Kindlein sprach in ganz kindlicher Weise: „Gib Mir
dasjenige weiße Stück, wo keine Gräten darinnen sind!“
[JJ.01_229,27] Und der Cyrenius gab dem Kindlein sogleich das beste und reinste
Stück in die Hände, welches Dasselbe mit Freude ganz behaglich verzehrte.
[JJ.01_229,28] Nachdem Es Sich gesättigt hatte, da sprach Es: „Das war gut! – Jetzt ziehe du Mich an!
[JJ.01_229,29] Denn wenn Ich hungrig bin, da will Ich früher essen und dann erst
ein Kleid nehmen!“ – Darauf sprach das Kindlein nichts weiter und ließ Sich ganz
ruhig das Hemdchen von Cyrenius anziehen.
[JJ.01_230] 230. Kapitel – Fortsetzung der kindlichen Tischszene. Maria ist nur
aus großer Liebe zu Mir schlimm!
13. Juni 1844
[JJ.01_230,01] Als das Kindlein angezogen war, da fragte Es der Cyrenius wieder,
ob Es nicht etwa noch ein gutes Stückchen vom Fische genießen möchte.
[JJ.01_230,02] Das Kindlein aber sprach in Seiner Weise: „Ein kleines Stückchen
möchte Ich freilich noch;
[JJ.01_230,03] aber Ich getraue es Mir nicht zu nehmen, weil Mich da die Mutter
gleich wieder auszanken möchte!“
[JJ.01_230,04] Und der Cyrenius sprach: „O Du mein endlos allergeliebtestes
Kindlein! Wenn ich es Dir darreiche, da wird die Mutter nichts sagen!“
[JJ.01_230,05] Das Kindlein aber sprach ganz naiv zum Cyrenius: „Ja, solange du
da bist, da wird sie freilich wohl nichts sagen;
[JJ.01_230,06] aber wenn du fort sein wirst, da kriege Ich's dann doppelt.
[JJ.01_230,07] O du glaubst es nicht, wie schlimm Meine Mutter sein kann, wenn
Ich etwas täte, was sie nicht will!“
[JJ.01_230,08] Der Cyrenius lächelte darob und sagte dann zum Kindlein: „Was
meinst Du denn, so ich darob Deine etwas schlimme Mutter auszanken möchte, würde
das sie nicht nachsichtiger machen gegen Dich?“
[JJ.01_230,09] Und das Kindlein sprach: „Ich bitte dich, tue du nur das nicht;
denn dann bekäme Ich erst einen Ausputzer, der seinesgleichen nicht hätte, so du
fort wärest!“
[JJ.01_230,10] Hier fragte der Cyrenius das Kindlein weiter und sprach:
[JJ.01_230,11] „O Du mein Leben, Du mein himmlischstes Kindlein! – Wenn aber
Deine Mutter so schlimm ist, wie kannst Du sie dann aber dennoch so überaus
liebhaben?“
[JJ.01_230,12] Und das Kindlein antwortete: „Weil sie aus großer Liebe zu Mir
schlimm ist; denn sie hat stets die größte Furcht, daß Mir irgend etwas Übles
geschehen möchte.
[JJ.01_230,13] Und siehe, darum muß Ich sie ja dann auch recht liebhaben! Ist
sie auch manchmal ohne Grund schlimm, so meint sie's aber dennoch gut, und darum
verdient sie ja auch Meine Liebe!
[JJ.01_230,14] Siehe, ebendarum würde sie nun auch schlimm sein, so Ich nun noch
ein Stückchen Fisch äße, weil sie meint, es könnte Mir schaden.
[JJ.01_230,15] Es würde Mir freilich wohl nicht schaden; aber Ich will nun
Selbst nicht gegen die sorglich gute Meinung Meiner Mutter eine Sünde begehen.
[JJ.01_230,16] Oh – Ich kann Mich schon auch verleugnen und kann das Gebot
Meiner Mutter halten, wenn es gerade sein muß;
[JJ.01_230,17] aber wenn es gerade nicht sein muß, da kann Ich auch tun, was Ich
will.
[JJ.01_230,18] Und da mache Ich Mir dann nichts daraus, wenn auch die Mutter ein
wenig zankt.
[JJ.01_230,19] Also aber muß es auch jetzt gerade nicht sein, daß Ich noch ein
Stückchen Fisch essen solle; darum will Ich Mich auch verleugnen, damit dann die
Mutter Mir nichts anhaben solle, wenn du fort sein wirst.“
[JJ.01_230,20] Hier fragte der Cyrenius wieder das Kindlein und sprach in aller
Liebe:
[JJ.01_230,21] „Ja, Du mein Leben! – wenn Du aber schon einen solchen Respekt
vor Deiner irdischen Mutter hast, warum hast Du Dich denn eher von ihr nicht
anziehen lassen?
[JJ.01_230,22] Wird sie darob nicht zanken mit Dir, wenn ich fort sein werde?“
[JJ.01_230,23] Und das Kindlein sprach: „Das sicher; aber daraus werde Ich Mir
eben nicht viel machen!
[JJ.01_230,24] Denn Ich habe es dir ja schon zuvor gesagt, daß Ich manchmal tue,
was Ich will, und frage nicht, ob's Meiner Mutter recht ist oder nicht.
[JJ.01_230,25] Aber darum kann dann Meine Mutter noch zanken mit Mir, weil sie
dabei eine gute Meinung und einen guten Willen hat.“
[JJ.01_230,26] Hier lächelte die Maria und sagte scherzweise: „Na, warte Du nur,
so wir allein sein werden,
[JJ.01_230,27] da werde ich Dich schon wieder recht auszanken, weil Du mich
jetzt beim Cyrenius so verklagt hast!“
[JJ.01_230,28] Und das Kindlein lächelte und sprach: „Oh – das ist nicht dein
Ernst! Ich sehe es dir recht gut an, wenn du so recht ernst schlimm bist, – denn
da siehst du ganz rot aus im Gesichte; jetzt aber bist du schön weiß, wie Ich,
und da bist du nie schlimm.“
[JJ.01_230,29] Über diese Bemerkung lachten alle, und das Kindlein lächelte auch
mit. Maria aber nahm aus Inbrunst das Kindlein und herzete Es über alle Maßen.
[JJ.01_231] 231. Kapitel – Des Cyrenius Dankbarkeit, Geschenk und
Abschiedsworte. – Cyrenius verweilt noch einen Tag.
14. Juni 1844
[JJ.01_231,01] Nach dieser kindlichen Szene aber ward auch das Morgenmahl
beendet.
[JJ.01_231,02] Und als Joseph das Dankgebet beendet hatte, da trat alsbald der
Cyrenius zum Joseph hin und sprach:
[JJ.01_231,03] „Mein geliebtester Freund! Deine Verdienste um mich, wie selbst
um meinen Bruder Julius Augustus Quirinus Caesar in Rom sind von so
entschiedener Art, daß ich sie dir nie werde lohnend entgelten können.
[JJ.01_231,04] Aber dich ganz unbelohnt zu lassen – siehe, das ist mir
allerreinst unmöglich!
[JJ.01_231,05] Ich weiß aber, daß du von mir keine königliche Belohnung
annimmst;
[JJ.01_231,06] darum habe ich mich also bedacht: Du hast in diesem Jahre, wie es
sich zeigt, eine magere Getreideernte zu hoffen;
[JJ.01_231,07] und dennoch ist dein Haus ziemlich stark bevölkert.
[JJ.01_231,08] Neun Personen gehören ohnehin mir an, und ihr seid euer auch acht
Köpfe; also in allem siebzehn Köpfe.
[JJ.01_231,09] Und es sagt mir nun mein Geist, daß deine Mehltruhen leer sind
und also auch deine Speisekammer,
[JJ.01_231,10] daß es dir auch schon mit dem Futter für deine Kühe, Ziegen und
Esel schlecht geht. –
[JJ.01_231,11] Siehe, das alles weiß ich sehr genau, wie auch, daß ihr fast
nichts mehr anzuziehen habt.
[JJ.01_231,12] Daher – du mein geliebtester Bruder, mußt du wenigstens soviel
von mir annehmen, als dir vorderhand not tut.
[JJ.01_231,13] Ich weiß zwar wohl, daß es im höchsten Grade lächerlich ist, so
ein Erdmensch sich vornähme, den Herrn der Unendlichkeit zu unterstützen, dem es
ein leichtes ist, mit einem Worte Myriaden Welten zu erschaffen.
[JJ.01_231,14] Ich weiß aber auch nun, daß ebendieser heilige Herr der Ewigkeit
nicht stets Wunder wirken will wider Seine ewige Wunderordnung, weil damit immer
ein Gericht für uns geschaffene Wesen verbunden ist.
[JJ.01_231,15] Aus dem Grunde mußt du von mir diesmal wenigstens soviel
annehmen, als es dir not tut,
[JJ.01_231,16] und wirst mich diesmal nicht, wie sonst gewöhnlich, abweisen!“
[JJ.01_231,17] Und der Joseph sprach: „Ja – Bruder! – diesmal möchtest du fast
recht haben!
[JJ.01_231,18] Aber – zuvor ich von dir doch etwas annehme, muß ich doch den
Herrn fragen.“
[JJ.01_231,19] Hier kam das Kindlein, das Sich schon beim Jakob befand, schnell
herbei und sagte zum Joseph:
[JJ.01_231,20] „Joseph, nehme nur an, was dir der Cyrenius geben will, damit du
das Haus dann mit Eßwaren versehen magst!“
[JJ.01_231,21] Darauf willigte Joseph in den Antrag des Cyrenius.
[JJ.01_231,22] Und dieser übergab dem Joseph sogleich eine Summe von tausend
Pfunden Silbers und siebzig Pfunden Goldes.
[JJ.01_231,23] Joseph dankte darum dem Cyrenius und nahm die schwere Summe an.
[JJ.01_231,24] Cyrenius aber war darob überheiter und sagte: „Bruder! – Nun ist
mein Herz um tausend Zentner leichter! Aber heute ziehe ich noch nicht von hier,
sondern morgen; denn meine zu große Liebe läßt mich nicht von hier!“ – Und
Joseph freute sich darob sehr.
[JJ.01_232] 232. Kapitel – Josephs Geldkasten und Räubersorgen. Des Kindleins
guter Rat an Joseph.
15. Juni 1844
[JJ.01_232,01] Joseph aber hatte keine Geldtruhe, in die er das viele Geld täte.
[JJ.01_232,02] Da befahl der Cyrenius sogleich seiner Dienerschaft, daß sie sich
sogleich in die Stadt begeben solle und solle da einen Kasten kaufen, und koste
er, was er wolle!
[JJ.01_232,03] Und die Dienerschaft ging alsogleich und brachte im Verlaufe von
zwei Stunden schon einen recht schönen Kasten von Zedernholz, der da zehn Pfunde
Silbers gekostet hatte.
[JJ.01_232,04] Dieser Kasten ward sobald ins Schlafgemach Josephs gestellt, und
die Söhne Josephs legten das große und schwere Geld in diesen schönen und
starken Kasten.
[JJ.01_232,05] Als das Geld auf die Art aufgehoben war, da sprach Joseph:
[JJ.01_232,06] „Nun bin ich weltlich genommen das erste Mal reich in meinem
ganzen Leben;
[JJ.01_232,07] denn so viel Geld habe ich nie gesehen und noch weniger je so
viel besessen!
[JJ.01_232,08] Aber bisher wußte mein Haus von keinem Diebe etwas und noch
weniger von einem Räuber;
[JJ.01_232,09] von nun an aber werden wir alle nicht genug Augen und Zeit haben,
dieses Geld vor Dieben und Räubern zu schützen!“
[JJ.01_232,10] Der Jonatha aber sagte: „Bruder, sei darob ruhig!
[JJ.01_232,11] Ich weiß es nur zu bestimmt, über wen die Räuber und Diebe
kommen.
[JJ.01_232,12] Siehe, sie kommen nur über die geizigen und kargen Filze!
[JJ.01_232,13] Das aber bist du nicht, – darum magst du auch ruhig sein; denn
von dir bekommt ja ohnehin ein jeder dreimal soviel, als er von dir verlangt!
[JJ.01_232,14] Darum, meine ich, wirst du wohl mit einer Menge Bettlern zu tun
bekommen, aber mit Räubern und Dieben sicher nicht!“
[JJ.01_232,15] Hier kam auch die Maria herbei und sprach zum Joseph:
[JJ.01_232,16] „Höre, du lieber Vater, du weißt ja, wie wir in der Stadt unseres
Vaters David von den drei weisen Morgenländern, die da aus Persien kamen, auch
eine große Last Goldes überkommen haben;
[JJ.01_232,17] und siehe, nun haben wir kein Sandkörnchen groß mehr davon,
obschon wir nie dessen beraubt worden sind!
[JJ.01_232,18] Also, meine ich, wird es uns auch hier ergehen: es wird kein Jahr
verfließen, und wir werden ohne Diebe und Räuber davon nichts mehr besitzen.
[JJ.01_232,19] Daher sei du nur ganz ruhig! – Denn in einem Hause, wo der Herr
wohnt, da hat das Gold keinen Stand, und die Räuber und Diebe wollen im Hause
des Herrn eben nicht viel zu tun haben!
[JJ.01_232,20] Denn sie wissen es so gut wie ich und du, daß es nicht geheuer
ist, sich an den Schätzen zu vergreifen, die da wie in dem Gotteskasten liegen.“
[JJ.01_232,21] Als die Maria solches ausgeredet hatte, da kam noch das Kindlein
herbei und sprach:
[JJ.01_232,22] „Joseph, du Getreuer! Du mußt nicht so furchtsam auf jenen Kasten
hinblicken, in den Meine Brüder das Geld gelegt haben!
[JJ.01_232,23] Denn da meine Ich, du wärest krank, wenn du so furchtsam
aussiehst.
[JJ.01_232,24] Und siehe, das will Ich nicht, daß du da krank sein sollest!
[JJ.01_232,25] Dieses Geld wird dich gar nicht lange drücken. Kaufe du nun nur
recht viel Mehl und sonstige Eßwaren und etwas Kleidung, und verteile das
übrige,
[JJ.01_232,26] und der Kasten wird alsobald wieder leer sein!“ – Diese
kindlichen Worte beruhigten den Joseph so sehr, daß er darauf ganz heiter ward.
[JJ.01_233] 233. Kapitel – Joseph und die Seinen. Häusliche Sorgen und Arbeiten.
Jonathas Riesenhilfe durch sein Gottvertrauen.
17. Juni 1844
[JJ.01_233,01] Nach allem dem aber berief Joseph die vier Söhne zu sich und
sagte zu ihnen:
[JJ.01_233,02] „Da nehmt dieses Pfund Silbers und gehet in die Stadt und kaufet
dort Mehl und was sonst noch für die Küche vonnöten ist,
[JJ.01_233,03] und kommet dann und bereitet ein gutes Mittagsmahl, darum mir
heute noch der Cyrenius die Ehre gibt!“
[JJ.01_233,04] Und die Söhne gingen und taten, was ihnen der Vater geboten
hatte.
[JJ.01_233,05] Maria aber kam auch herzu und bemerkte dem Joseph heimlich, daß
der Brennholzvorrat auch so sehr eingeschmolzen sei, daß sich mit dem noch
vorhandenen kleinen Reste kaum mehr werde ein Mahl bereiten lassen.
[JJ.01_233,06] Da berief der Joseph den Jonatha und zeigte ihm solche
Verlegenheit an.
[JJ.01_233,07] Und der Jonatha sprach: „Bruder, gebe mir deine große und starke
Axt, und ich werde in den Wald dort am Berge gehen;
[JJ.01_233,08] fürwahr, in drei Stunden sollst du Holz in Menge haben!“
[JJ.01_233,09] Und Joseph gab dem Jonatha eine starke Axt, und dieser ging in
den Wald des nächsten Berges, der zur Villa gehörte, und hieb dort sobald eine
starke Zeder um, befestigte um den Stamm einen starken Strick und zog so den
ganzen mächtigen Baum vor das Haus Josephs.
[JJ.01_233,10] Als er da mit seinem gefällten Baume ankam, da verwunderten sich
alle über die enorme Stärke Jonathas.
[JJ.01_233,11] Und viele Diener des Cyrenius versuchten zugleich den Baum
weiterzuziehen, aber ihre Kraftanstrengung war vergeblich;
[JJ.01_233,12] denn ihrer bei dreißig an der Zahl konnten den Baum nicht um ein
Haar von der Stelle bringen, da er im ganzen bei hundert Zentner wog.
[JJ.01_233,13] Jonatha aber sagte zu den Dienern des Cyrenius:
[JJ.01_233,14] „Nehmet doch statt dieses vergeblichen Versuchens große und
kleine Äxte zur Hand, und helfet mir den Baum geschwind aufscheitern!
[JJ.01_233,15] Diese Mühe wird dem Hausherrn besser gefallen, als so ihr an
diesem Baume meine Riesenkraft bemessen wollt durch eure eitle Bemühung!“
[JJ.01_233,16] Und sogleich griffen alle Diener des Cyrenius zu, und durch die
kräftige Mitwirkung des Jonatha ward der ganze Baum in einer halben Stunde ganz
aufgescheitert.
[JJ.01_233,17] Joseph war darauf voll Freude und sprach: „O das ist
vortrefflich!
[JJ.01_233,18] Fürwahr, das hätte mir drei Tage Arbeit gemacht, bis ich so einen
Baum zerscheitert hätte,
[JJ.01_233,19] und du hast kaum drei Stunden in allem gebraucht!“
[JJ.01_233,20] Und der Jonatha sagte darauf: „O Bruder! Eine große Leibesstärke
ist wohl eine nützliche Sache;
[JJ.01_233,21] aber was ist sie gegen die Stärke Dessen, der bei dir wohnet, und
vor dessen Hauche die ganze Unendlichkeit erbebt?!“
[JJ.01_233,22] Hier kam das Kindlein zum Jonatha und sagte zu ihm: „Sei still,
Jonatha, und verrate Mich nicht; denn Ich weiß, wann Ich Mich zu zeigen habe!
[JJ.01_233,23] So aber Meine Kraft nun nicht mit dir gewesen wäre, da wärest
auch du nicht dieses Baumes Meister geworden. – Aber sei stille und rede nichts
davon!“ – Da sprach Jonatha nichts weiter und begriff erst, wie er diesen Baum
so leicht bemeistert hatte. –
[JJ.01_234] 234. Kapitel – Die Verlegenheit des Statthalters durch eine
Deputation der Ersten und Vornehmsten der Stadt. Cyrenius lädt die Deputation
zum Mahle ein. Vom Fluch des Geldes.
18. Juni 1844
[JJ.01_234,01] Als aber auf diese Art das Haus Josephs auch mit Holz versehen
war und die Söhne Josephs sich recht rüstig an die Bereitung eines Mittagsmahles
gemacht hatten,
[JJ.01_234,02] da kam eine sehr glänzende Deputation aus der Stadt, um zu
begrüßen den obersten Statthalter.
[JJ.01_234,03] Denn diesmal erfuhr niemand in der Stadt etwas von der
Anwesenheit des Cyrenius, weil er im strengsten Inkognito da sein wollte.
[JJ.01_234,04] Aber man sah an dem Morgen die bekannte Dienerschaft in der
Stadt, wie die Söhne Josephs, und vermutete darum die Gegenwart des
Statthalters.
[JJ.01_234,05] Daher versammelte man sich in der Stadt und kam in allem Glanze
heraus, was aber dem Cyrenius diesmal sehr ungelegen kam.
[JJ.01_234,06] Der Oberste und der schon bekannte Hauptmann waren natürlich an
der Spitze einer zahlreichen Gesellschaft der Ersten und Vornehmsten der Stadt
Ostracine.
[JJ.01_234,07] Der Oberste entschuldigte sich über die Maßen, daß er es so spät,
und das nur durch einen glücklichen Zufall erfahren habe, daß Seine Kaiserliche
Consulische Hoheit diese Gegend mit ihrer allerhöchsten Gegenwart beglückten.
[JJ.01_234,08] Der Cyrenius aber kehrte sich fast um vor geheimem Ärger über
diesen für ihn höchst unzeitigen Besuch.
[JJ.01_234,09] Aber er mußte nun dennoch zum bösen Spiele aus politischen
Rücksichten eine gute Miene machen und erwiderte darum auch dem Begrüßer mit
gleicher Wohlredenheit.
[JJ.01_234,10] Endlich aber sagte er doch auch zum Obersten: „Lieber Freund, wir
große Herren der Welt sind manchmal doch recht übel daran!
[JJ.01_234,11] Ein gemeiner Mensch kann hingehen, wohin er nur immer will, und
er bleibt im süßen Inkognito;
[JJ.01_234,12] aber wir dürfen nur ein wenig über die Türschwelle uns erheben,
und das Inkognito ist schon beim Plunder.
[JJ.01_234,13] Ich nehme eure stattliche Begrüßung im Namen meines Bruders zwar
recht herzlich gut auf;
[JJ.01_234,14] aber es bleibt dabei, daß ich nun im strengsten Inkognito hier
bin!
[JJ.01_234,15] Das heißt, mit andern Worten gesprochen, dies mein Hiersein ist
ein unamtliches und darf unter gar keiner Bedingung nach Rom berichtet werden!
[JJ.01_234,16] So ich es erführe, daß es jemand gewagt hätte, nach Rom einen
solchen Bericht zu erstatten, wahrlich, dem solle es nicht am besten ergehen! – Denn wohlgemerkt, ich bin im strengsten Inkognito für die Welt hier!
[JJ.01_234,17] Warum? – das weiß ich, und niemand hat mich darum zu fragen.
[JJ.01_234,18] Gehet aber nun heim und kleidet euch um, und kommet dann wieder
heraus zum Mittagsmahle, das ungefähr drei Stunden vor dem Untergange
stattfinden wird!“
[JJ.01_234,19] Hier verbeugte sich die Deputation vor dem Statthalter und zog
wieder ab.
[JJ.01_234,20] Darauf trat der Joseph zum Cyrenius hin und sprach:
[JJ.01_234,21] „Siehe, das ist schon die erste Wirkung des Geldes, das du mir in
so reichlichstem Maße zukommen ließest!
[JJ.01_234,22] Deine Dienerschaft mußte mir dazu einen Kasten kaufen, ward da
erkannt – und dein Hiersein verraten.
[JJ.01_234,23] Wie ich doch immer sage: Am Golde und Silber liegt noch immer der
alte Fluch Gottes!“
[JJ.01_234,24] Das Kindlein aber, das dicht neben dem Joseph Sich befand, sagte
lächelnd hinzu:
[JJ.01_234,25] „Daher kann man dem stolzen Golde und dem hochmütigen Silber
keinen größeren Schimpf antun, als so man es im gerechten Maße unter die Bettler
austeilt.
[JJ.01_234,26] Du, Mein lieber Joseph, aber tust das allzeit; daher wird dir der
alte Fluch wenig schaden und also auch dem Cyrenius.
[JJ.01_234,27] Oh, Mir ist es gar nicht bange um dieses Goldes willen; denn hier
befindet es sich schon am rechten Platze!“
[JJ.01_234,28] Diese Worte beruhigten wieder den Joseph wie den Cyrenius, und
sie erwarteten darauf recht heitern Mutes die geladenen Gäste. –
[JJ.01_235] 235. Kapitel – Die vornehme Gesellschaft bei der Mahlzeit. Josephs
Rat der gesellschaftlichen Rücksichtnahme bei der Tischordnung. Des Kindleins
Ärgernis am schlecht bestellten Nebentisch. Eine prophetische Voraussage.
19. Juni 1844
[JJ.01_235,01] In der vorbestimmten Zeit kam die umgekleidete Deputation wieder
aus der Stadt, begrüßte alles im Hause Josephs und begab sich dann mit dem
Cyrenius zur schon bereiteten Mahlzeit.
[JJ.01_235,02] Da aber nun unvermuteterweise mehr Gäste zusammenkamen, als man
erwartet hatte, so ward der Tisch Josephs zu klein, als daß am selben auch die
Familie Josephs hätte Platz haben können.
[JJ.01_235,03] Daher sagte heimlich das Kindlein zum Joseph: „Vater Joseph,
lasse für uns im nebenanstoßenden Zimmer einen kleinen Tisch decken!
[JJ.01_235,04] Und dem Cyrenius sage, daß er sich darob nicht kränken solle,
[JJ.01_235,05] und sage ihm, daß Ich schon nach der Mahlzeit wieder zu ihm
kommen werde!“
[JJ.01_235,06] Und der Joseph tat also, wie ihm das Kindlein geraten hatte.
[JJ.01_235,07] Der Cyrenius aber sagte zum Joseph: „Das geht nicht! – So der
Herr der Unendlichkeit unter uns ist, da werden wir Ihn doch nicht zum
Katzentische setzen!
[JJ.01_235,08] O das wäre doch die allersonderbarste Ordnung von der Welt!
[JJ.01_235,09] Ich sage dir, gerade Er und du müßt vor allem obenan sitzen!“
[JJ.01_235,10] Und der Joseph sprach: „Liebster Bruder, das wird diesmal wohl
nicht angehen;
[JJ.01_235,11] denn siehe, es sind nun viele Heiden aus der Stadt da, und denen
könnte die zu große Nähe des Herrn gar übel bekommen; daher ist des Kindleins
Wille hier wie überall und allzeit zu respektieren.“
[JJ.01_235,12] Und das Kindlein kam hinzu und sprach: „Cyrenius! Joseph hat
schon recht, folge nur seinen Worten!“
[JJ.01_235,13] Da fand der Cyrenius keinen Anstand mehr und begab sich sogleich
mit seiner Suite und mit der Deputation aus der Stadt zum Mittagsmahle.
[JJ.01_235,14] Und der Joseph bestellte sogleich im nebenanstoßenden Zimmer auch
einen recht tüchtigen Tisch, bei dem er, die Maria, das Kindlein mit Seinem
Jakob,
[JJ.01_235,15] der Jonatha, die Eudokia und die acht Kinder des Cyrenius Platz
nahmen.
[JJ.01_235,16] Es wurden aber natürlich auf den Tisch der Gäste mehr und die
besseren Speisen aufgetragen und auf den Haustisch weniger und die minder guten.
[JJ.01_235,17] Und das Kindlein sprach: „O du Schandfleck von einem Erdboden! – mußt du denn gerade für deinen Einigen Herrn das Schlechtere hervorbringen!?
[JJ.01_235,18] O du jetzt fruchtbares Land zwischen Asien und Afrika, du sollst
darum für alle Zeiten mit großer Unfruchtbarkeit geschlagen werden!
[JJ.01_235,19] Fürwahr, wahr! – hätte unser Tisch nicht einige Fische, da wäre
für Mich rein nichts Genießbares da!
[JJ.01_235,20] Hier ein Milchkoch mit etwas Honig, was Ich nicht mag, und da
eine gebratene Meerzwiebel, und da eine kleine Melone, und da ein altbackenes
Brot und daneben etwas Butter und Honig, –
[JJ.01_235,21] das ist unsere ganze Mahlzeit; lauter Speisen, die Ich nicht mag,
bis auf die wenigen Fische!
[JJ.01_235,22] Ich will aber nicht, daß es etwa die Gäste schlechter haben
sollen als wir;
[JJ.01_235,23] aber das ist denn doch auch nicht recht, daß wir es um vieles
schlechter haben sollen als die Gäste!“
[JJ.01_235,24] Joseph aber sprach: „O lieber Jesus, so schmolle doch nicht, denn
siehe, es geht uns ja allen gleich!“
[JJ.01_235,25] Und das Kindlein sprach: „Gib Mir vom Fische, und dann ist es gut
für jetzt. Aber ein andermal muß es anders gehen; denn mit dieser Alltagskost
kann Ich Mich nicht allzeit begnügen!“ – Joseph merkte sich das und gab dem
Kindlein vom Fische zu essen.
[JJ.01_236] 236. Kapitel – Eine häusliche Küchenszene und deren ernste Folgen.
Das Grundevangelium von der Menschwerdung.
20. Juni 1844
[JJ.01_236,01] Beim Verzehren des Fisches aber fragte das Kindlein den Jonatha,
sagend: „Jonatha, ist das wohl die beste Gattung der Fische?
[JJ.01_236,02] Denn Ich sage dir, daß Mir dieser Fisch gar nicht wohlschmecket!
[JJ.01_236,03] Fürs erste ist er zäh und fürs zweite so trocken wie Stroh.
[JJ.01_236,04] Fürwahr, das muß keine gute Fischgattung sein, was sich auch
daraus erkennen läßt, daß er gar so viele lästige Gräten hat!“
[JJ.01_236,05] Und der Jonatha erwiderte: „Ja, Du mein Herr und mein Gott! Es
ist fürwahr die leichteste Fischgattung!
[JJ.01_236,06] O hätte doch der Joseph mir früher etwas gesagt, da wäre ich ja
gerne zehn Male für einmal hin und her gelaufen und hätte für Dich den
allerbesten Fisch geholt!“
[JJ.01_236,07] Hier war der Joseph selbst etwas ärgerlich über seine Söhne,
darum sie seinen Tisch so übel bestellt hatten.
[JJ.01_236,08] Das Kindlein aber sprach: „Joseph, ärgern dürfen wir uns deshalb
gerade nicht;
[JJ.01_236,09] aber sonderbar bleibt das immer von Meinen Brüdern, daß sie in
der Küche für sich das Beste behalten, uns aber gerade aus allem das
Schlechteste auftischen.
[JJ.01_236,10] Es sei ihnen zwar alles gesegnet; aber schön und löblich ist das
von ihnen nicht! –
[JJ.01_236,11] Siehe, du hast Mir wohl das beste Stück vom Fische gegeben; aber
dennoch vermag Ich es nicht wegzuessen, obschon Ich noch recht hungrig bin, –
[JJ.01_236,12] und das ist doch ein sicheres Zeichen, daß der Fisch schlecht
ist!
[JJ.01_236,13] Da – verkoste dies Stückchen, und du wirst dich überzeugen, daß
Ich recht habe!“
[JJ.01_236,14] Hier kostete der Joseph den Fisch und fand die Aussage des
Kindleins vollkommen bestätigt.
[JJ.01_236,15] Da stand er aber auch sogleich auf und ging in die Küche und fand
da, wie sich die vier Söhne mit einem edlen Thunfisch gütlich taten.
[JJ.01_236,16] Da war es aber auch aus beim Joseph, und er fing die vier Köche
ganz gewaltig zu putzen an.
[JJ.01_236,17] Diese aber sprachen: „Vater! – siehe, wir müssen alle schwere
Arbeit verrichten, warum sollen wir da manchmal nicht auch ein besseres
Stückchen verzehren als die, welche nicht arbeiten?!
[JJ.01_236,18] Zudem ist der Fisch ja auch nicht schlecht, den wir auf deinen
Tisch gegeben haben.
[JJ.01_236,19] Das Kindlein aber, weil Es von euch zu verzärtelt ist, ist nur
manchmal zu voll Kapricen, und da ist Ihm dann nichts recht und gut genug!“
[JJ.01_236,20] Da ward Joseph zornig und sprach: „Gut, weil ihr mir mit solcher
Rede begegnetet, so werdet ihr von nun an nimmer für meinen Tisch Speisen
bereiten!
[JJ.01_236,21] Maria wird von jetzt an mein Koch sein, ihr aber möget für euch
kochen, was ihr wollt; aber an meinem Tische solle keiner aus euch je gesehen
werden!“
[JJ.01_236,22] Hier verließ Joseph die vier Köche und kam ganz erregt durch eine
kleine Seitentüre zu seiner Tischgesellschaft zurück.
[JJ.01_236,23] Da ward das Kindlein traurig und fing an völlig zu weinen und
schluchzte recht gewaltig.
[JJ.01_236,24] Da fragten Es sogleich Maria, Joseph und der Jakob mit
ängstlicher Gebärde, was Ihm fehle, ob Es irgendeinen Schmerz empfinde –
[JJ.01_236,25] oder was es denn doch sei, darum Es nun gar so plötzlich also
traurig und leidig geworden sei?
[JJ.01_236,26] Das Kindlein aber seufzte tief auf und sprach in einem sehr
wehmütigen Tone zum Joseph:
[JJ.01_236,27] „Joseph! – Ist es denn gar so süß, den Armen und Schwachen die
eigene Herrlichkeit zu zeigen und sie eines geringen Vergehens wegen völlig zu
richten?!
[JJ.01_236,28] Siehe doch einmal Mich an, wie viele gar entsetzlich schlechte
Köche habe Ich in der Welt, die Mich als einen Vater aller Väter schon lange
völlig hätten verhungern lassen, so solches an Mir möglich wäre!
[JJ.01_236,29] Ich sage dir, Köche, die von Mir nichts mehr wissen und auch
nichts mehr wissen und hören wollen!
[JJ.01_236,30] Und siehe, Ich gehe dennoch nicht hinaus, um sie zu richten in
Meinem gerechten Zorne!
[JJ.01_236,31] Ist es denn gar so süß, ein Herr zu sein? – Siehe, Ich bin der
alleinige Herr der Unendlichkeit, und außer Mir ist ewig keiner mehr!
[JJ.01_236,32] Und siehe, Ich euer aller Schöpfer und Vater wollte vor euch ein
schwaches Menschenkind werden mit allem Zurückhalte Meiner ewigen und
unendlichen göttlichen Herrlichkeit,
[JJ.01_236,33] auf daß ihr durch dieses über alles demütige Beispiel an eurem
alten Herrschgeist einen Ekel bekommen sollet!
[JJ.01_236,34] Aber nein! Gerade in dieser Zeit aller Zeiten, in der Sich der
Herr aller Herrlichkeit unter alle Menschen erniedrigt hat, um sie alle in
solcher Seiner Niedrigkeit zu gewinnen, wollen die Menschen am meisten Herren
sein und herrschen!
[JJ.01_236,35] Ich weiß es wohl, daß du vorzüglich Meinetwegen die vier Köche
gerichtet hast;
[JJ.01_236,36] aber so du Mich als den Herrn erkennst, warum hast du Mir denn da
vorgegriffen?
[JJ.01_236,37] Siehe, wir alle sind darum noch nicht unglücklich, darum wir mit
einem mageren Fische bedient worden sind; denn wir können uns ja sogleich einen
besseren zubereiten lassen!
[JJ.01_236,38] Die vier Brüder aber sind nun die unglücklichsten Geschöpfe auf
der Welt, darum du als Vater sie gerichtet hast;
[JJ.01_236,39] und siehe, das ist keine gerechte Strafe auf ein so geringes
Vergehen!
[JJ.01_236,40] Was wäret ihr Menschen wohl, so Ich mit euch täte, wie ihr es
miteinander tut, wenn Ich so kurzmütig und ungeduldig wäre, wie ihr es seid?!
[JJ.01_236,41] Du weißt es nicht, warum wir diesmal so karg bedient worden sind;
Ich aber weiß es.
[JJ.01_236,42] Darum sage Ich dir, gehe hin und rufe zurück dein Urteil, und der
Jakob wird dir dann den Grund dieser schlechten Mahlzeit kundgeben!“
[JJ.01_236,43] Hier ging der Joseph und berief die vier Söhne, auf daß sie vor
ihm bekenneten ihren Fehl und er es ihnen dann vergebe.
[JJ.01_237] 237. Kapitel – Demütige und herzliche Rede der vier Brüder an das
beschimpfte Kindlein. Dessen göttliche Antwort an Seine Brüder.
21. Juni 1844
[JJ.01_237,01] Und die vier Söhne Josephs kamen sobald in das Speisezimmer des
Joseph, fielen da auch sogleich auf ihre Knie nieder, bekannten ihre Schuld und
baten dann den alten Vater Joseph um Vergebung.
[JJ.01_237,02] Joseph vergab ihnen darauf und nahm sein Urteil zurück.
[JJ.01_237,03] Darauf aber sagte er zu den vieren: „Ich habe es euch wohl
vergeben;
[JJ.01_237,04] aber ich war auch dabei der von euch am wenigsten Beleidigte.
[JJ.01_237,05] Aber hier ist das Kindlein, von dem ihr mir zum größten Ärger
aussagtet,
[JJ.01_237,06] Es sei ganz verzärtelt und sei darum manchmal voll Kapricen, da
Ihm dann nichts recht und gut genug wäre.
[JJ.01_237,07] Dadurch habt ihr Es gröblichst beschimpft!
[JJ.01_237,08] Gehet hin und bittet Es vorzugsweise um Vergebung, sonst kann es
euch übel ergehen!“
[JJ.01_237,09] Darauf gingen die vier hin vor das Kindlein und sprachen vor Ihm:
[JJ.01_237,10] „O Du unser liebes Brüderchen! Siehe, wir haben Dich ungerecht
beschimpft vor unserem Vater,
[JJ.01_237,11] und haben dadurch ihn gröblichst erzürnt, daß er uns darob nahe
fluchen mußte.
[JJ.01_237,12] Gar grob haben wir uns an Dir und dem guten Vater Joseph
versündigt.
[JJ.01_237,13] O wirst Du, liebes Brüderchen, uns wohl je solche unsere grobe
Sünde vergeben können? – Wirst Du uns wieder zu Deinen Brüdern erheben?“
[JJ.01_237,14] Hier lächelte das Kindlein die vier Bittenden gar überaus
freundlich an, streckte Seine zarten Arme aus und sprach mit Tränen in Seinen
göttlichen Augen:
[JJ.01_237,15] „O stehet auf, ihr Meine lieben Brüder, und kommet her, auf daß
Ich euch küsse und segne!
[JJ.01_237,16] Denn wahrlich, wer so wie ihr zu Mir kommt, dem solle vergeben
sein und hätte er der Sünden mehr, denn da ist des Sandes im Meere und des
Grases auf der Erde!
[JJ.01_237,17] Wahrlich, wahrlich! – eher noch als diese Erde gegründet war,
habe Ich diese Sünde an euch schon geschaut und habe sie euch auch schon um gar
vieles eher vergeben, als ihr noch waret!
[JJ.01_237,18] O ihr Meine lieben Brüder! Seid ja in keiner Angst wegen Meiner;
denn Ich habe ja euch alle so sehr lieb, daß Ich wohl aus Liebe zu euch einst
sterben werde am Leibe!
[JJ.01_237,19] Daher habet ja keine Angst vor Mir; denn wahrlich, so ihr Mir
auch gefluchet hättet, da hätte Ich euch aber dennoch nicht gerichtet, sondern
hätte geweint ob der Härte eurer Herzen!
[JJ.01_237,20] Kommet also her, ihr Meine lieben Brüder, auf daß Ich euch segne,
darum ihr Mich ein wenig beschimpfet habt!“
[JJ.01_237,21] Diese endlose Güte des Kindleins brach den vieren das Herz, daß
sie weinten wie kleine Kinder.
[JJ.01_237,22] Auch die andere Tischgesellschaft ward so sehr gerührt, daß sie
sich des Weinens nicht enthalten konnte.
[JJ.01_237,23] Das Kindlein aber richtete Sich auf, ging Selbst zu den vieren
hin und segnete und küßte sie und sagte dann zu ihnen:
[JJ.01_237,24] „Nun, liebe Brüder, werdet ihr es doch merken, daß Ich euch alles
vergeben habe!? –
[JJ.01_237,25] Ich bitte euch aber, gehet nun in die Küche und bringet uns allen
einen besseren Fisch!
[JJ.01_237,26] Denn fürwahr, Ich bin noch recht hungrig und kann den Fisch aber
dennoch nicht essen, den ihr ehedem für uns bereitet habt!“
[JJ.01_237,27] Hier erhoben sich sobald die vier, küßten das übergute Kindlein
und eilten dann übergerührt in die Küche und bereiteten in der kürzesten Zeit
einen allerbesten Fisch für den Tisch Josephs.
[JJ.01_238] 238. Kapitel – Entsprechungssinn der Mahlzeit. Die Phasen der
geistigen Zustände auf Erden: 1. Im allgemeinen. 2. Das Judentum. 3. Die
griechische Kirche. 4. Die römische Kirche. 5. Die christlichen Sekten.
22. Juni 1844
[JJ.01_238,01] Als der gut bereitete Fisch auf den Tisch Josephs kam und sich
alle daran gütlich taten,
[JJ.01_238,02] und als auch die Tafel beendet ward, da fragte Joseph den Jakob,
ob er ihm denn einen etwa wohl gar prophetischen Grund dieses früheren mageren
und schlechten und nun am Ende gar wohlschmeckenden Mahles anzugeben wüßte?
[JJ.01_238,03] Und der Jakob sprach mit der größten Demut und Bescheidenheit:
[JJ.01_238,04] „O ja, lieber Vater Joseph, insoweit es mir der Herr geben wird,
insoweit auch will ich es dir treulich kundtun, was dieses Mahl bedeutet.
[JJ.01_238,05] Und so bitte ich dich denn, daß du mich ja recht treulich anhören
möchtest!“
[JJ.01_238,06] Alle richteten nun ihre Aufmerksamkeit auf den Mund Jakobs, und
dieser begann also zu reden:
[JJ.01_238,07] „Die magere und schlechte Mahlzeit bezeichnet jene künftige Zeit,
in der des Herrn Wort wird verunstaltet werden.
[JJ.01_238,08] Da werden Seine Knechte den besten Teil für sich behalten und
werden ihre Gemeinden mit den Trebern füttern gleichwie die Heiden ihre
Schweine.
[JJ.01_238,09] Die Juden werden sein gleich der gebratenen Meerzwiebel;
[JJ.01_238,10] denn obschon sie eine Wurzel sind, die am Meere der göttlichen
Gnade wuchert und nun völlig gebraten wird am Feuer der göttlichen Liebe,
[JJ.01_238,11] so wird sie aber dennoch als eine schlechte Speise und als ein
höchst mageres Gericht am Tische des Herrn sich befinden, und wird niemand nach
ihr greifen! –
[JJ.01_238,12] Das dumme Milchkoch werden die Griechen sein; diese werden wohl
am meisten noch des Herrn Wort echt erhalten!
[JJ.01_238,13] Aber da sie nur ein äußeres, aber kein inneres Leben darnach
führen werden, so werden sie lau und dumm und geschmacklos sein wie dieses Koch,
das zwar wohl auch die besten Lebenssäfte in sich trägt, aber weil es kühl ist
und nicht gehörig durchkochet ward, so macht es auch eine schlechte Figur auf
dem Tische des Herrn! –
[JJ.01_238,14] Denn es hat keinen Wohlgeruch und somit als noch völlig roh auch
keinen Wohlgeschmack für des Herrn Gaumen.
[JJ.01_238,15] Die Melone ist das Rom. Diese Frucht wächst an einem kriechenden
und sich nach allen Gegenden hin windenden Stiele,
[JJ.01_238,16] auf dem viel taube Blüten vorkommen; aber nur hinter wenigen
zeigt sich eine Frucht.
[JJ.01_238,17] Und wenn schon die Frucht da ist und ihre Reife erlangt, so hätte
sie zwar wohl einen recht starken Wohlgeruch, –
[JJ.01_238,18] schneidet man sie aber auf und kostet das innere Fleisch, so wird
man sogleich gewahr, daß der Geschmack bei weitem schlechter ist als der Geruch.
[JJ.01_238,19] Nimmt man nicht gewürzten Honig dazu, so wird es einem nach dem
Genusse solcher Frucht sogleich zum Erbrechen übel,
[JJ.01_238,20] ja man kann sich an solcher Frucht gar leicht den Tod eressen!
[JJ.01_238,21] Also wird es auch mit Rom stehen eine geraume Zeit, und viele
werden sich an dieser Kost den Tod eressen! – Und diese Frucht wird ebenfalls
als ein schlechtes Gericht auf dem Tische des Herrn sich befinden und wird von
Ihm nicht angerührt werden! –
[JJ.01_238,22] Also sind hier noch Butter, Brot und etwas Honig und etliche
magere Fische.
[JJ.01_238,23] Diese Speisen sind wohl etwas besser und sind von den andern sehr
gesondert und haben wohl noch das rechte Ansehen;
[JJ.01_238,24] aber es ist in ihnen auch keine Wärme, und des Feuers Hauptwürze
hat sie noch nicht alle berührt, daher stehen sie auch hier auf dem Tische des
Herrn und werden nicht gelobt.
[JJ.01_238,25] Die Fische wohl waren am Feuer; aber sie hatten zu wenig Fett,
daher sind sie trocken wie Stroh, und der Herr kann sie auch nicht genießen.
[JJ.01_238,26] Unter diesen Speisen aber werden gewisse Sekten verstanden, die
sich von ersteren absondern werden und werden wohl Glauben haben;
[JJ.01_238,27] aber man wird an ihnen keine oder nur sehr wenig Liebe entdecken,
und daher werden sie auch nicht angenehm sein vor dem Herrn! – –
[JJ.01_238,28] Das ist kurz die Bedeutung dieses Mahles. Ich gab alles kund, was
ich empfing; mehr aber empfing ich nicht, darum schweige ich nun.“ – Diese
Erklärung machte ein großes Aufsehen wohl, aber niemand verstand sie.
[JJ.01_239] 239. Kapitel – Der letzte gute Fisch bedeutet die Liebe des Herrn
und Seine große Gnade in dieser letzten Zeit. Die Bewohner der Sonne auch zu
Kindern Gottes bestimmt. Eine Herde unter dem Einen guten Hirten.
25. Juni 1844
[JJ.01_239,01] Joseph aber sprach darauf zum Jakob: „Du hast im vollsten Sinne
im Namen des Herrn großweise geredet, obschon ich wie wir alle das noch nicht zu
fassen imstande sind, was du geredet hast.
[JJ.01_239,02] Da ich aber dessenungeachtet die Weisheit Gottes in dir erkenne,
[JJ.01_239,03] und wir alle am Ende einen herrlichen und gar überaus
wohlschmeckend zubereiteten Fisch auf unsern Tisch bekamen,
[JJ.01_239,04] so möchte ich denn auch das von dir erörtert haben, was denn am
Ende dieser edle gute Fisch bedeutet.
[JJ.01_239,05] Sicher wird dir der Herr auch das enthüllen, das da gut ist,
[JJ.01_239,06] da Er dir ehedem enthüllet hat, was da schlecht ist und sein wird
für alle Welt!“
[JJ.01_239,07] Und der Jakob sprach darauf: „Lieber Vater Joseph, das steht ja
nicht bei mir, sondern allein beim Herrn!
[JJ.01_239,08] Ich bin nur ein mattes Werkzeug des Herrn und kann nur dann
reden, wann der Herr mir die Zunge löset.
[JJ.01_239,09] Darum verlange nicht von mir, das ich nicht habe und dir's darum
auch nicht zu geben vermag,
[JJ.01_239,10] sondern wende dich darob an den Herrn; so Er es mir geben wird,
dann sollst es auch du alsogleich bekommen ganz ungetrübt!“
[JJ.01_239,11] Hier wandte sich der Joseph sogleich an das Kindlein heimlich und
sprach:
[JJ.01_239,12] „Mein Jesus, lasse mich auch die Bedeutung des guten Fisches
erfahren!“
[JJ.01_239,13] Das Kindlein aber sprach: „Joseph, du siehst ja, daß Ich mit
Meinem Fische noch nicht völlig fertig bin; also warte nur ein wenig noch!
[JJ.01_239,14] Der Cyrenius ist ja auch noch lange nicht fertig mit seiner
Mahlzeit; daher haben wir noch eine halbe Stunde Zeit,
[JJ.01_239,15] und in dieser Zeit läßt sich noch sehr vieles abmachen, beraten
und beschließen.“
[JJ.01_239,16] Darauf aber wandte Sich das Kindlein zum Jakob und sprach zu ihm:
[JJ.01_239,17] „Jakob, dieweil Ich dies Mein Stückchen Fisch verzehren werde,
kannst du ja gleichwohl reden, was dir in den Mund kommen wird.“
[JJ.01_239,18] Darauf aß das Kindlein wieder an Seinem Fische, und der Jakob
begann sogleich also zu reden:
[JJ.01_239,19] „Dieser letzte gute Fisch bedeutet die Liebe des Herrn und Seine
große Gnade, die Er in den Zeiten, in denen alles sich über den Abgründen des
ewigen Todes befinden wird, den Menschen wird zukommen lassen.
[JJ.01_239,20] Aber zuvor werden die Köche ein tüchtiges Gericht zu bestehen
haben!
[JJ.01_239,21] Erst nach einem solchen Gerichte wird jene Zeit kommen, von der
schon der Prophet Isaias geweissagt hatte.
[JJ.01_239,22] Und diese Zeit wird dann bleiben auf der Erde und wird von ihr
nicht genommen werden fürder; und da wird die Erde eins werden mit der Sonne,
[JJ.01_239,23] und ihre Bewohner werden bewohnen die großen Lichtgefilde der
Sonne und werden leuchten wie sie.
[JJ.01_239,24] Und der Herr wird allein Herr sein, und Er wird Selbst ein Hirt
sein, und alle die leuchtenden Bewohner werden eine Herde sein!
[JJ.01_239,25] Und also wird die Erde bestehen ewig, und ihre Bewohner ewig, und
der Herr wird sein ewig unter ihnen – ein Vater Seinen Kindern von Ewigkeit!
[JJ.01_239,26] Da wird kein Tod mehr sein; wer da leben wird, der wird leben
ewig, und wird nimmer den Tod sehen Amen!“ –
[JJ.01_239,27] Hier ward der Jakob wieder still. Die ganze Gesellschaft aber
ward ganz stumm vor Verwunderung über die große Weisheit Jakobs, – nur das
Kindlein sprach am Ende: „Und so bin Ich auch mit dem Fische fertig geworden;
daher auch da Amen.“ –
[JJ.01_240] 240. Kapitel – Die Gäste werden auf das Kindlein aufmerksam. Des
Cyrenius Auskunft. Ein Urteil der Nachbarn über Joseph und seine Familie.
26. Juni 1844
[JJ.01_240,01] Bald darauf erhob sich die Gesellschaft vom Tische und dankte
Gott für die leibliche wie für die geistige Nahrung und begab sich dann zum
größten Teile hinaus ins Freie.
[JJ.01_240,02] Nur Joseph, Maria und das Kindlein mit dem Jakob begaben sich in
das große Speisezimmer, allda der Cyrenius sich noch mit seinen Gästen am Tische
befand.
[JJ.01_240,03] Er bewillkommnete überaus freundlich seine liebsten Freunde und
wollte sogleich aufstehen und ihnen einen Platz bereiten.
[JJ.01_240,04] Das Kindlein aber sprach: „O bleibe, bleibe, du Mein lieber
Cyrenius, wie du bist!
[JJ.01_240,05] Ich bin schon zufrieden, wenn Ich nur in deinem Herzen den
gerechten Platz habe!
[JJ.01_240,06] Was da diesen Tischplatz betrifft, an dem liegt Mir nichts!
[JJ.01_240,07] Ich gehe aber nun ins Freie mit den Meinen; wann du mit der Tafel
wirst zu Ende sein, so komme Mir nach!“
[JJ.01_240,08] Darauf lief das Kindlein mit Seinem Jakob flugs hinaus ins Freie
und unterhielt Sich dort mit ihm und mit den andern Kindern.
[JJ.01_240,09] Einigen Gästen aus der Stadt aber fiel diese sehr verständige und
ganz vertrauliche Rede des Kindleins mit dem Cyrenius auf,
[JJ.01_240,10] und sie fragten, wie alt denn doch dies Kindlein sein dürfte;
[JJ.01_240,11] denn es rede ja schon wie ein erwachsener Mensch und scheine mit
dem Statthalter auf einem sehr vertrauten Fuße zu stehen.
[JJ.01_240,12] Cyrenius aber sprach: „Was kümmert euch das, so ich ein großer
Kinderfreund bin?
[JJ.01_240,13] Daß dies Kindlein überaus geistreich ist, das habt ihr alle
gesehen!
[JJ.01_240,14] Wie Es aber in kaum noch dritthalb Jahren Alters zu solcher
Verstandesklarheit gelangt ist,
[JJ.01_240,15] darüber erkundiget euch bei dessen Eltern, diese werden euch
darüber wohl den besten Aufschluß zu erteilen imstande sein!
[JJ.01_240,16] Mich nimmt es aber überhaupt sehr wunder, daß ihr als die
nächsten Nachbarn dieses Hauses dessen Einwohner noch nicht näher kennet!“
[JJ.01_240,17] Darauf sprachen einige: „Ja – wie sollen wir aber diese Familie
auch näher kennen?
[JJ.01_240,18] Fürs erste geht sie nirgends hin, und fürs zweite haben wir ja
auch zu wenig Zeit, um zu besuchen diese sonderbare jüdische Familie, bei der
man sich überhaupt nicht so ganz recht auskennt;
[JJ.01_240,19] denn sie hat einen so sonderbar mystischen Anstrich, daß man
nicht weiß, was man so ganz eigentlich aus ihr machen solle.
[JJ.01_240,20] Soviel wir von andern ganz geringen Menschen erfahren, so ist
diese Familie wohl sehr friedsam und tut den Armen viel Gutes;
[JJ.01_240,21] aber es gibt einige, die da sagen, daß sie schon öfter dieses
Haus wie in den hellsten Flammen ersahen, die aber auf ,ja‘ und ,nein‘ wieder
erloschen, – und so noch so manches andere.
[JJ.01_240,22] Daher haben wir auch den Mut nicht, diese Familie zu besuchen;
[JJ.01_240,23] denn der Alte ist und bleibt ein jüdischer Hauptzauberer.
[JJ.01_240,24] Und mit derlei Menschen ist nicht gut in irgend eine Gesellschaft
zu treten!“ –
[JJ.01_240,25] Hier lachte der Cyrenius und sprach: „Nun – wenn also – da
bleibet ihr nur dabei stehen; denn dann ist dies Haus sicher vor euch!“ – Die
Gäste aber sahen den Cyrenius groß an und wußten nicht, wie sie daran waren. –
[JJ.01_241] 241. Kapitel – Der übelwollende Beschluß der eifersüchtigen Gäste.
Der große Brand in Ostracine.
24. Juni 1844
[JJ.01_241,01] Es fragte aber ein großer Bürger der Stadt Ostracine, wie der
Statthalter das meine:
[JJ.01_241,02] „Warum solle darob dieses Haus sicher sein, da man vielleicht
irrwähnig diesen alten Juden für einen Erzzauberer hält?“
[JJ.01_241,03] Und der Cyrenius sprach: „Weil der schwache Mensch da nichts
vermag, wo der urewigen Gottheit Kraft ihre schützende Hand darüberhält.
[JJ.01_241,04] Dieses Haus aber steht, wie keines mehr auf der weiten Erde,
unter dem mächtigsten Schutze solcher Gottheit, – also ist es auch
unüberwindlich!
[JJ.01_241,05] Leget eure Hand böswillig an dies Haus, und ihr werdet es
sogleich erfahren, um welche Zeit es mit diesem ist!“
[JJ.01_241,06] Hier stutzten alle die Gäste aus der Stadt und sagten zueinander:
[JJ.01_241,07] „Der Statthalter will uns nur schrecken, weil er keine Macht bei
sich hat.
[JJ.01_241,08] Würden wir aber im Ernste unsere Hände an dies Haus und an seinen
Leib legen, da möchte er sicher bald eine andere Sprache führen!
[JJ.01_241,09] Lasset uns daher aufstehen vom Tische und in die Stadt ziehen und
von da gegen Abend wieder mit einer starken Macht hierherkommen,
[JJ.01_241,10] und da werden wir sogleich sehen, ob der Statthalter noch eine
solche Sprache führen wird!“
[JJ.01_241,11] Darauf erhob sich bald die ganze Gesellschaft vom Tische und
begab sich ins Freie.
[JJ.01_241,12] Allda fingen sich die Bürger und der Oberste und der
Stadthauptmann beim Cyrenius zu beurlauben an und machten sich darauf auf den
Weg in die Stadt.
[JJ.01_241,13] Der Joseph aber ging zu den Fortgehenwollenden und sagte zu
ihnen:
[JJ.01_241,14] „Warum wollt ihr denn nun schon gehen, da die Sonne noch eine
gute Stunde leuchten wird?
[JJ.01_241,15] Bleibet hier bis zum Abende, und wir wollen dann alle den
Cyrenius bis zu seinem Schiffe begleiten, wie es sich gebührt;
[JJ.01_241,16] denn er reist noch heute in der Nacht nach Tyrus ab und wird
darum auch heute noch sein Schiff ordnen und besteigen.“
[JJ.01_241,17] Die also Angesprochenen aber entschuldigten sich und sagten: „Wir
haben heute noch ein gar wichtiges Geschäft vor, daher entschuldige du uns bei
deinem intimsten Freunde!“
[JJ.01_241,18] Hier kam das Kindlein herbeigelaufen und sprach zum Joseph:
[JJ.01_241,19] „Lasse sie nur ziehen in die Stadt; denn ihr Geschäft ist von
einer Art, das zu Meiner Verherrlichung dienen wird!“
[JJ.01_241,20] Hier ließ sonach der Joseph die Stadtgäste ziehen und ging mit
dem Kindlein zum Cyrenius hin und erzählte ihm, wie diese sich entschuldigten,
und was das Kindlein geredet hatte.
[JJ.01_241,21] Und der Cyrenius sprach: „O mein erhabenster Bruder, diese Art
kenne ich!
[JJ.01_241,22] Sie ist eifersüchtig und weiß sich aus lauter innerer Galle nicht
zu raten und zu helfen, weil ich dein Haus besuchte und sie im Stiche ließ.
[JJ.01_241,23] Aber ich bin darum sehr ruhig ob deiner; denn ich weiß es ja, in
Wessen Schutze du dich befindest!“
[JJ.01_241,24] Und das Kindlein sprach: „Oh, der dürre Weg solle ihnen heiß
werden!
[JJ.01_241,25] Sie wollen unser Haus heute noch zerstören, und das mit Feuer!
[JJ.01_241,26] Aber sie sollen nicht Zeit gewinnen dazu, denn sie werden daheim
sogleich genug zu tun bekommen!“
[JJ.01_241,27] Als das Kindlein noch kaum solche Worte ausgeredet hatte, da
stand schon die halbe Stadt in Flammen, – und niemand dachte mehr an die
Zerstörung des Hauses Josephs.
[JJ.01_242] 242. Kapitel – Des Cyrenius Sorge um die Abgebrannten. „Wer andern
eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ Gott ist allen „ein allergerechtester
Richter“.
28. Juni 1844
[JJ.01_242,01] Es entsetzten sich aber alle, als sie auf einmal die ungeheuere
Qualm- und Flammenmasse in die Luft aufsteigend erschauten.
[JJ.01_242,02] Und der Cyrenius fragte den Joseph, ob man nicht diesen so
mächtig hartbedrängten Menschen zu Hilfe eilen solle.
[JJ.01_242,03] Joseph aber sprach: „Ich meine, wir werden das gut sein lassen!
[JJ.01_242,04] Denn dem Feuer können wir ohnehin keinen Einhalt tun mit unseren
natürlich-menschlichen Kräften;
[JJ.01_242,05] was aber die dabei Verarmten betrifft, die werden uns noch bald
genug und zur rechten Zeit treffen.
[JJ.01_242,06] Daher seien wir nur ganz ruhig hier; wem's not tut, der wird
schon kommen!“
[JJ.01_242,07] Und das Kindlein daneben sprach zum Joseph: „Lieber Joseph!
siehe, das wird auch deinen Gold- und Silberkasten um ein sehr bedeutendes
geringer machen!
[JJ.01_242,08] Auch du, Cyrenius, wirst heute noch vor deiner Abreise um einige
Pfunde Goldes und Silbers leichter werden;
[JJ.01_242,09] denn die hier waren und heimlich uns mit der Zerstörung unseres
Hauses gedroht haben, die werden bald als gar sehr gedemütigte Freunde
wiederkommen und werden dich um eine Unterstützung angehen.
[JJ.01_242,10] Daher mache dich nur gefaßt darauf! Denke aber nicht, als hätte
Ich etwa deren Häuser durch Meine Macht in diesen Brand gesteckt;
[JJ.01_242,11] denn so etwas tue Ich nicht; und jegliche Rache ist ferne von
Mir!
[JJ.01_242,12] Dir aber sage Ich es: Das hat ihnen ihre Dienerschaft getan;
[JJ.01_242,13] denn diese hatte schon einen alten Groll auf ihre Herrschaft, da
sie von ihr zu karg und hart gehalten war.
[JJ.01_242,14] Heute fand sie den günstigen Zeitpunkt, sich also zu rächen an
ihrer Herrschaft,
[JJ.01_242,15] daß sie alle ihre Paläste in den Brand steckte.
[JJ.01_242,16] Und so fielen ohne Mein Zutun diese Weltherren gerade nun in die
Grube, die sie für uns gemacht zu haben im Sinne hatten!“
[JJ.01_242,17] Als der Cyrenius vom Kindlein solches vernommen hatte, da fragte
er Es hurtigst, ob man solcher argen Dienerschaft nicht nachstellen solle.
[JJ.01_242,18] Und das Kindlein sprach: „O lasse das gut sein! Denn fürs erste
hat sie an ihrer hartherzigen Herrschaft ein gutes Werk getan,
[JJ.01_242,19] fürs zweite ist sie lange schon mit dem geraubten Schatze über
Berg und Tal, –
[JJ.01_242,20] und fürs dritte wird sie der ihr gebührenden Strafe nicht
entgehen, da sie das ganz eigenmächtig aus böser Rache getan hat!
[JJ.01_242,21] Daher sei unsere Sorge vorerst auf die gerichtet, die da unserer
Hilfe benötigen werden!
[JJ.01_242,22] Was aber die Brandleger betrifft, für die ist schon gesorgt.
[JJ.01_242,23] Denn siehe, Gott sieht sie allenthalben und kennet ihren Weg
genau!
[JJ.01_242,24] Daher kann Er sie auch überall ergreifen, wo sie sich auch immer
befinden möchten.
[JJ.01_242,25] Gott ist auch ein allen allergerechtester Richter; daher wird Er
ihnen auch den gerechtesten Lohn für ihre Tat zu geben wissen!“ –
[JJ.01_242,26] Hier kam die Maria ganz ängstlich hinzu und zeigte dem Joseph
eine große Schar gewaffneter Krieger, die sich in Eilschritten gegen die Villa
bewegte.
[JJ.01_242,27] Das Kindlein aber sprach: „O fürchtet euch nicht; das ist die
Schutzwache für den Cyrenius, die nun der Oberste aus der Stadt zu eurer
Sicherung sendet!
[JJ.01_242,28] Es werden aber bald auch eine Menge Bürger ihr folgen.
[JJ.01_242,29] Daher sei nun hier nur für ihre Unterkunft gesorgt; alles andere
wird sich geben!“ –
[JJ.01_242,30] Und wie das Kindlein solches geredet hatte, so war es auch: der
Cyrenius bekam Wache, und dieser folgten bald eine Menge Abgebrannter.
[JJ.01_243] 243. Kapitel – Hochmut kommt vor dem Fall. Josephs würdige
Behandlung der Abgebrannten. Des Cyrenius Edelmut gegen die Verunglückten.
Cyrenius bei Jonatha.
1. Juli 1844
[JJ.01_243,01] Als die Abgebrannten beim Hause Josephs ankamen, da erkannte sie
eben der Joseph bald, daß sie dieselben Herren waren, die ehedem seine Gäste
gewesen sind, und fragte sie:
[JJ.01_243,02] „Ja – meine geachtetsten Herrn, was ist denn mit eurem wichtigen
Geschäfte, deshalb ihr ehedem also schnell forteiltet?
[JJ.01_243,03] Bestand es darinnen, daß ihr eure Stadt angezündet habt?
[JJ.01_243,04] Oder bestand es etwa in ganz etwas anderem, das für mich als ein
Geheimnis zu verbleiben hat?“
[JJ.01_243,05] Die Abgebrannten aber sprachen: „Lieber Menschenfreund! – Versuche uns Elende nicht; denn du siehst ja, daß wir nun die aufgelegtesten
Bettler sind!
[JJ.01_243,06] Kannst du uns aber irgend unterstützen, so tue das, und wir
wollen deine Leibeigenen sein unser Leben lang!“
[JJ.01_243,07] Joseph aber sprach: „Nur Roms mächtige Patrizier verstehen sich
auf Sklaven und Leibeigene;
[JJ.01_243,08] ich aber verstehe mich nur auf Brüder, die allzeit gleich meine
Brüder sind – wie als Herren, also auch als Bettler!
[JJ.01_243,09] Darum werde ich euch auch nach Kräften unterstützen.
[JJ.01_243,10] Aber so ihr wieder auf eurem Boden feststehen werdet, dann nehmt
euch kein solches Geschäft mehr vor, wie euer heutiges hätte sein sollen!
[JJ.01_243,11] Denn so wehe es euch nun tut, daß euch eure Diener und Sklaven so
schändlich beraubt und eure Häuser angezündet haben,
[JJ.01_243,12] ebenso und noch mehr Wehe hätte mir das gemacht, so ihr
desgleichen an mir verübt hättet!“
[JJ.01_243,13] Hier ging der Joseph zum Cyrenius und fragte ihn, was man diesen
Unglücklichen auf einmal geben solle.
[JJ.01_243,14] Und der Cyrenius sprach: „Warte nur ein wenig! Meine Träger, die
ich um meine Kasse aufs Schiff gesandt habe, werden sobald da sein!
[JJ.01_243,15] So ich erst im Besitze meiner größeren Kasse sein werde, dann
werden wir schon sehen, wieviel da auf jeden, der schon hier ist und noch kommen
wird, fallen solle.“
[JJ.01_243,16] In einer kleinen Stunde brachten die Boten tausend Säckel Goldes
und Silbers.
[JJ.01_243,17] Jeder Säckel, aus zehn Pfunden bestehend, aber war gemischt mit
zwei Pfunden Goldes und acht Pfunden Silbers.
[JJ.01_243,18] Hier sprach der Cyrenius zum Joseph: „Diese Säckel verteile du
unter diese Abgebrannten also, daß da auf jeden ein Säckel komme!
[JJ.01_243,19] Die erübrigten aber verwahre du für noch andere, die noch
ankommen werden!
[JJ.01_243,20] Ich aber will bei der Verteilung nicht zugegen sein, auf daß ich
nicht erkannt werde von allem Volke, das hierherkommen wird!
[JJ.01_243,21] Ich aber werde mich nun mit dem Jonatha in seine Wohnung begeben
und hoffe dich am Abende zu sehen.“
[JJ.01_243,22] Joseph billigte das und übernahm mit seinen Söhnen sogleich die
Verteilung; und der Cyrenius entfernte sich heimlich mit seinem ganzen Hofstaate
und mit dem Jonatha. – –
[JJ.01_244] 244. Kapitel – Josephs tatkräftige Nächstenliebe. Ein rechter Trost
in schwerer Heimsuchung. Abendbesuch und Abendmahl bei Jonatha.
2. Juli 1844
[JJ.01_244,01] Zwei Stunden nach dem vollen Untergange der Sonne hatte Joseph
mit der Verteilung zu tun
[JJ.01_244,02] und wies dabei auch den Dach- und Fachlosen Plätze an, wo sie
übernachten konnten;
[JJ.01_244,03] denn in der Stadt getrauten sich wenige nur zu übernachten, teils
wegen des starken Brandgestankes,
[JJ.01_244,04] teils aber auch wegen der Unsicherheit, da man noch immer
fürchten mußte, ob das Feuer nicht ehestens dieses oder jenes noch gesunde Haus
ergreifen wird.
[JJ.01_244,05] Als Joseph also sein Geschäft beendet hatte, da fragte er das
Kindlein ganz geheim, ob es nun wohl geheuer sein dürfte, das Haus zu verlassen
und sich zum Jonatha hinzubegeben.
[JJ.01_244,06] Und das Kindlein sprach: „Was kümmert dich das Haus und dessen
Inhalt?
[JJ.01_244,07] Gehört es doch nicht uns, sondern dem, der es gekauft hat, so wie
auch der Inhalt, der ebenfalls des Käufers ist.
[JJ.01_244,08] Daher gehen wir nur zum Jonatha, der für uns sicher einen guten
Fisch in Bereitschaft hat!“
[JJ.01_244,09] Und der Joseph sprach: „Da hast Du freilich wohl recht;
[JJ.01_244,10] aber bedenke, daß wir einen Kasten voll Goldes und Silbers haben,
und haben Kühe, Ziegen und Esel!
[JJ.01_244,11] Könnte das nicht ein Raub dieser nun sehr vielen Gäste werden?“
[JJ.01_244,12] Und das Kindlein sprach: „Joseph, das ist jetzt zu hoch für Mich!
[JJ.01_244,13] Rede darüber mit dem Jakob, der versteht diese Sachen nun besser
als Ich!“ –
[JJ.01_244,14] Und der Joseph tat sobald an den Jakob dieselbe Frage.
[JJ.01_244,15] Und der Jakob sprach: „Vater! – Und so wir alles verlören, der
Herr aber bleibt uns, was hätten wir dann verloren? –
[JJ.01_244,16] Der Herr aber zieht mit uns zum Jonatha; was sollen wir dann hier
im Hause des Statthalters zu verlieren fürchten?!
[JJ.01_244,17] Lasse dir die ganze Erde rauben und behalte den Herrn, dann hast
du mehr, als so alle Himmel und Erden dein vollstes brauchbares Eigentum wären!
[JJ.01_244,18] Und so ziehe, du redlichster Mann, ohne Furcht und Sorge mit dem
Herrn zum Jonatha, und du wirst dich überzeugen, daß wir nichts verlieren
werden!“
[JJ.01_244,19] Diese Worte des Herrn aus dem Munde Jakobs beruhigten den Joseph
so sehr, daß er augenblicklich mit seiner ganzen Sippschaft aufbrach und sich
zum Jonatha begab.
[JJ.01_244,20] Alldort harrten schon alle mit der sehnsüchtigsten Erwartung der
Ankunft Josephs.
[JJ.01_244,21] Und als sie seiner ansichtig wurden, da liefen sie wie die Kinder
ihrem Vater entgegen, darunter sich auch der Cyrenius befand.
[JJ.01_244,22] Und als unter solchem Geleite Joseph mit den Seinen in das Haus
Jonathas trat, da ließ dieser sogleich die wohlbereiteten Fische auftragen, und
alle hielten hier ihr Abendmahl.
[JJ.01_245] 245. Kapitel – Cyrenius rüstet sein Schiff zur Abreise. Jakob
erinnert ihn an den Erdglobus. Josephs Rat an Cyrenius: Handle frei – nach dem
Willen des Herrn! Cyrenius nimmt die drei Knaben mit.
3. Juli 1844
[JJ.01_245,01] Nach diesem Abendmahle befahl der Cyrenius seinen Schiffsleuten,
das Schiff zu ordnen.
[JJ.01_245,02] Und diese gingen und brachten im Schiffe alles in kurzer Zeit in
die beste Ordnung.
[JJ.01_245,03] Es trat aber auch der Jakob zum Cyrenius hin und fragte ihn, ob
er in seiner Eile nicht den wunderbaren Erdglobus vergessen hätte, den ihm das
Kindlein vor ein paar Tagen zum Geschenke gemacht hatte.
[JJ.01_245,04] Bei dieser Frage griff sich der Cyrenius förmlich bei den Haaren
und wollte sogleich selbst darum fortlaufen.
[JJ.01_245,05] Der Jakob aber sprach: „O Cyrenius, kümmere dich darob nicht;
[JJ.01_245,06] denn was du vergessen hast, an das habe schon ich gedacht!
[JJ.01_245,07] Siehe, hier in diesem Winkel in einem Tuche befindet sich der
Erdglobus, und du brauchst darum nicht mehr in unsere Wohnung zu laufen!“
[JJ.01_245,08] Da ward der Cyrenius voll Freuden; er selbst nahm das Kleinod und
trug es zum Schiffe und übergab es erst dort seinem Schiffshauptmann zur besten
Verwahrung.
[JJ.01_245,09] Als auch dieses Geschäft beendet war, da ging der Cyrenius zum
Joseph und sagte zu ihm:
[JJ.01_245,10] „Höre, du mein allererhabenster Freund und Bruder, mich nun
gütigst an; denn ich habe nun einen guten Gedanken gefaßt, und der muß
ausgeführt werden!
[JJ.01_245,11] Siehe, du hast nun in deinem Hause eine Menge Menschen, und es
werden dir etliche verbleiben!
[JJ.01_245,12] Meine Kinder aber machen dir doch mehr oder weniger Sorge und
manche Ungelegenheit, und, wie ich es selbst bemerkt habe, ganz besonders die
drei Knaben.
[JJ.01_245,13] Darum habe ich nun bei mir beschlossen, wenigstens eben die drei
Knaben mit mir zu nehmen und dir allein die fünf Mädchen zu belassen.“
[JJ.01_245,14] Und der Joseph sprach: „Liebster Bruder, tue du, was dir am
besten deucht, und mir wird alles recht sein!
[JJ.01_245,15] Aber nur tue du das alles nach dem Rate des Herrn, so wird es am
besten sein!
[JJ.01_245,16] Frage darum auch hier den Herrn, und was Er dir sagen wird, das
tue!“
[JJ.01_245,17] Hier wandte sich der Cyrenius sogleich mit der höchsten Liebe und
Ehrfurcht an das Kindlein und fragte Es nach dem Rate Josephs.
[JJ.01_245,18] Und das Kindlein sprach: „Ja, ja, nehme die drei recht schlimmen
Knaben nur mit; das ist Mir schon recht!
[JJ.01_245,19] Der Sixtus wäre Mir zwar schon noch recht, aber auch er bleibt
sich nicht gleich und will Mir nichts gelten lassen.
[JJ.01_245,20] Daher nehme ihn nur auch mit, und sei ja recht strenge gegen sie,
sonst werden das rechte Weltlinge werden!
[JJ.01_245,21] Die Mädchen aber lasse nur hier; denn die habe Ich viel lieber,
weil sie Mich auch lieber haben als die Knaben!
[JJ.01_245,22] Aber darum habe Ich sie nicht lieber, weil sie Mädchen sind,
sondern nur wegen ihrer größeren Liebe zu Mir.“
[JJ.01_245,23] Auf diese Äußerung des Kindleins nahm der Cyrenius die drei
Knaben und dankte dem Kindlein für diesen herrlichen Rat und ließ sie dann auch
sobald aufs Schiff bringen.
[JJ.01_246] 246. Kapitel – Des Cyrenius Segensbitte, und des Kindleins göttliche
Antwort. Des Cyrenius Abschiedsgebet. Das Kindlein segnet die Scheidenden und
beruhigt sie mit den Worten: Wo euer Herz ist, da ist auch euer Schatz.
4. Juli 1844
[JJ.01_246,01] Als das Schiff ganz zum Abfahren bereitet war, da ging der
Cyrenius zum Kindlein, kniete vor Ihm nieder und bat Es um den Segen mit
folgenden Worten:
[JJ.01_246,02] „O Herr, Du mein großer Gott, Du mein Schöpfer, Du mein Vater von
Ewigkeit,
[JJ.01_246,03] der Du nach Deinem ewigen Ratschlusse hier auf diesem Staube, das
wir Erde und Welt nennen, als ein schwaches Menschenkind wandelst in unserer
Gestalt,
[JJ.01_246,04] Du mein allmächtiger Herr, vor Dessen leisestem Winke alle Mächte
der Unendlichkeit erbeben,
[JJ.01_246,05] o sieh mich elendsten Wurm vor Dir im Staube meiner vollsten
Nichtigkeit gnädig an,
[JJ.01_246,06] und würdige Du Heiliger aller Heiligkeit mich, einen unwürdigsten
Wurm im Staube vor Dir, Deines endlos heiligen Segens!
[JJ.01_246,07] Lasse, o Du mein Leben, Deinen allerheiligsten Namen alle meine
Kraft, Macht und Stärke sein!
[JJ.01_246,08] O Du mein über alles geliebtester Jesus, Du Urkönig meines
Herzens, sieh mich armen schwachen Sünder gnädig und barmherzig an und lasse es
zu, daß ich fort und fort in der Liebe zu Dir wachse!
[JJ.01_246,09] Nimm, o Du mein ewig allergeliebtester Jesus, meine Liebe als den
schwachen kleinen Dank an für die endlosen Gnaden und Erbarmungen, die Du mir
mit jedem Atemzuge erteilest!“
[JJ.01_246,10] Hier brach dem Cyrenius das Herz vor Liebe, und er konnte nicht
mehr reden vor lauter Weinen.
[JJ.01_246,11] Das Kindlein aber sprang ganz munter hin zum Cyrenius, umarmte
ihn und küßte ihn viele Male und sprach dann zu ihm:
[JJ.01_246,12] „O weine nicht, du Mein liebster Cyrenius; denn du siehst es ja,
wie lieb Ich dich habe!
[JJ.01_246,13] In dieser Meiner Liebe für dich und zu dir aber liegt ja Mein
größter Segen!
[JJ.01_246,14] Ich sage dir, so du bleibst, wie du bist, da bleibst du ewig
Mein, und deine Seele solle ewig nimmer den Tod fühlen noch schmecken!
[JJ.01_246,15] Wie du Mich aber nun um diesen Segen gebeten hast, also bitte
auch Ich dich, daß du Mich ja gegen niemanden verratest!
[JJ.01_246,16] Und Ich bitte dich nicht Meinetwegen, sondern der Welt wegen;
[JJ.01_246,17] denn diese würde in den Tod sobald übergehen, so sie Mich
erkennete vor der Zeit!“
[JJ.01_246,18] Nach diesen Worten umarmte das Kindlein noch einmal den Cyrenius
und küßte ihn klein ab.
[JJ.01_246,19] Da breitete der Cyrenius seine Arme weit aus und sprach mit der
rührendsten Stimme:
[JJ.01_246,20] „O Gott, – o Du mein Gott, – o Du mein großer Gott! – was bin ich
denn, daß Du mich küssest mit dem Munde, aus dem alle Schöpfung hervorging?!
[JJ.01_246,21] O ihr leuchtenden Himmel, und du Erde, und ihr Kräfte der Himmel!
– sehet, sehet hierher!
[JJ.01_246,22] Der, der euch und mich erschaffen hat, ist hier vor mir und
segnet mich mit Seiner allmächtigen Hand!
[JJ.01_246,23] Wann, wann wirst du, o Erde, es fassen, – diese Gnadengröße
dieser Zeit fassen, in der deines ewigen Schöpfers und Herrn Füße deinen Boden
betreten?!
[JJ.01_246,24] O du überheiliger Boden, der du den Herrn trägst, wirst du je
wohl die Größe solcher Gnade dankbarst, dich selbst zerknirschend vor Demut,
erkennen?
[JJ.01_246,25] O du heilige Stätte, wie schwer verlasse ich dich!“ –
[JJ.01_246,26] Hier hob das Kindlein den Cyrenius förmlich auf und ließ ihn
nicht wieder niederknien.
[JJ.01_246,27] Da aber kam auch die Tullia und der Maronius Pilla, und das
Kindlein segnete sie alle, und alle weinten, daß sie nun wieder scheiden müßten.
[JJ.01_246,28] Das Kindlein aber sprach: „Oh, oh, wir scheiden ja nicht! – Denn
wo euer Herz ist, da wird auch dessen Schatz sein!“
[JJ.01_246,29] Damit beruhigten sie sich und erhoben sich vom Boden. –
[JJ.01_247] 247. Kapitel – Joseph segnet den Cyrenius. Abschiedsworte Jesu an
Cyrenius: „Wir in der Liebe eins Gewordene werden uns allzeit gegenwärtig sein,
im Geiste ewig!“ Des Cyrenius Abreise. Joseph bei Jonatha.
5. Juli 1844
[JJ.01_247,01] Darauf ging der Joseph hin zum Cyrenius und segnete ihn samt
seinem ganzen Hause.
[JJ.01_247,02] Desgleichen auch ging die Maria hin und segnete die Tullia und
deren Gefährtinnen.
[JJ.01_247,03] Und Joseph sprach dann zum Cyrenius: „Bruder, mit dieser meiner
Segnung drücke ich dir auch den Wunsch meines Herzens aus, der darin besteht:
[JJ.01_247,04] Lasse du mir die fünf Mägdlein ganz, auf daß sie an mir
vollkommen ihren Vater haben sollen!
[JJ.01_247,05] Denn du wirst ohnehin noch eigene Kinder bekommen, die sich in
der späteren Zeit mit diesen hart vertragen würden.
[JJ.01_247,06] Bei mir aber wird darob nie eine Disharmonie entstehen; den Grund
kennst du nun so gut als ich.“
[JJ.01_247,07] Und der Cyrenius willfahrte gerne des Josephs Wunsch und übergab
ihm die fünf Mägdlein völlig zu eigen, worüber der Joseph eine große Freude
hatte;
[JJ.01_247,08] denn er hatte die Mägdlein lieb, weil sie so gelehrig und sehr
folgsam waren, und waren von gutem Wuchse und von einer lieblichen Gestalt.
[JJ.01_247,09] Als dieses abgemacht war, da umarmte der Cyrenius den Joseph und
sprach:
[JJ.01_247,10] „Bruder, so es des Herrn Wille sein wird, da hoffe ich dich bald
wiederzusehen.“
[JJ.01_247,11] Und das Kindlein, das da neben dem Joseph stand, sprach: „Amen
sage Ich! – So hier nicht, so doch in Meinem Reiche!
[JJ.01_247,12] Denn Ich sage dir, lange werden wir uns nicht mehr in diesem
Lande aufhalten, weil wir schon zu bekannt sind.
[JJ.01_247,13] So wir aber ausziehen werden, dann werden wir uns in eine
Verborgenheit zurückziehen, auf daß da kein Mensch gerichtet werde.
[JJ.01_247,14] Jedoch – wir in der Liebe eins Gewordene werden uns allzeit
gegenwärtig sein, im Geiste ewig!
[JJ.01_247,15] Wo dein Schatz sein wird, da wirst auch du sein mit deinem
Herzen, in dem der Hauptschatz wohnet.
[JJ.01_247,16] Bin Ich dir ein köstlicher Schatz geworden in deinem Herzen, – wahrlich, so sollst du Meiner ewig nimmer ledig werden;
[JJ.01_247,17] denn da Ich wohne in der Liebe, da bin Ich eigentlichst zu Hause
und ziehe ewig nimmer aus – aus solcher Wohnstätte!
[JJ.01_247,18] Lasse Mich daher fortwährend wohnen in deinem Herzen, und Ich
werde für dich in keiner Verborgenheit wohnen!
[JJ.01_247,19] Denn nur die Liebe allein kann Meine Gegenwart ertragen, wie ein
Feuer das andere!
[JJ.01_247,20] Alles aber, was nicht Feuer ist, das wird vom Feuer zerstört und
verzehrt.
[JJ.01_247,21] Darum auch ziehe Ich Mich vor der Welt zurück, auf daß sie Mein
Feuer nicht ergreife und zerstöre!
[JJ.01_247,22] Frage aber ja nie: ,Herr! wo bist Du?‘ – Da werde Ich dir nicht
sagen: ,Hier bin Ich!‘ –
[JJ.01_247,23] sondern frage sorgfältig dein Herz, ob es Mich liebt, und Ich
werde in deinem Herzen, das Mich liebt, zu dir rufen:
[JJ.01_247,24] ,Hier bin Ich zu Hause in aller Fülle Meiner Liebe, Gnade und
Erbarmung!‘
[JJ.01_247,25] Nun besteige getrost dein Schiff, und guter Wind solle dich nach
Tyrus tragen – Amen.“ –
[JJ.01_247,26] Hier empfahl sich der Statthalter Cyrenius zum letzten Male bei
Joseph in Ägypten und bestieg sein Schiff.
[JJ.01_247,27] Und sobald kam ein guter Wind und eilte mit dem Schiffe davon.
[JJ.01_247,28] Joseph aber begab sich darauf mit seiner Familie in das Haus des
Jonatha und verblieb diese Nacht bei ihm.
[JJ.01_248] 248. Kapitel – Joseph und Jonatha bemerken beim Morgenfischzug ein
gefährdetes Schiff und retten es.
8. Juli 1844
[JJ.01_248,01] Am Morgen des nächsten Tages war Joseph wie gewöhnlich der erste
auf den Beinen, und er weckte auch bald seine Familie.
[JJ.01_248,02] Jonatha aber, der auch soeben aus seiner Kammer kam, zu sehen,
was es für einen Tag für sein Geschäft geben werde, sprach zu Joseph:
[JJ.01_248,03] „Aber lieber Freund und Bruder! Was machst denn du schon so früh
auf und treibst auch die Deinen an, daß sie sich erheben sollen?
[JJ.01_248,04] Sollst du denn nicht lieber auf den Herrn warten, bis Dieser Sich
vom Schlafe erheben würde?
[JJ.01_248,05] Wäre denn nicht dann eben die beste Zeit aufzustehen am Morgen
eines Tages?!
[JJ.01_248,06] Ich bitte dich darum, lasse doch wenigstens deine Familie ruhen
noch ein paar Stunden!
[JJ.01_248,07] Du aber begebe dich mit mir und mit meinen Leuten auf ein
Schiffchen, und wir wollen einen Morgenfang machen!“
[JJ.01_248,08] Dieser Antrag gefiel dem alten Joseph, und er ließ seine Familie
noch ruhen und begab sich sogleich mit dem Jonatha in einen großen Fischerkahn.
[JJ.01_248,09] Jonathas Fischerknechte ordneten die Netze und griffen dann
kräftigst zu den Rudern,
[JJ.01_248,10] und in einer Stunde befanden sich die Morgenfischer schon an der
Stelle, wo es am meisten Fische gab.
[JJ.01_248,11] Als sie aber diese allzeit günstige Fischerstelle erreicht hatten
und die Sonne sich ihrem Aufgange nahte,
[JJ.01_248,12] da bemerkte der Jonatha in der Entfernung etwa einer Stunde ein
römisches Schiff stehen und wußte nicht, was er so ganz eigentlich aus demselben
machen sollte!
[JJ.01_248,13] Er sprach darum zum Joseph: „Bruder, ich kenne das Meer dort;
[JJ.01_248,14] es ist seicht und voller Sandbänke, und gar leicht kann dort ein
Seefahrer Roms steckengeblieben sein.
[JJ.01_248,15] Wir sollten ihm darum wohl schleunigst zu Hilfe eilen!?“
[JJ.01_248,16] Und der Joseph war damit einverstanden; und es ward sofort
hingerudert, und das Schiff ward in einer halben Stunde erreicht.
[JJ.01_248,17] Und siehe, es war wirklich ein großes Römerschiff, das da einen
Gesandten an den Cyrenius führte.
[JJ.01_248,18] Dieser ward sogleich aufgenommen, und er bat den Jonatha, alles
mögliche aufzubieten, daß das Schiff gerettet werde.
[JJ.01_248,19] Darauf ergriff Jonatha sogleich das Schlepptau des großen
Schiffes und ließ dann kräftig rudern auf seinem großen Boote.
[JJ.01_248,20] Und es dauerte keine halbe Stunde, als das große Schiff
flottgemacht wurde.
[JJ.01_248,21] Darauf beschenkte der römische Gesandte reichlich den Jonatha und
segelte dann weiter gen Morgen.
[JJ.01_248,22] Jonatha aber kehrte dann mit Gold und Silber anstatt der Fische
nach Hause und ließ für diesen Morgen das Fischen ruhen.
[JJ.01_249] 249. Kapitel – Des Kindleins Frage nach dem heutigen Fischfang. Des
fischbegierigen Kindleins Antwort auf Josephs Zurechtweisung: „Ich bin überall
zu Hause, wo man Mich liebt!“ Der reiche Fischfang auf des Kindleins Geheiß.
9. Juli 1844
[JJ.01_249,01] Als nach ungefähr drei Stunden der Jonatha mit dem Joseph und mit
seinem Gold- und Silberfischfange zurückkam, da war in seinem Hause auch schon
alles auf den Beinen und sah nach der noch stark rauchenden Stadt hin.
[JJ.01_249,02] Das Kindlein allein lief mit dem Jakob dem sich dem Ufer nahenden
Joseph und Jonatha entgegen.
[JJ.01_249,03] Und als diese ans Ufer traten, da grüßte und küßte Es die beiden
und fragte den Jonatha, ob er wohl schon recht viele Fische gefangen habe.
[JJ.01_249,04] Dieser aber, das Kindlein ebenfalls mit größter Liebe umfassend,
sprach:
[JJ.01_249,05] „O Du mein Leben, Du meine Liebe! – Mit den Fischen hat es für
heute seine geweisten Wege!
[JJ.01_249,06] Aber ich habe sicher mit Deiner allmächtigen Hilfe ein
gestrandetes Römerschiff gerettet, das einen Gesandten an den Cyrenius trug.
[JJ.01_249,07] Da fielen dann recht viele Gold- und Silberfische in mein Netz,
und so ließ ich für heute den eigentlichen Fischfang ruhen.“
[JJ.01_249,08] Und das Kindlein sagte: „Das ist schon recht und ganz gut;
[JJ.01_249,09] aber da Ich Mich heute schon auf einen frischen Fisch gefreut
habe, so wäre es Mir lieber gewesen, du hättest statt deiner Gold- und
Silberfische die rechten gebracht!“
[JJ.01_249,10] Der Jonatha aber sprach: „O Du mein Leben, siehe, da längs des
Ufers hängen ja eine Menge Fischkästen voll mit den besten Fischen, da werden
wir schon ganz frische herausnehmen!“
[JJ.01_249,11] Und das Kindlein lächelte darauf und sprach: „Ja, wenn also, dann
magst du freilich wohl deinen heutigen Gold- und Silberfischfang behalten!
[JJ.01_249,12] Aber Ich bin schon recht hungrig; wird es lange dauern, bis da
ein Fisch zugerichtet wird?“
[JJ.01_249,13] Und der Jonatha sprach: „O nein, Du mein Leben, in einer halben
Stunde sitzen wir schon bei Tische!“
[JJ.01_249,14] Joseph aber sagte zum Kindlein: „Aber Du bist wohl ein rechter
Bettler!
[JJ.01_249,15] Siehe, hier sind wir ja nicht zu Hause; daher müssen wir auch
nicht tun, als wären wir zu Hause!
[JJ.01_249,16] Gedulde Dich nur, es wird schon etwas kommen; aber also zu
betteln schickt sich ja nicht in einem fremden Hause!“
[JJ.01_249,17] Das Kindlein aber sprach: „Ei – was da! – Ich bin überall zu
Hause, wo man Mich liebt.
[JJ.01_249,18] Wo aber Ich zu Hause bin also, da kann und darf Ich ja doch auch
reden, was Ich möchte!
[JJ.01_249,19] Damit aber Jonatha seine Kästen nicht unentschädigt leeren solle,
[JJ.01_249,20] da werfe er ein Netz ins Meer, und er solle für uns alle sogleich
einen hinreichenden Fang machen! – Jonatha, tue das!“
[JJ.01_249,21] Jonatha warf sogleich ein großes Netz ins Meer und fing eine
unerhörte Menge der edelsten Fische.
[JJ.01_249,22] Darauf sagte das Kindlein zum Joseph: „Siehe, wenn das in Meiner
Macht stehet, da werde Ich doch den Jonatha um einen guten Fisch bitten dürfen?“
– Hier wurde der Joseph still; Jonatha aber wußte sich aus lauter Dankbarkeit
nicht zu helfen.
[JJ.01_250] 250. Kapitel – Jonatha zieht mit Joseph heim. Das Haus wird leer und
ausgeplündert angetroffen. Joseph ergrimmt darüber sehr. Denkwürdige Erklärung
des Kindleins.
10. Juli 1844
[JJ.01_250,01] Jonatha nahm sogleich zehn der allerschönsten Fische und übergab
sie seinem Koche, daß er sie sogleich zurichte.
[JJ.01_250,02] Er aber half seinen Gehilfen die andern Fische teils in die Lägel
bringen und teils in die Selchkammer.
[JJ.01_250,03] In einer Viertelstunde waren die Fische bereitet, und alle
Angehörigen Josephs begaben sich zum Frühmahle.
[JJ.01_250,04] Als das Mahl eingenommen war, da war es auch schon gegen Mittag,
und der Joseph sprach:
[JJ.01_250,05] „Nun aber haben wir auch die höchste Zeit, uns nach Hause zu
begeben!
[JJ.01_250,06] Und du, Bruder Jonatha, wirst mich begleiten und wirst heute noch
bei mir zubringen!“
[JJ.01_250,07] Und der Jonatha sprach voll Freude in seinem Herzen:
[JJ.01_250,08] „O Bruder! – Das tue ich wohl am allerliebsten; denn du weißt es
ja, wie endlos und unbegrenzt lieb ich dich habe!“
[JJ.01_250,09] Darauf nahm der Jonatha drei große Lägel voll der edelsten Fische
wieder und zog überheiteren Mutes mit dem Joseph und seiner Familie zur Villa.
[JJ.01_250,10] Als sie da wieder anlangten, da fanden sie zu ihrem nicht
geringen Erstaunen keinen Menschen von den Abgebrannten mehr,
[JJ.01_250,11] sondern ganz leer stand das Haus da und offen in allen seinen
Gemächern.
[JJ.01_250,12] Joseph sagte bei solchem Anblicke seines Hauses: „Das ist kein
gutes Zeichen;
[JJ.01_250,13] denn hier scheinen Diebe gehandelt zu haben! – Nur diese Art
flieht, so sie ein Haus bestohlen hat; der ehrliche Mensch aber bleibt!
[JJ.01_250,14] Gehet ihr, meine Söhne, hinein und untersuchet, ob noch etwas im
Hause ist, und kommet dann und saget es mir!“
[JJ.01_250,15] Und die vier Söhne gingen und untersuchten das Haus und fanden es
bis auf das Vieh im Stalle rein ausgeplündert.
[JJ.01_250,16] Also war auch die Speisekammer leer, und im Geldkasten war kein
Groschen mehr zu finden.
[JJ.01_250,17] Da die vier Söhne solches alles also fanden, da wurden sie sehr
traurig und kamen zurück und zeigten solches alles dem Joseph an.
[JJ.01_250,18] Da ward der Joseph zornig über die Schlechtheit der Menschen, die
für Wohltaten mit solchem Danke lohnen ihre Wohltäter!
[JJ.01_250,19] Und er sprach ganz ergrimmt: „Wahrlich, läge es in meiner Macht,
ein solches Schandgesinde auf das empfindlichste zu züchtigen, da würde ich
sogleich Feuer vom Himmel über solcher Diebe Häupter regnen lassen!“
[JJ.01_250,20] Hier trat das Kindlein zum Joseph und sprach: „Ei, ei – Vater
Joseph, du bist heute sehr schlimm!
[JJ.01_250,21] Haben die Diebe dir ja noch Mich gelassen; wie magst du denn
ihrer gar so zürnen?
[JJ.01_250,22] Siehe, die Diebe haben deinem Hause nur eine recht große Wohltat
erwiesen, daß sie es also ausgereinigt haben!
[JJ.01_250,23] Denn wahrlich, wo in Zukunft ein Haus (das Herz des Menschen)
nicht also gereinigt sein wird, da werde Ich nicht einziehen!
[JJ.01_250,24] Dieses Haus aber ist nun von jeglicher Weltschlacke gereinigt,
und es gefällt Mir also sehr wohl!
[JJ.01_250,25] Denn fürs erste ist es offen in allen seinen Fächern und
Gemächern,
[JJ.01_250,26] und fürs zweite ist es ganz gereinigt, und so ist es nun ganz
geeignet zu Meinem Einzuge! – Daher zürne den Dieben nicht, auf daß ihre Sünde
nicht größer werde!“
[JJ.01_250,27] Joseph und alle nahmen sich diese Worte zu Herzen, – und das
Kindlein sprach am Ende:
[JJ.01_250,28] „Sehet, also handeln alle Menschen an Mir, wie diese Abgebrannten
an diesem Hause, und dennoch lasse Ich nicht Feuer vom Himmel regnen!
[JJ.01_250,29] Also fluchet auch ihr denen nicht, die Übles für Gutes tun, so
werdet ihr wahre Kinder des Einen Vaters im Himmel sein!“ – Diese Worte
beruhigten den Joseph vollkommen, und er ging darauf ganz wohlgemut in sein
Haus.
[JJ.01_251] 251. Kapitel – Maria weint über den Diebstahl aller Kleider samt
Wäsche. Des Jonatha Trost und edle Tat. „O Mutter, nehme sie an aus meinem
Herzen und aus meiner Hand!“ Das Kindlein segnet Jonatha.
11. Juli 1844
[JJ.01_251,01] Als sich nun alles in dem Hause befand und die Maria sich auch
überzeugte, daß sogar ihr Kleiderschrank und der der Eudokia rein ausgeplündert
waren,
[JJ.01_251,02] da kamen ihr Tränen in die Augen, wie auch der Eudokia, und sie
sprach zum Joseph:
[JJ.01_251,03] „Da siehe einmal her, auch das Kleid, das ich im Tempel hatte,
ist ein Raub schlechter Menschen geworden!
[JJ.01_251,04] Wahrlich, es geschieht mir darum recht hart und wehe in meinem
Herzen!
[JJ.01_251,05] Wir sind in Kleidern ohnehin so dürftig bestellt, als man sich's
je denken kann, und dennoch mußten wir sogar das Notdürftigste einbüßen!
[JJ.01_251,06] Es sei zwar alles dem Herrn aufgeopfert, aber es schmerzt mich
doch, weil es das einzige war, das ich zum notwendigen Wechsel besaß!
[JJ.01_251,07] Nun habe ich bloß dieses schon verschlissene Alltagskleid und
nicht einen Groschen, um mir einen nötigsten Wechsel anzuschaffen!
[JJ.01_251,08] Wahrlich, das tut mir recht weh! Noch mehr aber schmerzt es mich,
daß die argen Diebe auch die Wäsche des Kindleins genommen haben!
[JJ.01_251,09] Das hat nun das einzige Hemdchen, das Es nun am Leibe trägt; wie
werde ich Ihm nun ein zweites anschaffen können?
[JJ.01_251,10] O Du mein armes Kindlein, siehe, siehe, jetzt werde ich Dir nicht
mehr können alle Tage ein frisches Hemdchen anziehen, das Dir immer so wohl
tat!“
[JJ.01_251,11] Hier trat der Jonatha hinzu, tief gerührt, und sprach: „O du
erhabenste, übergeheiligte Mutter meines Herrn! – Traure nicht; denn ich habe ja
nun auch Gold und Silber!
[JJ.01_251,12] Mit der größten Freude gebe ich es ja dir bis zum letzten Stater,
und du magst es dann gebrauchen nach deinem Bedürfnisse!
[JJ.01_251,13] Ich weiß es zwar wohl, daß der Herr aller Herrlichkeit nicht auf
mein Gold und Silber ansteht; denn Er, der alle Tiere und alle Bäume und Kräuter
und alle Welt so herrlich bekleidet, wird auch Seines Leibes Mutter nicht nackt
werden lassen!
[JJ.01_251,14] Aber dennoch möchte ich nun gar so gerne meiner Seligkeit willen
dir alle meine Schätze zum Opfer bringen!
[JJ.01_251,15] O Mutter, nehme sie an aus meinem Herzen und aus meiner Hand!“
[JJ.01_251,16] Hier blickte die Maria den Jonatha freundlichst an und sprach:
[JJ.01_251,17] „O Jonatha, wie groß und edel bist du! – Dein Wille gilt mir fürs
Werk!
[JJ.01_251,18] Wenn es aber dem Herrn angenehm wäre, da möchte ich wohl fürs
Kindlein dich um eine Unterstützung bitten.
[JJ.01_251,19] Sollte es aber jedoch dem Herrn nicht angenehm sein, so habe ich
schon alles aus deinem Herzen empfangen, dafür ich dir nie aufhören werde
dankbar zu sein!“
[JJ.01_251,20] Hier kam das Kindlein herzu und sagte zum Jonatha: „Lieber
Jonatha, tue das, was die Mutter von dir wünscht, und dir solle einst ein großer
Lohn werden!
[JJ.01_251,21] Denn siehe, wir sind nun wirklich arm, und das um so mehr, da Ich
des Heiles der Menschen wegen kein Wunder wirken darf!“
[JJ.01_251,22] Hier sprang der Jonatha voll Freuden nach Hause und brachte in
kürzester Zeit all sein Gold und Silber und legte es der Maria zu Füßen.
[JJ.01_251,23] Als die Maria und der Joseph solches ersahen, da weinten beide
vor Freuden.
[JJ.01_251,24] Jonatha aber weinte mit und konnte nicht genug Gott danken, daß
er solcher Gnade wert ward, die Maria zu unterstützen.
[JJ.01_251,25] Das Kindlein aber segnete den Jonatha und sprach zur Maria:
„Siehe, das wird uns schon wieder ein frisches Hemdchen verschaffen; darum sei
nun nur wieder heiter!“ – Und alle wurden wieder heiter und fröhlich.
[JJ.01_252] 252. Kapitel – Der Segen des Herrn im Hause Josephs. Der Familie
Verwunderung und Dank. Jakob spricht über das Wunder vom Weizenkorn.
12. Juli 1844
[JJ.01_252,01] Während dieser Verhandlung aber bestellten die Söhne Josephs das
Vieh, melkten die Kühe und die Ziegen und gewannen diesmal eine ungewöhnliche
Menge der fettesten Milch.
[JJ.01_252,02] Als sie damit fertig waren, da gingen zwei auf einen schon
vollreifen Weizenacker und schnitten mehrere Garben, rieben bald einen recht
tüchtigen Korb voll der reinsten Frucht aus den abgeschnittenen Garben.
[JJ.01_252,03] Und die zwei andern Brüder aber nahmen dann alsobald den Korb mit
der Weizenfrucht, brachten sie in die zwei Handmühlen, die der Joseph selbst
verfertiget hatte, und vermahlten in kurzer Zeit das Getreide.
[JJ.01_252,04] Durch den Segen des Herrn gewannen sie zweimal soviel Mehl, als
da ehedem Getreide im Korbe vorhanden war.
[JJ.01_252,05] Und alle diese Arbeit war in drei Stunden beendet. Und als das
Mehl in zwei Körben an der Sonne dastand,
[JJ.01_252,06] da kam der Joseph heraus und fragte die Söhne, woher sie dies
schöne Mehl genommen hätten.
[JJ.01_252,07] Und als ihm die Söhne sagten, wie sie dieses Mehl gewonnen haben,
da besah er die ausgeriebenen Garben und sprach:
[JJ.01_252,08] „Wie ist das möglich? – Ich ersehe nur zehn Garben! Sollen diese
wohl diese beiden großen Körbe mit Mehl angefüllt haben?“
[JJ.01_252,09] Und die Söhne sprachen: „Ja Vater, also ist es! Durch die Gnade
Gottes haben wir richtig in kurzer Zeit aus den zehn Garben dieses Mehl
gewonnen;
[JJ.01_252,10] und der Segen Gottes war über den Garben und über unserer Arbeit,
– daher dieser reiche Gewinn!“
[JJ.01_252,11] Darauf dankte der Joseph Gott mit dem gerührtesten Herzen und
ging wieder ins Haus und erzählte das allen im Hause.
[JJ.01_252,12] Und alle gingen hinaus und besahen das Mehl, und einer wie der
andere sprach:
[JJ.01_252,13] „Das ist unmöglich, auf natürlichem Wege allerreinst unmöglich!“
[JJ.01_252,14] Da nahm der Jakob auf einen inneren Antrieb ein auf dem Boden
liegendes Weizenkorn und sprach:
[JJ.01_252,15] „Des nimmt euch alle wunder, daß da so viel Mehles aus den zehn
Garben hervorkam!
[JJ.01_252,16] Wo aber hat sich noch aus uns je jemand also verwundert, so er so
ein Körnchen in die Erde streute und dann bald eine hundertkörnige Ähre aus dem
einen Korne entsprossen sah?
[JJ.01_252,17] Und doch ist hier das erste tagtägliche Wunder größer als diese
doppelte Mehlvermehrung, indem es ein einziges Korn verhundertfältigt!
[JJ.01_252,18] Hätten die zehn reichen Garben nur einen Korb voll Mehles
gegeben, so hätte sich darüber niemand verwundert, obschon ein Korb so gut eine
Wundergabe Gottes wäre, als zwei Körbe es sind.
[JJ.01_252,19] Also verwundert sich auch niemand über eine hundertkörnige Ähre,
weil man dieses Wunder schon gewohnt ist.
[JJ.01_252,20] Ich aber frage, ob es wohl recht ist, Gott da nur zu bewundern,
wo Er etwas Ungewöhnliches geschehen läßt, während doch das geordnete
Gewöhnliche bei weitem höher steht, da es zu allen Zeiten gleichfort dieselbe
endlose Güte, Allmacht, Liebe und Weisheit Gottes bezeugt?!“
[JJ.01_252,21] Diese Rede Jakobs machte eine große Sensation. Alles lobte darum
den Herrn, daß Er dem Menschen eine solche Weisheit gegeben hatte. – Die Söhne
aber nahmen das Mehl und machten sich an die Bereitung eines guten
Mittagsmahles.
[JJ.01_253] 253. Kapitel – Das Mittagsmahl von Fischen und Honigkuchen. Der
mutwillige Diebstahl der Hausgeräte und des Schüsselchens des Kindleins.
Unerbittlichkeit des Kindleins gegen böse Mutwillige.
13. Juli 1844
[JJ.01_253,01] In einer Stunde war ein gutes Mittagsmahl bereitet, das in fünf
wohlzubereiteten Fischen und in vierzehn Honigkuchen bestand;
[JJ.01_253,02] denn der Honig war das einzige im Speisekasten, das von den
Dieben verschont worden war.
[JJ.01_253,03] Also ward auch für einen guten Trank gesorgt, den Joseph und die
Maria selbst aus Wasser und Zitronensaft mit Beimischung von etwas Honig
bereiteten.
[JJ.01_253,04] Als also das Mahl bereitet war und aufgetragen auf den Tisch, da
erst dachten die Söhne an das Tischzeug, als Löffel, Gabeln und Messer, das im
Hause Josephs freilich wohl zum größten Teile von Holz war.
[JJ.01_253,05] Aber auch dieses unwertvolle Gerät blieb von den Dieben nicht
verschont!
[JJ.01_253,06] Und so hatte der Joseph nun wohl die Speisen auf dem Tische, aber
kein auch nur allernotdürftigstes Eßzeug dazu.
[JJ.01_253,07] Hier ging der Joseph in die Küche und fragte die Söhne, was denn
das doch für eine Bestellung des Tisches wäre;
[JJ.01_253,08] wie man doch ohne Eßzeug Speisen auf den Tisch stellen kann und
mag!
[JJ.01_253,09] Die Söhne aber sprachen: „Vater, da sieh einmal her: einen Rost
und zwei Töpfe und einen einzigen, allerschlechtesten Kochlöffel, ein Messer und
eine hölzerne Gabel haben sie uns gelassen, –
[JJ.01_253,10] alles andere haben sie uns genommen; also müssen wir auch die
Milch nun in einem einzigen Milchschaffe stehenlassen, weil auch die Milchtöpfe
alle hin sind!“
[JJ.01_253,11] Als der Joseph sich von dem allem überzeugt hatte, da ging er mit
dem einzigen Kochlöffel und mit dem einen Messer und mit der einen Gabel in das
Speisezimmer und sprach zum Jonatha:
[JJ.01_253,12] „Da – Bruder! – siehe, da ist nun unser ganzes Tischgerät! – Wahrlich, das ist Mutwille, und der sollte bestraft werden!
[JJ.01_253,13] Ich lasse mir eine Dieberei auf wertvolle Sachen und eine
Dieberei aus Not gefallen!
[JJ.01_253,14] Aber bei diesem Diebstahle ist weder eines noch das andere der
Fall;
[JJ.01_253,15] sondern da leuchtet der sträflichste Mutwille heraus, und den
sollte auch der Herr nicht ungestraft dahingehen lassen!“
[JJ.01_253,16] Nach dieser Argumentation saßen alle zum Tische nieder, und
Joseph zerteilte mit dem einen Messer den Fisch und legte vor jeden einen Teil
mit der einen Gabel und verteilte auch also die Honigkuchen.
[JJ.01_253,17] Da aber das Kindlein Sein Schüsselchen nicht vor Sich hatte, da
fragte Es den Joseph, ob denn auch das Schüsselchen gestohlen sei.
[JJ.01_253,18] Und die Maria sprach: „Ganz sicher, Du mein herzallerliebstes
Gottsöhnlein; denn sonst wäre es wohl sicher vor Dir!“
[JJ.01_253,19] Und das Kindlein sprach darauf: „Wahrlich, Joseph hat recht; das
war Mutwille, und der solle auch bestraft sein allzeit und ewig!
[JJ.01_253,20] Der Böses tut und kennt es nicht, der solle belehrt werden,
desgleichen auch, der es tut in der Not!
[JJ.01_253,21] Wer aber das Gute kennt, tut aber dennoch aus purem satanischen
Mutwillen Böses, der ist ein Teufel aus dem Fundamente der Hölle und muß mit
Feuer gezüchtiget werden!“
[JJ.01_253,22] Darauf verzehrte ein jeder seinen Teil mit der bloßen Hand.
[JJ.01_253,23] Es waren aber die Essenden noch kaum mit ihrem Mahle zu Ende, da
vernahm man schon von draußen her ein gar entsetzliches Geheul.
[JJ.01_253,24] Was war es denn? – Es waren die Diebe, die mutwillig das
notwendige Hausgerät Josephs gestohlen hatten, um es zu verderben.
[JJ.01_253,25] Ein jeder war umwunden mit einer glühenden Schlange und schrie um
Hilfe; aber das Kindlein erhörte sie nicht, sondern trieb sie alle, bei hundert
an der Zahl, mit Seiner Allmacht in das Meer, allwo sie alle umkamen. – Das war
das einzige Mal, wo Sich das Kindlein unerbittlich gezeigt hatte.
[JJ.01_254] 254. Kapitel – Die heulenden Kleiderdiebe vor der Tür Josephs. Die
ernste Rede des Kindleins an die Diebe. Die Rückgabe der Kleider.
15. Juli 1844
[JJ.01_254,01] In kurzer Zeit darauf vernahm man auch wieder ein Geheul von
einer Ferne, wie von der Stadt her, und sah eine Menge Menschen der Villa
Josephs zueilen.
[JJ.01_254,02] „Was solle denn das schon wieder?“ fragte der Joseph den
erstaunten Jonatha.
[JJ.01_254,03] Und dieser sprach: „Bruder! Das wird der Herr, wie auch sonst
alles, sicher besser wissen als wir beide!“
[JJ.01_254,04] Und der Jakob sagte zu beiden: „Machet euch nichts daraus; denn
das sind die Kleiderdiebe!
[JJ.01_254,05] Des Herrn Macht hat sie ereilt; sie büßen nun ihren Frevel an den
geheiligten Kleidern;
[JJ.01_254,06] denn wer sie anzieht oder nur anrührt, der wird sobald von einem
innern Feuer ergriffen und zur Asche verzehrt.
[JJ.01_254,07] Darum rennen sie nun heulend und wehklagend daher und werden uns
bitten, daß wir selbst diese Kleider in der Stadt aus ihren halb abgebrannten
Häusern holen sollen, –
[JJ.01_254,08] was wir auch tun wollen; doch der Herr wird diesen Frevlern das
Seinige tun!“
[JJ.01_254,09] Als der Jakob noch kaum diese Worte ausgesprochen hatte, da waren
die heulenden Kleiderdiebe auch schon vor der Türe Josephs.
[JJ.01_254,10] Allda schrien sie gewaltig um Hilfe und Rettung. Und der Joseph
ging hinaus mit dem Jonatha.
[JJ.01_254,11] Als er draußen war, da schrien ihm dreißig verzweifelte Männer
entgegen:
[JJ.01_254,12] „Du allmächtiger Gott Jupiter, hilf uns, und rette uns; denn wir
haben an dir gefrevelt, da wir dich nicht erkannt haben!
[JJ.01_254,13] Nun aber haben wir dich erkannt; darum bitten wir dich, töte uns,
oder hole deines Hauses Kleider in unseren Häusern!“
[JJ.01_254,14] Da kam das Kindlein heraus und sprach: „Höret, ihr argen Diebe!
[JJ.01_254,15] Wie ihr die Kleider genommen habt, also bringet sie auch wieder
hierher!
[JJ.01_254,16] Werdet ihr das nicht tun, so solle der Tod euer Los sein!“
[JJ.01_254,17] Als die Diebe solches vernommen hatten, da sprachen sie:
[JJ.01_254,18] „Das ist der junge Gott, dem müssen wir folgen, sonst sind wir
verloren!“
[JJ.01_254,19] Und alle rannten plötzlich davon und brachten all die gestohlenen
Kleider auf ehernen Stäben wieder.
[JJ.01_254,20] Denn mit bloßer Hand durfte niemand diese Kleider anrühren.
[JJ.01_254,21] Als die Kleider herbeigeschafft waren, da entließ das Kindlein
die Diebe und strafte sie weiter nicht. – Joseph aber nahm freudigst die Kleider
wieder und trug sie ins Haus.
[JJ.01_255] 255. Kapitel – Marias innerer Adel und innere Schönheit. Ihr
Erbarmen mit den Dieben. Den Feinden Gutes tun und sie segnen, ist rein
göttlich. „Weil du (Maria) solches getan hast, wie es Gott tut, darum bist du
nun so schön. Denn Gott ist die allerhöchste Schönheit, weil die höchste Liebe!“
16. Juli 1844
[JJ.01_255,01] Als Maria ihre Kleider wieder ersah, da ward sie wohl froh, aber
zugleich hatte sie auch wieder Mitleid mit denen, die ihr die Kleider
zurückgebracht hatten.
[JJ.01_255,02] Denn sie dachte sich: ,Diese haben gewiß von dem Gelde nichts
erhalten, darum sie dann aus Not nach den armen Kleidern gegriffen haben.
[JJ.01_255,03] Nun werden sie wohl einer starken Not ausgesetzt sein.
[JJ.01_255,04] O wären sie noch da, ich gäbe ihnen ja gerne die Kleider oder so
viel Geldes, daß sie sich ein Kleid darum anschaffen könnten!‘
[JJ.01_255,05] Hier kam das Kindlein zur Mutter und sprach:
[JJ.01_255,06] „Aber Mutter! – heute bist du schön! – Wenn du wüßtest, wie schön
du bist, du möchtest gerade eitel werden!“
[JJ.01_255,07] Maria lächelte hier und sagte zum sie streichelnden Kleinen:
[JJ.01_255,08] „O Du mein liebster Jesus! – Bin ich denn nicht alle Tage gleich
schön?“
[JJ.01_255,09] Und das Kindlein sprach: „O ja, du bist wohl stets sehr schön;
aber manchmal bist du denn doch ein wenig schöner.
[JJ.01_255,10] Heute aber bist du schon ganz besonders schön! – Wahrlich, von
tausend Erzengeln bist du nun umringt, und jeder will am nächsten bei dir sein!“
[JJ.01_255,11] Maria aber verstand des Kindleins Rede nicht und sah sich um und
um, ob da irgend ein Erzengel zu erschauen wäre.
[JJ.01_255,12] Aber sie ersah nichts, als was das Zimmer enthielt, und fragte
darum das Kindlein:
[JJ.01_255,13] „Ja, wo sind denn hernach die tausend Erzengel, da ich doch
keinen zu erschauen vermag?“
[JJ.01_255,14] Da sagte das Kindlein: „Du darfst ja keinen erschauen; da
könntest du eitel werden!
[JJ.01_255,15] Du aber bist nun darum so schön vor allen Engeln der Himmel, weil
in deinem Herzen eine so große Barmherzigkeit aufgestiegen ist, die der Meinen
nahe gleichkommt!
[JJ.01_255,16] Denn siehe, seine Feinde gerecht und menschlich einer Buße zu
unterziehen, ist eben auch gerecht und Gott wohlgefällig, und es solle allzeit
also sein auf der Erde;
[JJ.01_255,17] aber seinen Feinden von ganzem Herzen ihre Schuld vergeben und
ihnen dazu noch Gutes tun und sie segnen, – siehe, das ist rein göttlich!
[JJ.01_255,18] Das bringt nur die endlose Kraft der göttlichen Liebe zuwege;
[JJ.01_255,19] denn die menschliche ist dazu zu schwach!
[JJ.01_255,20] Weil du aber eben solches getan hast, wie es Gott tut, darum bist
du nun so schön! – Denn Gott ist die allerhöchste Schönheit, weil die höchste
Liebe! –
[JJ.01_255,21] Tue aber nun auch, das dein Herz verlangt, so wird dir Mein Reich
der Liebe wie ein Königtum zufallen, und du wirst eine Königin sein darinnen
ewig!“
[JJ.01_255,22] Hier sandte die Maria sogleich den Jonatha den Dieben nach;
dieser brachte sie zurück, und die Maria beschenkte sie alle reichlichst mit dem
Gelde, das ihr der Jonatha gegeben hatte also wie dem Joseph.
[JJ.01_256] 256. Kapitel – Die Macht der Liebe. Das Haus Josephs wird ruchbar.
Josephs Weisheit beschämt die Großen und Reichen der Stadt. Die gute
Nachwirkung.
17. Juli 1844
[JJ.01_256,01] Die also beschenkten Diebe aber fielen auf ihre Angesichter
nieder und schrieen förmlich:
[JJ.01_256,02] „Solche Güte, solche Großmut, die ist Menschen nimmer eigen; nur
die Götter, die nicht sterben, können Feinde noch belohnen!
[JJ.01_256,03] Wir verdienten hier die Strafe nur, da wir an euch, ihr hohen
Götter, gar so arg gefrevelt haben!
[JJ.01_256,04] Doch ihr, statt uns wohlverdienterweis' zu strafen, gebt uns Lohn
und Segen noch für unsre argen Taten!
[JJ.01_256,05] Seid ihr da nicht Götter? – Ja ihr seid der Himmel allerhöchste
Herren ganz gewiß und sicher; denn das künden eure von uns Menschen nie
geschauten Taten! –
[JJ.01_256,06] Darum Ehre, Lob und Preis sei euch von allen Menschen auf der
Erde!
[JJ.01_256,07] Und der Fürsten Throne und all ihre Kronen sollen ewig beugen
sich vor eurer großen Herrlichkeit!“ –
[JJ.01_256,08] Hier erhoben sich die Diebe und gingen dann voll Dank und
Ehrfurcht von dannen –
[JJ.01_256,09] und machten das dann in der ganzen Stadt ruchbar; und alle
Bewohner bebten ob solcher Nähe der Götter und gingen verstohlen herum und
getrauten sich vor lauter Ehrfurcht nicht zu arbeiten.
[JJ.01_256,10] Es kamen aber bald die Angesehenen der Stadt hinaus zum Joseph
und fragten ihn, ob sich die Sache wohl also verhielte, wie da nun der Pöbel in
der halbverbrannten Stadt herumschreie.
[JJ.01_256,11] Und der Joseph sprach: „Was da betrifft die gute Tat an ihnen, da
ist ihr Geschrei richtig;
[JJ.01_256,12] denn also handelte mein Weib buchstäblich wahr an ihnen!
[JJ.01_256,13] Aber daß sie uns für Götter halten, das gibt euch – ihr Großen
und Reichen, ein schlechtes Zeugnis;
[JJ.01_256,14] denn damit bezeichnet der arme Pöbel eure große Hartherzigkeit,
indem er an euch nichts Götterähnliches erschaut!
[JJ.01_256,15] Tut desgleichen, was da tat mein Weib, und was da tut mein ganzes
Haus, und der Pöbel wird bald aufhören, meines Hauses Einwohner für Götter zu
halten!“
[JJ.01_256,16] Als die Großen und Reichen der Stadt solche sie sehr treffende
Rede von Joseph vernommen hatten, da wurden sie sehr beschämt und zogen davon.
[JJ.01_256,17] Und sie waren überzeugt, daß der Joseph bloß ein überaus weiser
und guter Mensch, aber dabei doch kein Gott sei.
[JJ.01_256,18] Von da an hatte dann das Haus Josephs Ruhe.
[JJ.01_256,19] Und seine Familie lebte dann noch ein halbes Jahr ungestört
allhier und ward geachtet und hochgeschätzt von jedermann.
[JJ.01_256,20] Also tat auch das Kindlein in dieser Zeit keine Wunder mehr, und
alles lebte hier ganz natürlich. Und der Jonatha aber war mehr beim Joseph als
zu Hause; denn hier war für ihn ein seligstes Sein. – –
[JJ.01_257] 257. Kapitel – Tod des Herodes; sein Sohn Archelaus folgt ihm in der
Regierung. – Der Engel des Herrn fordert Joseph auf zur Rückkehr ins Land
Israel. – Die wunderbare Reiserüstung. – Joseph übergibt alles dem Jonatha und
bittet ihn nachzukommen. – Der Abschied.
18. Juli 1844
[JJ.01_257,01] Es starb aber um diese Zeit eben auch Herodes, der Kindermörder,
und sein Sohn Archelaus folgte ihm in der Regierung.
[JJ.01_257,02] Jakob sagte das in der Zeit zum Joseph und zu der Maria.
[JJ.01_257,03] Aber Joseph sprach zum Jakob: „Das will ich dir wohl glauben;
aber was solle das bei mir für eine Veränderung herbeiführen?“
[JJ.01_257,04] Und der Jakob sprach: „Vater! – das zu künden dir, hat der Herr
mir nicht gegeben!
[JJ.01_257,05] Wie aber der Herr noch allzeit durch eines Engels Mund zu dir
geredet hat, was du tun sollest, also wird Er es auch jetzt tun.
[JJ.01_257,06] Denn es wäre nicht in der göttlichen Ordnung, daß ein Sohn seinem
Vater die Wege vorschreiben solle!“
[JJ.01_257,07] Da sprach Joseph: „Meinst du wohl, daß der Herr solches an mir
tun wird?“
[JJ.01_257,08] Und der Jakob sprach: „Vater! – also vernahm ich's in mir nun:
[JJ.01_257,09] ,Heute noch in der Nacht in einem hellen Traume werde Ich Meinen
Engel zu dir senden, der wird dir künden Meinen Willen!
[JJ.01_257,10] Und wie er es dir künden wird, also sollest du sobald handeln
nach seinem Worte!‘“
[JJ.01_257,11] Als der Joseph solches vom Jakob vernommen hatte, da ging er
hinaus und betete zu Gott und dankte Ihm für solch eine Vorkunde durch den Mund
seines Sohnes Jakob.
[JJ.01_257,12] Lange hielt Joseph im Gebete an und begab sich erst nach drei
Stunden ins Haus zur Ruhe.
[JJ.01_257,13] Als er aber also schlief auf seinem Lager, seinen arbeitsmüden
Gliedern Ruhe gönnend, da erschien ihm im Traume der Engel des Herrn und sprach
zu ihm:
[JJ.01_257,14] „Stehe auf, nimm das Kindlein und Seine Mutter zu dir, und ziehe
hin in das Land Israel; denn sie sind gestorben, die dem Kinde nach dem Leben
standen!“
[JJ.01_257,15] Als Joseph solches vernommen hatte, da stand er alsbald auf und
verkündete solches der Maria.
[JJ.01_257,16] Und diese sprach: „Es geschehe des Herrn Wille allzeit und ewig!
[JJ.01_257,17] Aber wie sprichst du nur von uns dreien? Sollen denn deine Kinder
hier verbleiben?“
[JJ.01_257,18] Und der Joseph sprach: „O mitnichten; denn was der Engel zu mir
geredet, das gilt ja für mein ganzes Haus!
[JJ.01_257,19] Denn also sprach der Herr ja auch oft zu den Propheten, als hätte
Er es mit ihnen allein zu tun;
[JJ.01_257,20] aber dennoch ging des Herrn Rede allzeit das ganze Haus Jakobs
an.“
[JJ.01_257,21] Diese Rede verstanden alle, und die Söhne gingen sobald hinaus,
um alles zur Abreise zu ordnen.
[JJ.01_257,22] Aber sie kamen voll Staunens zurück; denn es war alles schon zur
Abreise bereitet, und für jede Person war ein mit allen zur Reise nötigsten
Bedürfnissen bepackter Esel in Bereitschaft.
[JJ.01_257,23] Joseph übergab alles Liegende und Stehende dem Jonatha, der diese
Nacht hier zugegen war, segnete ihn und behieß ihn, ihm zu folgen in einem Jahre
nach Nazareth.
[JJ.01_257,24] Also segnete ihn auch das Kindlein und küßte ihn. Jonatha weinte
ob solcher plötzlichen Abreise.
[JJ.01_257,25] Und Joseph bestieg noch viel vor dem Aufgange die Lasttiere und
zog nun landwärts von dannen. –
[JJ.01_258] 258. Kapitel – Die heilige Familie kommt nach beschwerlicher Reise
ins Vaterland. Josephs Angst und Marias Aufmunterung. Des Herrn Befehl, nach
Nazareth zu ziehen. Ankunft in Nazareth.
19. Juli 1844
[JJ.01_258,01] Nach zehn sehr beschwerlichen Reisetagen kam Joseph mit den
Seinen glücklich im Lande Israel an und rastete auf einem Berge bei einigen
Menschen, die da hausten und von der Viehzucht lebten.
[JJ.01_258,02] Hier erkundigte sich Joseph genau um alle Verhältnisse seines
Vaterlandes.
[JJ.01_258,03] Da er aber vernahm von diesen Menschen, daß nun Archelaus, ein
Sohn Herodis, seinem Vater in der Regierung folgte,
[JJ.01_258,04] und daß er noch grausamer sei als sein Vater, da übermannte den
Joseph und all die Seinen eine große Furcht.
[JJ.01_258,05] Und er gedachte wieder umzukehren und abermals